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Die erfolgreichen pädagogischen Konzepte von Haim Omer, Maria Aarts und Ben Furman helfen jeweils auf eigene Art, die Die erfolgreichen pädagogischen Konzepte von Haim Omer, Maria Aarts und Ben Furman helfen jeweils auf eigene Art, die Kommunikation mit Kindern zu verbessern. In diesem Band skizzieren die Urheber die Besonderheiten ihrer Ansätze. Dirk Rohr ordnet die Konzepte theoretisch ein und vergleicht sie miteinander. Das Buch bietet kompakte Einführungen in die Methoden von Neuer Autorität, Marte Meo und Ich schaffs!. Wer professionell mit Kindern zu tun hat, findet darin außergewöhnliche Ideen und Anregungen für den Umgang mit jungen Menschen. Konsequent umgesetzt, wirken die Methoden verblüffend schnell – auch und gerade in schwierigen Situationen.
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Seitenzahl: 210
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Die Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«
Die Bücher der petrolfarbenen Reihe Beratung, Coaching, Supervision haben etwas gemeinsam: Sie beschreiben das weite Feld des »Counselling«. Sie fokussieren zwar unterschiedliche Kontexte – lebensweltliche wie arbeitsweltliche –, deren Trennung uns aber z. B. bei dem Begriff »Work-Life-Balance« schon irritieren muss. Es gibt gemeinsame Haltungen, Prinzipien und Grundlagen, Theorien und Modelle, ähnliche Interventionen und Methoden – und eben unterschiedliche Kontexte, Aufträge und Ziele. Der Sinn dieser Reihe besteht darin, innovative bis irritierende Schriften zu veröffentlichen: neue oder vertiefende Modelle von – teils internationalen – erfahrenen Autor:innen, aber auch von Erstautor:innen.
In den Kontexten von Beratung, Coaching und auch Supervision hat sich der systemische Ansatz inzwischen durchgesetzt. Drei Viertel der Weiterbildungen haben eine systemische Orientierung. Zum Dogma darf der Ansatz nicht werden. Die Reihe verfolgt deshalb eine systemisch-integrative Profilierung von Beratung, Coaching und Supervision: Humanistische Grundhaltungen (z. B. eine klare Werte-, Gefühls- und Beziehungsorientierung), analytisch-tiefenpsychologisches Verstehen (das z. B. der Bedeutung unserer Kindheit sowie der Bewusstheit von Übertragungen und Gegenübertragungen im Hier und Jetzt Rechnung trägt) wie auch die »dritte Welle« des verhaltenstherapeutischen Konzeptes (mit Stichworten wie Achtsamkeit, Akzeptanz, Metakognition und Schemata) sollen in den systemischen Ansatz integriert werden.
Wenn Counselling in der Gesellschaft etabliert werden soll, bedarf es dreierlei: der Emanzipierung von Therapie(-Schulen), der Beschreibung von konkreten Kompetenzen der Profession und der Erarbeitung von Qualitätsstandards. Psychosoziale Beratung muss in das Gesundheits- und Bildungssystem integriert werden. Vom Unternehmen finanziertes Coaching muss ebenso wie Team- und Fallsupervisionen zum Arbeitnehmerrecht werden (wie Urlaub und Krankengeld). Das ist die Vision – und die politische Seite dieser Reihe.
Wie Counselling die Zufriedenheit vergrößern kann, das steht in diesen Büchern; das heißt, die Bücher werden praxistauglich und praxisrelevant sein. Im Sinne der systemischen Grundhaltung des Nicht-Wissens bzw. des Nicht-Besserwissens sind sie nur zum Teil »Beratungsratgeber«. Sie sind hilfreich für die Selbstreflexion, und sie helfen Berater:innen, Coachs und Supervisor:innen dabei, hilfreich zu sein. Und nicht zuletzt laden sie alle Counsellor zum Dialog und zum Experimentieren ein.
Dr. Dirk Rohr
Herausgeber der Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«
Dirk Rohr, Haim OmerMaria Aarts, Ben Furman
Neue Autorität, Marte Meo und Ich schaffs!
