Gefallene Engel - Gunnar Staalesen - E-Book

Gefallene Engel E-Book

Gunnar Staalesen

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Beschreibung

Dieser Titel gehört zu einer Romanreihe, auf der die bekannte Krimifernsehserie ›Der Wolf‹ um den Privatdetektiv Varg Veum basiert. Die Erstausstrahlung der beiden Staffeln erfolgte in Deutschland 2008 bei Das Erste und 2013/2014 beim ZDF. »Die Beerdigung fand an einem Freitag statt. Es war der zehnte Dezember, und die Luft war grau von Schneeregen.« Melancholischer könnte der Auftakt kaum sein zu dem tristen Sittengemälde, das Privatdetektiv Varg Veum anläßlich einer Häufung von Todesfällen unter ehemaligen Schulkameraden aufrollt. Seine Ermittlungen führen zurück in die Popszene der siebziger Jahre, als die Bergenser Band »Harpers« sich nach fünfzehnjährigem Bestehen ohne ersichtlichen Grund über Nacht auflöste. Was geschah in jener Nacht? Veum stößt auf eine Mauer des Schweigens. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 526

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Gunnar Staalesen

Gefallene Engel

Krimi

Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Originalausgabe erschien 1989 [...]Da ein Teil der [...]Und plötzlich verstummten alle, [...]1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950

Die Originalausgabe erschien 1989unter dem Titel Falne engler bei Gyldendal Norsk Forlag, Oslo.

Da ein Teil der Handlung dieses Buches, hauptsächlich aus stadtgeographischen Gründen, in und bei einer leicht erkennbaren Kirche in Bergen spielt, möchte ich hiermit betonen, daß sowohl Pfarrer als auch Organist in dieser Kirche, ebenso wie alle anderen Personen des Buches, rein fiktiv und schiere Phantasieprodukte des Autors sind, ohne den geringsten realen Bezug.

 

G.S.

Und plötzlich verstummten alle, weil sie entdeckten, daß draußen mit einem Mal hellichter Tag war, obwohl es Mitternacht war, und daß der Engel Gabriel - die Arme vor der Wand ausgebreitet wie ein Spalier - sie schweigend durch das Fenster anblickte, „mit Augen, die schöner waren als Wein“.

 

ALAIN-FOURNIER

1

Die Beerdigung fand an einem Freitag statt. Es war der zehnte Tag im Dezember und die Luft war grau von Schneeregen.

Ich traf Jakob Aasen vor der Kapelle. Zuerst erkannte ich ihn fast nicht wieder. Er hatte sich einen Bart stehen lassen, und das dunkle, dichtgelockte Haar hatte graue Strähnen.

Einen Augenblick standen wir da und sahen einander an. Dann lächelte er vorsichtig, und ich nickte, als eine Art Bestätigung.

„Varg?“

Ich nickte. „Jakob …“

Wir gaben uns die Hand.

„Wie lange mag es her sein, daß wir …“

Ich hob die Schultern. „1965.“

„Ja, aber - wir müssen uns seitdem doch mal gesehen haben?“

„Ein paarmal auf der Straße, vielleicht. Zufällig. - Warst du die ganze Zeit in der Stadt?“

„Mehr oder weniger. Und du?“

„Auch, jedenfalls seit 1970.“

„Sechzehn Jahre - und dann sind wir uns kaum begegnet.“

„Wieviele andere aus der Klasse hast du getroffen?“

Er sah sich um. „Tja, gute Frage.“

„So ist das eben. Wir trampeln uns Pfade und folgen ihnen, zum Wasserloch und zurück, Jahr für Jahr. Du kannst ein ganzes Leben in Bergen verbringen, ohne einem Klassenkameraden zu begegnen, der zwei Straßenecken weiter wohnt. Er geht seinen eigenen Weg zur Arbeit. Und du deinen. Und sie kreuzen sich nie.“

Er lächelte schief. Wieder sah er sich um. „Es ist traurig mit Jan Petter. Glaubst du, es kommt jemand von den anderen?“

„Paul Finckel kämpft sich da unten den Berg rauf.“

„Der Paul? Ist das da der Paul?“

„Mhm.“

Wir standen da und sahen auf Paul Finckel, der seinen dicken, bleichen Körper vom Mølledalsvei den Berg hinauf zur Kapelle schleppte.

„Er ist doch Journalist, oder?“

„Stimmt. Und er ist auch nicht gerade jünger geworden.“

Er sah mich aus den Augenwinkeln an. „Nein?“ Dann nickte er. „Doch, die Jahre gehen nicht spurlos an einem vorbei.“

Ich betrachtete ihn. Sein Nacken war gebeugt, und das runde Cherubgesicht war sowohl grauer als auch schwerer als ich es in Erinnerung hatte. Aber die lebhaften braunen Augen erkannte ich wieder. Sie waren noch genau dieselben, munter und melancholisch zugleich.

Die Jahre hinterlassen ihre Spuren bei uns allen. Die Furchen in meinem Gesicht waren in diesem Jahr noch tiefer geworden. Nach jeder Saison erntet dein Gesicht neue Trauer und Sorgen, und der gute, alte Bauer Zeit muß mit jedem Jahr ein wenig tiefer pflügen.

„Und was treibst du so, Varg? Ich meine, ich hätte mal gehört,…“

„Du hast sicher richtig gehört. Ich bin so eine Art - privater Ermittler.“

Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Tja, wie wenig man doch weiß. Darüber, was aus den Leuten so wird, meine ich.“

„Tjaja. Und du?“

„Ich arbeite als Organist. Und dann komponiere ich ein bißchen.“

„Als Organist? In einer Kirche?“

Er nickte. „In einer Kirche.“

„Du hast recht. Was weiß man schon? - Du hast den Rock also hinter dir gelassen, sozusagen?“

Ein trauriges Lächeln landete auf seinem Mund, flog aber sofort wieder davon. „Ja, das stimmt wohl.“

Paul Finckel hatte uns erreicht. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn mit einem Taschentuch, das umfangreich genug war, um mehrere lokale Korruptionsskandale zu verbergen. Er trug eine aufgeblasene, dunkelblaue Daunenjacke, die den Eindruck erweckte, als würde er jeden Augenblick abheben. Wir waren alle ganz nach unserem Charakter gekleidet. Jakob trug eine nüchterne, hellbraune Trachtenjacke aus Shetlandwolle. Ich selbst trug meinen neusten Wintermantel, den von 1972.

Finckel grüßte. „Hei, Varg. Eins hab’ ich mich schon immer gefragt. Warum setzen sie die Kapellen in diesem Land immer auf Bergspitzen?“

Ich blickte an Ulriken hinauf, der sich noch sechshundert Meter über uns erhob. „Die Spitze ist da oben, Paul.“

„Es kommt einem jedenfalls so vor.“ Er sah zu Jakob. Dann dämmerte es ihm langsam. „Jakob? Jakob Aasen! Menschdasgibtsdochnich! Seit wann hast du denn so ’nen Urwald im Gesicht?“

Jakob grinste und sah sich um. „Schscht! Ich bin hier in geheimer Mission!“

Finckel schob die Unterlippe vor. „Verstehe. Der Gesandte der Harfenjungs?“

„Genau,“ sagte Jakob, während das Lächeln langsam erstarb.

„Und was ist mit Johnny? Kommt er nicht?“

„Keine Ahnung. Ich hab ihn - ach, ewig nicht mehr gesehen. Außerdem war der Johnny nie jemand, der zu Beerdigungen ging, um es mal so auszudrücken.“

„Da kannst du recht haben. Wenn du mich fragst, war er mehr der Typ für die Feier danach.“ Finckel wandte sich mir zu. „Und dem Meisterdetektiv geht’s gut? Keine neuen Leichen auf der Liste?“ Er dämpfte die Stimme. „Jan Petter ist nicht…“

„Das weißt du selbst am besten. Es stand was über ihn in deiner eigenen Zeitung.“

„So schlechte Zeitungen lese ich nicht,“ sagte Paul Finckel.

Jakob fuhr dazwischen: „Wißt ihr, woran er gestorben ist?“

Finckel nickte. „Er ist von einem Gerüst gefallen. Er war Bauarbeiter. Von achtzehn Meter Höhe auf den Beton. Hatte nicht mal mehr Zeit, ein Vaterunser zu beten.“

Das ließ uns verstummen, alle drei.

Die Türen der Kapelle wurden geöffnet, und man ging langsam hinein. Die beiden Kapellen lagen mit den Eingängen zueinander. Die kleinere hieß Hoffnung. Sie war für die Auserwählten. Die größere hieß Glaube, reserviert für die große, weiße Herde. So sah es vor einem gewöhnlichen norwegischen Gottesdienst an einem ganz normalen Sonntag hier nicht aus. Aber so ist der Tod. Er führt so manches ad absurdum.

Jan Petter sollte im Glauben beigesetzt werden, und der Raum wurde ungefähr halb voll. Ganz vorne rechts saßen die nächsten Angehörigen. Er hatte eine Frau und zwei halbwüchsige Kinder. Ich erkannte seine Eltern wieder: weißhaarig und mit durch den plötzlichen Verlust schweren Gliedern. Der Rest schienen Verwandte, Arbeitskollegen und Nachbarn zu sein. An einer Wand stand eine Gewerkschaftsfahne. Der Sarg war mit einem üppigen Gesteck mit hellroten Rosen geschmückt, und der Boden davor war bedeckt mit Kränzen und Sträußen.

Die Kapelle war fünfzehn Jahre alt. Das Interieur wurde geprägt durch naturfarbenes Holz und mit Naturstein durchbrochenem grauen Beton. Über der Kanzel hing ein einfaches Kreuz aus schwarzem Gußeisen.

