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Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind.
Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.
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Seitenzahl: 425
Über den Roman
Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Wie geht man um mit dem Verlust derer, die man geliebt hat? Wer trägt das Erbe weiter? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Und plötzlich schaut diese Welt ihn an, den Bewohner des alten Europas, und weiß womöglich besser als er selbst, wer er eigentlich ist.
Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.
Über die Autorin
Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren. 1999 debütierte sie mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«, der weitere literarische Veröffentlichungen folgten, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr zuletzt erschienener Roman »Aller Tage Abend« wurde von Lesern und Kritik gleichsam gefeiert und vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2013 mit dem Joseph-Breitbach-Preis und 2015 mit dem Independent Foreign Fiction Prize.
Jenny Erpenbeck
GEHEN, GING, GEGANGEN
Roman
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Copyright © 2015 beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München.
Covergestaltung: Sabine Kwauka
Covermotiv: Saleh Bacha
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-29090-0V001
www.penguin-verlag.de
Für WolfgangFür FranzFür meine Freunde
Gott schuf das Volumen, der Teufel die Oberfläche.
(Wolfgang Pauli)
Auch wenn es mich sehr stört, muss ich eine große Hemmung überwinden, um ein Insekt zu töten. Ich weiß nicht, ob es Mitleid ist. Ich glaube nicht, nein. Vielleicht einfach ein Sichgewöhnen an Zusammenhänge. Und ein Versuch, sich einzufügen in Zusammenhänge, die existieren, Einverständnis.
(Heiner Müller)
In the end, we will remember not the words of our enemies, but the silence of our friends.
(Martin Luther King)
Vielleicht liegen noch viele Jahre vor ihm, vielleicht nur noch ein paar. Es ist jedenfalls so, dass Richard von jetzt an nicht mehr pünktlich aufstehen muss, um morgens im Institut zu erscheinen. Er hat jetzt einfach nur Zeit. Zeit, um zu reisen, sagt man. Zeit, um Bücher zu lesen. Proust. Dostojewski. Zeit, um Musik zu hören. Er weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis er sich daran gewöhnt hat, Zeit zu haben. Sein Kopf jedenfalls arbeitet noch, so wie immer. Was fängt er jetzt mit dem Kopf an? Mit den Gedanken, die immer weiter denken in seinem Kopf? Erfolg hat er gehabt. Und nun? Das, was Erfolg genannt wird. Seine Bücher wurden gedruckt, zu Konferenzen wurde er eingeladen, seine Vorlesungen waren bis zuletzt gut besucht, Studenten haben seine Bücher gelesen, sich Stellen darin angestrichen und zur Prüfung auswendig gewusst. Wo sind die Studenten jetzt? Manche haben Assistenzstellen an Universitäten, zwei oder drei sind inzwischen selbst Professoren. Von anderen hat er lange nichts mehr gehört. Einer hält freundschaftlichen Kontakt zu ihm, ein paar melden sich von Zeit zu Zeit.
So.
Von seinem Schreibtisch aus sieht er den See.
Richard kocht sich einen Kaffee.
Er geht mit der Tasse in der Hand in den Garten und sieht nach, ob die Maulwürfe neue Hügel aufgeworfen haben.
Der See liegt still da, wie immer in diesem Sommer.
Richard wartet, aber er weiß nicht, worauf. Die Zeit ist jetzt eine ganz andere Art von Zeit. Auf einmal. Denkt er. Und dann denkt er, dass er, natürlich, nicht aufhören kann mit dem Denken. Das Denken ist ja er selbst, und ist gleichzeitig die Maschine, der er unterworfen ist. Auch wenn er ganz allein ist mit seinem Kopf, kann er, natürlich, nicht aufhören mit dem Denken. Auch, wenn wirklich kein Hahn danach kräht, denkt er.
Er stellt sich einen kurzen Moment lang vor, wie ein Hahn mit dem Schnabel in seiner Abhandlung über den »Begriff der Welt im Werk von Lukrez« blättert.
Er geht wieder ins Haus zurück.
Er überlegt, ob es für das Jackett zu warm ist. Braucht er überhaupt ein Jackett, wenn er allein in seinem Haus herumgeht?
Vor Jahren, als er durch Zufall erfuhr, dass seine Geliebte ihn betrog, half ihm nichts anderes über die Enttäuschung hinweg, als die Enttäuschung in Arbeit zu verwandeln. Monatelang war das Verhalten dieser Geliebten Gegenstand seiner Untersuchungen gewesen. Beinahe hundert Seiten hatte er geschrieben, um alles, was zu diesem Betrug geführt hatte, und auch die Art, wie der Betrug von der jungen Frau ins Werk gesetzt worden war, zu ergründen. Seine Arbeit hatte in Hinsicht auf die Beziehung zu keinem besonderen Ergebnis geführt, denn die Geliebte verließ ihn wenig später endgültig. Aber immerhin hatte er auf diese Weise die ersten Monate nach der Entdeckung, in denen ihm wirklich elend zumute gewesen war, hinter sich gebracht. Das beste Heilmittel gegen die Liebe, wusste ja schon Ovid, ist die Arbeit.
Nun aber quält ihn nicht die Zeit, die mit einer unnützen Liebe ausgefüllt ist, sondern die Zeit an sich. Vergehen soll sie, aber auch nicht vergehen. Einen kurzen Augenblick hat er die Vision eines zornigen, bunten Hahnes, der mit seinem Schnabel und seinen Krallen ein Buch zerfetzt, dessen Titel ist: »Versuch über das Warten«.
Vielleicht ist eine Strickjacke seiner Situation wirklich angemessener als ein Jackett. Bequemer jedenfalls. Und rasieren müsste er sich jetzt, da er nicht mehr täglich unter Leute geht, eigentlich auch nicht mehr jeden Morgen. Wachsen lassen, was wachsen will. Einfach nur nicht mehr dagegenhalten, oder ist das schon der Anfang vom Sterben? Das Wachsen der Anfang vom Sterben? Nein, das kann nicht stimmen, denkt er.
Den Mann, der unten im See liegt, haben sie immer noch nicht gefunden. Kein Selbstmord, sondern beim Baden ertrunken. Seit diesem Tag im Juni liegt der See still da. Tag für Tag still. Juni still. Juli still. Und jetzt, bald ist schon Herbst, immer noch still. Kein Ruderboot, keine kreischenden Kinder, kein Angler. Wenn in diesem Sommer irgendwer vom Steg der öffentlichen Badestelle einen Kopfsprung ins Wasser macht, kann es nur ein Fremder sein, der von dem Unglück nichts weiß. Beim Abtrocknen spricht den dann vielleicht eine Ortskundige an, die gerade ihren Hund ausführt, oder ein Fahrradfahrer, der kurz vom Rad steigt, um zu fragen: Sie wissen wohl nicht? Richard hat noch nie so einem Ahnungslosen etwas von dem Unglück gesagt, warum auch, warum jemandem, der nur einen schönen Tag haben will, den Tag verderben. An seinem Zaun spazieren die Ausflügler ebenso heiter, wie sie gekommen sind, auch auf dem Heimweg wieder vorüber.
Aber er muss, wenn er an seinem Schreibtisch sitzt, den See sehen.