Zweite Auflage, 2023
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer ✝ (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin ✝ (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Themenreihe »Beratung, Coaching, Supervision«
hrsg. von Dirk Rohr
Reihengestaltung: Uwe Göbel
Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann
Umschlagfoto: © Valeria Santarelli – stock.adobe.com
Redaktion: Dr. med. Nicola Offermanns
Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Zweite Auflage, 2023
ISBN 978-3-8497-0356-1 (Printversion)
ISBN 978-3-8497-8344-0 (ePUB)
© 2021, 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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Carl-Auer Verlag GmbH
Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg
Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22
Einleitung
1Neue Autorität
von Haim Omer
1.1 Einführung in das Konzept
Die Strom-Metapher
Die Ankerfunktion
Beispiel von Mia und Joe
1.2 Dirk Rohr im Gespräch mit Haim Omer
1.3 Forschung
Nonviolent Resistance (NVR) für gewalttätige, destruktive und impulsive Kinder
NVR bei Angst- und anderen Akkomodationsstörungen
Elterliche Wachsamkeit
Interventionen in größeren Settings
Stand der Forschung
Indikationen und Kontraindikationen
2 Marte Meo – aus eigener Kraft
von Maria Aarts
2.1 Einführung in das Konzept
Grundlage der Methode: Lernen vom natürlichen Entwicklungsmodell
Probleme sind Entwicklungs- und Wachstumsmöglichkeiten
Das internationale Marte Meo-Netzwerk: Eine reiche Quelle für neue Initiativen
Marte Meo-Entwicklungs-Checkliste: Die Botschaft hinter dem auffälligen Verhalten lesen
Die Vermittlung der Information: Das Marte Meo-3W-Beratungssystem
Marte Meo-Learning-Sets
Marte Meo-Begriffe
2.2 Dirk Rohr im Gespräch mit Maria Aarts
2.3 Forschung
Stand der Forschung
Datenanalyse
Grenzen der Studie
Fazit
3Ich schaffs!
von Ben Furman
3.1 Einführung in das Konzept
Was ist das Ich schaffs!-Programm?
Die Geburt von Ich schaffs!
Ich schaffs! erfordert ein Umdenken
Die 15 Schritte des Programms
3.2 Dirk Rohr im Gespräch mit Ben Furman
3.3 Forschung
Die Skillful class-Methode
Ich schaffs!-Trainings
4 Die drei Konzepte im Vergleich
von Dirk Rohr
4.1 Adressat:innen der Konzepte
4.2 Erziehungsberatung ohne Normativitätsanspruch
4.3 Einordnung der drei Konzepte als Beratungsansätze
Einordnung als humanistische Ansätze
Einordnung als systemische Ansätze
4.4 Selbstreflexion der Eltern (oder Erziehungsberechtigten)
4.5 Weiterbildungskonzepte der einzelnen Methoden
Literatur
Über die Autoren und die Autorin
Bei der Vorbereitung für die Tagung »Gelingende Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen« und die Fertigstellung dieses gleichnamigen Buches habe ich es als meine Aufgabe verstanden, »eine Bühne zu bereiten« und durch die Auswahl der Rednerinnen und Redner, Autorinnen und Autoren eine möglichst spannende, aber auch besonders breite Auseinandersetzung mit der Thematik zusammenzutragen. Mein Anspruch war es, für alle »Beteiligten« ein hilfreiches Buch zur Verfügung zu stellen, das neugierig macht, Fragen aufwirft und zur (Selbst-)Reflexion sowie zur gemeinsamen Reflexion, zum Dialog einlädt.
Im Leben gibt es Situationen (oder Phasen), in denen uns die Kommunikation mit (unseren) Kindern nicht gelingen will – als Eltern, aber auch als Professionelle. Es gibt kaum emotionalere Themen als die Sorge um (unsere) Kinder. Angst, Traurigkeit, Scham, der Wunsch nach Verlässlichkeit und Nähe sind bei uns Erwachsenen oft Stimmen im inneren Team – ebenso, wie das Bedürfnis nach Autonomie, Freiheit und Spontaneität Stimmen im inneren Team der Kinder und Jugendlichen sind. Und vice versa. Nach meiner Erfahrung haben wir immer alle Gefühle und Bedürfnisse in uns. Nach Carl Rogers (1977), dem Begründer des personenzentrierten Ansatzes, gibt es 4 Schritte für die gelingende Kommunikation:
Empathie, Wertschätzung und Kongruenz sowie die Bewusstwerdung als erster Schritt
das Verbalisieren als zweiter
das Verstehen der eigenen Emotionen als dritter und
das positiv konnotierende bzw. wertschätzende Annehmen dieser Emotionen als vierter Schritt.