Draußen vor den hohen Fenstern erfaßte der Wind die Rhododendronbüsche und die nackten Bäume. Dieses Wetter kannten die Bergenser nur zu gut: zwei-drei Grad über null, grauweißer Schneeregen und ein scharfer Wind aus Südwest.

Der Pfarrer kam herein und nahm Platz. Auf der Galerie über uns stimmte ein einsamer Violinist eine traurige Melodie an, die ich nicht zuordnen konnte.

Ich sah mich vorsichtig um. Wir drei waren die einzigen aus der Klasse. Einige wohnten vielleicht nicht mehr in der Stadt. Andere hatten nicht auf den Namen in der Todesanzeige reagiert. Die anderen hatten sich nicht die Zeit genommen, um ihn das erste Stück des Korridors auf dem Weg zum Oberlehrer zu begleiten.

Die Melodie war zu Ende. Der Pfarrer erhob sich. Es war ein verhältnismäßig junger Mann, mit einem kindlichen Gesicht, einer großen Brille und einem Pony. Auf mich wirkte er eher wie ein Konfirmand als wie ein Kaplan. Aber seine Stimme klang dunkel und bestimmt, als er sagte: „Wir haben uns hier heute zusammengefunden, am Sarg von Jan Petter Olsen,…“

Und meine Gedanken begannen zu wandern, zurück in unser Klassenzimmer. Noch einmal sah ich die Klasse von fast dreißig Jungen vor mir, die sieben Jahre lang, von 1949 bis 1956, zusammen die Schulbank gedrückt hatten.

Ich saß an einem der Fenster und hatte den Puddefjord im Blickfeld. Wenn der Unterricht zu langweilig war, glitt mein Blick nach draußen, wo Schiffe jeder Größe vorbeistampften: Schlepper und Askoyfähren, Lastschiffe und Pasagierdampfer. Sie nahmen Kurs auf exotische Ziele wie Kleppesto und Rio de Janeiro, und sie riefen die unvermeidbare Vorstellung von Trockenfisch und Bananen wach. Den Duft von beidem. Den Anblick von Säcken und weißen Holzkisten mit blauen und gelben Deklarationszetteln. Das eine wurde beladen, das andere gelöscht. Hafenspeicher mit Kränen und Taljen, die an Galgen erinnerten. Schiebetüren, die in die leere Luft geöffnet wurden. Wir Kinder alle, mit ausgefahrenen Stielaugen, oben auf der Kante des Nordnesparks, geschützt hinter einem Zaun, meilenweit entfernt von Kleppesto und Rio de Janeiro.

Die Klasse um mich herum. Jakob in der ersten Reihe. Er wohnte ganz am Rand des Einzugsgebiets der Schule, am Ende der Skottegate, an einer der Ecken zur Claus Frimannsgate. Er spielte Klavier und kassierte immer die besten Noten. Und dann Benny, der eigentlich Bernhardt hieß und der Rowdy der Klasse war: zehn Kilo schwerer als die meisten von uns, rauchte mit zehn, trank mit dreizehn, fuhr mit fünfzehn zur See und endete später als einer der sichersten Baggerführer der Stadt. Da war Paul Finckel in der letzten Reihe, kurzatmig und pummelig, schon damals ein witziger Hund, mit schlagfertigen Kommentaren für ein schallend lachendes Publikum. Da war der Hei-wie-geht’s- und Scheiß-drauf-Charmeur Helge, der als erster von uns denselben Weg ging, als er während des Löschens in den Schiffsladeraum stürzte, in Liverpool, irgendwann in der Osterwoche 1964. Und dann der stille, dunkelhaarige Arvid, so nachdenklich, daß er mit sechsunddreißig Jahren an Krebs starb. Da war Pelle, der in der gleichen Straße wie ich wohnte, und damals mein bester Freund war. Zusammen gründeten wir alles von Geheimclubs bis zu Detektivbüros, von Straßenschützenkorps bis zu Fahrradclubs, bis uns die beruflichen Karrieren unserer Väter einholten. Pelle und seine Familie zogen nach Fredrikstad, und wir sahen uns nie wieder. Es gab noch mindestens zwanzig andere, große und kleine, rothaarige und blonde, sommersprossige und blasse. Wenn wir uns zum Klassenfoto aufstellten, sahen wir aus wie jede andere x-beliebige Jungenklasse zu der Zeit: in Strickjacken, Pullis und Windjacken, in Knickerbockern, die unsere Mütter aus den abgelegten Sonntagshosen unserer Väter aus den dreißiger Jahren genäht hatten, und zu Ehren des Fotografen standen wir mit Strickmützen in der Hand, diesen blauen Strickmützen, mit den blauweißen Streifen an der Kante, vom Waschen verfärbt, oder grauen, einfarbigen Mützen, ohne die im Streit abgerissenen Pudel. Niemand hatte schwarze Kreuze über unsere Köpfe gezeichnet. Niemand hatte uns gesagt, wann wir sterben würden.

Die Gemeinde sang: „Führ’ mildes Licht durch Finsternis, führ’ mich.“ Ich erinnerte mich aus früheren Musikstunden an das Lied. „Ich geh’ in dunkler Nacht - weit von zu Hause - führ’ du, führ’ du mich an.“

Neben mir sang Jakob mit einem hohen, klaren Tenor. „Geleite meinen Fuß, seh ich auch nicht den Weg, so weit und fern, ein Schritt ist mir genug.“

In der ersten Reihe schluchzte jemand leise.

Wenn einer von uns starb, dann war es, als säßen wir immer noch im selben Klassenzimmer, irgendwann nach der Hälfte der Schulzeit, in der fünften oder sechsten Klasse. Noch saßen die meisten von uns an ihren Pulten. Die Plätze von Helge und Arild waren schon seit mehreren Jahren leer. Jetzt war auch Jan Petter aufgestanden und rausgegangen. - Einer nach dem anderen wurde ausgemustert, bis alle Plätze leer waren, und der große Oberlehrer kam und einige von uns ganz nach oben in den Zeichensaal schickte, und den Rest in den Heizungsraum im Keller.

Der junge Pfarrer sprach. Es wurde wieder gesungen: „Die Liebe Gottes sprudelt frisch, wie eine Quelle rein.“ Der Gesang brachte mich zurück in die Zeit, als Rebecca und ich zusammen auf der Empore des Bethauses gesessen hatten, wo ihr Vater, der Laienprediger, mit bebender Stimme von Erleuchtung und Verdammnis gesprochen hatte. Rebecca, die in meinem Leben gekommen und gegangen war, zu- und wieder weggezogen, seit ich vier war und bis über zwanzig. Die ich sogar mit offenen Augen vor mir sehen konnte, mit fünf Jahren, in einer Strickjacke mit Zinnknöpfen, bis sie mit achtzehn Jahren einfach dasaß und auf mich wartete, während ich mich vorbeugte und sie vorsichtig küßte. „Bleibt in der Liebe, und ihr habt Gottes Frieden, denn Gott selbst ist die Liebe.“

Der Sarg sank hinab, und der Pfarrer sprach: „Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden, aus Erde wirst du wieder auferstehen.“ Drei Schaufeln Erde fielen mit einem dumpfen Laut auf Jan Petters Sarg. Jetzt klang leises Weinen aus der ersten Reihe. Schultern zuckten, und jemand murmelte leise etwas vor sich hin. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

Wir sangen Lieblich ist des Daseins Wonne. Der Soloviolinist spielte In einsamen Stunden von Ole Bull. Jan Petters Witwe und die beiden Kinder waren vorn und warfen jeder eine Rose auf den herabgesenkten Sarg, bevor sie hinausgingen in das vestländische Winterwetter.

Wir anderen folgten, langsamen Schrittes.

Ich blieb ein paar Sekunden vor dem Sarg stehen. Die Tür zum Korridor schloß sich hinter Jan Petter. Bald würde es schellen.

Die Frage, die du dir unwillkürlich stelltest, war: Wer wird der nächste sein? Bist vielleicht du an der Reihe, das nächste Mal?

So ist das. Man wußte nie, wann man zum Schulzahnarzt gerufen wurde. Und man weiß nie, wann man sterben muß.

2

Vor der Kapelle blieben wir stehen. Keiner von uns sah den anderen direkt an, und keiner wollte die Initiative ergreifen und aufbrechen. Am Ausgang stand Jan Petters Witwe und nahm mit mattem Händedruck die Kondolenzen der letzten Beerdigungsgäste entgegen. Der Schneeregen landete wie farbloses Konfetti auf unseren Schultern.

Selbst Paul Finckels laute Sarkasmen waren zu Nichts zusammengeschrumpft. „Will jemand von euch mit in die Stadt fahren?“

„Ich bin selbst mit dem Auto da,“ sagte ich.

„Warum gehen wir nicht noch zusammen ein Bier trinken, alle drei? Ich muß nur noch kurz in der Redaktion vorbei.“ Finckel sah Jakob an.

„Ja, warum nicht. Ich muß nur erst nach Hause und mich um die Kinder kümmern.“

„Wo wohnst du?“

„Nygårdshoyden.“

Ich sah Finckel an. „Dann fahr’ ich Jakob da runter. Wo wollen wir uns treffen?“

„Eventuell müssen wir meine Kleinste zu meiner Schwester rausfahren,“ sagte Jakob. „Sie wohnt in Sandviken.“

„Ruft mich an, wenn ihr soweit seid,“ sagte Finckel. „Ich bin in der Redaktion. Ziemlich zentral, was alle aktuellen Kneipen angeht.“

„Deswegen arbeitet er da,“ fügte ich hinzu.