Er war an dem Tag, als es passierte, in der Stadt. Im Institut noch, obwohl es ein Sonntag war. Besaß noch den Generalschlüssel, den er inzwischen abgegeben hat. Eines dieser Wochenenden, an denen er versuchte, sein Büro nach und nach leerzuräumen. Die Schubladen, die Schränke. Gegen 13.45 Uhr. Da war er gerade dabei, Bücher aus dem Regal, vom Fußboden, vom Sofa, vom Sessel, vom kleinen Tisch zu räumen und in Kartons zu packen. Zwanzig, fünfundzwanzig Bücher unten in jeden Karton, und darauf dann die leichteren Dinge: Manuskripte, Briefe, Büroklammern, Mappen, alte Zeitungsausschnitte. Bleistifte, Kugelschreiber, Radiergummis, die Briefwaage. Zwei Ruderboote seien in der Nähe gewesen, aber keiner von den Insassen habe geglaubt, dass da gerade ein Unglück geschieht. Hätten den Mann winken sehen und es für einen Scherz gehalten. Seien weggerudert sogar, hat er gehört. Wer die Insassen waren, weiß aber keiner. Junge Männer heißt es. Kräftige sogar, die hätten helfen können. Wer genau, weiß aber keiner. Oder hatten vielleicht doch Angst, dass der Mann sie mit hinunterzieht, wer weiß.
Seine Sekretärin hatte angeboten, ihm beim Packen zu helfen. Vielen Dank, aber. Irgendwie schien ihm, als läge allen – auch oder vielleicht gerade denen, die ihn mochten – viel daran, ihn nun so bald wie möglich aus ihrem Gesichtskreis zu schieben. Deswegen hatte er lieber allein gepackt, sonnabends und sonntags, wenn es im Institut ganz still war. Er merkte, dass er viel Zeit brauchte, um all das, was zum Teil seit Jahren unangesehen im Regal oder in einer der Schubladen gelegen hatte, hervorzuziehen und zu entscheiden, ob es in den blauen Sack für den Müll gehörte oder in einen der Kartons, die er nach Hause mitnehmen wollte. Unwillkürlich hatte er in diesem oder jenem Manuskript zu blättern begonnen und dann lesend viertel und halbe Stunden lang mitten im Zimmer gestanden. Die Arbeit eines Studenten über den »11. Gesang der Odyssee«, die Arbeit einer Studentin, in die er einmal ein wenig verliebt gewesen war, über »Bedeutungsebenen in den Metamorphosen von Ovid«.
An einem Tag Anfang August dann hatte es einen Umtrunk und einige Reden anlässlich seiner Emeritierung gegeben, die Sekretärin, manche Kollegen und auch er selbst hatten Tränen in den Augen gehabt, aber niemand, auch er selbst nicht, hatte wirklich geweint. Jeder wurde ja irgendwann alt. War irgendwann alt. In den Jahren zuvor war es häufig an ihm gewesen, die Abschiedsreden zu halten, oft war er es gewesen, der mit der Sekretärin besprach, wie viele Kanapees, und ob Wein, ob Sekt, ob Orangensaft oder Wasser. Jetzt hatte irgendwer anders dafür gesorgt. Es würde alles auch ohne ihn gehen. Auch das sein Verdienst. In den letzten Monaten hatte er viele Male mit anhören müssen, wie würdig sein Nachfolger sei, wie glücklich die Wahl, bei der er selbst noch mitgewirkt hatte, auch er lobte, wenn das Gespräch darauf kam, den jungen Mann, als beträfe die Vorfreude noch ihn selbst, sprach dessen Namen, der bald anstelle seines eigenen Namens im Briefkopf des Instituts zu lesen sein würde, ganz ohne zu zögern aus, ab Herbst würde der Nachfolger seine Vorlesung übernehmen und sich an die Unterrichtspläne halten, die er, jetzt Emeritus, noch kurz vor seinem Abtritt geschrieben hatte, für die Zeit, die ohne ihn auskommen würde.
Der Fortgehende selbst muss sein Fortgehen organisieren, das ist so üblich, aber erst jetzt fällt ihm auf, dass er niemals zuvor wirklich verstanden hat, was das eigentlich heißt. Und es auch jetzt nicht versteht. Ebensowenig kann er verstehen, dass der Abschied von ihm für die andern Teil eines Alltags ist, für ihn allein aber tatsächlich ein Ende. Wenn ihm in den letzten Monaten jemand gesagt hatte, wie traurig, wie schade, wie unvorstellbar es sei, dass er bald gehe, war es ihm schwergefallen, die erwartete Rührung zu zeigen, denn das Wehklagen desjenigen, der vorgab, erschüttert zu sein, hieß doch nur, dass der traurige, der unvorstellbare Fakt, dass er ging, jammerschade!, von diesem als etwas Unabwendbares längst akzeptiert worden war.
Von den kalten Platten, die im Institut anlässlich seiner Verabschiedung aufgetischt worden waren, blieben außer der Petersilie nur einige Lachsbrötchen übrig, wahrscheinlich weil bei so einer Hitze mancher dem Fisch misstraute. Der See, der da jetzt vor ihm liegt und glänzt, wusste, scheint ihm, immer schon mehr als er, dessen Beruf doch das Nachdenken ist. Oder war? Für den See ist es einerlei, ob ein Fisch in ihm zerfällt oder ein Mensch.
Am Tag nach dem Empfang hatte die Sommerschließzeit des Instituts begonnen, jener hatte vor, hierhin zu fahren, jener dorthin, nur er hatte keine Reise geplant, denn für ihn war das Ausweiden seines über die Jahre hinweg gewachsenen Arbeitszimmers nun in die letzte Phase getreten.
Zwei Wochen später standen die Regalbretter mit einer Schnur zusammengebunden an der Wand, waren die gepackten Kartons hinter der Tür aufgestapelt, und bildeten die paar Möbel, die er zu sich nach Haus transportieren lassen würde, in der Mitte des Zimmers einen kleinen, sperrigen Haufen. Ein Besen mit plattgedrückten Borsten war daran angelehnt, eine Schere lag auf dem Fensterbrett neben einem staubigen Briefumschlag, viereinhalb große Müllsäcke standen in einer Ecke, eine Rolle Klebeband lag auf dem Boden, in der Wand steckten noch ein paar Nägel, an denen kein Bild mehr hing. Zuletzt hatte er den Schlüssel für das Institut abgegeben.
Jetzt müsste er hier im Haus für die Möbel die passenden Plätze suchen, die Kartons öffnen und alles, was darin ist, seinem Privathaushalt einverleiben. Bein zu Bein, Blut zu Blut, auf dass es geleimet sei. Die Merseburger Zaubersprüche, jaja. Auch das, was man Bildung nennt, alles, was er weiß und gelernt hat, ist von nun an nur noch sein Privateigentum. Seit gestern steht alles im Keller und wartet. Aber wie sieht so ein Tag aus, der geeignet wäre, mit dem Auspacken zu beginnen? Wie der heutige jedenfalls nicht. Morgen vielleicht? Oder später. Irgendein Tag, an dem er sonst nichts zu tun hat. Ob sich das Auspacken überhaupt lohnt, ist die Frage. Noch lohnt. Wenn er Kinder hätte. Oder wenigstens Neffen und Nichten. So aber ist all das, was seine Frau früher immer seinen Krempel genannt hat, nur noch zu seinem eigenen Vergnügen da. Und wenn er irgendwann nicht mehr ist, zu niemandes Vergnügen. Natürlich, irgendein Antiquar wird dann wahrscheinlich die Bücher nehmen, und dieses oder jenes davon, eine Erstausgabe oder ein handsigniertes Exemplar, vielleicht noch einmal einen Liebhaber finden. Einen wie ihn, einen, der noch, während er lebt, Krempel anhäufen darf. Und immer so weiter. Aber alles andre? Alles, was um ihn herum ein System bildet und nur sinnvoll ist, solange er seine Wege dazwischen geht, seine Handgriffe macht, sich an dies oder jenes erinnert – all das wird auseinandertreiben und sich verlieren, wenn er nicht mehr ist. Darüber könnte er auch einmal schreiben, über die Schwerkraft, die die leblosen Dinge mit den lebendigen Wesen zu einer Welt verknüpft. Ist er eine Sonne? Er muss aufpassen, dass er nicht irre wird, wenn er jetzt ganze Tage allein ist und mit niemandem spricht.