Diese Schritte sind die wichtigsten Parameter und unabdingbare Bestandteile gelingender Kommunikation in Beratungssettings. Sind sie dies in gleicher Weise auch für die gelingende Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen?
Abb. 1: Schritte in Anlehnung an Rogers (Rohr 2016b)
Dieses Buch entsteht also im Kontext der Tagung »Gelingende Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen« an der Universität zu Köln. Sie ist Teil der Tagungsreihe »Gelingende Kommunikation mithilfe von systemisch-humanistischen (Beratungs-)Ansätzen«, die wir 2016 mit Friedemann Schulz von Thun begonnen haben und seitdem jährlich durchführen. Das Buch richtet sich an Professionelle aus den Bereichen Pädagogik, Erziehung, Schule, Sozialarbeit, Beratung und Therapie – aber auch an Eltern und Erziehungsberechtigte. Ziel des Buches ist, die allseits bekannten Konzepte von Haim Omer, Maria Aarts und Ben Furman nicht nur vorzustellen, sondern auch einzuordnen und zu vergleichen (s. Kap. 4). Hauptfokus sollen aber die Konzepte selbst sein. Sie werden jeweils anhand eines Einführungstextes, eines Interviews und ausgewählter Forschungs- bzw. Evaluationsergebnisse kurz vorgestellt.
Alle drei Ansätze sind sowohl Beratungs- als auch pädagogische Konzepte – im weitesten Sinne Erziehungsberatungskonzepte. Sie sind mehr oder weniger klar theoretisch basiert und ausdifferenziert, was sie einzigartig und populär macht. Dies soll in Kapitel 4 diskutiert werden. Die Beschränkung auf eben diese drei Konzepte fiel nicht schwer, da sie im Kontext Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen im deutschsprachigen Raum mit Abstand die bekanntesten und verbreitetsten sind.
Das in Kapitel 1 vorgestellte Beratungskonzept ist das von Haim Omer, die Neue Autorität – zum Teil auch bekannt als »Nonviolent Resistance« (NVR). Hierbei handelt es sich um einen Ansatz dazu, wie sich die Präsenz von Eltern erhöhen und Eskalationen in der Familiensituation mit Kindern und Jugendlichen vermeiden lassen. In Form des Gewaltlosen Widerstands ist dies außerdem ein Interventionsansatz, der auch dann noch wirksam wird, wenn die (gewaltfreie) Kommunikation zwischen Eltern und Kind an ihre Grenzen geraten ist. Die Neue Autorität versteht sich dabei sowohl als Gegenhaltung zur »alten«, traditionellen Autorität als auch zu der in der Zwischenzeit populär gewordenen These, dass Erziehung ohne Autorität gelingen könne.
Das in Kapitel 2 beschriebene Beratungskonzept Marte Meo von Maria Aarts ist eine Methode zur Entwicklungsunterstützung. Fachleute können ihr fachspezifisches Wissen mit den Marte Meo-Informationen kombinieren, um die Entwicklungsbedürfnisse ihrer jeweiligen Zielgruppe zu unterstützen. Im Mittelpunkt der Methode stehen einzelne Interaktionen, welche videobasiert analysiert werden. Zeigen sich in der beobachteten Interaktion (z. B. zwischen Eltern und Kind) Schwierigkeiten, werden diese in Entwicklungsmöglichkeiten (des Kindes) übersetzt und im Beratungsgespräch (mit den Eltern) durch das Vermitteln von unterstützenden Kommunikationsfähigkeiten adressiert.