„Das ist bestimmt nicht der schlechteste Grund,“ sagte Finckel, grunzte kurz zum Abschied und ging.

Wir folgten, hinunter zum Parkplatz.

 

Wir fuhren stumm von Mollendal weg, überquerten die Gamle Nygårdsbrücke und fuhren die verbotene Linkskurve, zu der das neue Verkehrsmuster einen fast einlud, in Richtung Marineholm, auf die Südseite des Nygårdsparks.

Jakob erklärte, wo er wohnte. In der Mitte zwischen Johanneskirke und dem Sydnæs Bataljon. Der Lärmpegel stieg dort im Frühjahr beträchtlich, wenn die Osterwoche begann, mit Glockenläuten zu allen Zeiten und Unzeiten, und das Schützenkorps nicht nur dienstags sondern auch samstags exerzierte.

„Wie viele Kinder hast du?“ fragte ich, als wir am Fußballstadion in Mohlenpris vorbeifuhren.

„Drei,“ antwortete er. „Obwohl - Kinder … Maria ist sechzehn. Dann Petter, der ist vierzehn, und die kleine Grete ist sechs. Sie ist das Problem. Wenn Maria nicht ein paar Stunden auf sie aufpassen kann.“

Als wir oben in den Olav Ryes vei einbogen, sagte er: „Meine Frau ist - ausgezogen.“

Ich nickte stumm.

Das Haus, in dem er wohnte, lag mitten im Viertel. Es war aus rotem Backstein und lag der Schattenseite der Straße zugewandt. Jakob wohnte im ersten Stock, wo ehemals zwei Wohnungen jetzt zu einer erweitert worden waren. Halb oben angekommen, mitten im dunklen Treppenhaus blieb er stehen, die eine Hand auf dem Geländer, drehte sich halb zu mir herum und sagte, auf seine nachdenkliche Art: „Wie hältst du es mit Jesus, Varg?“

Die Frage kam völlig unerwartet, und ich fühlte mich wie eine Schildkröte, die jemand auf den Rücken gedreht hat, vollkommen schutzlos. Ich murmelte: „Naja, ich … Warum fragst du? Seid ihr verwandt?“

Er betrachtete mich forschend. Dann lächelte er mild. „Es ist eigenartig. Sich nach so langer Zeit wiederzutreffen. Es ist so viel passiert, nicht wahr?“

Ich nickte. Es war so viel passiert.

Dann ging er weiter. Er klingelte, schloß gleichzeitig auf und hielt mir die Tür auf.

Wir kamen in einen langen, dunklen Flur. Am Boden stand eine offene Schultasche aus hellbraunem Leder. Schuhe und Stiefel lagen verstreut herum, und auf einem Stuhl lagen übereinander vier oder fünf Jacken von verschiedener Form und Größe. Auf einer kleinen Kommode erkannte ich mit Mühe ein altmodisches, schwarzes Telefon unter einem Haufen von Broschüren, Wurfsendungen und kostenlosen Zeitungen. Von irgendwo aus der Nähe dröhnten monotone Discorhythmen.

Die Tür zur blaugestrichenen Küche stand offen. Teller, Tassen, Gläser und die Reste vom Frühstück standen noch immer auf den Tisch, und ein etwas fader Geruch von ranzigem Fett und alten Mohrrüben kam uns entgegen.

Jakob schloß die Tür zur Küche und öffnete eine andere, zum Wohnzimmer, und die Popmusik wurde lauter. „Komm rein, Varg.“ Dann rief er: „Maria! Bist du da?“

Nach einer tauben Moment ging weiter rechts im Flur eine Tür, und die Popmusikk wurde lauter. „Was ist?“ tönte eine Jungmädchenstimme.

Jakobs Stimme ertrank immer mehr in der Musik, je weiter er im Flur verschwand. Ich sah mich in dem großen Wohnzimmer um. Es war L-förmig, weil sie zwei Räume verbunden und eine Wand durch eine große, weiße Schiebetür ersetzt hatten. Im hinteren Teil des Raumes stand auf dem abgebeiztem Holzboden ein schwarzer Flügel, umgeben von Flickenteppichen, und an den Wänden drumherum hingen schwarz-weiße Grafiken. An einer Wand standen nur Regale mit Büchern und Notenheften, und hinter einer offenen Schranktür erkannte ich vage einen nicht unbeträchtlichen Teil der Platten- und Kassettensammlung des Hauses.

Der Teil des Raumes, in dem ich stand, war bestimmt durch Kontraste. Die meisten Möbel waren alt, in einer Art nachgeahmtem Rokoko, mit verzierten Beinen und bezogen mit einem glatten Stoff mit braungrünem Muster. Zwei moderne, schwarze Ledersessel, zwei einfache, mit Sackleinen bezogene Stühle und ein Sprossenstuhl in Kindergröße vervollständigten und verstärkten den Eindruck von fehlender Linie.

In der traditionellen 60er Jahre-Schrankwand standen Radio, Plattenspieler, Kassetten- und CD-Rekorder, und mitten im Raum stand ein Fernsehapparat mit einem Videorekorder zwischen den Beinen. Neben dem o-beinigen Rokokosofa stand ein überfüllter Zeitungsständer, und überall wo Platz war, in der Schrankwand, auf Tischen, Boden und Regalen, lagen Haufen von Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und Notenblätter. Über den Teppich verstreut lagen Legosteine, Puppen, Playmobilfiguren, Zeichenblocks und Buntstifte und verbreiteten das gemütlichste Chaos, das ich seit meiner Scheidung erlebt hatte.

Auch an den Wänden war die Mischung von Stil und Inhalten deutlich. Kruzifixe und Ikonen hingen Seite an Seite mit Grafiken von Elli Trestegård und Ingri Egeberg, einem Aquarell von Oddvar Torsheim und einem Landschaftsbild von Hardanger. Irgendein Straßenkünstler hatte die drei Kinder zu unterschiedlichen Zeiten ihres kurzen Lebens gezeichnet. Alle drei sahen genauso aus, wie Kinder auf solchen Zeichnungen immer aussehen: wie Touristen im Dasein, bevor das Visum abläuft.

Das älteste Kind hatte helleres Haar als Jakob, aber die gleichen runden Gesichtszüge, die er gehabt hatte. Ihr Blick war blau und unsicher, der jugendliche Mund rosa geschminkt, und sie errötete charmant als der Vater sagte: „Das hier ist Varg, Maria. Er ist ein alter Klassenkamerad von mir.“

Sie gab mir eine tote Hand und murmelte undeutlich irgendetwas. Dann beeilte sie sich, wieder in ihr Zimmer zu kommen, in ihren grauen Jeans und dem rosa Pulli.

„Sie hat eine Verabredung,“ sagte Jakob unbeholfen, als hätte er sich immer noch nicht daran gewöhnt, daß seine Tochter Verabredungen hatte, die sich seiner Kontrolle entzogen. „Also holen wir Grete im Kinderhort ab und fahren sie raus zu Åse. Ich rufe eben an und frag’‚ ob es in Ordnung geht. - Petter kommt allein zurecht, wenn er nach Hause kommt. Ich schreib’ ihm einen Zettel.“

Er sah sich um, schob mit einem Fuß einen Haufen Zeitungen zur Seite, gab es auf, einen besseren Eindruck zu schaffen, und ging telefonieren.

Åse?

Ich versuchte, mich an seine Schwester zu erinnern, aber ich wußte kaum noch, daß er überhaupt eine Schwester hatte.

Während er telefonierte, nahm ich eine Zeitschrift und blätterte darin. Es war eine dieser literarischen Zeitschriften, bei denen man ziemlich kariert denken können muß, um sich im Layout zurechtzufinden, und eigentlich Doktor in Semiotik sein muß, um überhaupt ein Wort zu verstehen. Ich sah mir die Bilder an.

Er erschien wieder in der Türöffnung, mit einer Plastiktüte in der Hand. „Es geht in Ordnung. Wollen wir los?“ In den Flur hinein rief er: „Tschüß, Maria!“ Aber die einzige Antwort kam von A-ha. Er zuckte mit den Schultern und lotste mich wieder zur Tür hinaus. „Bälger,“ murmelte er.

Wir holten seine Kleinste im Kinderhort an der Johanniskirche ab. Sie trug eine dunkelrote Regenkombination, mit langen, gelben Manschetten als Schutz gegen Regenwasser an den Armen, und blau-weiße Gummistiefel. Sie hatte rotgefleckte Wangen, und aus beiden Nasenlöchern lief Stachelbeergelee. Zwei Vorderzähne fehlten, als sie uns entgegenlachte.

Ihre Geniertheit war anders als die ihrer Schwester. Sie errötete nicht, sondern beobachtete mich mit schrägem Blick den ganzen Weg vom Tor bis zum Wagen. An einer Hand hatte sie einen blauen Plastikeimer, dessen Henkel an einer Seite abgerissen war. Mit der anderen Hand hielt sie den nassesten Teddybären, den ich je gesehen hatte. „Den läßt sie nicht eine Sekunde allein,“ murmelte Jakob. „Ich muß ihn waschen, wenn sie schläft, sonst würde sie darauf bestehen, mit ihm in die Schleuder zu kriechen.“

Jakobs Schwester wohnte in einer Seitenstraße des Nye Sandviksvei, mit einem Mann, der auf einer Bohrinsel arbeitete und einem Bernhardiner, der aussah, als sei er mindestens hundert Jahre alt. Er hob kaum ein Augenlid als wir auf der Treppe an ihm vorbeigingen. „Åse hat keine eigenen Kinder,“ sagte Jakob, als würde das alles erklären.

