Dinge, die verschwinden - Jenny Erpenbeck - E-Book

Dinge, die verschwinden E-Book

Jenny Erpenbeck

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Beschreibung

Was bleibt, ist der Wandel. »Irgendwann, mitten in der Zeit knallt es dann, und das Jahr, das ein Jahr lang Gegenwart genannt wurde, verschwindet aus dieser Gegenwart und verwandelt sich von einer Sekunde auf die andere in Vergangenheit.« »An Abschiede erinnere ich mich«, ist einer der Absätze, mit denen die kurzen Einträge in Jenny Erpenbecks Dinge, die verschwinden beginnen. Die Stichworte, um die es in diesem Buch des Abschieds geht, sind u.a. Palast der Republik, Sperrmüll, Erinnerungen, Kindergarten, Socken, Hof ohne Grenzen, Öfen und Kohle, Käse, Freundinnen, Diebesgut, Mitte von Nirgendwo, Männer, das einfache Leben, Warschauer Ghetto, Höflichkeit, Wörter, Mütter, Tropfenfänger, Jahre, Splitterbrötchen, Friedhofsbesuche, Jugend, kluge Kommentare und der Autor an und für sich. Von all diesen Dingen nimmt Jenny Erpenbeck Abschied: manchmal mit tiefer Trauer, manchmal mit einer letzten melancholischen Verbeugung, manchmal aber auch mit Humor. Vieles ist in dieses Buch eingeflossen: Erinnerungen, Reflexionen, »Beobachtungen, die ich während der Recherchen für Heimsuchung gemacht habe, die aber für das Buch aus den oder jenen Gründen nicht geeignet waren«, so Jenny Erpenbeck in einem Interview mit der Literaturzeitschrift Bella Triste, »das reicht von berlinerischen O-Tönen von Leuten, die ich befragt habe, über mich selbst als verschwindende Mutter, die sich als Autorin auf Reisen begibt, bis hin zu einem Spaziergang durchs ehemalige Warschauer Ghetto, das in meinem Buch noch Gegenwart ist, aber nach der Niederschlagung des Ghettoaufstands 1943 buchstäblich vom Erdboden verschwunden ist.« Unterschiedlichstes Material taucht in diesen kurzen Schlaglichtern auf, Berlinisches, Persönliches, aber auch Politisches, Philosophisches und vieles aus Ost und West. Zusammengenommen ergeben die Dinge, die verschwinden ein großes Ganzes – ein Buch über ein sich veränderndes Leben, über ein sich veränderndes Deutschland und eine sich verändernde Welt.

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Jenny Erpenbeck

Dinge, die verschwinden

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Titelseite

Über Jenny Erpenbeck

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Inhaltsverzeichnis

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Über Jenny Erpenbeck

Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, ist die Autorin zahlreicher Romane, Erzählungen und Essays. Ihre Werke sind in 30 Sprachen übersetzt und wurden im In- und Ausland vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Independent Foreign Fiction Prize, dem Thomas-Mann-Preis, dem Premio Strega Europeo und dem Internationalen Stefan-Heym-Preis. Zuletzt erschienenen die Romane »Gehen, ging, gegangen« und »Kairos«.

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Über dieses Buch

Was bleibt, ist der Wandel.

»Irgendwann, mitten in der Zeit knallt es dann, und das Jahr, das ein Jahr lang Gegenwart genannt wurde, verschwindet aus dieser Gegenwart und verwandelt sich von einer Sekunde auf die andere in Vergangenheit.«

»An Abschiede erinnere ich mich«, ist einer der Absätze, mit denen die kurzen Einträge in Jenny Erpenbecks Dinge, die verschwinden beginnen. Die Stichworte, um die es in diesem Buch des Abschieds geht, sind u.a. Palast der Republik, Sperrmüll, Erinnerungen, Kindergarten, Socken, Hof ohne Grenzen, Öfen und Kohle, Käse, Freundinnen, Diebesgut, Mitte von Nirgendwo, Männer, das einfache Leben, Warschauer Ghetto, Höflichkeit, Wörter, Mütter, Tropfenfänger, Jahre, Splitterbrötchen, Friedhofsbesuche, Jugend, kluge Kommentare und der Autor an und für sich.