Bei dem in Kapitel 3 behandelten Beratungskonzept Ich schaffs! von Ben Furman ist der Grundgedanke, dass Kinder eigentlich keine Probleme haben, sondern nur Fähigkeiten, die sie noch erlernen müssen. Es ist eine lösungsfokussierte Methode, mit der Kinder ihre Schwierigkeiten positiv und konstruktiv überwinden können, indem sie neue Fähigkeiten erlernen. Dabei werden sie durch ein 15-Schritte-Programm unterstützt, das auch ihr Umfeld mit einbezieht.
In Kapitel 4 werden dann noch mal alle Konzepte aufgegriffen und gegenübergestellt: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es.
Sowohl in diesem Buch als auch auf der Tagung können wir Haims, Marias und Bens Konzepte nur kurz »anreißen«. Wir hoffen sehr, Ihre Neugier so weit zu wecken, dass Sie die weiterführenden Veröffentlichungen zu den Konzepten, die wir im Literaturverzeichnis aufführen, nutzen wollen.
Wer sich neben der Lektüre auf unterschiedliche Medien und Formate einlassen möchte, kann sich die Interviews mit Haim Omer, Maria Aarts und Ben Furman auch als Videos anschauen oder anhören.1Hier finden Sie auch Informationen über aktuelle Weiterbildungen zu den drei Konzepten. Weitere Informationen zur Tagung bzw. zur Tagungsreihe finden Sie unter www.tagungsreihe-gelingende-kommunikation.de.
Abschließend möchte ich mich vor allem bei Haim, Maria und Ben ganz herzlich bedanken – für die Bereitschaft zu diesem umfangreichen Projekt (Tagung, Interviews, dieses Buch und gemeinsame Weiterbildungen) und für die unkomplizierte und konstruktive sowie herzlich-freundschaftliche Zusammenarbeit!
Einen außergewöhnlichen Dank möchte ich aussprechen an Isabella Kneuper für ihre Mithilfe bei der Erstellung dieses Buches und an Robert Baum und Bianca Rusch vom Arbeitsbereich Beratungsforschung der Universität zu Köln für ihre Hilfe bei der Organisation und Ausrichtung der Tagung. Als Kooperationspartner sind neben dem Kölner Institut für Beratung und pädagogische Professionalisierung dieses Mal auch die Carl-Auer Akademie und die International Association for Counselling (IAC) beteiligt. Hiermit möchte ich allen herzlich danken.
Und nun wünsche ich Ihnen eine ebenso informative wie auch unterhaltsame und kurzweilige Lektüre.
Köln, im April 2021
Dirk Rohr
1 Verfügbar unter www.koelner-institut.de [7.4.2021].
von Haim Omer
Was ist die besondere Herausforderung, mit der Eltern und Lehrer:innen heutzutage konfrontiert sind? Warum ist es anders und schwieriger als früher, Elternteil oder Lehrer:in zu sein?
Der erste Grund ist, dass die Rollen von Eltern und Lehrkräften unschärfer geworden sind, an Klarheit und Eindeutigkeit eingebüßt haben. Früher hatten Eltern die Pflicht, für das physische Wohlergehen des Kindes zu sorgen und dem Kind Werte (z. B. den Unterschied zwischen Gut und Böse) und Grundfähigkeiten zu vermitteln. Lehrer:innen sollten lehren und für die Disziplin in der Klasse sorgen. Die Aufgaben waren klar begrenzt. Heute sind die Erwartungen viel umfangreicher und undefinierter. Eltern sind verantwortlich für die Entwicklung der Persönlichkeit ihres Kindes. Wenn Probleme aufkommen, gelten sie als die Schuldigen. Auch Lehrer:innen sind für viel mehr verantwortlich als in der Vergangenheit: Wenn das Kind im Unterricht kein Interesse zeigt, ist die Lehrkraft schuld. Wenn das Kind nicht sozial integriert ist, ist die Lehrkraft schuld. Um die Tragweite dieser Veränderung erfassen zu können, denken wir an Pinocchio und Gepetto. Früher hätte niemand behauptet, dass Gepetto die Schuld für Pinocchios Schwierigkeiten trägt. Heute hingegen würden fast alle so denken.