Åse machte selbst auf, und ich konnte mich immer noch nicht an sie erinnern. Sie war zehn Jahre jünger als wir und gehörte so gesehen zu einer anderen Generation. Jetzt war sie eine neue Erfahrung, groß, in einer sehr bunten, karierten Schürze, hellbrauner Breitcordhose und mit grauen Filzpantoffeln an den Füßen. Sie war die archetypische Mutter, und ich ahnte, was der Grund dafür war, daß ihre Augen nicht beteiligt waren an dem breiten Lächeln, das der Mund aussandte.

Wir stellten uns vor, und sie erinnerte sich natürlich auch nicht an mich. Keiner von uns machte den Eindruck, als habe er etwas verpaßt.

Sie und Jakob beschlossen, daß Grete gleich bis zum nächsten Tag bleiben konnte.

Dann fuhren wir hinauf nach Stolen und stellten den Wagen ab. Das war das letzte, was wir noch mit völlig klarem Kopf taten. Die nächsten Tage vergingen wie in Trance, so wie es Tage schließlich immer tun, wenn man selbst längst die Kontrolle verloren hat.

3

Wir fingen ganz klein an, jeder mit seinem Halben, in einem Lokal, das an ein Verkaufslokal für ländliches Kunstgewerbe erinnerte, von den harten Holzbänken bis zu den fülligen Serviererinnen. Die Gesichter der Menschen um uns herum waren aufgedunsen und ausdruckslos, weil sie entweder zu jung waren oder zu viel Bier getrunken hatten. Der Lärmpegel erreichte ungefähr das Niveau eines mittleren Country- und Western-Festivals, bei dem das meiste noch akustisch gespielt wird.

„Wie lange ist es her, Varg? Daß wir uns das letzte Mal richtig gesehen haben. Ich meine - miteinander geredet.“

„1965.“

Sein Blick verlor sich in der Ferne. „1965? Das weißt du noch so genau?“

Ich nickte.

„1965,“ sagte er. „Johnson war Präsident der USA. Der Vietnamkrieg war in vollem Gang. Die Beatles brachten Rubber Soul ’raus. Die Harpers waren auf der Spitze ihrer Karriere, und du und ich …“

„Gingen getrennte Wege.“

Er winkte nach zwei neuen Halben, und sie kamen auf den Tisch, bevor die Blume zusammengesackt war.

„Das Leben verläuft in merkwürdigen Zirkeln, Varg. Wir könnten geometrische Figuren zeichnen. Schnittpunkte finden …“

„An den merkwürdigsten Stellen.“

„Du hast recht. An den merkwürdigsten Stellen.“

„Was passierte eigentlich mit - den Harpers?“

Er antwortete nicht direkt, sondern summte die Melodie eines ihrer populärsten Songs und ließ sie in einer häßlichen Dissonanz enden. „Aber wir hatten ein paar gute Jahre, Varg.“

„Die Harpers?“

Er schnitt eine Grimasse. „Du und ich. Früher, meine ich.“ Er trank einen Schluck. „Ich denke oft zurück an die Kindheit, als die einzige wirklich glückliche Zeit.“

„Da kannst du recht haben.“

„Ohne Verantwortung, ohne andere Sorgen als vielleicht, daß irgendjemand uns einen Arschvoll angedroht hatte, nach der Schule, aber wir wußten aus Erfahrung, daß das vorbeiging. Die Woche darauf war sowas wieder vergessen.“

„Meistens.“

„Die Jahreszeiten, Varg. So lang wie Ewigkeiten. Winter, in denen wir mit Lenkschlitten durch Straßen rasen konnten, in denen fast kein Auto fuhr. Oder uns an den Mindebus hängen, Klosteret runter, ganz bis zu Brown, wenn wir Glück hatten.“

„Den Bus kapern, nannten wir das.“

„Ja, genau! Im Sommer, wenn wir vom 17. Mai[1] an in Nordnes badeten. Der Frühling mit unseren Straßenspielen, der Herbst mit Fahrradtouren zu den Apfelgärten in Minde. - All das …“ Er presste die Lippen zusammen und sagte mit dünner Stimme: „Vorbei.“

„Und der Paul, der am hintersten Pult saß und kommentierte, und dann der Lehrer Bergesen, der sich im Werkraum einen extralangen Zeigestock machen ließ, so daß er auf dem Katheter sitzen und trotzdem dem Paul an den Kopf hauen konnte.“

„Ja, der Paul! Sollten wir ihn nicht anrufen?“

„Doch.“

„Ich mach’s.“

Während Jakob telefonierte, ließ ich den Eindruck von Country- und Western-Festival auf mich einwirken. Die meisten um uns herum waren halb so alt wie wir und gehörten der VBC-Generation an: Video, Bier und Chips. Der dicke Bauch war ihre Visitenkarte, und sie saßen breitbeinig da, ohne Pferd, und kippten einen nach dem anderen, an einem frühen Winternachmittag im Western Saloon. Draußen hatte sich Dunkelheit breitgemacht, graumeliert vom Schneeregen, künstlich vergoldet durch die giftiggelbe Straßenbeleuchtung von Bryggen.

Jakob kam zurück, mit zwei neuen Halben. „Ist unterwegs.“

„Jaja, schon seit Jahren,“ sagte ich. „Chronisch im siebten Monat.“

Jakob schüttelte den Kopf. „Der Paul ist Journalist. Naja, schlagfertig war er schon immer. Aber ich hab ihn immer als Feinkostwarenhändler vor mir gesehen. Oder?“

„Das ist eine aussterbende Rasse. Sie werden nicht einmal vom Tierschutzbund geschützt.“

„Und du …“ Er sah mich mit fröhlich mißtrauischem Blick an. „Du nennst dich doch nicht etwa wirklich Detektiv?“

„Was meinst du, wie ich mich nennen sollte? Konsulent?“

„Ja? Privater Ermittlungskonsulent, oder - nein, paß auf! Nachforschungskonsulent, klingt das nicht vertrauenerweckend?“ Er beugte sich nach vorn. „Wenn ich also einmal Hilfe brauchen sollte, - dann häng’ ich mich einfach ans Telefon?“

„Wenn nur das Kabel nicht reißt. Es ist schon strapaziert genug,“ sagte ich kryptisch und spülte meinen Mund mit Malz und Hefe aus.

Ein Schatten fiel über unseren Tisch. Da stand Paul Finckel schwankend, die Hände flach in Hüfthöhe abgespreizt, wie um einen Rock zu pantomimen, während er fröhlich sang: „Ingeborg, das nenn’ ich ’nen Spaß, mit dir beim Tanz - und ein volles Glas.“

Jakob fiel ein: „Ingeborg, komm, sag’ nicht nein - heut abend woll’n wir glücklich sein.“

Am Nebentisch klatschten zwei Jugendliche schwerfällig in die Hände, mehr um der Bewegung willen als aus Begeisterung. Paul Finckel drehte sich trotzdem um und nahm elegant den Applaus entgegen, winkte, um „ein, nein - drei! - Halbe für uns, Fräulein, für mich und meine Freunde“ zu bestellen, und ließ sich dann plump auf den freien Teil der Bank fallen, auf der ich saß. „Wohin soll’s gehen?“ fragte er und sah sich um.

Es ging durch drei leere Gläser zur nächsten Haltestelle, ein Stückchen weiter auf Bryggen. Hier war die Klientel älter, bestand mehr aus chronischen Säufern, und die Musik war nicht so ohrenbetäubend, so daß es möglich war, sich zu unterhalten.

Wie bei Alice in Wonderland tranken wir nicht nur aus Flaschen, die uns kleiner machten, sondern wir wurden auch jünger. An dem Tisch mit dem karierten Tischtuch schrumpften wir zu drei Jungs zusammen, die sich irgendwo in dem bedeutungsvollen Vakuum zwischen zehn und dreizehn befanden, auf dem Sprung in die Welt der Mysterien.

Paul Finckel bekam das Haar zurück, das er mitten auf dem Kopf verloren hatte, eroberte die gut imitierte Elvis-Tolle zurück, gegen die sich sein dünnes Haar schon immer gesträubt hatte, saß wieder mit dem ewigen leichten Grinsen um den Mund in der letzten Bank, ein Irritationsmoment im Alltag der Lehrer und ein Witzbold, dem der Erfolg vorbestimmt war. Er zog wieder in der Abelsgate ein, das kurze, steile Straßenstück zwischen Nordnesveien und Haugeveien, der mittlere von drei Söhnen, aber der einzige mit angeborenem Witz, Bruder zweier Schwestern, alle Kinder eines Elektrikers, der Per hieß und ein längliches, schmales Gesicht hatte, unter einer dichten, blonden Haarmähne, was ihm im Volksmund den unvermeidlichen Namen Glühbirne gab.

Jakob Aasen wurde wieder bartlos und picklig, wie schon in jungen Jahren, ein nachdenklicher Musterschüler aus der Claus Frimannsgate, Sohn eines Verkäufers in einem renommierten Herrenausstattungsgeschäft und einer Mutter, die zu Hause Klavierstunden gab.

„Leben deine Eltern noch?“ fragte ich.

„Meine Mutter ist tot. Ich habe ihren Flügel bei mir stehen. Aber Vater lebt noch. Aber das Geschäft, in dem er gearbeitet hat, ist von Bik Book aufgekauft worden.“

Und ich selbst?