Von all diesen Dingen nimmt Jenny Erpenbeck Abschied: manchmal mit tiefer Trauer, manchmal mit einer letzten melancholischen Verbeugung, manchmal aber auch mit Humor. Vieles ist in dieses Buch eingeflossen: Erinnerungen, Reflexionen, »Beobachtungen, die ich während der Recherchen für Heimsuchung gemacht habe, die aber für das Buch aus den oder jenen Gründen nicht geeignet waren«, so Jenny Erpenbeck in einem Interview mit der Literaturzeitschrift Bella Triste, »das reicht von berlinerischen O-Tönen von Leuten, die ich befragt habe, über mich selbst als verschwindende Mutter, die sich als Autorin auf Reisen begibt, bis hin zu einem Spaziergang durchs ehemalige Warschauer Ghetto, das in meinem Buch noch Gegenwart ist, aber nach der Niederschlagung des Ghettoaufstands 1943 buchstäblich vom Erdboden verschwunden ist.« Unterschiedlichstes Material taucht in diesen kurzen Schlaglichtern auf, Berlinisches, Persönliches, aber auch Politisches, Philosophisches und vieles aus Ost und West. Zusammengenommen ergeben die Dinge, die verschwinden ein großes Ganzes – ein Buch über ein sich veränderndes Leben, über ein sich veränderndes Deutschland und eine sich verändernde Welt.

Inhaltsverzeichnis

I Palast der Republik

II Sperrmüll

III Erinnerungen

IV Kindergarten

V Miezel

VI Krempel

VII Käse und Socken

VIII Freies Geleit

IX Freundin

X Öfen und Kohle

XI Mitte von Nirgendwo

XII Diebesgut

XIII Männer

XIV Rückbau

XV Das einfache Leben

XVI Warschauer Ghetto

XVII Höflichkeit

XVIII Häuser

XIX Mütter

XX Tropfenfänger

XXI Wörter

XXII Geschenke

XXIII Jahre

XXIV Leerstellen

XXV Splitterbrötchen

XXVI Kluge Kommentare

XXVII Beßre Welt

XXVIII Friedhofsbesuche

XXIX Dinge

XXX Jugend

XXXI Der Autor

IPalast der Republik

Als der Palast der Republik eröffnet wurde, war ich in der dritten Klasse. Meine Klassenlehrerin hieß Fräulein Kies, und Fräulein Kies hielt einen bedruckten Briefumschlag in die Höhe, auf dem der neue Palast zu sehen war, und erklärte uns, was Ersttagsbriefe sind. Damals fiel mir noch nicht auf, daß das Wort Ersttagsbriefe nicht nur die gleiche Silbenanzahl, sondern auch ähnliche Vokale besitzt wie das Wort Eintagsfliege. Fräulein Kies sagte uns, daß jetzt jeder von uns einen solchen Ersttagsbrief erhielte, daß wir ihn gut aufheben sollten, denn später einmal würden wir stolz darauf sein, daß wir dabei waren, als der neue Palast eröffnet wurde. Nach der Überreichung der Ersttagsbriefe durch Fräulein Kies unternahm unsere Klasse einen Ausflug in den neueröffneten Palast des Volkes.

Damals wollte ich noch Archäologie studieren, um Paläste auszugraben, deshalb gefielen mir die verschiedenen Arten von Marmor unten bei den Garderoben. Oben in der Bildergalerie war alles mit Teppichen ausgelegt. Ganz oben, unter der Decke, hingen die Lampen, die aussahen wie lauter Luftblasen, so daß man sich vorstellen konnte, man sei unter Wasser. Diese Lampen hatte der Betrieb organisiert, in dem meine Tante Sigrid arbeitete. Dieser Betrieb war auch für die Bestecke im Palastcafé zuständig gewesen, also für die Löffel, mit denen ich im weiteren Verlaufe meines Lebens erst den Kakao, später den Kaffee umrührte, und für die Messer und Gabeln in der Weinstube, mit denen ich, wenn mich mein erster Freund zum Essen ausführte, ins Eisbein schnitt oder ins Schnitzel Hawaii. Im Palast der Republik klemmte ich mir beim Bowling den Finger zwischen zwei Kugeln ein, beschloß im Theater, 4. OG, nach dem Klavierkonzert einer berühmten Pianistin, Pianistin zu werden, rückte in der Weinstube mit Blick auf die Spree an den schweren, schmiedeeisernen Stühlen, um mich bequem zu setzen.

