Glücksklee - Frieda Roth - E-Book

Glücksklee E-Book

Frieda Roth

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Beschreibung

Ein besoffenes Hausschwein, ein nervöser Ganter, ein alters-schwacher Wolfshund und ein nerviger Job an der Hotline einer heruntergewirtschafteten Softwarefirma - das alles wäre für die rothaarige Tine, die mit achtunddreißig noch bei ihren Eltern lebt und den Tod ihres irischen Verlobten betrauert, zu verkraften gewesen. Doch dann taucht Louis auf. Während Tine die vermeintliche Braut ihres schwulen Freundes mimt, mit kriminalistischem Spürsinn einen Ehebruch aufdeckt, und sie der neue Mitbewohner in ein Chaos stürzt, ist auf zwei Dinge Verlass: Ihre Freunde und die ominöse Onlinebekanntschaft Ironman.

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Ein besoffenes Hausschwein, ein nervöser Ganter, ein altersschwacher Wolfshund und ein nerviger Job an der Hotline einer heruntergewirtschafteten Softwarefirma - das alles wäre für die rothaarige Tine, die mit achtunddreißig noch bei ihren Eltern lebt und den Tod ihres irischen Verlobten betrauert, zu verkraften gewesen.

Doch dann taucht Louis auf.

Während Tine die vermeintliche Braut ihres schwulen Freundes mimt, mit kriminalistischem Spürsinn einen Ehebruch aufdeckt, und sie der neue Mitbewohner in ein Chaos stürzt, ist auf zwei Dinge Verlass:

Ihre Freunde und die ominöse Onlinebekanntschaft Ironman.

Das Manuskript aus dem Jahr 2008 wurde 2022 ohne bedeutende Änderungen überarbeitet.

Frieda Roth. 1969 geboren, geschieden, in Vollzeit berufstätig und zweifache Mutter bereits erwachsener Söhne.

Das Schreiben begleitet die tätowierte Indie-Autorin seit ihrer frühen Jugend, beginnend mit kurzen, später längeren Texten auf einer uralten Triumph Adler.

In ihren Romanen verarbeitet sie Hoffnungen und Ängste auf eine ganz eigene, sehr persönliche Weise. Wichtig ist ihr, dass alle Geschichten mit einer satten Portion Humor versehen sind. Das Leben ist nämlich bunt.

Mit ihren Heiligen Birmas Emil und Paul lebt sie in Südhessen und twittert täglich unter dem Account @dietantefrieda.

Weitere Veröffentlichungen:

ZIMTZICKE (2004) FUNKENMARIE (2005) DORNRESCHEN (2005) MAMA MIA (2006) VOLLE LOTTE (2007)

Mitwirkende

Klementine (Tine) Glück Softwareentwicklerin, Hotelfachfrau,

Tätowiererin

Louis von Hochstätten Manager | Geschäftsführer der Festplatte

Leopold (Leo) Glück Schüler | Tines kleiner Bruder

Wilhelmine (Mina) Glück Schülerin | Tines kleine Schwester

Lennard (Lennie) Glück Polizeibeamter | Tines kleiner Bruder

Ingeborg (Ibo) Glück Grundschullehrerin | Tines kleine Schwester

Ruth Glück Tierärztin | Tines Mutter

Bernd Glück Tierarzt | Tines Vater

Nikola Erotikshopbesitzerin | Tines beste Freundin

Joey Miller Polizeibeamter | Kollege von Lennie

Mirco Webdesigner | Tines bester Freund

Luisa Erzieherin | Tines ebenfalls beste Freundin | verheiratet mit Marc

Sam (Mama Mia, Volle Lotte) Sozialpädagoge und Tätowierer

Swantje Gastronomin | Besitzerin des Keller | verheiratet mit Björn

Björn Gastronom | Mitinhaber des Keller | verheiratet mit Swantje

Cengiz (Gizzy) Tines ältester Freund | in einer Beziehung mit Ibo

Moritz Schüler | bester Freund von Leo

Mathilda Mutter von Moritz

Marc Telekomaußendienstmitarbeiter | verheiratet mit Luisa

Colin O‘Brian Tines verstorbener Verlobter

Arne Mannhardt (Mama Mia) Marketingdesigner

Mia Engel (Mama Mia) Mitarbeiterin im Zeichenbüro

Lissi Perlinger Affäre von Marc

Lisbeth und Eugen Mircos Pflegeeltern

Max Landschaftsgärtner | Cousin der Glückskinder

Olga Reinigungskraft der Familie Glück

Josefa und Alois von Hochstätten Eltern von Louis und Sebastian

Sepp Mircos und Tines Freund aus Bayern

Mitarbeitende der Festplatte:

Linda Filialleiterin

Silke von Vogelsang Chefsekretärin

Jackie Entwicklerin

Falko Hauptprogrammierer

Paul Hausmeister

Lena Verkauf

Lukas Lager

Daniel

Niklas

Sandra

Tim Webdesign

Lisa Auszubildende

Katie Hotline

Sebastian Ebertreter Servicetelefon

Seniorencomputerkursteilnehmende:

Frau Hupenpuper

Herr Sandmann

Frau Lamm

Frau Knaller

Außerdem dabei:

Winifred Minischwein

Gunter Ganter

Mister Little Irischer Wolfshund

Für Alex.

Mein ganz besonderer Dank geht an

Barbara [twitter.com/Seelenauftrag] und Heike für ihre Unterstützung bei der Überarbeitung.

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL eins

KAPITEL zwei

KAPITEL drei

KAPITEL vier

KAPITEL fünf

KAPITEL sechs

KAPITEL sieben

KAPITEL acht

KAPITEL neun

KAPITEL zehn

KAPITEL elf

KAPITEL zwölf

KAPITEL dreizehn

KAPITEL vierzehn

KAPITEL fünfzehn

KAPITEL sechzehn

KAPITEL siebzehn

KAPITEL achtzehn

KAPITEL neunzehn

KAPITEL zwanzig

KAPITEL einundzwanzig

KAPITEL zweiundzwanzig

KAPITEL dreiundzwanzig

KAPITEL vierundzwanzig

KAPITEL fünfundzwanzig

KAPITEL sechsundzwanzig

KAPITEL siebenundzwanzig

KAPITEL achtundzwanzig

KAPITEL neunundzwanzig

KAPITEL dreißig

KAPITEL einunddreißig

KAPITEL zweiunddreißig

KAPITEL dreiunddreißig

KAPITEL vierunddreißig

KAPITEL fünfunddreißig

KAPITEL sechsunddreißig

KAPITEL siebenunddreißig

KAPITEL achtunddreißig

KAPITEL neununddreißig

KAPITEL vierzig

KAPITEL einundvierzig

KAPITEL zweiundvierzig

KAPITEL dreiundvierzig

KAPITEL vierundvierzig

KAPITEL fünfundvierzig

KAPITEL sechsundvierzig

KAPITEL siebenundvierzig

KAPITEL achtundvierzig

KAPITEL neunundvierzig

KAPITEL fünfzig

KAPITEL einundfünfzig

KAPITEL zweiundfünfzig

KAPITEL dreiundfünfzig

KAPITEL vierundfünfzig

KAPITEL fünfundfünfzig

KAPITEL sechsundfünfzig

KAPITEL siebenundfünfzig

KAPITEL achtundfünfzig

KAPITEL neunundfünfzig

KAPITEL sechzig

KAPITEL einundsechzig

KAPITEL zweiundsechzig

KAPITEL dreiundsechzig

KAPITEL vierundsechzig

KAPITEL fünfundsechzig

KAPITEL sechsundsechzig

KAPITEL siebenundsechzig

Glücksklee [2008]Du bist das CCS in meinem HTML

KAPITEL eins

Die Flamme züngelt hungrig und gleitet sanft in ein Licht, dessen schwacher Schein sich fast zärtlich auf das Antlitz des jungen Mannes legt. In seinen grauen Augen glimmt unbändige Lebenslust, und die Art, wie er die Lippen schürzt, hat etwas Rebellisches.

„Colin“, seufze ich schwermütig. „Zehn Jahre. Zehn verdammt lange Jahre.“ Der Qualm meiner Zigarette steigt auf wie trister Nebel einer verlorenen Vergangenheit. „Was hast du dir nur dabei gedacht“, fahre ich leise fort, „du irischer Idiot?“ Ich starre das Foto auf der Kommode an, als erwarte ich wahrhaftig eine Antwort. Sekunden später piept mein Handy.

Es ist exakt dreizehn Minuten vor vier.

Es sind exakt zehn Jahre vergangen.