Ich wurde zum einzigen Kind des Straßenbahnschaffners, der in seiner Freizeit Altnordische Mythologie studierte und die größte Stunde seines Lebens erlebte, als er seinem Sohn den Namen gab. Ich zog wieder in das schiefe, graue Haus, mitten in einer Seitengasse, wo jetzt ein Wohnblock stand und eine Art Fußballplatz war, schräg gegenüber von Anita, die in der Straße das Mädchen mit den engsten Pullis und den üppigsten Titten war, wenn du von allen Schwergewichtlerinnen um die vierzig und älter absahst, die ihre Milchbehälter vom Vorkriegsmodel auf solide Fensterbänke stützten, wenn sie sich aus dem Fenster lehnten, um mit den Nachbarsfrauen zu tratschen. An dunklen Herbstabenden hing mein Blick an dem durchscheinenden Rollo vor dem Fenster, hinter dem sie sich auszog, in der Hoffnung, wenigstens einmal eine Silhouette zu erspähen. Eine Hoffnung, die definitiv starb, als sie von Johnny schwanger wurde, nach Paddemyren umzog und endgültig ins Lager der Erwachsenen überwechselte.

„Woran denkst du, Varg?“ fragte Finckel.

Ich kehrte zurück ins Jetzt. „Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es sagte.“

„Ich glaube das meiste von dir.“ Er blinzelte anzüglich. „Es sah jedenfalls nach angenehmen Gedanken aus.“

Ich stand auf und nickte zur Toilette hin. „Ich muß eben …“

„Waren sie so angenehm?“ Wieder das lautstarke Lachen.

Ich sah auf sie hinunter. Der Jakob und der Paul. Wir waren nicht gerade die Drei Musketiere gewesen, und es war mehr als zwanzig Jahre her. Aber vielleicht war es doch unser letzter gemeinsamer Abend.

Ich hatte aufgehört, die Halben zu zählen, und noch steigerte sich der Rausch, leicht wie ein Elefant an einem Fallschirm. Das Lokal sah freundlich und anheimelnd aus, mit dem großen Wandgemälde vom Bergenser Hafen, den braunen Sitznischen und den breitbeinigen Serviererinnen, die irgendwie schon immer dagewesen waren. Ein Sprechchor brummender Stimmen, wie gutmütig aufwachende Bären, wurde lauter und leiser und verschwand, als die Toilettentür hinter mir zufiel.

Vor einem Becken stand vornübergebeugt ein Mann Mitte Fünfzig. Das halblange Haar fiel ihm wirr in die Stirn, auf der eine tiefe, rotbraune Narbe sich vom der einen buschigen Augenbraue schräg nach oben zog, und der feuchte Mund war von fuchsroten Bartstoppeln umgeben, von Nikotin verfärbt. Er stützte sich mit einer Hand gegen die Wand, mit der anderen hielt er sich am schiefen Turm von Pisa fest, als sei er das einzige, an das es sich in diesem Leben zu klammern lohnte.

Als ich hereinkam sah er auf und sagte: „Schljompfssmrff!“

Ich war ganz seiner Meinung.

„Bitteorogknfff,“ fuhr er fort, mit großer Überzeugung, während sich sein Blick auf mein linkes Knie konzentrierte.

Ich erledigte mein Geschäft, knöpfte meine Hose wieder zu und fragte ihn, ob ich ihm irgendwie helfen könnte.

Da bekam er einen solchen Schreck, daß er fast umgefallen wäre. Aber er nahm die andere Hand zu Hilfe und schaffte es, sein Gleichgewicht zu halten. Zum ersten Mal verstand ich, was er sagte: „Grschmmich in Ruhe!“

Ich nickte, wünschte ihm weiterhin viel Vergnügen und ging wieder hinein zu den anderen. Es ging abwärts mit den Politikern dieser Stadt.

Paul Finckel hatte beschlossen, irgendwo tanzen zu gehen. „Muß mein Taktgefühl mal wieder testen,“ sagte er und grinste zweideutig.

Jakob fiel langsam der Kopf auf die Seite. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt getanzt habe,“ sagte er mit schwerer Zunge.

„Mein letztes Mal verleitet mich nicht zur Wiederholung,“ sagte ich.

„Na kommt schon!“ sagte Finckel. „Es ist nicht so schlimm, wie es klingt!“

Zögernd leerten wir unsere Gläser und verließen das Lokal. Es fielen große Schneematschflocken, als würden atemlose Engel mit der Posaune mißglückte Seifenblasen über die Stadt pusten.

Bergen sah aus wie ein einziges großes Weihnachtsgeschenk. Überall glitzerten buntbesprühte Tannenzweige, schwingende Glühbirnen, Weihnachtsmänner in trostlosen Schaufenstern, in denen eher die Preisschilder als die Gegenstände das Bild dominierten, und aus camouflierten Lautsprechern tönten uns klirrend Weihnachtslieder entgegen wie konservierte Aufnahmen von längst vergangenen Adventsfesten. Die Torgallmenning hinauf hatten sie den alljährlichen Wald von Weihnachtsbäumen gepflanzt, und die Weihnachtssammlung der Heilsarmistinnen hatte ein paar Wochen vor Weihnachten den Sperrmüll überflüssig gemacht.

Finckel führte uns, über Torget und zurück in die Vergangenheit. „Wißt ihr noch, wie wir in die Vikinghalle zum Tanzen gingen - oder in die Espelandshalle, mit der Askoyfähre rüber nach Bergheim - oder in den Kjobmann, wenn alle Osterlämmer losgelassen wurden? - Ja, du, Jakob, du warst doch wohl überall?“

Jakob nickte. „Es gibt kein Dorffest und kein Tanzlokal in der Stadt, wo ich nicht gespielt habe. Aber wir sahen das Ganze ja aus einem etwas anderen Winkel, von der Bühne.“

„Hätte ich Flügel, so flöge ich weit, mit den Harpers gen Himmel, für alle Zeit!“ johlte Finckel. Dann kam er wieder auf die Erde zurück. „Aber du, Varg, warst nicht so oft dabei, oder?“

„Oh doch, aber vielleicht nicht mit dir, Finckel.“ Aus irgendeinem Grund gelang es mir nicht, ihn wieder beim Vornamen zu nennen. Er war und blieb der Finckel, etwas anderes wollte mir nicht über die Lippen.

Aber er hatte recht. Ich war selten zum Tanzen gegangen. In den Jahren ging ich lieber zu den Samstagstreffen im Versammlungshaus, wo Rebeccas Vater sprach. Und es vergingen noch viele Jahre, bevor ich mit ihr zum Tanzen ging …

Wir standen irgendwo Schlange. Finckel witzelte nach links und rechts, während Jakob schwankend und in himmlischer Harmonie dastand. Vor uns stand Petrus in Türsteheruniform, zählte, wieviele Schlipse wir trugen und ließ uns ein nach dem Mengenprinzip.

Als wir endlich das Nadelöhr passieren durften, fühlten wir uns wie Kamele nach einem langen Wüstenmarsch. Aber bevor wir richtig drinnen waren, hatte uns die Musik die Haare nach hinten gebürstet, und sogar Finckel war nah daran, vom Sockel zu kippen.

Wir arbeiteten uns zu drei Stehplätzen um einen runden Tisch in Brusthöhe vor, und Finckel holte uns drei hohe, schmale Gläser Pils von der Bar. „Das sind Halbe, auch wenn’s nicht so aussieht!“ rief er.

„Bezahlen wir Höhenzulage?“ rief ich.

Er öffnete die eine Hand und sah auf das Wechselgeld. „Luxussteuer auch noch, wie’s scheint.“

Jakob beugte sich zu uns herüber und rief, etwas leiser: „Sagt mal, sind wir nicht viel zu alt für die Show hier?“

Wir sahen uns um.

Wir gehörten definitiv zu den ältesten Jahrgängen. Die meisten Mädchen hier würden wohl eher mit anderen Mädchen tanzen, als mit uns. Der Rhythmus aus der Musikanlage schlug wie waagerechte Eisenspitzen durch unsere Köpfe, pflanzte sich fort durch alle Knochen und ließ uns schließlich vor und zurück zucken, zu einer und zur anderen Seite, vor und zurück, zur einen und zur anderen Seite, auf eine Weise, die uns vorzeitig altern ließ, ließ uns viel früher, als wir gedacht hatten, auf dem Boden der Biergläser ankommen, und danach wieder an die Oberfläche treiben, wie verschreckte Aquariumfische in einem Bassin, das für Haie bestimmt war.

Draußen auf der Straße, mit dem Lachen der Schlange zwischen den Schulterblättern, gestand Finckel sofort seinen Fehler ein. „Tut mir leid, Jungs. Ich hab eure Pässe nicht richtig gelesen. Ich hätte mir die Geburtsdaten genauer angucken sollen. - Nächste Station Wachsfigurenkabinett! Da finden wir die passenden Frauen …“

Aber als wir das Restaurant erreichten, das im Volksmund den Namen Wachsfigurenkabinett hatte, waren die für uns passenden Frauen schon sehr beschäftigt.

Wir quetschten uns an einem Zweiertisch zusammen, im Schatten einer Palme mit gespaltenen Haarspitzen, und nahmen das Lokal genauer in Augenschein.

Hier tanzten sie jedenfalls Tänze, deren Schritte wir beherrschten. Ein Drei-Mann-Orchester mit Rhythmusgerät und Keyboard sang die Fjellveivise, im Swingtakt und mit italienischem Akzent. Der Leadsänger war zweifelsohne aus Knarvik, aber seine zwei Kollegen kamen eher aus der Nähe von Napoli als aus Nordnes.

„Du weißt, wie sie diese Art Handklaviatur, oder remote keyboard, wie es in der Fachsprache heißt, nennen?“ sagte Jakob.