 

Als sich viele Jahre später abzeichnete, daß dem Palast die Republik allmählich abhanden kam, ließ ich zur Sicherheit einen der Löffel, mit denen meine Tante das Café ausgestattet hatte, in meiner Hosentasche verschwinden. Vor drei Tagen nun konnte ich, als ich dort vorbeifuhr, schon durch den Palast hindurchsehen. Womöglich aus statischen Gründen hat man mit dem Abriß in der Mitte begonnen, so daß die Teile, die noch aus etwas sind, den mittleren Teil einrahmen, der im Prinzip nur noch aus Luft ist. Mir fiel Fräulein Kies wieder ein, und ich fragte mich, ob sie sich heutzutage wohl Frau nennen dürfte, auch wenn noch immer kein Mann sie geheiratet hat.

IISperrmüll

Von dem Moment an, da der Besitzer eines alten Schranks / Fernsehers / Fahrrades das Ding über die Rampe kippt, von dem Moment an, wo es »drin« ist, wie das auf den Höfen der Berliner Stadtreinigung genannt wird, gehört es nicht mehr ihm, sondern geht in den Besitz dieses Unternehmens über. Einzig zu diesem Zweck besitzt die Berliner Stadtreinigung das Ding: Um die Stadt von ihm zu reinigen, es angemessen zu vernichten. In dem Moment, da von den privaten Besitzern der Besitz aufgegeben wird, heißt das Ding nur noch das Material, aus dem es gemacht ist. Holz zu Holz, Metall zu Metall und so weiter – unter diesen Namen reißt die Stadt das alte Zeug an sich, verschlingt es, mitsamt Funktion und Gebrauchswert, den es vielleicht noch hat, mitsamt Mehrwert und Geschichte, die es womöglich gehabt hat, denn erst, wenn das Alte ganz und gar verschwunden ist, kauft sich ein Bewohner dieser Stadt, ein Kunde auf dem Markt das Neue.

 

Hieße das Fahrrad da drüben nicht schon Metall, würde es sicher noch fahren. Aber mit sowat fangen wa ja gar nicht erst an, dann jäbs ja ’ne Schlange von hier bis nach Kreuzberg, sagen die Männer, die die Container verschließen und abtransportieren. Früher einmal stellte man seinen alten Schrank auf die Straße, der war dann nach spätestens einer Nacht weg. Schlangen aus Mangel gabs im Krieg und später im Osten, aber dort sollen sie auch bleiben, in den historischen Büchern, auf den schwarzweißen Fotos, in Zeitzeugenberichten. Im Westen gabs immer Bananen, und dabei soll es auch bleiben. Wir wolln och nur unsre Arbeit machen, sagen die Männer. Und wenn hier lauter Müllsucher, ick nenn et mal so, herumkrabbeln würden, käme ja keener mehr ran, der wat rin schmeißen will. Nicht einmal die Männer selbst dürfen etwas, das »drin« ist, wieder heraussortieren. Und wenn, sagen wir mal, ein unersetzlicher Biedermeierschrank bei Ihnen landet? Dann och nich. Wenn ich also in den Container steigen würde (im Müll herumkrabbeln), könnte ich ein solches verlorengegebenes Möbelstück zwar anfassen, aber, rein rechtlich gesehen, wäre es dennoch schon vollkommen verschwunden? Jawoll. Nicht einmal abkaufen dürfte ich Ihnen den Schrank? Nee. Höchstens uff der menschlichen Ebene, also ick meine, menschlichet Versagen, det jibt et ja manchmal. Aber erlaubt isset nich.

Was ich nicht frage, aber dennoch gern gewußt hätte, ist, ob die Schönheit eines solchen Schranks nach dem Zerhacken wieder herauskommt und zum Himmel auffliegt, so wie man es von den Seelen sagt, und ob das reine Holz dann ein paar Gramm leichter wäre als zuvor.

 

Vor dem städtischen Reinigungsunternehmen sitzen oft Menschen aus fernen Ländern, die Fernseher, Kühlschränke und Lautsprecherboxen entgegennehmen, bevor die ins Verschwinden hineingekippt werden. Ob es in deren Sprachen das Wort Biedermeier überhaupt gibt, und wenn ja, wie es lautet, habe ich leider noch nicht in Erfahrung gebracht. Meine letzte Hoffnung gilt jetzt dem sogenannten menschlichen Versagen.

IIIErinnerungen