Von 40 Grundhaltungen und Interventionen zu 10 Prinzipien von Beratung - Dirk Rohr - E-Book

Von 40 Grundhaltungen und Interventionen zu 10 Prinzipien von Beratung E-Book

Dirk Rohr

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Beschreibung

In dem umfangreichen Forschungsprojekt zur Erarbeitung allgemeiner Prinzipien für Beratung, Coaching und Supervision wurden auf Basis umfassender, schulübergreifender Konzeptionsarbeiten 40 Grundhaltungen und Interventionen für die universitäre und außeruniversitäre Lehre von Beratung herausgearbeitet. In über 30 verschiedenen Expert:innen-Gruppen wurden anschließend insgesamt ca. 500 Live-Beratungen (inkl. Live-Supervisionen und -Coachingsitzungen) und ca. 200 Videomitschnitte von Beratungen anhand dieser 40 Grundhaltungen und Interventionen theoretisch reflektiert und in Gruppendiskussionen strukturiert ausgewertet – sowie ca. 900 Kurzdokumentationen von Beratungssitzungen mit der Grounded Theory Methodology. Hierdurch konnten zehn schulübergreifende Prinzipien formuliert werden. In diesem Buch werden sowohl der Forschungsprozess als auch die Forschungsergebnisse vorgestellt.

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Dirk Rohr

Von 40 Grundhaltungen und Interventionen zu 10 Prinzipien von Beratung

Ergebnisse eines 15-jährigen empirischen Beratungsforschungsprojektes

Unter besonderer Mitarbeit von Josephine Becker-Neu, Sofia Molot und Leonie Ziehm

sowie Jesica Alvarez de Wörndl, Laura Bauer, Robert Baum, Anne-Kathrin Becker, Kirsten Bischoff, Debora Buttgereit, Anna Lena Deeken, Ebru Dersuneli, Giulia Ebert, Helen-Maura Faber, Deborah Falsaperna, Esther Filippi, Maximilian Florian Felger, Rebecca Fuchs, Franziska Gnest, Helena Gräfe, Marc Höcker, Tamo Horn, Leonie Hössle, Annette Hummelsheim, Christine Jablonski, Lisa Jänisch, Melanie Kleimt, Melina Klocke, Isabella Kneuper, Johanna Knote, Mina Koch, Robin Kühne, Kyra Kutsch, Wiebke Lange, Jonas Lichtenberg, Martina Masurek, Luise Meurer, Mariella Noack, Lara Punessen, Lisa Ramspott, Vivian Roggendorf, Anna Ruppel, Johanna Schnell, Esther Scholz, Alexa Schönefuß, Clara Stein, Caroline Vorreyer, Angelina Wasser, Sara Werr, Alexandra Wolf, Leila-Marie Yigzaw und Alina Zimpel

2022

Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt

Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-9059-2 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-9060-8 (ePub)

DOI: 10.55301/9783849790592

© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Tel. +49 6221 6438-0 ⋅ Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Grundbegriffe der Forschung