„Nein. Wie denn?“

„Mädchenfänger. Nachdem es auf den Markt kam, wurde es nämlich auch für den Pianisten leichter, direkt von der Bühne Mädchen aufzureißen.“

„Ich merke schon, es zieht dich zum Mikrophon,“ witzelte Finckel.

Jakob schüttelte den Kopf. „Oh nein. Jetzt nicht mehr. Wenn ich sowas wie das hier seh’ und höre, dann bin ich gerade froh, daß wir rechtzeitig aufgehört haben.“

„Wie lange wart ihr dabei?“ fragte ich.

„Bis - Mitte der 70er Jahre.“

„Und der Johnny ist immer noch dabei,“ sagte Finckel.

Jakob lächelte schief. „Der Johnny war aus ’nem anderen Holz als wir anderen. Für ihn gab es nur zwei Möglichkeiten: weitermachen, oder …“ Er zeigte auf den Boden. „Abwärts.“

„Warum habt ihr aufgehört?“ fragte ich.

Er ließ seinen Blick in meine Richtung gleiten, sah mir kurz in die Augen und bewegte ihn weiter. „Wir - haben einfach aufgehört.“

„Kellner!“ winkte Finckel.

Ein kleiner, dicklicher Kellner mit dunklen Locken und dicker Hornbrille gab jedem von uns eine Karte mit Fettflecken und ließ uns zehn Minuten die Reiseroute studieren, bevor er zurückkam und notierte, wohin wir wollten. Wir bestellten und bekamen jeder unser Bier.

Die passenden Frauen waren weiterhin beschäftigt. Sie tanzten wie junge Mädchen. Das einzig Anrührende an ihnen war, daß sie so tanzten, wie junge Mädchen vor dreißig Jahren getanzt hatten. Wären sie in dem Lokal aufgetaucht, das wir gerade verlassen hatten, hätte man sie angeguckt wie Fossilien aus dem Silur. Auch wenn sie sich, so gut es ging, eingeschnürt und hochgeschnürt hatten, brauchte es nicht einmal ein geschultes Auge, um zu sehen, daß Krebsoperationen und Zahnkorrekturen sie recht weit von den Frauen entfernt hatten, mit denen wir in den 50ern beim Tanz gewesen waren. Und sie wußten es selbst. Die Perücken lagen wie zerrupfte Nager auf ihren Köpfen, und sie hatten mit Tanzpartnern vorlieb genommen, die zehn-zwanzig Jahre älter waren als sie, mit schütterem Haar und steifen Knien.

„Ich habe eine Theorie,“ sagte Finckel. „Der einzige von uns dreien, der in diesem Laden reelle Chancen hat, bin ich.“

„Ach ja?“ sagte ich und sah mich um. Am Tisch nebenan saß eine Frau in meinem Alter, mit einem schönen und alkoholisierten Gesicht, in dem Zeit und Angst ihre Spuren hinterlassen hatten, wie Vogelfüße in frischem Schnee. Sie hatte eine frisch angesteckte Zigarette im einen Mundwinkel hängen, und einen Augenblick lang glaubte ich, ihren Blick eingefangen zu haben, bis ich begriff, daß es die leere Luft zwischen uns war, in die sie starrte.

„Du, Jakob, siehst viel zu jugendlich aus, mit dem Buschwerk in deinem Gesicht, das du dir angeschafft hast,“ fuhr er fort. „Und du, Varg, bist ein bißchen zu flott in den Kurven. Diese Frauen hier, deren Körper den Zahn der Zeit nicht ganz verkraftet haben, und jedenfalls keine zu starke Beleuchtung vertragen, die wollen am liebsten einen noch verlebteren Körper, um sich darin zu spiegeln. Deshalb wählen sie einen wie meinen,“ sagte er und lächelte stolz, faßte um seinen Bauch und hievte ihn hoch, um ihn dann gemächlich wieder an seinen Platz über dem Gürtel zurücksacken zu lassen.

„Wir hätten also mit anderen Worten lieber bleiben sollen, wo wir waren?“ sagte ich.

Er lachte. „Nein, oh nein. Da war der Abstand zu groß. Zwei Mädchen in den Dreißigern, das wäre das Richtige für euch.“

„Kennst du welche?“

„Wenn du sie ordentlich gebraucht magst, schon.“

Nicht lange danach tanzte er mit der Frau vom Nachbartisch. Sie schwebte wie eine verkannte Ballerina zwischen seinen kurzen Armen, aber ihr Kopf war weit, weit weg, und sie kommunizierten nur mit dem Unterleib.

Jakob und ich tauchten unsere verlorene Jugend in neue Biergläser, aßen angebrannte Steaks und weichgekochten Blumenkohl, und fühlten uns schwerer und schwerer zwischen den Ohren. Es war ein langer Tag gewesen, wie es Tage, die mit Beerdigungen beginnen, oft sind.

„Ich weiß noch, einmal, Varg, im Gymnasium. Wir waren eine ganze Clique, die ins Neptun ging nach einem Gymnasiastentreffen. Das letzte Treffen der Frühlingssaison, im Mai, und sie hatten Maiglöckchen auf dem Tisch. Du stecktest eines ins Bierglas und fragtest: Serviert ihr hier das Bier in Blumenvasen, oder was? - wenig später mußten wir gehen.“

„Das ging ziemlich schnell damals, daß wir gehen mußten.“

Wir beendeten die Mahlzeit. Zum Nachtisch bestellten wir zwei neue Halbe. Paul Finckel hatte sich längst einen geholt und am Nebentisch Platz genommen, was die Frau, mit der er getanzt hatte, noch ein wenig nervöser und alkoholisierter aussehen ließ.

Jakob sah mich inquisitorisch an. „Du bist so still geworden, Varg. Woran denkst du?“

„Ich hab zurückgedacht an - damals.“ Ich lächelte schief. „An die Mädchen, die wir - kannten.“

„Und an wen?“

„Och - verschiedene.“ Ich ließ meinen Blick durchs Lokal wandern.

„Siehst du hier vielleicht welche von ihnen? Willst du tanzen?“

„Nein. Ich fürchte, diese hier waren zu alt, auch schon vor fünfundzwanzig Jahren.“

„Vielleicht sollten wir gehen?“ näselte Jakob. Die Halben begannen, ihre Wirkung zu tun.

„Vielleicht.“ Wenn ich ehrlich war, hatte ich selbst Seegang im Blick. Ich rührte mit dem Zeigefinger im Bierglas herum. „Warum habt ihr mit den Harpers aufgehört, Jakob?“

„Warum fragst du?“ sagte er und machte eine abrupte Bewegung, wie wenn ein Hund versucht, sich von der Kette zu befreien.

„Och, ich …“

Er unterbrach mich: „Wir wurden zu alt. Die Interessen gingen nach und nach in verschiedene Richtungen.“ Er wandte den Kopf zur Seite, wie um deutlich zu machen, daß er nicht weiter darüber sprechen wollte.

„Was ist aus euch geworden?“

Er wandte sich wieder mir zu, und lächelte sarkastisch. „Ich sitze hier.“

„Das seh’ ich. - Und der Johnny singt immer noch?“

Er nickte und sah an mir vorbei. „Der Johnny singt. Wir könnten …“

„Ja?“

„Nein, ich weiß nicht. Er singt heute abend, im Steinen. Die haben da eine Reihe mit Altpopsängern, jeden Freitag.“

„Ja? - Hast du Lust?“

„Eigentlich nicht. Andererseits … Doch. Laß uns hingehen. Ich hab’ was, das …“ Er sprach nicht zu Ende, sondern blieb in Gedanken versunken sitzen.

Ich holte ihn wieder heraus. „Was ist mit den anderen?“

„Mit welchen anderen?“

„Von den Harpers.“

„Erinnerst du dich noch an sie?“

„Natürlich erinnere ich mich an sie.“

Er beugte sich nach vorn über die Tischplatte. „Du warst doch nie beim Tanz, Varg.“

„Sie gingen doch zur selben -“

„Warum -“

„… Schule.“

„… nicht?“

Ich sah ihn genauer an. Er hatte einen streitsüchtigen Gesichtsausdruck bekommen. „Tja.“

„Tja?“

„Weil ich eine Menge Zeit mit jemandem verbrachte, der auch nicht zum Tanzen ging.“

Er grunzte.

„Aber das heißt nicht, daß ich euch nicht gesehen hätte. Hast du vergessen, daß ich euch ein paarmal die Anlage mit getragen habe? Einmal draußen in Salhus, einmal in der Espelandshalle, und einmal waren wir verdammt nochmal sogar ganz draußen in Rong, mit zwei Fähren und Bussen, ewig rein und wieder raus.“ Und sie hatten auf der Bühne gestanden, im grellsten Scheinwerferlicht, seit Gott die erste Morgendämmerung entzündete, und spielten, als hätten sie Luzifer selbst auf den Fersen.

The Harpers.1959. Der Johnny in Hawaihemd und schwarzen Terylenhosen, mit langem Haar im Nacken und einer Frisur wie ein Vaselinefabrikant, mit Elvis-Zuckungen in Handgelenk, Kinn und Hüftpartie, einem Stimmvolumen wie ein Nebelhorn, und der Hand wie ein Dampfhammer an der rotschimmernden Gitarre: ein typischer Drei-Akkord-Mann, der schon damals durch Sexappeal und demonstratives Brunstgehabe wirkte. Zwei Schritte neben und einen halben Schritt hinter ihm Jakob, auch er mit Gitarre, aber bei weitem besser in der Handhabung der Saiten, das Haar flach an die Kopfhaut angelegt in dem verzweifelten Versuch, die wilden Locken zu zähmen, in weißem Hemd, mit schmalem Schlips und einer Jacke mit Schlangenledermuster vom Typ, wie sie Brando trug in The Fugitive Kind, mit vollreifen Pickeln im Gesicht und den Hals hinunter und einer zweiten Stimme, die er bei den Sängerknaben von Torstein Grythe hätte gelernt haben können. Und an den Flanken: Harry Kløve mit der Bassgitarre und Arild Hjellestad am Schlagzeug.