Aber dennoch.
Der Bauernschrank, an dem eine Leiste fehlt, wird nach seinem Tod ganz sicher nicht mehr in demselben Haushalt stehen wie die Tasse, in der er sich am Nachmittag immer seinen türkischen Kaffee macht, der Sessel, in dem er beim Fernsehen sitzt, wird allabendlich von anderen Händen herumgerückt werden als von denen, die die Schubladen seines Schreibtischs aufziehen, sein Telefon wird mit dem scharfen Messer, mit dem er immer die Zwiebeln schneidet, nicht den Besitzer teilen, und auch nicht sein Rasierapparat. Vieles, was er schätzt, was durchaus noch funktioniert oder ihm einfach gefällt, wird weggeworfen werden. Zwischen der Müllhalde, auf der zum Beispiel sein alter Wecker landen wird, und dem Haushalt dessen, der sich sein Zwiebelmustergeschirr leisten kann, wird es dann eine unsichtbare Verbindung geben, die darin besteht, dass beides einmal ihm gehört hat. Nur weiß natürlich, wenn er nicht mehr lebt, niemand von dieser Verbindung. Oder besteht so eine Verbindung dennoch für alle Zeit, gleichsam objektiv? Und wenn ja, in welcher Maßeinheit ließe sie sich dann messen? Wenn es tatsächlich der durch ihn gestiftete Sinn ist, der seinen Haushalt, von der Zahnbürste bis hin zum gotischen Kruzifix, das an der Wand hängt, in ein Universum verwandelt, stellt sich sofort die nächste grundlegende Frage: Hat Sinn eine Masse?
Richard muss wirklich aufpassen, dass er nicht irre wird. Vielleicht wird es ihm besser gehen, wenn der Tote endlich gefunden ist. Eine Taucherbrille soll der Unglückselige getragen haben. Das könnte lächerlich sein, aber keinen von denen, die das wissen, hat er in diesem Sommer je darüber lachen sehen. Neulich auf dem Dorffest, das trotzdem stattfand, nur ohne Tanz, hatte er den Vorsitzenden des Anglerverbandes mehrmals hintereinander sagen hören: Mit einer Taucherbrille! Mit einer Taucherbrille! Als sei gerade dieses Detail das am schwersten zu ertragende an dem Sterben des Schwimmers, und tatsächlich hatten alle anderen Männer, die mit dem Bierkrug in der Hand auch da standen, darauf lange Zeit nichts erwidert, sondern nur schweigend auf den Schaum in ihrem Bierglas geschaut und genickt.
Auch er wird bis zum Ende das tun, was ihm Spaß macht. Den Kopf voran in die Grube. Nachdenken. Lesen. Und wenn der Kopf irgendwann nicht mehr mitmacht, weiß auch kein Kopf mehr, was fehlt. Es kann dauern, bis der Körper wieder nach oben kommt, wurde gesagt. Beinahe drei Monate dauert es schon. Es kann auch sein, dass er verschwunden bleibt, wurde gesagt. Sich in Algen verfangen hat, oder für immer abgesunken ist in den Schlamm, der am Grunde des Sees angeblich meterdick ist. Ein tiefer See ist es, achtzehn Meter. Nach oben hin lieblich, aber in Wahrheit eine Kluft. Jeder der Anwohner, auch er selbst, schaut mit einem gewissen Zögern seither das Schilf an, mit einem gewissen Zögern die spiegelblanke Oberfläche des Sees an, an windstillen Tagen. Er kann von seinem Schreibtisch aus auf den See sehen. Schön ist der See, so wie in den anderen Sommern, aber damit ist es in diesem Sommer nicht getan. Der See gehört, solange der Tote nicht gefunden und weggebracht ist, diesem Toten. Einen ganzen Sommer lang schon, und bald ist Herbst, gehört der See einem Toten.
An einem Donnerstag Ende August versammeln sich zehn Männer vor dem Roten Rathaus in Berlin. Sie haben beschlossen, heißt es, nichts mehr zu essen. Drei Tage später beschließen sie, nun auch nichts mehr zu trinken. Ihre Hautfarbe ist schwarz. Sie sprechen Englisch, Französisch, Italienisch. Und noch andere Sprachen, die hierzulande niemand versteht. Was wollen die Männer? Arbeit wollen sie. Und von der Arbeit leben. In Deutschland bleiben wollen sie. Wer seid ihr, werden sie von der Polizei und von Beamten des Senats, die hinzugeholt werden, gefragt. Wir sagen es nicht, sagen die Männer. Das müsst ihr aber sagen, sagen die andern, sonst wissen wir nicht, ob ihr unter das Gesetz fallt und hier bleiben und arbeiten dürft. Wir sagen nicht, wer wir sind, sagen die Männer. Würdet ihr denn, wenn ihr an unserer Stelle wärt, einen Gast aufnehmen, den ihr nicht kennt, sagen die andern. Die Männer schweigen. Wir müssen prüfen, ob ihr wirklich in Not seid, sagen die andern. Die Männer schweigen. Vielleicht, sagen die andern, seid ihr Verbrecher, das müssen wir prüfen. Die Männer schweigen. Oder einfach Schmarotzer. Die Männer schweigen. Wir haben selbst nicht genug, sagen die andern. Es gibt Regeln hier, sagen sie, an die müsst ihr euch halten, wenn ihr bleiben wollt. Und zuletzt sagen sie: Erpressen könnt ihr uns nicht. Die Männer mit schwarzer Hautfarbe aber sagen nicht, wer sie sind. Sie essen nicht, sie trinken nicht, sie sagen nicht, wer sie sind. Sie sind einfach da. Das Schweigen der Männer, die lieber sterben wollen als sagen, wer sie sind, vereint sich mit dem Warten der andern auf Beantwortung all der Fragen zu einer großen Stille mitten auf dem Alexanderplatz in Berlin. Diese Stille hat nichts damit zu tun, dass es am Alexanderplatz durch die Geräusche des Straßenverkehrs und durch die Grabungsarbeiten bei der neuen U-Bahnstation immer sehr laut ist.
Warum kann Richard, der am Nachmittag an den schwarzen und weißen, sitzenden und stehenden Menschen vorbeigeht, dann diese Stille nicht hören?
Er denkt an Rzeszów.
Ein Freund von ihm, ein Archäologe, hat ihm von den Funden bei den Ausschachtungen am Alexanderplatz erzählt und ihn eingeladen, die Grabungen zu besuchen. Zeit hat er ja nun, und im See schwimmen kann er ohnehin nicht, wegen des Mannes. Weitläufige Keller habe es früher einmal rings um das Rote Rathaus gegeben, hat sein Freund ihm erzählt. Unterirdische Hallen, in denen im Mittelalter ein Markt war. Während die Leute auf eine Verhandlung, auf einen Termin, einen Bescheid warteten, kauften sie ein, im Prinzip nicht anders als heute. Fisch, Käse und Wein, alles, was sich gekühlt besser hält, wurde in diesen Katakomben gehandelt.
So wie in Rzeszów.
Als Student hatte Richard in den sechziger Jahren zwischen zwei Vorlesungen manchmal am Rand des Neptunbrunnens gesessen, Hosenbeine hochgekrempelt, die Füße im Wasser, ein Buch auf dem Schoß. Auch damals waren diese Hohlräume schon in der Tiefe gewesen, nur durch ein paar Meter Erde von seinen Füßen getrennt, ohne dass er davon wusste.