Das war exakt der Zeitpunkt seines Todes.

Meine Gedanken versinken in einem Meer aus Erinnerungen.

„Hey, pretty redhead irish angel“, drang eine sonore Stimme in mein Ohr und mir lief ein süßer Schauer über den Rücken, als ich das wohl charmanteste Lächeln erwiderte, das die Welt – auf jeden Fall aber ich – bislang gesehen hatte. „Ich bin so schlecht im Bett“, zwinkerte Colin, „das musst du erlebt haben!“

Und ich tat es noch in derselben Nacht. Wobei von schlecht weiß Gott nicht die Rede sein konnte. Colin schien Sex als eine Art Ausdauersport zu betreiben.

Von diesem Tag an war ich sein Mädchen. Colin war durch und durch Ire. Da von Mutter Natur weder mit rotem Haar noch mit blauen Augen ausgestattet und keinesfalls ein lausiger Liebhaber, setzte er alles daran, wenigstens den Rest althergebrachter Vorurteile am Leben zu erhalten: Iren waren erzkatholisch, unpünktlich, unzuverlässig, chaotisch, miserable Autofahrer und soffen wie der Leibhaftige. Ich liebte ihn trotz oder gerade wegen all dieser inszenierten Macken. Und dafür liebte er mich. So gaben und nahmen wir uns alle Freiheiten, die wir brauchten.

Colin war nie ein Romantiker gewesen. Und so kam es, dass er mir nach zehn wilden Ehejahren auf dem expressiven Höhepunkt eines Heavy-Metal-Events, rotzbesoffen, mit freiem Oberkörper auf der Theke stehend, einen Heiratsantrag machte. Sah ich ihm nach, ausnahmslos jedes Zimmer unserer kleinen Mietwohnung farblich patriotisch gestrichen zu haben, so konnte ich mich jedoch erfolgreich dagegen wehren, ein grasgrünes Brautkleid zu tragen. Damals lachte er und lallte nachgiebig: „Du hasss rooote Haare, pretty angel, du bisss ssso oder ssso meine O‘Brian!“ Thema vom Tisch.

Ich stehe auf, öffne die hinterste Tür meines Kleiderschranks und ertaste vorsichtig den Stoff. Ein Traum aus importierter italienischer und sündhaft teurer Seide, damals finanziert durch den Verkauf meines Motorrades. Ich hätte das Kleid ebenfalls verkaufen sollen, sagt mein Verstand. Doch der Erinnerungsstrom schwappt darüber hinweg. Colin hätte das Kleid gefallen... wäre er nicht in der Nacht seines Junggesellenabschieds mit annähernd drei Promille auf die Harley gestiegen. Warum er das exzessive Saufgelage so abrupt verlassen hatte, bleibt bis heute ungeklärt. Klar ist nur, dass er auf regennasser Straße die Kontrolle über seine Maschine verlor und gegen die Hauswand unserer örtlichen Postfiliale schleuderte. Das Gewicht seiner Harley brach Colin das Genick und zerquetschte seinen Körper mit der Wucht eines Eisenträgers auf Sachertorte. Um exakt dreizehn Minuten vor vier. Vor exakt zehn Jahren.

Nach einer letzten Berührung des zarten Gewebes lasse ich mich aufs Bett fallen und versinke in den Tiefen meines Langzeitgedächtnisses. Die Erinnerungen sind wunderschön und vermengen sich mit dem Schmerz des Verlusts, der nun schon eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen scheint. Außer Erinnerungen und ein paar alten Fotos ist mir nichts von Colin geblieben. Seine Eltern hatten nicht nur ihn, sondern auch all seinen persönlichen Besitz mit nach Irland genommen. Mir bleibt nur die Lücke, die er hinterlässt.

KAPITEL zwei

„Was?“, knurre ich, ohne aufzublicken. Ich befinde mich gerade in einer Hochkonzentrationsphase.

Nach zwei Stunden Seelenqual und gefühlten drei Liter Tränen war es an der Zeit, wieder in die Realität zurückzukehren. In meine Realität, wohlgemerkt.

Lennard brabbelt etwas von nicht normal und schließt die Tür. Er lehnt mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand und beäugt mich skeptisch. Meine Augen sind dick wie Kuheuter, doch er ist sensibel genug, schweigend darüber hinwegzusehen.

„Nicht normal ist“, murmele ich gleichmütig, „dass du dort stehst, während ich hier sitze.“

„Du schleppst das Ding wohl überall mit hin?“, ignoriert er meine Anspielung und verharrt weiterhin an Ort und Stelle.

Mir entfährt ein leicht genervtes Schnauben. „Was denkst du wohl, weshalb man es auch Schlepptop nennt?“ Mein Laptop heißt übrigens Rüdiger. Aber das verkneife ich mir.

„Was machst du überhaupt?“ Neugierig reckt Lennard den Kopf.

Ich liebe Lennard abgöttisch, aber in meiner momentanen Situation empfinde ich es als äußerst unangenehm. „Was wohl? Ich stricke am Ärmelkanal“, knurre ich deshalb, während meine Finger immer schneller über die Tastatur fliegen und BIOS-Dateien modifizieren.

„Du machst... was?“

„Gsch!“, fauche ich und hebe für den Bruchteil einer Sekunde die rechte Hand. Drei Minuten später entfährt mir ein verzücktes Jauchzen. „Ich hab‘s geschafft! Das System ist kompatibel! Endlich.“ Glücklich blicke ich zu Lennard auf.

Er jedoch zieht missbilligend die Augenbrauen nach oben. „Orgastisch, was?“ Seine Stimme hat einen verächtlichen Unterton.

„Lennard“, ich werfe noch einen Blick auf den Bildschirm. „Das ist wirklich, wirklich wichtig für mich, verstehst du?“

Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er nicht versteht.

„Seit einem halben Jahr pfriemeln wir an...“

„Wir?“ Lennard geht vor mir in die Hocke, als spräche er zu einem kleinen Kind. „Wir, Tine?“

Schmollend klappe ich meinen Laptop zu.

„Das hier“, sagt er und tippt bedeutend auf den silbernen Deckel, „ist doch sicher eigentlich wieder mal der Job deiner weitaus besser bezahlten Kollegen, die ihre Arbeitszeit lieber mit Kaffeetrinken...“

„Lass gut sein, Lennie“, unterbreche ich ihn barsch und schlage seine Einwände selbstzufrieden in den Wind. „Das hier ist nämlich der letzte Schritt auf meinem Treppchen nach oben. Oder denkst du, ich habe in den letzten zwanzig Monaten nur zu meinem Vergnügen Programmiersprachen gebüffelt und jede Woche mehr als zwölf Stunden EDV-Projektmanagement und Software-Engineering studiert, um meinen Abschluss als geprüfte Software-Entwicklerin zu erreichen und dann weiterhin in der Hotline zu arbeiten?“, rede ich mich in Rage.

„Ja, genau das denke ich, Tine.“ Lennard setzt sich auf den Rand der großen, weißen Badewanne, die stolz auf goldenen Klauenfüßen thront.

Ich ignoriere seinen besorgt prüfenden Blick. „Das hier wird mir einen Platz im Entwicklerteam sichern.“ Und damit auch eine saftige Gehaltserhöhung, füge ich im Stillen hinzu.

„Sagt wer?“ Lennard macht keinen sehr überzeugten Eindruck.

„Linda.“

„Linda“, wiederholt er und seine Lippen kräuseln sich. „Deine durchgeknallte Chefin. Soso.“

„Hey!“ Ich weiß sehr wohl, dass Lindas Geschäftsführung eigensinnig ist und mitnichten oftmals einiger Logik entbehrt, aber sie ist meine Vorgesetzte, was an sich schon ein gewisses Maß an Loyalität voraussetzt. „Linda hat eben ihren eigenen Stil, das Unternehmen zu führen. Und sie hat mir zugesichert...“

„Schriftlich?“, unterbricht mich Lennard mit inzwischen gerunzelter Stirn.

Verdutzt schiebe ich das Kinn zurück und stottere: „N-n-nein. Wieso? Sie hat mir ihr Wort gegeben. Und das würde sie nie brechen“, schiebe ich hastig hinterher.