„Sie gingen in die Klasse unter uns, beide,“ sagte ich.

Er nickte. „Stimmt.“

„Harry Kløve war dunkel und mager und erinnerte an Roald Aas mit zurückgekämmtem Haar. Er redete nicht viel, aber spielte wie ein Jazzgitarrist. Der einzige in der Band, der sich mit dir messen konnte.“

„Ein Naturtalent.“

„Arild Hjellestad dagegen …“

„Was war mit ihm?“

„Ein pummeliger kleiner Affe. Mit zu kurzen Armen, um jemals ein Schlagzeuger von Format zu werden, aber mit einer Energie, die gereicht hätte, um die Askoyfähre rückwärts laufen zu lassen.“

„Du erinnerst dich also an damals.“

„Als sein Schlagzeug am Kai zurückgeblieben war, ja?“

„Und der Arild wie ein Jojo auf die Brücke sauste und den Kapitän dazu brachte zurückzufahren.“ Er sah plötzlich viel freundlicher drein. „Das waren Zeiten, Varg. Oh, das waren Zeiten.“

„Er hüpfte wie ein Gummiball auf und ab hinter seinem Schlagzeug, unansehnlich wie ein Tellerwäscher, mit Pausbacken und Struwwelpeter-Haaren. Wenn ich sie - euch - vor mir sehe, wie ihr damals wart … Dann ist es fast unmöglich, sich euch alt vorzustellen.“ Ich sah ihn an, mit seinem bärtigen Gesicht. „Du zum Beispiel, bist schlicht und einfach ein völlig anderer.“

„Besonders alt sind sie auch nicht geworden,“ sagte Jakob plötzlich, und sein Gesicht verdunkelte sich wieder.

„Was meinst du? Wer?“

„Beide. Liest du keine Todesanzeigen?“

„Doch, jetzt wo du es sagst, doch …“

„Mit weniger als einem Jahr Abstand.“ Er schnippte mit den Fingern, brachte aber nur einen kläglichen Laut zustande. „So! Und sie sind weg. Beide.“

„Woran sind sie gestorben?“

Er drehte den Kopf herum und sah sich um. „Ich - will nicht darüber reden.“ Er drehte den Kopf zurück. „Gehen wir?“

„Warum ni …“

„Nein.“

Ich nickte. „Na gut.“

Paul Finckel war noch immer in Aktion. Seine rundlichen Finger spielten mit der Seitennaht des Kleides der Frau mit dem verängstigten Gesicht, als sei er einer ihrer Alpträume, zum Leben erweckt. Sie sah fast bewußtlos aus, wie sie da um seinen Hals hing und sich an ihr eigenes Handgelenk klammerte.

Wir blinzelten ihm zu, als wir gingen.

Er blinzelte zurück und machte ein paar affenhafte Bewegungen mit dem Unterleib. Die Frau riß die Augen auf und sah dann abrupt zur Decke hoch, als hätte ihr jemand mit etwas Kaltem den Rücken hinuntergestrichen.

Jakob und ich stützten einander auf dem Weg die gefährliche Treppe hinunter, am miesepetrigen Türsteher vorbei und hinaus in die düstere Domäne der Dezembernacht.

Ich sah auf die Uhr, als wir auf den Bürgersteig hinaustraten. Es waren immer noch einige Stunden bis Mitternacht. Es war noch lang bis morgen. Morgen lag in einem anderen Land. Und ich konnte mich nicht einmal erinnern, ob ich den Pass dabei hatte.

4

Die Nacht war voller geplatzter Sterne. Sie fielen wie Filzstücke zur Erde, wurden zu Wasser und verschwanden unter unseren Füßen.

Wir überquerten den Ole Bulls Platz, der für jeglichen Durchgangsverkehr gesperrt war. Mitten auf dem Platz stand ein Polizeiwagen im Leerlauf. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes schlichen ein paar dunkle Schatten an den Wänden entlang. Irgendwo weit weg tönte eine Autohupe, und von der anderen Seite des Byparks ertönte die Stimme eines gescheiterten Freiers: „Oh, oh, oh, oh, oooh, lonesome me-e …“

Um Lille Lungegårdsvann herum lag Bergen und spiegelte sich in dem schwarzen Wasser, das in der Mitte eine graue Schicht dünner Eisschollen trug. An der Westseite des Wassers lagen Bergens Billedgalleri und die Stenersen-Sammlung mit ihrer modernistischen Fassade Wand an Wand mit dem Funktionalismus des Kunstvereins, dem prächtigen Historismus der Rasmus Meyer Sammlungen und der protzigen, sovjet-inspirierten Huldigung an Technik und Fortschritt von Bergens Elektrizitätswerk. Im Süden lag wie eine resolute Mutter die Bibliothek und wachte über das Ganze, und im Osten repräsentierten die charmanten Dachprofile der unordentlichen Kleinhausbebauung von Marken das ursprüngliche Bergen, eines der ältesten Wohngebiete der Stadt, während die Steven Spielberg-Architektur der Sparebank von der humorvollen Bankkonjunktur der 1980er Jahre zeugte, und das aufstrebende Hochhaus, das das Rathaus sein sollte, von der zu allen Zeiten gleichen Ohnmacht der Lokalpolitiker: so fehl am Platze wie ein Wagner-Monument auf Troldhaugen.

Wir folgten den Wegen um das Wasser, wo jeden Frühling das erste Sportabenteuer startete, jedes Jahr bei Gegenwind und Hagel, und wo alle Familien mit Kleinkindern Jahr für Jahr am 17. Mai ihre Runden gemacht haben, auf der Flucht vor heißen Würstchen, halbgeschmolzenem Eis, unaufgeblasenen Luftballons und Papptrompeten, die dir Beulen ins Trommelfell blasen, und auf der Suche nach Ablenkungsmanövern, wie der traditionellen Mini-Jollen-Regatta zwischen Enten und Möwen auf dem moorigen Wasser dort draußen.

Jetzt waren weder Luftballonverkäufer noch Wurstesser zu sehen. Hinten unter ein paar gerupften Bäumen stand ein verlorenes Häufchen von Anteilhabern an einer gemeinsamen Flasche, die die Runde machte, von Hand zu Hand und von Mund zu Mund. Wir fühlten uns auch nicht viel besser, wie wir dort entlangstolperten.

Ich sagte zu Jakob: „Da drüben, oben auf der Mauer, bin ich balanciert, in der neunten, zusammen mit einem Mädchen, das ich kannte, und wir taten, als seien wir in Paris und gingen an der Seine entlang.“

Er sah sich skeptisch um. „Du mußt eine lebhafte Phantasie gehabt haben.“

„Es war Frühling.“

„Bist du hingekommen? Ich meine nach Paris?“

„Ja klar. Im Sommer danach. Aber nicht mit ihr.“

„Nicht mit ihr,“ wiederholte er. Er war dabei, in eine depressive Phase hineinzurutschen. Ich konnte es an seinen Augen sehen. „Ich kann mich auch noch an ein Mal erinnern, als du irgendwo an einem See standst, Varg, aber da war’s verdammt nochmal nicht die Seine, von der du träumtest.“

„Ach ja? Wo denn?“

„Im Nygårdspark. Irgendein Mädchen hatte dich verlassen - “

„Originell.“

„Und du standst da und starrtest ins Wasser, und einen Augenblick dachte ich verdammt nochmal echt, du wolltest springen.“

„Gab’s denn nicht auch andere Mädchen? Ich meine - welche, die uns nicht verlassen hatten. Noch nicht?“

„Doch.“

„Na also. Und? Das war eine ausgezeichnete Pose, oder? Auf die Weise hatte man Chancen.“

Er wackelte mit dem Kopf. „Wenn du meinst.“ Dann drehte er sich abrupt zu mir um, packte mich am Jackenaufschlag und starrte mir gerade in die Augen. „Und warum hat sie mich dann verlassen?“

„Sie? Wer?“

„Du weißt genau, wen ich meine, Varg!“

„Deine - Frau?“

„Ja -hrr!“ Er schubste mich weg, blieb stehen und sah düster übers Wasser. „Meine - Frau.“

Weit draußen schnatterte eine Ente. Vielleicht war es eine, die ihr Mitgefühl ausdrücken wollte. Vielleicht bat sie uns auch ganz einfach, die Schnauze zu halten, damit sie ihre Nachtruhe bekam.

Stumm gingen wir weiter. Eine Runde. Und die zweite.

Wir atmeten so tief durch, wie wir konnten, mischten den Alkohol in unserem Blut mit Sauerstoff, und bekamen nach und nach den Kreislauf in Gang, sowohl in den Beinen als auch im Kopf.

Während der zweiten Runde begannen wir, wieder zu reden, und nach der dritten fühlten wir uns fit genug für einen erneuten Tieftauchgang ins freitagliche Leben der Stadt.

„Machen wir noch eine Runde, dann haben wir den Frühlingslauf geschafft.“

Also machten wir noch eine und fühlten uns noch mehr gestärkt für ein Wiedersehen mit Johnny Solheim, die Antwort auf Elvis aus dem Nordnesvei, das lokale perpetuum mobile des Rockzeitalters: die Ewigkeitsmaschine, die nie aufhörte, ihre eigenen früheren Erfolge zu singen.