Vor einigen Jahren, als seine Frau noch lebte, hatten sie im Urlaub einmal die polnische Kleinstadt Rzeszów besichtigt, die im Mittelalter ganz und gar untertunnelt worden war. Wie eine zweite, dem flüchtigen Blick verborgene Stadt war dieses Labyrinth unterirdisch gewachsen, spiegelbildlich zu den sichtbaren Häusern über der Erde. Jedes Bürgerhaus hatte durch den eigenen Keller hindurch einen Zugang zu diesem nur von Fackeln erhellten, öffentlichen Markt besessen. Und wenn oben Krieg war, verkrochen die Einwohner des Städtchens sich unten. Später im Faschismus die Juden. Erst die Nazis hatten die Idee gehabt, Rauch in die Gänge zu leiten.
Rzeszów.
Die verschütteten Hallen am Roten Rathaus aber waren sogar den Nazis verborgen geblieben. Nur die Berliner U-Bahn-Tunnel fluteten sie in den letzten Tagen des Weltkriegs. Wahrscheinlich um ihr eigenes Volk zu ersäufen, das vor den Bombenangriffen der Alliierten dorthin geflüchtet war. Lieber den Hals verrenken, als dem Wirt was schenken.
Ist einer von den Männern vielleicht schon zusammengebrochen?, fragt eine junge Frau mit einem Mikrofon in der Hand, hinter ihr steht ein Hüne mit Kamera auf der Schulter. Nein, sagt einer der Polizisten. Werden sie künstlich ernährt? Bis jetzt noch nicht, sagt der Polizist, sehen Sie ja. Wurde schon einer ins Krankenhaus eingeliefert? Gestern einer, glaub ich, sagt ein anderer Uniformierter, aber vor meiner Schicht. Können Sie mir vielleicht sagen, in welches? Nein, das dürfen wir nicht. Aber dann krieg ich die Story nicht unter. Tja, sagt der erste, da können wir leider nichts machen. Sie verstehen, sagt die junge Frau, wenn nichts Besondres passiert, kann ich keine Geschichte draus machen. Jaja, das versteh ich. Und dann nimmt mir den Beitrag keiner ab. Der andre: Vielleicht tut sich heute noch was, vielleicht im Laufe des Abends. Die Frau: Ich hab maximal noch eine Stunde. Der Schnitt. Es gibt eine Deadline. Verstehe, sagt der Uniformierte und grinst.
Auch zwei Stunden später auf dem Rückweg zum Bahnhofsgebäude sieht Richard nicht zum Rathaus hinüber, er schaut nach links auf die Fontänen, sieht die treppenförmig angeordneten Bassins, die zum Sockel des Fernsehturms aufwärts führen. Gebaut zu sozialistischen Zeiten, Sommer für Sommer übersprudelt von Wasser, ein Wagnis für glückliche Kinder, die auf den Querstegen mitten hindurch balancierten, ringsherum ihre lachenden, stolzen Eltern, und Kinder wie Eltern von Zeit zu Zeit aufblickend zur silbrigen Kugel des Turms, den Schwindel genießend: Er stürzt! Er stürzt auf uns herunter! Dreihundertfünfundsechzig Meter bis zur äußersten Spitze, die Tage eines ganzes Jahres in Metern gemessen, sagt der Vater, und: nein, er stürzt nicht, das sieht nur so aus, sagt die Mutter den tropfenden Kindern. Der Vater erzählt den Kindern, aber nur, wenn sie wollen, die Geschichte vom Bauarbeiter, beim Bau der Spitze des Turms soll der heruntergefallen sein, aber weil der Turm eben so hoch ist, dauerte der Fall des Bauarbeiters so lange, dass es den Bewohnern der umliegenden Häuser gelang, schnell Matratzen herbeizuschaffen, während der Arbeiter fiel, einen ganzen Stapel Matratzen, während er fiel, fiel und fiel, und der Stapel war genau fertig, als der Arbeiter nach seinem langen Fall unten ankam, er landete weich darauf – wie die Erbsenprinzessin im Märchen! – und stand vollkommen unverletzt wieder auf. Die Kinder sind froh über das Wunder der Arbeiterrettung, nun aber wollen sie wieder spielen. Bei den Fontänen am Alexanderplatz in Berlin sah die Menschheit Sommer für Sommer schon so heil und zufrieden aus, wie es im allgemeinen erst für die Zukunft versprochen war, für die ferne, vollkommen glückliche Zeit, Kommunismus genannt, die irgendwann für alle Menschen erreicht sein würde, nach treppenförmig angeordnetem Fortschritt bis in schwungvolle, kaum zu glaubende Höhen hinein, so in ein-, zwei- oder spätestens dreihundert Jahren.
Wider Erwarten aber war dann der Auftraggeber für die Fontänen, der volkseigene Staat, nach vierzig Jahren plötzlich abhandengekommen, mit dem Staat auch die dazugehörige Zukunft, nur die treppenförmig angeordneten Wasserspiele sprudelten weiter, sprudeln auch jetzt noch Sommer für Sommer in schwungvolle, kaum zu glaubende Höhen hinein, wagemutige, glückliche Kinder balancieren weiterhin quer, bewundert von ihren lachenden, stolzen Eltern. Was erzählt eigentlich so ein Bild, dem die Erzählung abhanden gekommen ist? Wofür werben die glücklichen Menschen heute? Steht die Zeit? Bleibt noch etwas zu wünschen?
Zu den Männern, die lieber sterben wollen als sagen, wer sie sind, haben sich Sympathisanten gesellt. Ein junges Mädchen hat sich zu einem der Schwarzhäutigen im Schneidersitz auf die Erde gesetzt, es unterhält sich leise mit ihm, nickt hin und wieder, und dreht sich dabei eine Zigarette. Ein junger Mann diskutiert mit den Polizisten, die wohnen doch gar nicht hier, sagt der junge Mann gerade, und der Polizist sagt, das wäre auch nicht erlaubt, na eben, sagt der junge Mann. Die schwarzen Männer liegen oder hocken auf dem Boden, manche haben einen Schlafsack unter sich ausgebreitet, andere eine Decke, wieder andere gar nichts. Einen Campingtisch haben sie als Stütze für ein Schild aufgestellt. Das Schild, das daran lehnt, ist eine große weißgestrichene Pappe, auf der in schwarzen Buchstaben steht: We become visible. Darunter hat in kleineren grünen Buchstaben jemand mit Filzstift die Übersetzung geschrieben: Wir werden sichtbar. Vielleicht der junge Mann oder das Mädchen. Von Richard, der gerade vorbeigeht, sähen die schwarzhäutigen Menschen, würden sie hinschauen, jetzt noch eben den Rücken: Aufrecht strebt da ein Herr dem Bahnhofsgebäude zu, ein Jackett hat er an, trotz der Hitze, nun verschwindet er zwischen den anderen Menschen, von denen manche es eilig haben und genau wissen, wohin sie wollen, andere nur so schlendern, den Stadtplan in Händen, sie wollen den Alex besichtigen, das Zentrum des Teils von Berlin, der so lange die Russische Zone hieß, Ostzone sagen, im Scherz, auch heute noch viele. Im Hintergrund des Gewimmels und eine Etage darüber erhoben, sähen die schweigenden Männer, schauten sie auf, auch die Fenster des Fitnesscentrums, das sich direkt beim Sockel des Turms unter einem kühn gefalteten Vordach befindet. Hinter den Fenstern Menschen auf Fahrrädern, und Menschen, die rennen, sähen, wie diese Menschen Stunde um Stunde auf die riesigen Fenster zufahren und -rennen, als wollten sie, so schnell es nur geht, hierher, zum Rathaus hinüber, zu ihnen, den Schwarzhäutigen, entweder, oder zur Polizei, sich solidarisch erklären, mit den einen oder den andern, und, wenn es sein muss, auf dem Wege dorthin sogar die Fenster zerstoßen und das letzte Stück fliegen oder springen. Aber es versteht sich von selbst, dass die Fahrräder wie auch die Laufbänder fest montiert sind, und die sporttreibenden Menschen sich nur auf der Stelle bewegen, aber nicht vorwärts. Denkbar ist, dass die Trainierenden sehen, was auf dem Platz alles los ist, aber um zum Beispiel zu lesen, was auf dem Schild steht, sind sie sicher zu weit entfernt.