„Na, dann“, seufzt Lennard und erhebt sich, „hoffen wir mal, dass sie bis dahin auch noch was zu sagen hat.“

Verdutzt starre ich ihm nach, wie er zur Dusche schlendert. „Was soll das denn schon wieder heißen? Len-naaard!“

„Im Keller haben sie erzählt“, erklärt er und streicht sich lässig das lange schwarze Haar in den Nacken, „dass sich Linda mit dem Geschäftskonto nach Brasilien abgesetzt hat.“

„Was?“, stoße ich ungläubig hervor. „Nie im Leben!“

Lennard zuckt gleichmütig mit den Schultern. „Wird halt erzählt.“

„Du glaubst auch echt jeden Scheiß, oder?“

Ein Grinsen umspielt seine Mundwinkel. „Ich sagte nicht, dass ich es glaube, Tine.“

„Aber?“

Die Antwort bleibt er mir schuldig. Stattdessen schiebt er sich lässig die Pyjamahose von der Hüfte und steigt in die Duschkabine.

„Ich sitze hier gerade...“

„Du bist doch sicher jetzt fertig?“, zwinkert er und dreht am Wärmeregler.

„Ja. Klar“, murre ich. Die Beine sind bereits taub und der Abdruck der Klobrille hat sich schon dauerhaft auf meinen Arschbacken verewigt. Ich stelle den Laptop auf die Kommode neben der Toilette, ziehe die Hose meines zerschlissenen Trainingsanzugs nach oben und drücke schadenfroh die Spülung. Lennards schmerzerfüllten Schrei nehme ich nur noch entfernt wahr, als die Temperatur seines Duschwassers abrupt in die Höhe schießt.

Eilends haste ich aus dem Badezimmer, die Treppen hinab, in die Küche. Dort erwartet mich Winifred, die kleine Sau. Meine Stimmung befindet sich aufgrund des Erfolgserlebnisses in Sachen Jobförderung nicht mehr ganz so nah am emotionalen Abgrund. Und Winifred bessert ohnehin meine Laune.

„Hi Süße“, begrüße ich Winifred, als sie auch schon freudig erregt auf mich zu stakst. „Wollen wir frühstücken?“

Sie grunzt zustimmend und überwacht nervös die ordnungsgemäße Zubereitung ihrer Mahlzeit, als Gunter, der Ganter, schnatternd auf den Tresen flattert.

„Hier, Kleiner.“ Ich schiebe ihm einen Unterteller mit geriebenen Karotten vor den Schnabel, reiche Winifred ihr Schälchen und ziehe meine Strickjacke über.

Mit der Kaffeetasse in der Hand warte ich geduldig, bis Minischwein und Gansmann gefrühstückt haben, öffne die schwere Eichentür und trete hinaus in den Hof, auf dessen Kopfsteinpflaster der Tau des lauen Oktobermorgens funkelt. Trotz seiner enormen Größe wirkt das über zweihundert Jahre alte Bauernhaus inmitten einer Wald- und Wiesenlandschaft warm und heimelig. Die Praxisräume meiner Eltern waren früher Kuhstall und Scheune und als solche von außen noch deutlich erkennbar. Die rustikale Einrichtung von Warte- und Behandlungszimmer stellt einen skurrilen Kontrast zu den hochsensiblen Apparaten und Hilfsmitteln der modernen und vielseitigen Veterinärmedizin dar.

Ich nehme auf der Bank zwischen den noch blühenden Astern Platz und beobachte Winifred liebevoll. Colin hatte nie Kinder gewollt. So schwer es mir damals auch fiel, akzeptierte ich seine Entscheidung, in der sicheren Annahme, er würde sie irgendwann revidieren und mit mir eine Großfamilie gründen. Dieses Irgendwann gibt es nun nicht mehr. Und meine biologische Uhr runzelt auch schon das Ziffernblatt.

Am Tag, an dem Colin vierzig geworden wäre, schenkte mir mein Vater Winifred, gerade mal zwei Monate alt und nicht größer als eine Ratte. Minischweine sind saubere Haustiere, die zum Kacken in den Garten gehen. In der Natur zählt Vorsicht und soziales Verhalten zu den wichtigsten Intelligenzaufgaben der Schweine, die übrigens in der Lage sind, bis zu hundert Befehle zu erlernen. Als Haustiere beweisen Schweine ihre soziale Ader, indem sie sich bedingungslos in die Familienhierarchie einfügen. Dieses ausgeprägte Sozialverhalten und ihr gemütliches Wesen macht sie zu einem idealen Therapeuten. Winifred sieht mich als Ersatz für die Wärme ihrer Rotte und ist deshalb äußerst anhänglich und verschmust. Der kleine Grunzer folgt mir beinahe überall hin.

„Guten Morgen, Tine. Urlaub heute?“ Pit schwingt sich geschmeidig von seinem gelben Rad, schiebt Winifred eine Zeitung in die Schnauze und kommt grinsend auf mich zu. „Bestimmt wegen des Umzugs, was?“

Er ist ja gut informiert. „Jepp“, antworte ich nickend und würge den Rest meines kalten Kaffees hinunter. „Hab heute frei.“

„Jede Menge Überstunden, was?“

Wieder antworte ich mit einer zustimmenden Kopfbewegung.

„Post für euch.“

Von einem Postboten habe ich zwar nichts anderes erwartet, lächle aber dankbar überrascht und strecke die Hand aus.

Pit, ein Zwei-Meter-Mann und beinahe genauso breit, beugt sich zu mir hinab und wirft einen gewaltigen Schatten. „Ganz wichtige Post, was? Aus Amerika.“ Wichtigtuerisch reicht er mir neben diversen Fachzeitschriften, Werbung, Geschäftsbriefen und der Telefonrechnung einen dicken Umschlag. „Hast du ein Angebot? Aus Amerika?“

Ich runzele die Stirn. Schön wär’s. „Nee, Pit. Ich tausche mit Bill Knibbelbildchen.“

„Bill? Bill Gates?“ Pits Augen weiten sich beeindruckt. „Wahnsinn!“

„Hmhm“, erwidere ich und beiße mir auf die Lippen.

„Wuff!“, dröhnt es blechern hinter Pit und ihm fällt vor Schreck fast die Brille von der Nase. Mister Little hat den Besucher endlich bemerkt und macht nun eindrucksvoll auf sich aufmerksam. Er ist alt, fast taub und seine Augen haben auch schon schärfere Zeiten gesehen. Dennoch ist der graue Irische Wolfshund mit einer Widerristhöhe von gut einem Meter, nach wie vor eine imposante Erscheinung. Sechzig Kilo geballte Kraft ersparten uns lange Jahre das Sicherheitsschloss an der Eingangstür. Heute würde er einen Einbrecher erst dann bemerken, wenn der uns bereits die Bude leergeräumt und eine Quittung dafür dagelassen hätte.

„Ejnen wunderschejnen guten Morgen, winsch ich, Frollejn Tine.“ Ja, klar. Es ist Dienstag und unsere polnische Putzfrau kommt dynamischen Schrittes auf uns zu.

Olgas Eintreffen als willkommene Entschuldigung nehmend, verabschiede ich mich vom enttäuschten Pit, der doch zu gerne gewusst hätte, wie Bill Gates nun wirklich so ist. Ich brauche jetzt dringend noch einen heißen Kaffee und meine Bachblütennotfalltropfen. Ich nehme sie immer dann ein, wenn ich mich, wie jetzt, betäubt von der Erinnerung fühle.

„Heute nicht bej Arbejt, Frollejn Tine?“ Olga kramt unter lautem Getöse ihre Putzutensilien aus dem Schrank und baut sie wie eine Division vor sich auf.

„Guuu-ten Mooor-geeen!“ Es klingt wie Singsang, als meine Mutter gut gelaunt in die Küche schlendert. Wobei anzumerken ist, dass meine Mutter fast alles kann – nur nicht singen. „Olga? Wären Sie so nett und würden heute mit dem Westflügel beginnen?“

Westflügel! Wenn ich das schon höre! Obgleich das zwei Stockwerke umfassende Haus über eine enorme Wohnfläche verfügt, finde ich die Flügelbezeichnungen nach Himmelsrichtung irgendwie anmaßend. Das hier ist schließlich nicht Tara.

Olga schultert ihr Arbeitsgerät. „Aber natierlich, Frau Glick! Is wegen Umzug, wos?“

„Hach“, seufzt Mama. „Ja. Meine kleine Ibo.“ Der Rest ihres Selbstmitleides drückt sich in Kopfschütteln aus.