„One for the money!“ sagte Jakob.

„Two for the show!“ holte ich ihn ein.

„Three to get ready!“

„So go, cat go!“

Und wir gingen, in die Richtung, in die uns die Blue suede shoes führten, die wir nicht mehr trugen.

5

Die Show war in vollem Gang, als wir kamen. Die Tanzfläche war brechend voll, und wir konnten uns gerade eben an der Wand entlang und an einen winzigen Tisch quetschen, der zwischen einer Säule und der Schwingtür, die in die Küche hinausführte, eingeklemmt stand. Kellner kamen und gingen, wie diese Figuren, auf die man auf dem Jahrmarkt schießt. Wir hätten vielleicht auch unser Luftgewehr mitbringen sollen.

Das Interieur war geprägt durch braunes Teak und Topfpalmen, burgunderfarbene Bordellstoffe und eine allgemeine Darbietung von schlechtem Geschmack. Das Lokal war verraucht wie nach einem latenten Vulkanausbruch, und als wäre das noch nicht genug, spien Rauchmaschinen einen dichten Nebel über die Bühne, wo eine grelle Rauch-und-Licht-Show und vier Hintergrundmusiker den Rahmen um die Sängerin bildeten, die ein eigenes Magnetfeld produzierte, ganz vorn am Bühnenrand.

Ich renkte mir fast den Hals aus, um sie im Blick zu behalten, während wir uns zu unserem kleinen Tisch vorarbeiteten. „Hast du nicht gesagt, es sollte eine Oldie-Pop-Show geben?“ rief ich nach vorn zu Jakob.

„Nein, nein,“ rief er zurück. „Freitags nie. - Der Johnny macht einen Oldie-Pop-Spot. Sie wählen jeden Freitag einen Veteranen aus. Die Haupt-Show liefern jüngere Kräfte. Aber die Musiker sind dieselben.“

„Man kann sie ja nicht einmal sehen, ohne Nebelleuchte.“

Wir zogen den Bauch ein und quetschten uns an den Tisch.

Die junge Sängerin war elektrisierend. Sie bewegte sich, als balancierte sie am Rande eines kontinuierlichen Orgasmus’, und sie behandelte das Mikrophon auf eine Weise, die Tina Turner zu einem Pfadfindermädel machte. Ihre Lippen waren voll und feucht, und der runde Mikrophonkopf war fast in ihrem Mund. Das wuschelige, blonde Haar war naß von Gel, und ihr Gesicht war noch jungmädchenhaft mit seinen runden, etwas robusten Linien. Sie trug eine locker fallende, schwarze Lederjacke und enge schwarze Lederhosen: so eng, daß du das Gefühl hattest, ihre Schamhaare zählen zu können. Unter der Lederjacke trug sie ein graues T-Shirt, das schon fleckig war von Schweiß.

„Wer ist das?“ fragte ich, und hörte selbst, wie meine Stimme vibrierte.

„Bella Bruflåt, eine der neuen Sternschnuppen. Ich habe Gerüchte gehört, sie hätte schon das Demo für ihre erste LP gemacht.“

„Das kann ich mir denken. Abgesehen davon, daß du auf der LP das alles hier verpaßt.“ Ich nickte zur Bühne, wo Bella Bruflåt die linke Hand in demonstrativer Positur an den linken schwarzen Oberschenkel gelegt hatte - und die Hand sah fast unanständig weiß aus! - während sie gleichzeitig das Mikrophon in einer noch deutlicheren Bewegung als vorhin vor dem Mund hin- und herbewegte und einen Urschrei ausstieß, untermalt durch eine gellende Gitarrenphrasierung, sodaß ein sinnliches Stöhnen durch die ganze Versammlung ging. Ein paar Sekunden lag der Raum in vollkommener Stille. Die Musik war verstummt, niemand aß oder trank, alle saßen nur da und gafften.

Dann lachte Bella Bruflåt glücklich, ein heiseres, zweideutiges Lachen, und machte einen Schlenker mit dem Kopf, während der Applaus sich über sie ergoß. Danach wandte sie uns den Rücken zu und stieg in den Nebel hinein. Das Licht fiel scharf ihren Rücken hinunter, auf ihr Hinterteil und ihre Schenkel. Es entstand eine erneute Elektrizität im Raum, eine explosive Erwartung.

Dann begann sie langsam, den Po zu bewegen, im Rhythmus mit den ersten, vorsichtigen Schlägen des Drummers. Dann kam der Bassist dazu: derselbe langsame, sinnliche Rhythmus. Ein zitternder, einsamer Ton der einen Gitarre durchschnitt das Ganze wie eine Dissonanz und verhallte, während Bella Bruflåt die Hüften in einem langsam schneller werdenden Rhythmus bewegte.

Jakob murmelte neben mir: „Das ist es, was ich schon immer gesagt habe. Religion ist Rhythmus. Steh’ auf und ruf Halleluja! - und der Ruf wird sich durch das Lokal verbreiten, ohne - “

Er brach ab und schluckte, denn Bella Bruflåt hatte eine Hand auf die Schulter gelegt und angefangen, sich die Lederjacke abzustreifen. Wie ein geschlachtetes Tier glitt die Jacke ihre nackten Oberarme hinunter, während der Rhythmus aller Instrumente einen gemeinsamen Punkt fand, wie das Tropfen eines Hahnes, das durch die Adern klingt, von einer Küche weit entfernt.

Jetzt hing die Lederjacke lose über einer Schulter. Mit langsamen, einstudierten Bewegungen nahm sie das Mikrophon von der einen Hand in die andere und hob es an den Mund. Durch den Klang der Instrumente hörte man eine langsame, kristallklare Menschenstimme. Keine Worte, nur ein langer, vibrierender Ton: ein goldener Sonnenstrahl, der plötzlich in einen pechschwarzen Raum einbrach.

Dann geschah alles in ein paar armseligen Sekunden. Die Lederjacke fiel zu Boden. Sie drehte sich abrupt um, die Arme in die Luft gestreckt, und hätte genauso gut nackt sein können, so eng lag ihr graues Hemd an ihren Oberkörper an. Das Mikrophon schimmerte zwischen ihren Händen. Die Musik schwoll an zu einem ungeheuren Crescendo, in einer Zehntelsekunden-Pause holte sie das Mikro wieder herunter, und dann begann sie zu singen, zum Backgroundsound ihrer eigenen Schamlippen: „Meet me in the middel of the night - Baby - meet me when the moon has gone away - Baby …“

Und wir sagten nicht nein, keiner von uns. Wir würden sie alle dort treffen, mitten in der Nacht, wenn sogar der Mond zu Bett gegangen war. Und es würde nur uns und Bella Bruflåt geben, und wir würden das Morgengrauen wecken mit unseren Schreien, wir würden die Toten zum Tanzen bringen und die Lebenden um uns herum wie zu Asche verwittern lassen.

„Meet me in the shimmer of the morning - Baby - Meet me when the sun is coming up - Baby …“

Ohja! Wir würden sie treffen in der warmen Glut der Morgensonne, und kein Kleidungsstück - nicht eine Faser! - würde zwischen unserer Haut und ihrer sein, und selbst die Sonne würde sich abwenden, wenn sie sähe, was wir taten.

Eine Kellnerin mit breiten Hüften und dunklem Papillothaar schwatzte uns eine Bestellung ab, während Bella Bruflåts Auftritt noch in unseren Adern vibrierte, aber der Croque wurde kalt, bevor wir ihn kosten konnten, und das Bier siedete in den Gläsern von der Stimmung um uns herum.

Wir fühlten uns fast befreit, als Bella Bruflåt Pause machte, die Nebelschwaden sich hoben und das Orchester eine ruhigere Sequenz gewöhnlicher Tanzmusik spielte. Hunderte von Augen folgten ihr auf dem Weg durch die Tür hinter der Bühne, Hunderte von phantasievollen Gedanken folgten ihr noch viel weiter.

Ich nickte Jakob zu, als hätte er gerade etwas gesagt. „Das war vielleicht eine - Vorstellung. Sowas habt ihr nicht gemacht.“

Er lächelte. „Nein. Sowas haben wir nicht gemacht.“ Nach einem Moment fügte er hinzu: „Ich fürchte, der Johnny hat sich hier ein Ticket für den saftigsten Anti-Klimax der Saison beschafft.“

Ich war ganz seiner Meinung. Sogar Bette Midler wäre nach dem hier ein Anti-Klimax gewesen.

Und wie auf ein Stichwort trat einer der Musiker aus der Band zum Mikrophon, das links auf der Bühne stand, und sagte: „Meine Damen und Herren. Wir freuen uns nun, Ihnen den Pop-Oldie-Gast des Abends zu präsentieren. Einen der größten Pop-Sänger der Stadt seit ich darf Ihnen leider nicht sagen wie vielen - Jahren! Applaus für Johnny Solheim!“

Und wir alle applaudierten höflich für Johnny Solheim, als er joggend, gewollt jugendlich auf die Bühne kam, zwanzig Jahre zu spät und zwanzig Kilo schwerer als beim letzten Mal, als ich ihn sah, in schmalen, schwarzen Hosen, schwarzer Lederjacke mit breiten, blanken Reißverschlüssen, weißen Strümpfen und schwarzen Schuhen, das volle, dunkle Haar hoch- und zurückgekämmt zu einer waschechten Elvis-Frisur und mit einem entschlossenen Ausdruck im Gesicht, als er das Mikrophon nahm, versuchsweise ein paar Lockerungsübungen mit der Hüftpartie machte, „Aha-ha …“ murmelte und zu singen begann.