Zum Abendbrot macht Richard sich belegte Brote mit Käse und Schinken, dazu Salat. Den Käse gab es heute im Supermarkt, der früher Kaufhalle hieß, zu einem Sonderpreis, weil dessen Haltbarkeitsdatum bald abläuft. Er muss nicht sparen, seine Pension reicht hin, aber warum soll er mehr bezahlen als nötig. Zum Salat schneidet er Zwiebeln, sein ganzes Leben schon schneidet er Zwiebeln, aber neulich erst hat er in einem Kochbuch gesehen, wie man die Zwiebel hält, wenn man nicht will, dass sie beim Schneiden wegrutscht. Für alles gibt es eine ideale Form, für die profanen Dinge des Lebens ebenso wie für Arbeit und Kunst. Im Grunde genommen, denkt er, versucht man sein ganzes Leben wahrscheinlich nur, diese Form zu erreichen. Und hat man sie endlich in einigen Dingen erreicht, wird man von der Erde gewischt. Immerhin ist er jetzt schon eine Weile darüber hinaus, mit dem, was ihm gelingt, anderen etwas beweisen zu wollen, es sind ja auch gar keine anderen da. Seine Frau sieht es nicht mehr. Und seine Geliebte hätte sich herzlich wenig für die Kunst, eine Zwiebel zu schneiden, interessiert. Nur er selbst kann sich jetzt noch, wenn ihm etwas gelingt oder er etwas verstanden hat, darüber freuen. Er freut sich. Und seine Freude verfolgt keinen Zweck mehr. Das ist der erste Vorteil davon, dass man allein lebt: Alle Eitelkeit erweist sich als Ballast. Und der zweite: Es ist niemand mehr da, die Ordnung zu stören. Aus altbackenem Brot brät man Würfel für den Salat, um die Teebeutel wickelt man, wenn man sie aus der Kanne herausnimmt, den Faden und presst sie noch einmal fest aus, die Hochstammrosen werden im Winter nach unten gebeugt und mit Erde bedeckt – und so weiter. Die Freude an dem, was am richtigen Platz ist, was nicht verlorengeht, was auf die richtige Weise gehandhabt wird und nicht verschwendet, die Freude an dem, was gelingt, ohne ein anderes am Gelingen zu hindern, ist, so sieht er das, in Wahrheit die Freude an einer Ordnung, die nicht von ihm errichtet, sondern von ihm nur gefunden werden muss, die außer ihm liegt, und ihn gerade deshalb verbindet mit dem, was wächst, fliegt oder gleitet, ihn dafür zwar von manchen Menschen entfernt, aber das ist ihm gleich.
Damals, als seine Geliebte ihn auszulachen begann und dann von seinen Ermahnungen immer öfter gereizt war, hatte er dennoch nicht aufhören können, auf dem einen oder anderen Handgriff, der ihm ein für allemal richtig zu sein schien, zu beharren. Mit seiner Frau war er sich, in dieser Hinsicht zumindest, fast immer einig gewesen. Sie selbst war am Ende des Krieges als deutsches Mädchen von deutschen Tieffliegern in die Beine geschossen worden, als sie vor russischen Panzern davonlief. Hätte ihr Bruder sie damals nicht von der Straße gezogen, hätte sie sicher nicht überlebt. Alles, was man nicht überblickt, ist tödlich, hatte seine Frau so schon mit drei Jahren gelernt. Er selbst war bei der Übersiedlung seiner Familie von Schlesien nach Deutschland noch ein Säugling gewesen und wäre im Tumult der Abreise beinahe von seiner Mutter getrennt worden, hätte ihn nicht auf dem überfüllten Bahnsteig ein russischer Soldat seiner Mutter über die Köpfe vieler anderer Aussiedler hinweg noch ins Zugabteil hineingereicht. Diese Geschichte war ihm von seiner Mutter so oft erzählt worden, dass er sie beinahe für seine eigene Erinnerung hielt. Kriegswirren hatte sie das genannt. Auch sein Vater war wahrscheinlich Erzeuger von Kriegswirren gewesen, als Soldat an der Front in Norwegen und in Russland. Wie viele Kinder hatte sein Vater, selbst fast noch ein Kind, wohl dort von ihren Eltern getrennt? Oder ihren Familien im letzten Moment noch zugereicht? Zwei Jahre später erst hatte der Heimkehrer seine inzwischen nach Berlin übersiedelte Familie wiedergefunden und seinen Sohn zum ersten Mal im Leben gesehen. Suchmeldungen vom Roten Kreuz gab es im Radio noch viele Jahre, da saß der Vater längst schon wieder auf dem Sofa neben der Mutter, vor sich ein Stück Bienenstichtorte und eine Tasse echten Bohnenkaffees, da war der in den Kriegswirren beinahe verlorengegangene Säugling längst schon ein Schulkind. Nach dem Krieg fragen konnte das Kind seinen Vater nie. Lass mal, die Mutter, Kopfschütteln, Abwinken, lass mal den Vater in Ruhe. Der Vater einfach nur still. Was wäre aus dem Säugling geworden, wenn der Zug sich zwei Minuten früher in Bewegung gesetzt hätte? Was wäre aus dem Mädchen, Richards späterer Frau, geworden, wenn der Bruder es nicht von der Straße gezogen hätte? Zwischen einem Waisenjungen und einer Toten hätte es jedenfalls, soviel ist sicher, keine Hochzeit gegeben. Störe meine Kreise nicht, soll Archimedes, mit dem Finger geometrische Figuren in den Sand zeichnend, zu dem römischen Soldaten gesagt haben, der ihn danach erstach. Das Unverwirrte ist nicht selbstverständlich, darüber war Richard sich mit seiner Frau immer einig gewesen. Wahrscheinlich verstand sie deshalb um so viel besser als seine junge Geliebte, worum es ihm ging, wenn er in allem, was ihm begegnete, nach dem wirklich Richtigen suchte. Getrunken hatte sie auch. Aber das war eine andre Geschichte.