Dieser Mangel an Klarheit in der Erziehung zeigt sich in einer sehr häufigen Frage: »Was haben wir als Eltern falsch gemacht?« Es schwingt ein diffuses Schuldgefühl mit – die Annahme ist, dass wir etwas falsch gemacht haben müssen, nur wissen wir nicht genau was. Die Eltern von heute sind sehr verunsichert im Hinblick auf ihre Rolle, ihre Möglichkeiten, die Verantwortung und Zielrichtung. Dieses konfuse Gefühl erschwert ihnen das Handeln erheblich. Es zeigt sich ein starker Mangel an elterlichem Mut – insbesondere dann, wenn Mut am nötigsten ist.
Die Situation von Lehrkräften ist ähnlich: Ihre Rolle ist ebenfalls weniger eindeutig geworden. Früher wurde von ihnen »nur« erwartet, dass sie die Kinder konkrete Dinge wie Lesen und Schreiben lehren und für Disziplin sorgen. Heute sind die Erwartungen hingegen viel umfassender und undefinierter. Es geht nicht mehr nur um Disziplin, sondern um die Atmosphäre in der Klasse, also das »Klassenklima«. Und es geht nicht mehr nur um Lehre, sondern um Interesse, Anregung, Inspiration und Unterhaltung. Vor einiger Zeit wären Eltern nicht auf die Idee gekommen zu sagen: »Mein Sohn lernt nicht, weil die Lehrerin so langweilig ist.« Diese Unklarheiten über die jeweiligen Verantwortlichkeiten führen dazu, dass die Lehrer:innen wie in Treibsand laufen. Sie spüren keinen soliden Untergrund mehr, sodass sie nicht mehr den Mut aufbringen können, entschieden zu handeln.
Es gibt noch eine zusätzliche Schwierigkeit: Obwohl die Erwartungen gestiegen sind, wurden die Handlungsoptionen, die den Eltern und Lehrer:innen zur Erfüllung der Erwartungen zur Verfügung stehen, weniger. Eltern und Lehrkräfte befinden sich hier in einer ähnlichen Situation. Manche Dinge, die sie einst tun konnten, um auf das Kind einzuwirken, sind heute verpönt, wenn nicht sogar gesetzeswidrig. Den meisten Eltern und Lehrer:innen der früheren Generation würde heute wahrscheinlich der Prozess gemacht werden. Die Erziehungsmethoden, die heute verpönt oder verboten sind, sind in der Tat höchst problematische und schädliche Mittel. Trotzdem fühlen sich manche Eltern und Lehrer:innen entmachtet. Einige sind so eingeschüchtert, dass sie den Mut zum Handeln ganz verlieren – unter anderem, weil der (ver)urteilende Blick von Dritten sehr lähmend sein kann. Es geht dabei nicht nur um Verbote, z. B. das Verbot von körperlichen Strafen, sondern auch um die Kritik, den Blick der anderen und um die Angst vor diesem Blick. Es ist ein höchst entmutigender Blick. Bei Lehrkräften führt diese Angst oft dazu, dass sie sich komplett zurückziehen und sich nicht trauen, Probleme zu offenbaren und anzusprechen. Es genügt ein Blick, der besagt »Bei mir könnte das nicht passieren«, um die Lehrkraft vollständig zu paralysieren.
Zusätzliche Faktoren, die sowohl Eltern als auch Lehrer:innen schwächen, sind Isolation und Einsamkeit, die heute umfassender sind als in der Vergangenheit. Eltern sind aus zahlreichen Gründen öfter allein: weil die Großfamilie geschrumpft ist, es viel mehr Scheidungen und alleinerziehende Eltern gibt und auch, weil die Gesellschaft sich in Einzelteile zerspalten hat. Wir leben heute viel mehr in einer privaten Blase als früher. Die Lehrkräfte sind häufiger auf sich allein gestellt, weil die Schulen größer und dadurch anonymer geworden sind, weil die Gemeinden, in denen sie einmal bekannt waren und Anerkennung bekamen, zu anonymen Metropolen geworden sind, und weil die kritische Atmosphäre, die heute gegenüber Lehrer:innen herrscht, diese mehr und mehr auf sich selbst zurückwirft. Eltern und Lehrende erhalten viel weniger Rückhalt. Forschungen zeigen: Wenn Eltern über mehr Rückhalt verfügen (z. B., wenn Großeltern involviert sind), besteht eine geringere Gefahr von z. B. Schulabbrüchen oder Delinquenz seitens der Kinder besteht. Der Rückhalt erlaubt es den Eltern also, gefährlichen Entwicklungen mehr entgegenzusetzen.