„Sie ist einunddreißig“, murmele ich in meine Kaffeetasse. Ingeborg, von allen nur Ibo genannt, ist meine jüngere Schwester. Sieben Jahre jüngere Schwester, wohlgemerkt. Und ich halte es für längst überfällig, dass sie endlich auf eigenen Beinen steht und auszieht. Ich liebe Ibo, so wie ich alle meine Geschwister liebe. Während ich als Kind ein rechter Wirbelwind war – und im Übrigen auch immer noch so aussehe – kann man Ibo als Manifestation des Guten dieser Welt bezeichnen. Ihr langes, schwarzes Haar, das sich wie ein seidener Vorhang über ihre Schultern legt, die offenen, blauen Augen und die Zartgliedrigkeit, erinnern an Schneewittchen. Und dass die durch und durch gut war, wissen ja wohl alle.

Meine Mutter hat das gleiche, dunkelrote Haar wie ich. Es ist kurz und steht in alle Richtungen ab. Es ist egal, ob sie gerade aus dem Bett gefallen oder frisch gestylt ist. Sie sieht immer gleich aus. Bei mir ist das ähnlich. Nur dass meine Haare sich kringeln wie Korkenzieher und durch nichts bändigen lassen. Also gebe ich der Natur nach und lasse sie wachsen, wie sie wollen. Mit dem Ergebnis, dass mein Kopf aussieht wie eine Wildwiese und ich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Räubertochter Ronja habe. Anders als die kleine Rotznase, sind meine Augen jedoch in einem Grün, von dem man vermuten mag, dass es selbst im Dunkeln leuchtet. Tut es nur leider nicht.

„Schön, dass du dir extra heute freigenommen hast, um deiner Schwester beim Umzug zu helfen“, brabbelt meine Mutter vor sich hin, während sie sich einen Ich-bin-ja-so-gesund-Fruchtshake mixt. „Ist aber auch blöd, dass dein Vater ausgerechnet diese Woche zu dem Kongress musste. Und ich hab so viel in der Praxis zu tun. Die arme Ibo. Sie ist schon so nervös. Das erste Mal, ganz allein...“

Ich vermag nicht, sie zu unterbrechen. Ganz allein ist Ibo weiß Gott nicht. Sie und Cengiz ziehen in ein idyllisches Häuschen mit großem Garten, zentral gelegen, und es ist sicher nur noch eine Frage der Zeit, bis sie heiraten und für jede Menge deutsch-türkischen Nachwuchs sorgen.

„Weißt du, Schätzchen“, ruft sie über den Lärm des surrenden Mixers, „es macht mir schon ein wenig Sorge. Ich meine, Cengiz ist ein lieber, junger Mann, aber... nun ja, du weißt, wie leicht sich deine Schwester beeinflussen lässt.“

Ganz besonders von dir, sage ich lautlos und hole Luft, um zum Widerspruch anzusetzen, werde aber von einem weiteren Redeschwall überfahren.

„Sie ist doch so sensibel und, auch wenn sie immer das Gegenteil behauptet, weiß sie sich doch nicht richtig durchzusetzen. Du weißt doch, wie sensibel Ingeborg ist? Nicht wahr, Schätzchen? Du weißt es doch?“ Ihre Stimme zittert, und die Tatsache, dass sie Ibo bei ihrem vollen Namen nennt, zeigt mir, wie zerrissen ihr Inneres ist.

„Mama.“ Winifred grunzt verunsichert und ich sehe mich veranlasst, aufzustehen und meine Mutter in den Arm zu nehmen – wie ein kleines Kind, dem man die große, böse Welt erklärt. „Ich kenne Gizzy schon seit der Grundschule und...“

„Das ist es ja gerade“, fährt sie auf und donnert dabei mit ihrem Kopf gegen mein Kinn. Mir schießen Tränen in die Augen. „Weißt du, wie alt er schon ist?“

Gut. Das gibt mir nun wirklich Grund zum Heulen.

„Es ist doch nicht normal“, fährt sie fort, „dass ein Mann mit achtunddreißig noch nicht verheiratet ist. Irgendein Problem hat der doch?“

„Mama“, reibe ich mir das Kinn, „das Problem hast wohl eher du.“

„Ich möchte doch nur, dass sie glücklich wird. Ich möchte, dass alle meine Kinder glücklich sind. Und wenn Ibo jetzt auszieht, dann kann ich nicht mehr immer für sie da sein, wenn sie etwas bedrückt. Ihr könnt so alt werden, wie ihr wollt, aber ihr werdet immer meine kleinen Kinder bleiben.“ Mama senkt den Kopf. „Ich will doch nur auf euch aufpassen können.“ Da haben wir’s. Mit meiner Mutter ist es wie mit einem Dampfkochtopf: Wenn der Druck zu hoch wird, muss es raus.

Ich lächle gütig und setze mich wieder zu meiner Kaffeetasse. „Mama“, gebe ich der Sache einen erneuten Anstoß, „Ibo ist natürlich nervös. Man zieht ja nicht jeden Tag mit seinem Freund zusammen.“ Als meine Mutter nach Luft schnappt, hebe ich mahnend den Zeigefinger. „Aber ich weiß, dass es sehr gut überlegt ist. Und was ihr Durchsetzungsvermögen angeht, irrst du dich gewaltig. Als Grundschullehrerin hat sie wohl mehr als genug davon.“

Sie kräuselt einsichtig die Lippen.

„Du magst Gizzy doch auch.“ Ich nehme ihre Hand und suche ihren Blick. „Du weißt, wie gut er zu ihr ist. Cengiz ist seit über dreißig Jahren mein Freund. Seit über dreißig Jahren kommt er zu uns. Ich durfte sogar schon dreimal mit ihm und seinen Eltern in Urlaub fahren.“

Meine Mutter ringt sichtlich mit sich. „Jaaa. Ich weiß, dass er dein Freund ist.“

„Mein deutscher Freund mit türkischem Migrationshintergrund. Ja. Ist das dein Problem? Mama?“

Ein paar Sekunden zögerte sie, bevor sie energisch abwinkt. „Quatsch!“

„Ich werde weder Kopftuch tragen noch zum Islam übertreten“, klingt es lachend von der ersten Etage zu uns hinab, „sonst bin ich Gizzy nämlich schneller los als ich Döner sagen kann.“

Mama grinst verlegen. „So hab ich’s doch auch gar nicht gemeint.“

„Und wie dann?“ Ibo wuchtet einen Umzugskarton auf den Küchentisch und sieht unsere Mutter mit herausfordernder Miene an. „Na?“

Die kommt nun wirklich in Erklärungsnot. „Schatz“, streicht Mama ihrer Zweitgeborenen besänftigend über die Wange. „Für eine Mutter ist es immer schwer, ein Kind herzugeben.“

„Sie zieht doch nur aus“, stöhnt Lennard, der gleich drei Kisten auf einmal schleppt, „und wird nicht zur Adoption freigegeben, oder?“

„Sei nicht so vorlaut“, tadelt ihn Mama, „du wirst auch mal ausziehen und Kinder haben, die dann ausziehen, und dann weißt du, wie das ist. Und vielleicht“, schließt sie hoffnungsvoll, „kommt Ibo ja auch mal wieder nach Hause.“

„Na, da hoffe ich mal nicht“, füge ich bitter hinzu, „dass Gizzy sich zu diesem Zweck das Genick bricht.“

„Oh!“ Mama zuckt zusammen und wendet sich mir betroffen zu.

Ich habe keinerlei Bedürfnis, dieses Thema zu vertiefen, schnappe einen Umzugskarton und trage ihn in den Hof. Beim Hinausgehen kann ich Lennard noch flüstern hören: „Es war heute.“

KAPITEL drei

Zeitgleich parkt ein Umzugswagen rückwärts in den Hof ein.

„Ey, Bunny! Was geht?“ Cengiz springt behände aus dem Fahrzeug und grinst breit. Gegen ihn scheinen Honigkuchenpferde suizidgefährdet.

Ich schiele auf seine Füße. Unter der rechten Schuhsohle lugt verstohlen ein Blatt hervor.

„Was das?“, schlage ich entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. „Tust du dem Blumen platt latschen, Aldaaa!“

Cengiz springt einen Schritt zur Seite.

„Scheißendreck!“, brülle ich und deute vorwurfsvoll auf das geplättete Unkraut.

„Ey“, wirft er sich in die Brust, „bist du meim Tuss! Tust du net brullen misch, weißdu!“ Sekunden Stille. Dann deutet er auf den Umzugswagen. „Habisch konkret krasses Van, guggst du.“

„Korrekt, Alder. Beste wo geht.“

„Und wie geht es dir, Tine?“ Cengiz schlingt seinen Arm um meine Schultern.