Er setzt sich zu Tisch und schaltet den Fernseher ein, in der Abendschau bringen sie Nachrichten aus Stadt und Region: ein Überfall auf eine Bank, der Streik der Flughafenbelegschaft, das Benzin wird wieder teurer, auf dem Alexanderplatz haben sich zehn Männer versammelt, Flüchtlinge offensichtlich, und sind in einen Hungerstreik getreten, einer der Hungerstreikenden ist zusammengebrochen und wurde ins Krankenhaus abtransportiert. Auf dem Alexanderplatz? Man sieht, wie ein Mann auf einer Liege in einen Krankenwagen geschoben wird. Dort, wo Richard heute gewesen ist? Eine junge Journalistin spricht in ein Mikrofon, im Hintergrund hocken und liegen ein paar Gestalten, man sieht einen Campingtisch mit einem Pappschild: We become visible. In grüner, kleinerer Schrift darunter: Wir werden sichtbar. Warum hat er die Demonstration dann nicht gesehen? Das erste Brot hat er mit Schnittkäse belegt, nun kommt das zweite, mit Schinken. Manchmal schon hat er sich dafür geschämt, dass er Abendbrot isst, während er auf dem Bildschirm totgeschossene Menschen sieht, Leichen von Erdbebenopfern, Flugzeugabstürzen, hier einen Schuh von jemandem nach einem Selbstmordanschlag, dort in Folien gewickelte Körper von Opfern einer Seuche, nebeneinander im Massengrab liegend. Er schämt sich auch heute, und isst trotzdem weiter, wie sonst auch. Als Kind hat er gelernt, was Not ist. Aber deswegen muss er nicht, nur weil ein Verzweifelter heutzutage einen Hungerstreik macht, gleichfalls verhungern. Sagt er sich. Helfen würde das auch nicht dem, der den Hungerstreik macht. Und ginge es dem so gut wie ihm, würde der genauso beim Abendbrot sitzen und essen. Bis ins Alter hinein ist er damit befasst, das protestantische Erbe seiner Mutter abzuschütteln, den Grundzustand der Reue. Von den Lagern aber hat auch sie nichts gewusst. Angeblich. Was war eigentlich, bevor Luther kam, an der Stelle der Seele, an der sich seither das schlechte Gewissen breitgemacht hat? Eine gewisse Taubheit ist seit dem Thesenanschlag einfach nur Notwehr, wahrscheinlich. Mit der Gabel fährt er in die volle Salatschüssel hinein, und sagt sich, während er kaut, dass es auch gedanklich unsauber wäre, wenn er eines Tages tatsächlich aus Solidarität mit dem oder jenem Armen oder Verzweifelten dieser Welt zu essen aufhörte. Aus dem Käfig der freien Entscheidung käme er ja dennoch niemals hinaus. Eingesperrt in den Luxus, wählen zu können, wäre sein Nichtessen um nichts weniger kapriziös als die Völlerei. Die Zwiebeln im Salat schmecken ihm gut. Frische Zwiebeln. Und die Männer weigerten sich immer noch, ihre Namen zu nennen, sagt eben die junge Frau. Sie scheint um die hungerstreikenden Männer besorgt, sie ist überzeugend besorgt. Ob der besorgte Tonfall inzwischen ein Prüfungsfach ist für Journalisten? Und ob das Bild von dem Mann auf der Liege überhaupt vom Alexanderplatz stammt? Summa hießen im Mittelalter die universalen Nachschlagewerke, in diesen Büchern sah der Stadtplan von Madrid genauso aus wie der von Nürnberg oder Paris – der Stadtplan erzählte nur, dass das, was den oder jenen Namen trug, eine Stadt war. Heute war es vielleicht nicht viel anders. Hatte er so eine Gestalt, die auf einer Liege abtransportiert wird, nicht schon in unzähligen Nachrichtensendungen über die verschiedensten Teile der Welt und anlässlich der verschiedensten Katastrophen gesehen? Warum war es überhaupt von Bedeutung, ob diese Bilder, die in Zehntelsekunden vorüberhuschten, wirklich Ort und Zeit mit dem Schrecken, der die Nachricht hervorgebracht hat, teilten? Konnte ein Bild ein Beweis sein? Und sollte es das? Welche Erzählung lag den beliebigen Bildern heutzutage zugrunde? Oder ging es gar nicht mehr um eine Erzählung? Sechs Menschen seien allein am heutigen Tag in den Gewässern rund um Berlin bei Badeunfällen ertrunken, sagt der Nachrichtensprecher jetzt zum Abschluss, einen traurigen Rekord nennt er es und leitet zum Wetter über. Sechs Menschen so wie der Mann, der noch immer unten im See ist. We becomevisible. Warum hat Richard die Männer am Alexanderplatz nicht gesehen?
Nachts geht er pinkeln und kann danach nicht mehr schlafen, so wie in den letzten Monaten manchmal. Im Dunkeln liegt er dann da, und schaut seinen Gedanken dabei zu, wie sie auf Abwege geraten. Er denkt an den Mann, der unten im See liegt, ganz am Grund, wo der See selbst im Sommer noch kalt ist. An sein leeres Büro. An die junge Frau mit dem Mikro. Früher, als er noch durchschlafen konnte, hat die Nacht sich wie eine Pause angefühlt. Aber jetzt schon seit längerem nicht mehr. Alles geht immer weiter und hört auch im Dunkeln nicht auf.
Am nächsten Tag mäht er den Rasen, dann isst er Erbseneintopf zum Mittag, dann spült er die Dose aus und macht sich einen Kaffee. Er nimmt eine Kopfschmerztablette. Schmopfkerzen. Mit seiner Geliebten hat er früher Witze gemacht und die Worte verdreht. Oder die Tippfehler gesprochen. Aus alt wurde auf diese Weise atl, aus kurzkruz und so weiter. Warum hat er die Männer nicht gesehen? We become visible. Von wegen.
Er zieht die Prosaübersetzung der »Odyssee« aus dem Regal und liest sein Lieblingskapitel, das elfte.
Später fährt er zum Landkaufhaus und bringt das Messer vom Rasenmäher zum Schleifen.
Abends macht er sich Brote, dazu Salat. Er ruft seinen Freund Peter an, den Archäologen, der erzählt ihm davon, wie ein Bagger am Rand der Grabung plötzlich eine moderne Statue auf der Schaufel gehabt hat. Aus der Nazi-Ausstellung »Entartete Kunst«, sagt er. Stell dir das vor. Da ist im Bombenkrieg vielleicht ein Büro der Reichskulturkammer eingestürzt und der Giftschrank, sozusagen, ins Mittelalter gefallen. Richard sagt, das ist wirklich unglaublich, und der Freund sagt, die Erde ist voller Wunder. Richard denkt, aber das sagt er nicht, dass die Erde eher wie eine Müllhalde ist, die verschiedenen Zeiten fallen im Dunkeln, den Mund mit Erde gefüllt, übereinander her, die eine begattet die andre, ohne fruchtbar zu sein, und der Fortschritt besteht immer wieder nur darin, dass die, die auf dieser Erde herumgehen, von alldem nichts wissen.
Am nächsten Tag regnet es, deshalb bleibt er zu Hause und räumt endlich einmal den Stapel mit den alten Tageszeitungen auf.
Er macht einige Überweisungen per Telefon, dann schreibt er eine Einkaufsliste für später.
1 Kilo Zwiebeln
2x Salat
½ Weißbrot
½ Schwarzbrot
1 Butter
Käse, Wurst?
3x Eintopf (Erbsen oder Linsen)
Nudeln
Tomaten
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16-er Schrauben
Bootslack
2 Haken
Nach dem Mittagessen legt er sich hin, für zwanzig Minuten. Die Decke aus echtem Kamelhaar, mit der er sich zudeckt, hat ihm seine Frau vor Jahren zu Weihnachten geschenkt.
Um mit dem Auspacken der Kartons im Keller zu beginnen, wartet er lieber einen helleren Tag ab.
Die Studentin, deren Manuskript über die »Bedeutungsebenen in den Metamorphosen von Ovid« er eingepackt hat, hatte manchmal hinter den Händen versteckt sein Seminar verschlafen. Aber die Arbeit, die sie geschrieben hatte, war trotzdem in Ordnung gewesen.
Nachmittags nieselt es nur noch ein wenig, er steigt in sein Auto und fährt in den Supermarkt, Kaufhalle hieß das früher, morgen ist Sonntag, er darf nichts vergessen, fährt dann noch ins Landkaufhaus, wegen der übrigen Dinge. Im Landkaufhaus riecht es nach Dünger, Holzspänen und Farbe, Maden zum Angeln gibt es da auch, Taucherbrillen, und Eier, frisch aus dem Dorf.
Taucherbrillen.
Abends, in den Nachrichten aus Stadt und Region, wird eine kurze Meldung gebracht: Die hungerstreikenden Flüchtlinge vom Alexanderplatz seien heute abtransportiert worden. Der Streik sei beendet.