Diese Krise wird durch die gravierenden Versuchungen und Gefahren, denen Kinder überall ausgesetzt sind, noch verstärkt. Kinder sind heute mehr denn je mit Versuchungen konfrontiert und haben viel mehr Raum, sich zu verstecken und dem elterlichen Radar auszuweichen, da ihnen die moderne Stadt endlose Möglichkeiten anbietet unterzutauchen. Früher waren Kinder sichtbarer. Wenn sie etwas Schlimmes oder Gefährliches anstellten, war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand sie entdeckte, viel größer. Die Anonymität der modernen Gesellschaft verstärkt also die negativen Auswirkungen der Versuchungen und Gefahren ungemein.
Parallel dazu, dass Kinder immer mehr mit Versuchungen überflutet werden und der Dschungel der Stadt ihnen das perfekte Versteck bietet, hat sich die Privatsphäre zu etwas Heiligem entwickelt. Eine »Invasion in die Privatsphäre« gilt heute als absolut tabu. Wenn ein Kind schreit »Das ist mein Zimmer«, »Mein Geld«, »Meine Sachen«, »Mein Handy«, »Meine Freunde«, dann müssen die Eltern sofort verstummen. Sobald ein Kind eine Therapie durchläuft, zeigt sich diese Heiligung der Privatsphäre besonders deutlich als paradoxer Effekt: Alles, was in der Therapie bearbeitet wird, gehört von nun an zur Privatsphäre des Kindes. Der Satz »Ich arbeite daran in meiner Therapie« erzeugt einen schützenden Schirm vor dem Blick der Erwachsenen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten, dass die Therapie zu wirken beginnt. Eltern und Lehrkräfte, die darauf bestehen, dass ihre Kinder oder auffällige Schüler:innen in Therapie gehen, stellen zu ihrer eigenen Verblüffung oft fest, dass das Kind von diesem Punkt an gegen jegliche Maßregelung immun ist: Es arbeitet nur mit dem Therapeuten oder der Therapeutin an dem Problem. Die Eltern und Lehrer:innen müssen sich gedulden.
Dazu kommt die größte aller Erschütterungen: Computer, Internet und Handy haben Eltern und Lehrkräfte ihrer besonderen Stellung beraubt. Ursprünglich waren sie die Weisen, sie wussten mehr als das Kind. Nun wird diese Wahrheit infrage gestellt. Heutzutage gilt das, was auf den Bildschirmen steht, und darüber wissen die Kinder mehr, manchmal viel mehr als die Erwachsenen. Die digitale Welt verändert nicht nur diese Hierarchie des Wissens. Die Kinder sind auch einer Überflutung ausgesetzt, gegenüber der Eltern und Lehrkräfte fast machtlos sind. Die Reize überschlagen sich, alles wird von Informationslärm überschwemmt. Was nicht auf den Bildschirmen steht, existiert nicht.
Diese Schwierigkeiten von Eltern und Lehrer:innen können in einer einzigen Metapher vereint werden: Eltern und Lehrkräfte sind viel schwächer geworden, gerade wenn die Kinder vom mächtigen Strom der Reize fortgesaugt werden. Sie sind diesem Strom gegenüber machtlos. Warum hilft es, sich ein solches Bild vor Augen zu halten? Es hilft, weil es die Erfahrung der Überrumpelung, der Verblüffung sichtbar macht. Unsere Schwierigkeiten, die Sorgen und der Frust ergeben so betrachtet einen Sinn. Zudem ist es hilfreich, weil es klarmacht, dass Eltern und Lehrkräfte im selben Boot sitzen, und weil es verdeutlicht, was Eltern und Lehrende brauchen, um in einer Situation wie dieser erfolgreich sein zu können: Sie müssen sich in ihrer Rolle, ihrer Pflicht und ihrer Umgebung verankern, damit sie imstande sind, das Kind vor dem übermannenden Strom zu schützen. Wir brauchen vielleicht mehr als je zuvor mutige Eltern und Lehrkräfte, die es wagen, sich in die Strömung zu stellen. Das schaffen sie nur durch Präsenz, Selbstkontrolle, ein unterstützendes Netzwerk und Beharrlichkeit. Wir brauchen außerdem Eltern, die den Kindern sagen und zeigen können:
»Wir sind da!«
»Wir bleiben da!«
»Wir sind nicht allein!«
»Wir geben nicht klein bei!«
»Wir geben dich nicht auf!«
Aber wie kann dieser Mut entstehen, wenn Eltern und Lehrer:innen sich so entmachtet und eingeschüchtert fühlen? Das Ziel des Models der Neuen Autorität ist genau dieses: Eltern und Lehrer:innen zu helfen, sich zu verankern, damit sie dem Kind helfen und sich im Zweifelsfalle bremsend gegen den reißenden Strom stellen können.