Ich schluckte trocken ab. „Ist okay.“

„Du musst uns heute nicht helfen. Du...“

Ich legte meine Hand auf seine Brust. „Ich habe die Frust- und Heulzeremonie schon hinter mir, Gizzy. Das reicht bis zum nächsten Jahr. Jetzt brauche ich nur etwas Ablenkung.“

Cengiz machte einen nur mäßig überzeugten Gesichtsausdruck.

„Guck mal, Mum.“ Leo streckt den Arm aus und überreichte mir ein selbstgebasteltes Kleeblatt aus Filz. „Für dich“, flüsterte er mitfühlend. „Wegen dem Colin.“

Tränen der Rührung schießen mir in die Augen. Ich umarme meinen kleinen Bruder und gebe ihm einen lauten Schmatz auf die Nase. „Das ist lieb von dir, Leo. Du bist mein Schatz.“

„Du meiner auch“, sagt er verlegen. „Muss jetzt in die Schule.“ Spricht‘s und rennt davon.

Cengiz sieht ihm nach. „Der Kleine liebt dich wirklich abgöttisch.“

„Sie hat ihn schließlich großgezogen.“ Ibo stellt einen Karton neben uns ab, küsst Cengiz und versenkt ihre Finger in seinem schwarzen, dichten Haar.

„Stimmt doch gar nicht“, widerspreche ich meiner Schwester. „Und das weißt du.“

Es ist nämlich so: Die Schwangerschaft kam für unsere damals fünfundvierzigjährige Mutter ziemlich überraschend (nach dem Motto: „Wie konnte das denn passieren?“ Hierüber dürfte man als aufgeklärter Mensch nur den Kopf schütteln). Umso mehr, da sie gerade fieberhaft an ihrer Promotion arbeitete. Leopold kam unmittelbar nach Colins Unfall zur Welt – eine Welt, die für mich gerade zusammengebrochen war. Da ich zu jener Zeit lediglich einen Abendjob in einer Kneipe hatte und es in unserer gemeinsamen Wohnung ohnehin kaum mehr aushielt, bot es sich schließlich an, in mein altes Kinderzimmer zurückzukehren und mich die ersten Jahre um Leo zu kümmern. „Maaa“ war der erste Laut, den er formulieren konnte. Der zweite war auch nicht bedeutend artikulierter: „Maaammm“. Er meinte jedes Mal mich. So macht sich mein cooler, kleiner Bruder auch heute noch einen Spaß daraus, mich Mum zu nennen. Und das ist okay.

Wir haben gerade die letzten Kisten im Transporter verstaut, als Mina zur Tür herausstürzt. Eigentlich heißt sie ja Wilhelmine, aber das kann man einem Mädchen, dessen akut größte Sorge es ist, während der großen Pause das falsche Outfit tragen zu können, nicht auch noch antun, oder? Auf halbem Weg reißt ein Henkel ihrer Jette Joop-Tasche und der Inhalt ergießt sich über den Hof. Sie flucht, Gunter schnattert und flattert nervös, Mister Little bellt mangels Orientierung ins Nirgendwo und Winifred jongliert diverse Kosmetikartikel. Auf extreme Aktionen folgten extreme Reaktionen. Mina stampft laut schreiend mit den Füßen auf. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“

„Alles klar, Süße?“ Blöde Frage, wie ich nur allzu gut weiß. Also streiche ich ihr nur kurz über den Rücken und beginne, die Utensilien einzusammeln.

„Ja“, knurrt Mina patzig, ganz so, wie es sich für eine Siebzehnjährige gehört.

Ibo stemmt die Hände in die Hüften. „Wenn du so viel überflüssige Energie hast, Mina“, setzt sie zu einer pädagogischen Argumentation an, „dann komm nach der Schule bei uns vorbei, ja? Du glaubst gar nicht...“

Mina schneidet ihr mit einer theatralischen Handbewegung und einem „Klappe!“ das Wort ab, wirft das lange, glätteisengeplättete rote Haar in den Nacken und stolziert davon.

„Waren wir auch so?“, fragt Ibo.

Ich schüttele den Kopf. „Du nicht.“

„Was denn?“ Lennard steht mit ausgebreiteten Armen vorm Umzugswagen. „Ziehen wir um? Oder wird das hier ein Diskussionsforum?“

„Wer, bitte schön, hat denn die Kisten geschleppt?“

Er kommt schief grinsend auf mich zu und nimmt mich in die Arme. „Ich habe Mama beruhigt. Sie war völlig von der Rolle, nachdem du das mit dem Genick brechen gesagt hast. Weil sie nicht mehr daran gedacht hat, dass heute Colins zehnter Todestag ist. Jetzt macht sie sich Vorwürfe, von wegen schlechte Mutter, und so.“ Er holt tief Luft. „Das war weit anstrengender als die paar Schuhkartons zu jonglieren.“

„Ja. Klar.“ Ich schubse ihn zum Wagen.

„Ist es... ist es wirklich noch so schlimm?“ Lennard hat mit seiner Frage gewartet, bis wir im Auto sitzen, das nun dem Umzugswagen folgt.

„Quatsch“, winke ich ab. Ich weiß genau, worauf er hinauswill. „So schwer waren die Kisten ja gar nicht.“

„Ich meine...“

„Ich weiß, was du meinst, Lennie.“

Lennard schaltet härter als nötig in den nächsten Gang. „’tschuldige. Ich wollte nur Anteil nehmen.“ Er scheint verärgert.

Ich räuspere mich. „Hör zu, Lennie...“

„Nein, nein. Du brauchst nicht drüber reden“, erwidert er angefressen. „Mach das ruhig alles mit dir selbst aus. Oder mit deiner besten Freundin Nikola. Oder Mirco. Ich bin ja nur dein Bruder.“

Ich ziehe skeptisch die rechte Augenbraue nach oben. „Sag mal, wie bist du denn drauf?“

„Oder hacke es in deinen PC, als Blogpost, oder so.“

Ich spüre, wie er sich langsam in Rage redet. Das Getriebe spürt es allerdings auch.

„Du könntest es aber auch jemandem auf die Arschbacke ritzen. Hm? Wie wäre das?“

Lennards verbaler Angriff irritierte mich zusehends. „Was ist los? Rede mal Klartext.“

„Kriegst du eigentlich noch irgendwas mit?“ An der Ampel bremst er heftiger als nötig. Seine blauen Augen funkelten mich an. „Du bist doch nur noch unterwegs.“

„Nicht mehr lange, wenn du so weiterfährst“, gebe ich zu bedenken.

„Ach, vergiss es einfach.“

Nein! So einfach ist das nicht. Irgendwas bedrückt ihn. Arschbacke und Blogpost sind nur ein Vorwand für das Problem, das er mit sich herumträgt.

„Sag mir doch einfach, was los ist, und wir reden drüber. Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen.“ Den letzten Satz hätte ich mir wohl sparen sollen.

„Weißt du was“, schnaubt er und stiert konzentriert auf die Straße vor uns. „Leck mich einfach am Arsch.“

„Du kannst mich auch mal am Arsch lecken.“

Stille.

Ich denke an die beiden Weihnachtstassen aus der Fernsehwerbung und prustete leise.

„Du kannst mich viel Mal mehr am Arsch lecken“, sagt Lennard mit zusammengekniffenen Lippen. In Erwartung meiner Antwort platzt er fast vor Lachen.

„Immer zweimal mehr wie duuu!“

Jetzt ist zwar immer noch nichts geklärt. Aber ich weiß zumindest, in der nächsten Zeit wird es auf mich zukommen, und bin vorbereitet.

„Bist du heute Abend mal wieder im Keller?“, fragt Lennard, während er den Wagen parkt. „Du wirst schon schmerzlich vermisst.“

Der Keller ist die wohl angesagteste Kneipe im Umkreis, mit Karaokebar und dem besten Jägerschnitzel der Welt. Winifred möchte es mir verzeihen! Acht Jahre arbeitete ich dort, nachdem ich die Nase voll hatte von meinem spießigen Job als Hotelfachwirtin. Damals war der Keller noch in den Anfängen, zur Belustigung unserer Gäste wurden Karaokewettbewerbe veranstaltet. Da ich eine äußerst variable Singstimme besitze, überredete mich meine Freundin Swantje, ihres Zeichens Kneipenbesitzerin, zu allabendlichen Auftritten mit zwei, drei Songs, um das Publikum zu animieren. Die Rechnung ging auf und der Keller wurde der Renner. Seit ich bei der Festplatte, einem kleinen Softwareunternehmen arbeite, singe ich nur noch bei Gelegenheit und zu meinem persönlichen Vergnügen. Gelegenheit hat sich jedoch in den letzten Wochen nicht ergeben, ebenso wenig wie persönliches Vergnügen.