Schade, denkt er. Die Idee, sichtbar zu werden, indem man öffentlich nicht sagt, wer man ist, hatte ihm gefallen. Odysseus hatte sich Niemand genannt, um aus der Höhle des Zyklopen zu entweichen. Wer hat dir das Auge ausgestochen?, fragten den blinden Zyklopen von draußen die anderen Riesen. Niemand, brüllt der Zyklop. Wer schlägt dich? Niemand! Odysseus, der Niemand, dessen sich selbst aufhebenden falschen Namen der Riese herausschreit, klammert sich an den Bauch einer Ziege und entwischt so unentdeckt aus der Höhle des menschenfressenden Ungeheuers.
Das Schild mit der Aufschrift We become visible steckte wahrscheinlich jetzt in einem Papierkorb oder lag, wenn es zu groß für den Papierkorb war, nass vom Regen, am Boden.
In den nächsten zwei Wochen sorgt Richard dafür, dass der Schuppen eine neue Tür bekommt, lässt den Rauchabzug des Kamins reparieren, pflanzt die Pfingstrosen um, streicht die Ruder mit Bootslack, erledigt die über den Sommer liegengebliebene Post, geht einmal zur Physiotherapie und dreimal ins Kino. Morgens beim Frühstück liest er, wie immer, die Zeitung. Morgens trinkt er Tee, Earl Grey mit Milch und Zucker, dazu ein Brot mit Honig und eins mit Käse, manchmal ein Stück Gurke dazu, aber nur an den Sonntagen gibt es ein Ei. Er hat jetzt jeden Tag Ruhe, so wie vorher nur sonntags. Aber er will nur sonntags ein Ei. So, wie er es gewöhnt ist. Neu ist, dass er bei seinem Tee so lange sitzen bleiben kann, wie er will, manche Meldungen, die er früher nur überflogen hätte, liest er deshalb nun gründlich. Gern würde er wissen, wo die zehn Männer vom Alex hingebracht wurden, aber darüber liest er nichts. Er liest, dass vor der italienischen Insel Lampedusa 64 von 329 Bootsflüchtlingen ertrunken sind, darunter Menschen aus Ghana, Sierra Leone und Niger. Er liest, dass ein Mann aus Burkina Faso irgendwo über Nigeria aus dem Fahrwerk eines in 3000 Meter Höhe fliegenden Flugzeugs gestürzt sei, wo er sich versteckt gehalten hatte, er liest von einer seit Monaten von Schwarzafrikanern besetzten Schule in Kreuzberg, liest vom Oranienplatz, auf dem die Flüchtlinge offenbar seit einem Jahr in Zelten leben. Wo eigentlich liegt Burkina Faso? Selbst der amerikanische Vizepräsident hat neulich von Afrika als von einem Land gesprochen, dabei gibt es, das stand in dem Artikel über diesen Fauxpas, 54 afrikanische Länder. Vierundfünfzig? Er hätte das auch nicht gewusst. Was ist die Hauptstadt von Ghana? Von Sierra Leone? Oder von Niger? Von seinen Studenten konnten manche zu Beginn des ersten Studienjahres nicht einmal die ersten vier Zeilen der »Odyssee« auf Griechisch hersagen. Das wäre zu seiner Studentenzeit undenkbar gewesen. Er steht auf und holt seinen Atlas. Die Hauptstadt von Ghana ist Accra, die Hauptstadt von Sierra Leone ist Freetown, die Hauptstadt von Niger Niamey. Hat er diese Städtenamen schon jemals gewusst? Burkina Faso liegt westlich von Niger. Und Niger? In der Sektion Germanistik, auf demselben Flur in der Uni, nur ein paar Zimmer weiter, hatte es in den siebziger Jahren oft Studenten aus Mosambik und Angola gegeben, sie studierten Maschinenbau oder Landwirtschaft, bekamen aber von seinen Kollegen deutschen Sprachunterricht. Die Zusammenarbeit mit den damals verbündeten afrikanischen Staaten hatte mit dem Ende des hiesigen Sozialismus aufgehört. Ob er sich wegen dieser Studenten damals das Buch »Negerliteratur« gekauft hat? Das weiß er nicht mehr, aber jedenfalls weiß er genau, wo es in seinem Bücherregal steht.Die Bücher warten, sagt er immer, wenn Besucher ihn fragen, ob er alle die Bücher, die bei ihm in den Regalen stehen, schon gelesen habe. Die Hauptstadt von Mosambik ist Maputo, die von Angola Luanda. Er schlägt den Atlas wieder zu und geht ins andere Zimmer hinüber, zu dem Regalfach, in dem das Negerbuch steht. Neger würde inzwischen auch niemand mehr sagen, aber damals hat man solch einen Titel noch auf ein Buch gedruckt. Wann war eigentlich damals? In seiner Nachkriegskindheit hat ihm seine Mutter immer aus dem Buch »Hatschi Bratschis Luftballon« vorlesen müssen, das sie in den Berliner Trümmern in einem Koffer gefunden hatte.
Schnell, das Wasser ist schon lau,
ruft die Menschenfresserfrau,
fasst ihn nur geschwind, geschwind,
ruft das Menschenfresserkind.
Das Menschenfresserkind hatte ihm auf den Bildern besonders gut gefallen: die Knöchelchen vom letzten Essen quer ins Haar gesteckt. Das Buch hatte seine Mutter wahrscheinlich irgendwann weggegeben, und später, als er als Erwachsener in Buchhandlungen danach fragte, erfuhr er, dass es das Buch zwar immer noch gab, inzwischen aber nur noch in einer politisch korrekten Neuauflage, mit einem Afrika ohne Menschenfresser, und dass die Originalfassung, wenn überhaupt, nur zu einem horrenden Preis antiquarisch zu bekommen war. Auch hier war dem Verbot also nichts weiter gelungen, als das Verbotene in ein besonders Begehrtes zu verwandeln. Indirekt sind die Wirkungen, nicht direkt, denkt er, so wie er es in den letzten Jahren bei unterschiedlichen Gelegenheiten schon oft gedacht hat. Das Buch »Negerliteratur« aber steht an der Stelle im Regal, wo es immer gestanden und auf ihn gewartet hat. Und richtig, der Titel ist von 1951. Er blättert und liest ein paar Zeilen. Die Erde ist rund und ganz von Sumpf umgeben, steht da. Dahinter ist das Land der Buschgeister. Unter der Erde ist immer nur Erde. Was dann kommt, weiß man nicht.
Als Richard die Schule im Berliner Bezirk Kreuzberg endlich gefunden hat, dämmert es schon. Eine Außenbeleuchtung gibt es auf dem ehemaligen Schulhof nicht, so dass er die schwarzen Gestalten, die ihm dort entgegenkommen, kaum von der nächtlichen Luft unterscheiden kann. Das Treppenhaus stinkt. Die Wände sind mit Farbe besprüht. Im ersten Stock blickt er durch eine offene Tür geradezu in die Herrentoilette, er geht hin und schaut, wie hier eine Herrentoilette aussieht: Von vier Abteilen sind drei mit rotweißen Klebestreifen versiegelt. Auf der anderen Seite ist alles leer, früher waren da vielleicht Duschen. Die Rohre sind abmontiert, nur die Fliesen noch übrig. Es stinkt grässlich. Er tritt wieder heraus. Niemand hier jetzt, kein Schwarzer, kein Weißer. An der Wand nur ein handgeschriebener Zettel: Aula steht da, ein Pfeil zeigt nach oben. Von oben hört er jetzt auch Stimmen. Wahrscheinlich sind alle schon bei der Versammlung. Er ist etwas zu spät, hat sich auf dem Weg von der S-Bahn zur Schule zuerst verlaufen, weil er sich im Westen Berlins noch immer nicht auskennt. Der Senat lädt Anwohner und Flüchtlinge zur Beratung der Lage in die Aula der besetzten Kreuzberger Schule ein, hat er in der Zeitung gelesen. Und was macht er dann hier – der kein Anwohner ist und auch kein Flüchtling? Hat der Mauerfall ihm etwa nur die Freiheit gebracht, an Orte zu gehen, vor denen er Angst hat?