Was sind die »Haken« dieses Ankers? Es sind die Grundsätze, die Eltern und Lehrer:innen ermöglichen, Fuß zu fassen und den Mut zum entschiedenen Handeln wiederzugewinnen:
Präsenz
Selbstkontrolle
Beharrlichkeit
Vernetzung.
Was wir die Neue Autorität nennen, ist eine Autorität, die die beschriebene Ankerfunktion erfüllt. Dieses neue Bild von Autorität haben wir nicht einfach aus dem Nichts erschaffen. Ein erster Ansatz war der Blick auf die Merkmale der alten Autorität, welche wir nicht mehr vertreten, da sie den heutigen Werten und Erziehungszielen nicht entspricht. Diese zeichnet sich aus durch:
Distanz
Kontrolle und Gehorsam
Hierarchie und Immunität von Kritik
unmittelbare Bestrafung.
Mit dem Wissen um das, was wir nicht mehr wollten, hatten wir schon eine erste Idee davon, was wir stattdessen wollen könnten. Dazu kommt, dass wir alle Bilder von Autoritätsfiguren aus unserer Vergangenheit im Gedächtnis haben – Bilder von Personen, die wir respektiert haben. Menschen, die zwar in einer Autoritätsstellung waren, dabei aber nicht die alte Autorität verkörperten, sondern etwas anderes. Wir mussten die Neue Autorität also nicht erst erfinden, sondern sie nur charakterisieren und benennen.
Wir wissen also, dass wir eine Autorität, die auf Distanz basiert, nicht (mehr) wollen. Doch gibt es dazu tatsächlich eine Alternative? Können wir Autorität haben, ohne Distanz zu wahren? Wenn ich (m)einem Kind nahestehe, verliere ich meine Autorität dann nicht automatisch? Nein. Wir wissen inzwischen gut, dass Autorität auch auf Präsenz basieren kann. Das war unsere erste Idee. Was wir aber zunächst nicht wussten, war, dass wir durch diese Präsenz sogar Autorität erschaffen. Es geht um eine liebende Präsenz, aber auch um eine entschlossene. Wenn wir dem Kind mit Entschlossenheit sagen und zeigen »Wir sind da und wir bleiben da. Wir sind deine Eltern und wir sind nicht bereit, dich aufzugeben«, dann bilden wir schon dadurch unsere Autorität. In der Methode der Neuen Autorität haben wir unzählige Wege herausgearbeitet, wie sich diese Präsenz aufzeigen und aufrechterhalten lässt.