KAPITEL vier

„Ich komme Freitag in den Keller.“

„Hmhm. Wenigstens.“

„Was soll denn das nun schon wieder heißen?“, frage ich und setze, als Lennard nicht antwortet, grantig hinzu: „Willst du damit sagen, dass ich daran schuld bin?“

Er schiebt trotzig das Kinn vor. „Ich habe gar nichts gesagt.“

„Aber angedeutet.“

„Worüber streitet ihr denn? Hm?“ Ibo lehnt mit Pädagogenmiene an der Wagentür. Noch während wir synchron mit „Nichts!“ antworten, ruft sie strahlend: „Na, guck mal, wer der kommt!“

„Bin ich hier richtig?“ Arne schlendert, die Hände lässig in den Taschen vergraben, auf uns zu. „Wohnen nach Wunsch oder Schöner Wohnen?“ Er lacht einnehmend, dabei zwinkern seine hellbraunen Augen. Arne ist hochgewachsen, schlank und durchtrainiert. Oberarme und Waden zieren beeindruckende keltische Tattoos – nebenbei erwähnt, von mir gestochen. Sein schwarzes Haar wird an den Schläfen schon weiß. Und das macht ihn für die Frauenwelt noch interessanter. Er ist ein prima Kumpel, ehrlicher Freund und hervorragender Zuhörer. Treue zählt jedoch nicht zu seinen Stärken.

„Hey, Alter. Schön, dass du da bist.“ Lennard begrüßt Arne übertrieben freudig und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Werde dich echt vermissen.“

„Ihr werdet mir auch fehlen“, antwortet Arne trübselig. Er küsst Ibo beide Wangen.

Sie stupst ihm mit dem Finger auf die Nase, als wäre er einer ihrer Grundschüler. „Na, ob du dazu in Berlin so viel Zeit haben wirst? Du machst doch jetzt als Marketingdesigner richtig Karriere?“

„Das wird sich zeigen“, sagt er in gespielter Zurückhaltung und zwinkert mir zu. „Und du, Zora? Wie läuft’s mit deiner Karriere?“

„Du sollst nicht immer Zora zu mir sagen“, knatsche ich und trete auf der Stelle.

Arne lacht auf. „Na, komm schon her, du Hexe.“ Er breitet die Arme aus, ich trete einen Schritt nach vorn und bette meinen Kopf auf seiner Brust. Warm und weich ist seine Umarmung und ich weiß, ich werde sie schmerzlich vermissen.

Bis zum späten Nachmittag sind die Möbel aufgebaut, der Inhalt aller Kisten verstaut und die Installation der Geräte findet bereits durch eine qualifizierte Fachkraft statt.

Ich montiere gerade den Garderobenspiegel, als Arne darin auftaucht. „Ist echt nett von dir, dass du Ibo und Gizzy beim Umzug hilfst“, sage ich aufrichtig dankbar und blicke in sein Spiegelbild.

Arne tritt näher und ich spüre seinen Atem in meinem Nacken. „Die wenige Zeit, die mir hier mit euch bleibt, will ich doch nutzen.“

„Und deine eigenen Kartons?“, frage ich mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme, „Hast du die auch schon gepackt? Oder überlässt du das alles deiner Frau?“

Er schlingt die Arme um meine Taille. „Tine...“

„Arne? Willst du Tine nebendran hängen?“ Cengiz grinst frech und arrangiert eine Ikea-Lampe auf der Kommode. „Sähe bestimmt sehr dekorativ aus.“

„Arne?“ Als auch Ibo sich in den schmalen Flur drängt, tritt Arne einen Schritt zurück. „Habt ihr denn schon eine gute Schule für euren Kleinen gefunden?“ Mit dieser Frage verwickelt sie ihn in ein Gespräch und ich atme auf.

Ich lernte Arne vor zwei Jahren kennen. Seine Beziehung war zu diesem Zeitpunkt so stabil wie die Sowjetunion 1989 und hatte ähnlich viel Zukunft. Zudem hatte er sich Hals über Kopf in eine Kollegin verliebt. Dennoch übte seine Frau emotional so viel Druck auf ihn aus, dass er es fertigbrachte, sie erneut zu schwängern. Er verlor die Achtung vor sich selbst. Und er trauerte seiner verlorenen Liebe, besagter ehemaliger Kollegin, auf einer Weise nach, die meinem Verlust ähnlich war. Wir führten stundenlange Gespräche. Nie tiefgründig, dafür war er zu sehr einfach nur Kerl, aber voller Vertrauen und Verständnis.

„Wir sehen uns Freitag im Keller, ja?“ Arne haucht mir einen Kuss auf die Wange, bevor ich in den Wagen steige.

Es ist bereits halb zehn und ich sehne mich nach meinem Bett. „Natürlich.“ Ich streiche ihm über den Arm und drücke unauffällig seine Hand. „Bis Freitag.“

Lennard schweigt die ganze Fahrt über.

„Lennie?“, frage ich schließlich, als wir in unsere Hofeinfahrt biegen. „Willst du mir nicht mal sagen, was heute Morgen mit dir los war?“

„Mit mir? Wieso?“

„Hör zu“, beginne ich, um der Angelegenheit wenigstens einen Schuss gesunden Menschenverstandes zu geben, „das Gelabere über Blogpost und Arschritzen und dass ich alles mit mir selbst ausmache, ist doch nur ein Vorwand für etwas, das dir auf dem Herzen liegt. Das du mir sagen möchtest.“

Er ringt sichtlich mit sich. „Du, ich... ich bin noch mit Arne im Keller verabredet.“

Ich ziehe die rechte Augenbraue nach oben.

„Also...“ Als ich nicht die erwartete Reaktion zeige, beugt Lennard sich über meinen Schoß und öffnet die Beifahrertür. „Na?“

„Ist ja schon gut“, knurre ich und steige aus. Irgendwie ist er ziemlich durch den Wind.

KAPITEL fünf

Noch jemand, der ziemlich durch den Wind ist, ist Mina. Ihr Schluchzen dringt bis in die Küche hinunter. Nach dem Anpfiff von heute Morgen ziehe ich es vor, mir noch einen Apfel mit Winifred zu teilen und dann unter meine Bettdecke zu kriechen. Die Stimmung eines Teenagers ist schließlich in etwa so berechenbar wie das Wetter im April.

Ich will mir noch eine letzte Zigarette für den Tag und Winifred eine leere Blase für die Nacht gönnen, als Mina die Treppen hinunter rumpelt und an den Kühlschrank stürzt. Irritiert sehe ich zu, wie sie sich ordentlich Sekt in den Hals schüttet.

„Sag mal, geht’s noch?“ Ich nehme ihr bestimmt die Flasche aus der Hand und stelle sie laut scheppernd auf den Tisch. Winifred flüchtet erschrocken in ihr Körbchen. Nur gut, dass Gunter bei Leo übernachtet und hier nicht noch mehr explosive Stimmung verbreiten kann. „Denkst du echt, das ist das richtige Mittel gegen deinen akuten Liebeskummer?“

„Ja!“, raunzt sie und greift erneut nach der Flasche.

„Stehen lassen“, fauchte ich sie an.

„Du hast mir gar nichts zu sagen.“ Mina startet einen erneuten Versuch, sich ins Koma zu saufen.

Wieder reiße ich ihr das Objekt der Begierde aus der Hand, stelle es dieses Mal jedoch direkt in den Kühlschrank zurück. „Es reicht, Mina. Wenn du ein Problem hast, dann sprich drüber. Aber hau dir nicht sinnlos die Rübe weg. Und wenn du das nicht kannst, dann leg dich ins Bett und heule, bis die Wölfe Nachhilfestunden bei dir buchen.“

Mina stemmt die Fäuste in die Hüften und funkelt mich böse an. In ihrem Blick liegt pure Mordlust. Wobei sich ihre Mordlust im Allgemeinen und nicht auf mich im Besonderen bezieht. Schätze ich mal. „Du hast mir überhaupt nichts vorzuschreiben.“

„Ich will dir nichts vorschreiben.“ Das ist gelogen. „Ich will dir helfen.“ Das stimmt.

Einen Moment lang scheint Mina tatsächlich den Weg der Vernunft einzuschlagen. Ihre völlig überforderten Hormone führen sie jedoch rasch wieder in die andere Richtung. „Ausgerechnet du willst mir helfen“, giftet sie und ihre Stimme trieft vor Sarkasmus. Sie wendet sich hochnäsig ab.

„Kind“, kommentiere ich ihren Abgang kopfschüttelnd.