Die Aula ist voller Menschen, sie stehen, sie sitzen auf dem Fußboden, auf Stühlen, auf Tischen. Die Matratzen der Flüchtlinge sind an den Rand des Saals geschoben, ein paar Zelte sind mittendrin aufgestellt, festgeschraubt im Fischgrätparkett. Was ist hier außen, was innen? Auch die ehemalige Bühne der Aula ist mit Matratzen ausgelegt, eine dicht neben der anderen, der Theatervorhang hängt zwischen weißen korinthischen Säulen, er ist aufgezogen und gibt den Blick frei auf Schlafstätten, Decken, Bettzeug, Taschen und Schuhe. Liegt nicht hier und da sogar noch eine Gestalt unter den Decken und schläft? Richard ist sich nicht sicher. Habe nun, ach.
Gerade sagt jeder reihum seinen Namen und sagt, wer er ist und warum er hier ist. Und all das wird zweifach übersetzt. Richard hat in seinem Leben schon auf vielen Versammlungen gesessen, aber noch nie hat er so eine Versammlung erlebt.
Ich heiße, ich komme aus, ich bin hier, weil.
My name is, I come from, I’m here because.
Je m’appelle, je suis de, je suis ici.
An die 70 Menschen sagen, wer sie sind. Philosophie, /Juristerey und Medicin, /und leider auch Theologie! / Durchaus studirt, mit heißem Bemühn. An der Decke ist Stuck, ein Kronleuchter hängt in der Mitte, dunkles Holz an den Wänden. Vor noch gar nicht so langer Zeit war das hier ein Gymnasium.
Aus Mali, Äthiopien, Senegal. Aus Berlin.
From Mali, Ethiopia, Senegal. From Berlin.
De Mali, Éthiopie, Sénégal. De Berlin.
An den Fensterkreuzen sind ein paar Jacken und T-Shirts aufgehängt. Zum Trocknen vielleicht? Wo wäscht man eigentlich Wäsche in einer ehemaligen Schule? Auf der Bühne wurden vor noch gar nicht so langer Zeit Reden gehalten und Klavierstücke vorgespielt, wurden neu aufgenommene Schüler begrüßt und beste Abiturienten ausgezeichnet. Fanden Theateraufführungen statt. Wurde der Vorhang beiseite gezogen. Sah man Faust an seinem Schreibtisch sitzen. Und sehe, dass wir nichts wissen können! Tatsächlich, auch jetzt, während der Versammlung, liegen unter manchen der Decken Menschen und schlafen.
Aus Niger. Aus Ghana. Aus Serbien. Aus Berlin.
From Niger. From Ghana. From Serbia. From Berlin.
De Niger. De Ghana. De Serbie. De Berlin.
Wird er weggeschickt werden, weil er kein Anwohner ist? Er will nicht sagen, wer er ist. Oder warum er hier ist. Wenn er es doch nicht einmal selbst weiß. Unter den wenigen weißhäutigen Anwesenden gibt es Anwohner aus Kreuzberg, Mitglieder von Flüchtlingshilfswerken, es gibt Katastrophenhelfer und Mitglieder einer Initiative, die aus der Schule eine Kultureinrichtung machen wollen, es gibt Beamte der Stadtbezirksverwaltung und Mitarbeiter der Jugendhilfe. Es gibt eine Journalistin, die wieder fortgehen muss, weil die Versammlung unter Ausschluss der allgemeinen Öffentlichkeit stattfinden soll. Unter den vielen schwarzhäutigen Menschen gibt es Menschen, die seit acht Monaten hier in der Schule leben, und Menschen, die seit sechs Monaten hier leben, und Menschen, die erst seit zwei Monaten hier leben. Diese Flüchtlinge hier nennen ihre Namen und sagen, woher sie kommen, anders als die auf dem Alexanderplatz, aber das scheint dennoch nicht die Lösung des Problems zu sein. Die Hauptstadt von Ghana ist Accra, die Hauptstadt von Sierra Leone ist Freetown, die Hauptstadt von Niger Niamey.
Nein, Richard will seinen Namen nicht sagen.
In dem Moment, in dem er das denkt, ist plötzlich vom Treppenhaus her ein ohrenbetäubender Knall zu hören, so etwas wie eine Explosion, die alles Denken auf einmal auslöscht und nur noch den Instinkt übriglässt. Mit dem Instinkt weiß der Katastrophenhelfer: Wir sind im 2. Stockwerk. Weiß der Mann aus Ghana: Der Zugang zum anderen Treppenhaus ist abgeschlossen. Weiß der Anwohner: Und dabei bin ich doch weiß. Fragt sich die Anwohnerin: Was wird aus meinem Kind? Wissen viele schwarzhäutige Menschen: Dann bin ich also doch nur zum Sterben hierhergekommen. Weiß auch Richard: Jetzt ist es soweit.
Aber dann nehmen alle, die sich die Ohren zugehalten haben, auch Richard, die Hände wieder herunter, und atmen weiter und beginnen wieder zu denken, und denken: Es war doch keine Bombe. Denken auch: Aber es hätte leicht eine sein können.
Doch gerade in diesem Moment, in dem alle die Angst, die sie gehabt haben, oder die vielmehr sie gehabt hat, schnell aus ihren Gedanken wischen wollen, gerade da geht auf einmal das Licht aus, und einen Moment lang sind alle Menschen in diesem Raum schwarz. Was wird jetzt? Was soll das jetzt?, hört man einige murmeln. Menschenskind, hört man. Dann geht das Licht wieder an.
Als sei in diesen zwei Minuten noch nicht genug Unvorhergesehenes geschehen, fängt nun, kaum ist es wieder hell, plötzlich einer der Afrikaner zu schreien an, fuchtelt herum, flucht, schleudert ein Kopfkissen durch die Gegend, dann auch eine Bettdecke. Was ist denn? Was hat der denn nun noch? Ist er unter Schock? Nein, heißt es, ihm wurde offenbar während der Explosion oder während der anschließenden Dunkelheit sein Laptop gestohlen, unter dem Kopfkissen weg. Warum hat so ein Flüchtling überhaupt einen Laptop, denkt der Anwohner jetzt. Dann ist das bestimmt einer dieser Männer, die im Park um die Ecke mit Drogen handeln, denkt die Anwohnerin. Privateigentum funktioniert eben nicht, wenn jeder nur eine Decke und ein Kopfkissen hat, denkt Richard, der aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar sind, aus der Vorstadt hierhergeraten ist. Er geht an dem Schreienden vorbei und an den anderen, die versuchen, den Schreienden zu beruhigen, er lässt den Tumult und den Raum, in dem die Versammlung noch gar nicht wirklich begonnen hat, hinter sich und tritt in den Treppenflur ein, in dem noch die Nebelschwaden des Knallers stehen, den irgendein Berliner Provokateur, der ein Zeichen gegen die Bezirksverwaltung setzen wollte, oder ein jugendlicher schwarzhäutiger Mensch, der nichts Besseres zu tun hat, als andere mit einem Knaller zu erschrecken, oder ein Neofaschist, der die Flüchtlinge und ihre Sympathisanten hasst, oder ein armer schwarzer Teufel, der einem anderen armen schwarzen Teufel in einem Moment der Panik einen Laptop stehlen wollte, gezündet hat.
Richard steigt die Treppe hinab, die er vor lauter Rauch kaum sehen kann, geht an der hell erleuchteten, aber leeren Herrentoilette vorbei weiter nach unten. Würde er nicht so langsam gehen, um die Stufen nicht zu verfehlen, könnte man sagen: er flieht.