Was wir weiterhin nicht wollen, ist eine Autorität, die auf Kontrolle und Gehorsam basiert. Aber sind Gehorsam und Kontrolle nicht Synonyme für Autorität? Wenn wir noch einmal an die bedeutsamen Autoritätspersonen in unserem Leben denken, zeigten diese zumeist Selbstkontrolle. Sie flippten nicht aus, sie waren nicht impulsiv. Sie hatten sich im Griff. Und nicht nur das: Sie hatten auch Selbstkontrolle im Sinne von Pflichtbewusstsein. Diese Personen sagen: »Das ist meine Pflicht, das ist meine Rolle, und ich werde sie erfüllen.« Selbstkontrolle lässt sich also auch so definieren. Wir alle haben zum Beispiel als Kinder eher eine Lehrerin respektiert, die die erteilten Hausaufgaben auch kontrolliert hat, als eine Lehrerin, der es egal war, ob wir die Aufgaben machten oder nicht. Es ist Selbstkontrolle, als Lehrer:in zu sagen: »Ja, ich habe diese Hausaufgaben aufgegeben, es ist meine Pflicht, diese nun auch zu kontrollieren.« Es ist eine positive Selbstkontrolle, die eigene Rolle mit den dazugehörigen Pflichten zu erfüllen. Selbstkontrolle zeigt sich also in der Fähigkeit, nicht automatisch und impulsiv zu reagieren, sondern
die Reaktion zu verschieben (»Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist«),
kontrollierende Botschaften zu vermeiden (»Ich habe keine Kontrolle über das Kind, nur über mich selbst«),
mit Fehlern umzugehen (»Fehler sind unvermeidlich, aber korrigierbar«), und
zugunsten einer geduldigen und beharrlichen Stellungnahme auf unmittelbare Vergeltung zu verzichten (»Das Ziel ist nicht zu gewinnen, sondern zu beharren«) – diese Beharrlichkeit sorgt für eine wahre und verlässliche Stärke.
Wir wollen auch nicht, dass Autorität rein hierarchisch begründet wird. Wenn wir uns fragen, woher eine Autoritätsperson ihre Autorität hat, werden wir feststellen, dass die Person ihre Autorität nicht aus sich selbst bezieht, sondern aus der Unterstützung, Legitimierung und Autorisierung von außen, von der Umgebung. Wenn eine Person keine solche Legitimierung hat, wird sie an Autorität einbüßen. Wir sagen also: Autorisierung ist Unterstützung. Die Neue Autorität ist eigentlich keine Ich-Sache, sie ist eine Wir-Sache. Wir brauchen die Bereitschaft, nicht mehr allein zu handeln, nicht mehr dem Kind zu sagen »Du wirst machen, was ich sage«, sondern »Wir werden machen, was wir sagen«. Der Übergang vom »Ich« zum »Wir« ist eins der wichtigsten Elemente der Neuen Autorität bzw. der Ankerfunktion. Wenn man über ein »Wir« verfügt, bekommt man außerdem breitere Schultern. Eine Autorität mit breiteren Schultern ist legitimer als eine Autorität, die nur »ich« sagt. Autorität lässt sich also durch Unterstützung, Legitimierung und Transparenz verstärken. Nicht nur ich sage etwas, sondern auch die anderen wissen Bescheid. In Familien arbeiten wir immer mit einem Unterstützernetzwerk, welches den Eltern hilft, die Grundsätze der Neuen Autorität umzusetzen. Die Eltern werden dadurch in die Lage versetzt, viel öfter »wir« zu sagen: »Ich und dein Vater«, »Wir und die Großeltern«, »Wir in der Großfamilie«, »Ich und deine Lehrerin«. Alle diese »Wirs« ermöglichen breitere Schultern, womit wir keine Willkür der steilen Hierarchien mehr haben. Dadurch, dass wir die Unterstützer:innen mit ins Boot holen, schaffen wir Transparenz. Das, was ich zu Hause oder in der Schulklasse mache, ist dann kein Geheimnis mehr. Das ist ein sehr wichtiger Teil der Legitimation.
Diese Grundsätze und die Idee der Ankerfunktion werden in jedem Schritt und in jeder Maßnahme der Neuen Autorität verkörpert. Deshalb sind diese Schritte nicht einfach »technische« Maßnahmen, sondern Teil eines Ganzen, einer Haltung und einer kontinuierlichen Botschaft, die Eltern und Lehrkräfte zu einem Anker wachsen lassen, der dem Sog der unzähligen Versuchungen und Gefahren im Leben des Kindes standhalten kann.
In der folgenden Fallvignette wird dargestellt, wie sich die verschiedenen Aspekte des Verankerungsbildes in der therapeutischen Arbeit mit den Eltern verwenden lassen.
MIA UND JOE, ELTERN DES 10-JÄHRIGEN SID, kamen wegen einer diagnostizierten Zwangsstörung und dem ADHS ihres Sohnes zur Behandlung in unsere Klinik.