Am Treppenaufgang dreht Mina sich noch einmal um. „Als ob du ‘ne Ahnung hättest, frigide Kuh! Du bist doch bestimmt schon wieder zugewachsen.“

Peng! Das soll mich treffen. Und tut es auch. Aber gewaltig!

„Frollein!“, wettere ich. „Komm mal ganz schnell ran auf ‘nen Zentimeter! Und denk dran, da wo‘s nicht glatt ist, kannst du rennen.“ Ich bin so was von sauer und fürchte, jeden Augenblick wird Schaum auf meine Lippen treten.

Mina sieht das ähnlich. Auffallend vorsichtig nähert sie sich.

„Das“, erkläre ich autoritär, „war eben unter aller Kanone. Ich setze einfach mal voraus, dass es unüberlegt war und dir schon wieder leid tut.“

„Und wenn nicht?“, wagt sie zu fragen.

„Müsste ich dir jetzt den Hals umdrehen“, antworte ich gefährlich gelassen. Einen Augenblick lang habe ich das Gefühl, meine Augen können doch leuchten. Also füge ich rasch hinzu: „Da das aber nicht der Fall ist, rauche ich jetzt in Ruhe meine Zigarette und gehe dann ins Bett. Und falls du das Bedürfnis haben solltest, dich bei mir zu entschuldigen...“

„Argh“, knurrt Mina in ihrer gewohnt launischen Art, „back dir ‘n Eis!“

Schulterzuckend greife ich nach meinen Zigaretten und gehe nach draußen. Der Himmel ist trübe und lässt nur noch vage Erinnerungen an den goldenen Oktober zu. Ich setze mich auf die Bank und streckte die Beine aus. Mein Kopf fällt zurück, ich schließe die Augen und lasse den Tag Revue passieren. Ich komme kaum über das Frühstück bei Ibo hinaus, als ich Schritte vernehme.

„Ähäm.“ Mina räuspert sich. „Haste mal ‘ne Kippe für mich?“

„Rauchen ist ungesund.“

„Weiß.“

Ich reiche ihr die Schachtel und setze mich auf.

Nach dem zweiten Zug murmelt sie in den aufsteigenden Rauch: „Tut mir leid, dass ich dich beleidigt habe.“

„Du hast mich nicht beleidigt, Mina“, widerspreche ich. „Du hast mich verletzt.“

Sie schluckt trocken. „Das war... ich hab... es ist nur...“, stammelt sie.

„Du bist verletzt“, helfe ich ihr. „Und das macht dich wütend. Du wolltest auch jemandem wehtun, um nicht allein mit deinem Schmerz zu sein. So, dachtest du, tut es weniger weh.“

Mina sieht mich aus ihren großen, dicht bewimperten Augen an und mir wird erneut bewusst, wie sie es immer wieder schafft, die Menschen in ihrer Umgebung um den Finger zu wickeln. „Tut es aber nicht.“ Sie hört sich an, als hätte sie einen üblen Schnupfen.

Ich lasse ihr Zeit, zu überlegen, was sie nun tun will: aufstehen, nach oben gehen und sich in ihrem Zimmer in Selbstmitleid suhlen. Oder hierbleiben, mir ihr Herz ausschütten und gemeinsam nach Lösungsansätzen suchen.

Mina entscheidet sich für die zweite Möglichkeit. Und so erfahre ich, dass ihr Freund Dominik schon seit über drei Monaten zweigleisig fährt. Als ob das allein nicht schon die Höchststrafe wert wäre, ist ihre Nebenbuhlerin ausgerechnet Susan, ihre bis dato beste Freundin. Pikante Handyfotos haben die beiden entlarvt. Die moderne Technik hat halt auch ihre Tücken. Wobei zu beachten ist, dass Susan selbst sich damit brüstet, mit Dominik sexuell so kompatibel zu sein wie Paris Hilton mit einem Intelligenztest. Das Mädchen macht einen halbwegs zurechnungsfähigen Menschen echt fertig. Dominik hat meines Erachtens ein nicht minder schwerwiegendes Problem mit ungleicher Gehirnmassenverteilung. Er scheint zwar nicht dumm, aber gegen ihn ist Roberto Blanko ein echter Frauenversteher. Was seine Selbsteinschätzung betrifft, sollte er diese grundlegend überdenken. Jedenfalls kann er Minas Aufregung überhaupt nicht nachvollziehen und bietet ihr großzügig einen Dreier an. Ihre brüske Ablehnung deutet Dominik als Angriff auf seine Männlichkeit – und erklärt die Beziehung als beendet.

„Ich könnte ihm die Eier abreißen!“, heult sie wütend auf.

Ich schüttele den Kopf. „Du bekämst noch nicht mal Bewährung, weil’s Vorsatz war.“

„Weißt du“, schnieft sie, „ich will ihn ja gar nicht zurück. Er soll nur dafür zahlen, was er mir angetan hat, dieser großkotzige Macho.“

Etwas in meinem Hirn platzt auf. „Mina, hol den Sekt aus dem Kühlschrank, ich mache Rüdiger startklar.“

Nur fünf Minuten später sitzen wir gemeinsam am Küchentisch und trinken Sekt aus Kaffeetassen, was unserem Vorhaben einen gewissen eigensinnigen Flair geben soll. Mina zündet mit zittrigen Fingern zwei Zigaretten an und reicht mir eine davon. Vor uns leuchtet der Bildschirm meines Laptops. Als nunmehr geprüfte Softwareentwicklerin ist es ein Leichtes, mich in das Abi-Jahrbuch ihrer Schule zu hacken.

„Da haben wir ja schon das selbsternannte Sahnetörtchen“, grinse ich mit dem Charme einer Schwarzen Witwe.

Mina hustet nervös den Rauch aus. „Und jetzt?“

„Jetzt bist du gefragt, kleine Schwester.“

Persönliche Angaben ähnlich dem Auszug eines Freundschaftsbuches, sind in den Abi-Jahrbüchern neben einem besonders gelungenen Foto Standard. Ich gleiche das Bild unseren Bedürfnissen an. Ein bisschen Lipgloss, vollere Wimpern und Kajal in sattem Schwarz. Er sieht nun so hetero aus wie Lorenzo auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

„Rammstein?“ Würde wohl passen, ist aber – wie so vieles an ihm – nur Gehabe. „Daraus machen wir Take That.“

„Und Sido und Bushido... kannst du das durch Mark Medlock und Enrique Iglesias ersetzen?“

Ein diabolisches Grinsen huscht über mein Gesicht. „Schätzchen, und wie ich das kann!“

So wird aus Der Soldat James Ryan mal rasch Der mit dem Wolf tanzt, und aus Platoon der herzzerreißende Kinorenner Titanic.

Wir modifizieren die Einträge mit der Hingabe einer Schlange, die ihre Maus verzehrt, und sind anschließend so befriedigt wie nach einem durchschnittlichen Geschlechtsakt.

„Geht’s dir jetzt ein bisschen besser?“, frage ich und verwische alle Spuren unseres Eingreifens in die Datei.

Mina lehnt sich zurück und lässt mit dem Finger ihr Handy auf dem Tisch kreisen. „Glaube schon. Ja. Doch.“

„Aber noch nicht ganz, hm?“

Sie seufzt. „Ich soll ihm morgen seine Sachen mit in die Schule bringen.“

Woher ich diese kriminelle Energie nehme, ist mir schleierhaft. Aber ich reiße Mina vom Stuhl und kann das Adrenalin auf meiner Zunge schmecken. „Komm schon. Die packen wir ihm noch zusammen.“

„Bin ich bescheuert, oder was?“ Mina starrt mich an, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst.

Ich versinke in den Tiefen unseres Küchenschranks und finde endlich eine rosafarbene Blechbüchse mit grünen Elefanten. Sie ist nicht größer als eine Coladose.

„Wofür ist die?“

Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, antwortete ich: „Na, irgendwo müssen die Sachen doch rein, oder?“

„Aber da...“

„...werden sie ganz bestimmt reinpassen, Süße. Alles eine Frage der Komprimierung.“ Mein Gott, wie kann sie nur so begriffsstutzig sein? „Jetzt hol den Krempel. Ich warte draußen auf dich.“

Das Haus der Rache musste auf sicherem Grund gebaut werden. Ich stelle einen Blecheimer im Hof auf und schaffe aus Grillanzünder und Span das Fundament. Minas Augen leuchten heller als die Flammen, als sie mit einer Kiste bepackt neben mich tritt. Mister Little gähnt unbeeindruckt, während ein Stück nach dem anderen im Feuer landet. Vom T-Shirt über Plüschtiere bis hin zu einer Großpackung Kondome geht alles in Asche. Und mit jedem Stück verändert sich Minas Gesichtsausdruck mehr zu einem glückseligen Strahlen.

KAPITEL sechs

Am nächsten Morgen wachen meine Kopfschmerzen mit mir auf. Ich bin völlig gerädert. Nach unserer imaginären Macho-Verbrennungszeremonie habe ich Mina noch eine Fertigmischung Bachblüten zubereitet und mich am Brandy, der zur besseren Haltbarkeit beigefügt wird, wohlgetan. Ein, zwei Gläschen zu viel, schätze ich.

Meine Augen brennen wie die Hölle und sind hodensackdick. So etwas passiert, wenn man abends die Kontaktlinsen nicht herausnimmt. Außerdem gilt es zu vermeiden, dass durch aufsteigenden Rauch und Aschepartikel die Netzhaut unnötig gereizt wird. Verdammter Mist! Ich sehe aus wie Betty Ford, bevor ihre Klinik gegründet wurde. Im Badezimmerschrank suche ich nach meiner Brille und bekomme da schon Schweißausbrüche. Das wird nicht mein Tag werden heute, ganz bestimmt nicht.

Ein Blick auf die Uhr drängt zur Eile. Ich knote meine widerspenstigen Locken notdürftig zusammen, ziehe bequeme Baggyjeans und ein schwarzes Langarmshirt über und habe gewisse Ähnlichkeit mit einem störrischen Schulkind. Doch darauf kommt es jetzt nicht an. In meinem Magen machen sich urplötzlich Energie, Tatendrang und die Freude auf ein neues Aufgabenfeld breit.

Nach meinem Studium arbeitete ich als Mädchen für alles im damals noch aus sechs Mann bestehenden Computerladen, der Festplatte. Ich reparierte Hardware, konfigurierte Software, schmiss die Buchhaltung und beriet Kunden telefonisch bei Problemen mit dem System. In den letzten Jahren habe ich unzählige Seminare für Künstliche Intelligenz, Systemanalyse und Softwareentwicklung besucht und nicht zuletzt meinen Abschluss als geprüfte Software-Entwicklerin geschafft, woraufhin Linda mir nun eine vergleichsweise hoch dotierte Stelle als Anwendungsprogrammiererin in Aussicht stellt.

„Die Festplatte, schönen guten Morgen. Sie sind verbunden mit der Computerhotline. Mein Name ist Tine Glück. Was kann ich für Sie tun?“ Lange, lange wird es nicht mehr dauern und ich bin diese telefonische Computerseelsorge endlich los.

„Gudde Morga! Vögele.“

„Guten Morgen, Herr Vögele“, bleibe ich professionell höflich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„I han oi CD bkommen“, erklärt mir die Stimme mit stark schwäbischem Dialekt. „Die isch mid Inderned ond so. Abr die fonkzionierd ned.“

„Von welchem Provider ist die CD denn, Herr Vögele?“ Ich persönlich finde es nervig, wenn Dienstleistungsanbieter es sich zur Gewohnheit machen, ständig den Namen des Kunden zu wiederholen. Als ob der ihn vergessen haben könnte. Sogenannte Fachleute befürworten jedoch diese Taktik. Einerseits würde sich der Name in meinem Gedächtnis festsetzen (was meines Erachtens überflüssig ist, ich kritzele ihn sowieso immer auf meine Schreibtischunterlage), andererseits würde sich der Gesprächspartner geschmeichelt fühlen, wenn er seinen Namen hört. Bei meinem schwäbischen Freund habe ich dieses Gefühl allerdings nicht. Er ist ganz aufgebracht.

„Brovidr... was? Was?“

Ich räuspere mich. „Wie sieht die CD denn aus? Steht irgendetwas drauf?“

„Natierlich.“

„Und was steht drauf, Herr Vögele?“, frage ich nach einer Weile stiller Kommunikation.

Es raschelt am anderen Ende der Leitung. Dann schnauft er. „Da steht Ah-Oh-Äll.“

„AOL. Aha. Und was passiert, wenn Sie die CD ins Laufwerk legen?“

„Gar nix!“

Ich recke konzentriert die Schultern. „Was haben Sie denn für ein Computersystem, Herr Vögele?“

„Oi Blay Schdazion!“

Sofort sinke ich in meinen Stuhl zurück. „Mirco, du Arsch!“

„Guten Morgen, Lieblingskollegin“, lacht Mirco und hat glücklicherweise seinen schwäbischen Dialekt abgelegt. „Wollte nur mal hören, ob du schon da bist?“

„Wo soll ich denn sonst sein?“

„Auch wieder wahr.“

Es entsteht eine kurze, angespannte Pause. „Wo warst du gestern? Ich habe bestimmt dreißig Mal versucht, dich anzurufen.“

Ich verdrehe die Augen. „Es waren zwölf Mal, Mirco. Und ich hatte dir gesagt, dass ich Ibo und Gizzy beim Umzug helfe. Mein Handy war ausgeschaltet.“

Stille.

„Du hast doch nicht ernsthaft gedacht, dass ich mich den ganzen Tag unter der Bettdecke verkrieche und leide?“

Unbeholfen räuspert er sich. „Ich bin in etwa einer halben Stunde bei dir.“

„Kann‘s kaum erwarten“, simuliere ich orgastische Erwartung. „Und bring Frühstück mit!“

Nicht weniger als vierzig Minuten später steht Mirco mit weit ausgebreiteten Armen vor mir. Was mich wundert. Er fährt nämlich wie ‘ne schwule Hupe. Aber das ist auch so ziemlich seine einzige Macke. Mirco ist gut einsneunzig groß, durchtrainiert, hat halblanges, gepflegtes Haar und trägt meistens einen Dreitagebart. Er hat was von Schwiegermutters Liebling und coolem Lover zugleich. Kurz, er ist der genetische Zwilling von James Blunt, nur dankenswerterweise ohne die geschwollenen Lippen. Und schwul.

Ich vergleiche Menschen in meiner Umgebung gerne mit Prominenten. Da ist zum Beispiel Jackie. Mirco und ich nennen sie nur de Schaggeliene. Sie ist die Paris Hilton unseres Teams. Eine verwöhnte Göre, die sich in unsere Firma eingekauft hatte. Oder besser, von Daddy hat einkaufen lassen. Überhaupt alles an ihr ist von Daddy gesponsert, vom teuren Sportwagen über die Designerklamotten bis hin zu ihren Titten. Oder Falko, seit Gründerzeiten Hauptprogrammierer der Festplatte. Ein bisschen abgedreht und undurchsichtig, aber ein grundehrlicher, herzensguter Mensch. Mit dem schmalen Gesicht und der wahnsinnig großen Nase erinnert er mich an Rufus Beck. Die Uschi Glas unter allen weiblichen Mitarbeitern ist eindeutig Linda, meine Chefin. Sie tut für ihr Äußeres Dinge, für die jeder Gebrauchtwagenhändler ins Gefängnis käme.

„Sag mal, findest du nicht auch, dass ein Kätzchen so ein Singleleben ungemein aufwertet?“, frage ich kurze Zeit später und puhle Kürbiskerne von meinem Brötchen.

Mirco schaut misstrauisch von seinem Baguette auf.

„Immerhin freut sich mal jemand, wenn du abends nach Hause kommst“, verleihe ich meinem Argument Nachdruck.

„Sag mal“, lehnt er sich zurück und sieht aus wie ein Pinguin, dem ich einen Satz Winterreifen aufschwatzen will, „ich dachte, deine Eltern sind Tierärzte? Haben sie jetzt auch noch eine Zoohandlung aufgemacht?“

„Mein Vater ist außerdem Vorsitzender unserer Tierschutzorganisation“, belehre ich ihn, nicht ohne einen Hauch Stolz in der Stimme, an dieser humanitären Aufgabe mitzuwirken. „Da ist es logisch, dass wir verwaiste Tiere aufnehmen, aufpäppeln und weitervermitteln.“

Mirco legt seine Hand auf meinen Arm. „Wie wäre es denn“, erwidert er zaghaft, „wenn du dich selbst mal vermitteln würdest?“

Ich ziehe den Arm zurück und starre angestrengt aus dem Fenster. „Es gibt keinen Kerl, der es mit Colin aufnehmen könnte. Das weißt du genau.“

„Na? Wieder mal ‘ne Anmache vermasselt, Mirco?“ Spöttisch grinsend fischt Jackie ein Salatblatt aus seinem Baguette.