2.1 Intervention

2.2 Haltung

2.3 Prinzip

2.4 Beratung als Improvisation

3 Die 40 Grundhaltungen und Interventionen

3.1 Ruhige, angenehme und entspannte Atmosphäre

3.2 Klarer Rahmen (Kontext- & Rollenklärung)

3.3 Auftrags- und Zielklärung

3.4 Arbeit mit Metaphern und Bildern

3.5 Genogrammerstellung

3.6 Aufstellung/Psychodrama

3.7 Hausaufgaben

3.8 (Peer-)Unterstützung unterstützen

3.9 Reflecting Team

3.10 Dokumentation und Supervision

3.11 Willensstärke, Unabhängigkeit, Aktivität

3.12 Störungen haben Vorrang

3.13 Be your own Chairperson

3.14 Empathie

3.15 Wertschätzung

3.16 Kongruenz

3.17 Hier-und-Jetzt

3.18 Internal & External Awareness

3.19 Ich-Du-Beziehung

3.20 Konfrontation mit dem Selbst

3.21 Systemische Fragen

3.22 Neutralität

3.23 Neugier

3.24 Probleme sind Lösungen

3.25 Möglichkeitsraum vergrößern

3.26 Loyalität und systemischer Ausgleich

3.27 Paradoxe Interventionen

3.28 Reframing & Tetralemma

3.29 Respektlosigkeit gegenüber Ideen

3.30 Reduktion oder Erhöhung von Komplexität

3.31 Eltern-, Erwachsenen- & Kind-Ich

3.32 „Ich bin o.k. – Du bist o.k.“ & Dramadreieck

3.33 Skript-Einschärfungen, Antreiber, Lieblingsgefühle

3.34 Wahrnehmen, Benennen, Bestätigen

3.35 Positives Leiten, Warten & Folgen

3.36 Angemessen ungewöhnlich

3.37 Analysen Innerer Dialoge/ Inneres Team

3.38 Preis und Gewinn von Verhalten und Gefühlen

3.39 Bekanntheit von Gefühlen und Verhalten

3.40 Humor und ‚provokativer Stil‘

4 Forschungsmethoden

4.1 Forschungsprojekt: 10 Prinzipien der psychosozialen Beratung

4.2 Systemische Forschung

4.3 Forschungsdesign

4.3.1 Anliegen und Ziel des Teilprojektes

4.3.2 Material

4.3.3 Methode: Grounded Theory Methodology

4.3.4 Auswertung

5 Ergebnisse: Die Prinzipien beraterischen Handelns in der psychosozialen Beratung

6 Zwischen-Diskussion

7 Zwischenfazit

8 Beschreibung der zehn Prinzipien

8.1 Kontext- und Auftragsklärung

8.2 Leid (Gefühle und Bedürfnisse) anerkennen

8.3 Aufrechte Beziehung

8.4 Verstehen der gewohnten Sicht

8.5 Das innere Team (Die Gleichzeitigkeit von Bedürfnissen und Gefühlen)

8.6 Achtsames Bemerken

8.7 Handlungsfähigkeiten generieren (Empowerment)

8.8 Verstörung der gewohnten Sicht

8.9 Den Möglichkeitsraum vergrößern

8.10 Transfer in den Alltag (Handlungsfähigkeit erproben)

9 Ausblick

9.1 Weitere Phasen des Forschungsprojektes

9.2 Entwicklung eines neuen Forschungsinstrumentes für die Beratungswissenschaft

9.3 Entwicklung des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) für Beratung

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Dieses Buch gibt das Ergebnis eines 15-jährigen, empirischen Beratungsforschungsprojektes wieder – und ist dennoch lediglich ein Zwischenergebnis (siehe neuntes Kapitel). Es stellt einige meiner bisherigen Veröffentlichungen in einen ‚größeren Zusammenhang‘, d. h. ich werde in Bezug auf manche der vierzig Grundhaltungen und Interventionen auf Publikationen hinweisen, in denen ich diese, einzelnen Aspekte (von Beratung) bereits ausführlicher behandelt habe – und in denen die interessierte Leser:in sich vertiefend mit ihnen befassen kann.

Letztlich ist unser Buch „Beratung – Grundlagen, Konzepte, Anwendungsfelder“ (Schubert, Rohr & Zwicker-Pelzer, 2019) als Lehrbuch konzipiert und in diesem Sinne die umfassendste Ergänzung – sowie das Buch „Eine kleine Theorie-Einführung in Systemische und Humanistische Ansätze am Beispiel des Inneren Teams“ (Rohr, 2016a) ebenfalls eine Ergänzung bzw. Einführung in einzelne Grundhaltungen und Interventionen. Im vorliegenden Buch werden aber erstmals alle vierzig systematisch – jeweils kurz und knapp – dargestellt. Der Forschungs- bzw. Entwicklungsprozess sowie die Beschreibung der daraus entwickelten 10 Prinzipien werden hier erstmals präsentiert; auch diese eher ‚kurz und knapp‘. Zurzeit arbeiten wir an ausdifferenzierten Beschreibungen der zehn Prinzipien. Diese werden im „Mini-Handbuch Beraten“ (Rohr, 2023) veröffentlicht. Und wenn ich ‚wir‘ schreibe, dann meine ich ein großes Team von Forscher:innen, Praktiker:innen (Berater:innen), Lehrenden, Weiterbildungsteilnehmer:innen sowie Studierende. Viele von ihnen sind in der Titelei des Buches erwähnt, aber längst nicht alle. Ihnen allen gebührt ein besonderer Dank – vor allem aber natürlich den Klient:innen, die sich mutig ihren Herausforderungen gestellt haben. Ohne sie wäre diese Forschung überhaupt nicht möglich gewesen.

Die drei wissenschaftlichen Hilfskräfte Leonie Ziehm, Sofia Molot und Isabella Kneuper sowie die Studierenden im Schwerpunkt Beratung haben vor allem dazu beigetragen, dass neben diesem Buch zu allen 40 Grundhaltungen und Interventionen sowie zu den 10 Prinzipien Erklärvideos, Poster und kurze Zusammenfassungen entstanden sind. Diese können Sie sich auf der Internetseite www.koelner-institut.de ansehen. Besonders das Format der 5-bis10-minütigen, oft animierten Erklärvideos ist absolut lohnenswert und abwechslungsreich – sowie eine tolle Ergänzung zum Format ‚Buch‘, dessen Kontext im Folgenden erläutert wird:

Dieses nun vorliegende Buch erscheint im Verlag Systemische Forschung (VSF) im Carl-Auer-Verlag – und zwar in der petrolfarbenen Reihe „Beratung, Coaching, Supervision“. Aus diesem Grund habe ich hier eine zweifache Rolle: Neben der des Autors bin ich Reihenherausgeber eben dieser Reihe. So hat das, was ich im Reihen-Vorwort aller petrolfarbenen Bücher beschrieben habe, für dieses Buch eine besondere Bedeutung, die ich hier unterstreichen und in der Einleitung wiedergeben möchte:

„Alle Bücher in der Reihe ‚Beratung, Coaching, Supervision‘ haben etwas gemeinsam: Sie beschreiben das weite Feld des ‚Counselling‘. Sie fokussieren zwar unterschiedliche Kontexte – lebensweltliche wie arbeitsweltliche, deren Trennung uns aber z. B. bei dem Begriff ‚Work-Life-Balance’ schon irritieren muss. Es gibt gemeinsame Haltungen, Prinzipien und Grundlagen, Theorien und Modelle, ähnliche Interventionen und Methoden – und eben unterschiedliche Kontexte, Aufträge und Ziele. Der Sinn dieser Reihe besteht darin, innovative bis irritierende Schriften zu veröffentlichen: neue oder vertiefende Modelle von – teils internationalen – erfahrenen Autor:innen, aber auch von Erstautor:innen.

In den Kontexten von Beratung, Coaching und auch Supervision hat sich der systemische Ansatz inzwischen durchgesetzt. Drei Viertel der Weiterbildungen haben eine systemische Orientierung. Zum Dogma darf der Ansatz nicht werden. Die Reihe verfolgt deshalb eine systemisch-integrative Profilierung von Beratung, Coaching und Supervision: Humanistische Grundhaltungen (z. B. eine klare Werte-, Gefühls- und Beziehungsorientierung), analytisch-tiefenpsychologisches Verstehen (das z. B. der Bedeutung unserer Kindheit sowie der Bewusstheit von Übertragungen und Gegenübertragungen im Hier-und-Jetzt Rechnung trägt) wie auch die „dritte Welle“ des verhaltenstherapeutischen Konzeptes (mit Stichworten wie Achtsamkeit, Akzeptanz, Metakognition und Schemata) sollen in den systemischen Ansatz integriert werden.

Wenn Counselling in der Gesellschaft etabliert werden soll, bedarf es dreierlei: der Emanzipierung von Therapie(-schulen), der Beschreibung von konkreten Kompetenzen der Profession und der Erarbeitung von Qualitätsstandards. Psychosoziale Beratung muss in das Gesundheits- und Bildungssystem integriert werden. Vom Arbeitgeber finanziertes Coaching muss ebenso wie Team- und Fallsupervisionen zum Arbeitnehmerrecht werden (wie Urlaub und Krankengeld). Das ist die Vision – und die politische Seite dieser Reihe.

Wie Counselling die Zufriedenheit vergrößern kann, das steht in diesen Büchern; das heißt, die Bücher werden praxistauglich und praxisrelevant sein. Im Sinne der systemischen Grundhaltung des Nicht-Wissens bzw. des Nicht-Besserwissens sind sie nur zum Teil „Beratungsratgeber“. Sie sind hilfreich für die Selbstreflexion, und sie helfen Berater:innen, Coaches und Supervisor:innen dabei, hilfreich zu sein. Und nicht zuletzt laden sie alle Counsellor zum Dialog und zum Experimentieren ein“ (Reihen-Vorwort).

Und ebendies trifft für dieses Forschungsbuch, in dem allgemein Grundhaltungen, Interventionen und Prinzipien beschrieben werden, insbesondere zu!

Entwicklung von ‚Beratung‘

Die Strukturen der modernen Gesellschaft, die einerseits durch Flexibilität sowie Gestaltungsfreiheit, doch damit auch durch Gestaltungszwänge, Leistungsdruck und Anonymität gekennzeichnet sind, erhöhen die Komplexität der Anforderungen und üben zunehmend Druck auf die Individuen aus. Durch die Entwicklungen in der modernen Welt sind die Menschen Belastungen ausgesetzt. Dies zeigt sich unter anderem in der stetig steigenden Zahl psychischer Erkrankungen. So stiegen, laut des DAK Psychreports (2021), die Arbeitsunfähigkeitstage 2020 auf ein Höchstmaß mit je 265 Fehltagen auf 100 Versicherte, was im Vergleich zu 2010 einen Zuwachs um 56 Prozent ausmacht (vgl. DAK-Gesundheit, 2021). Diese Zahlen wurden durch die Corona-Pandemie katalysiert, sie lassen sich jedoch nicht ausschließlich darauf zurückführen. Die Nachfrage nach Psychotherapieplätzen übersteigt in Deutschland bereits seit längerem das Angebot. Im Zuge der knappen Kapazitäten sowie der Wahrnehmung steigender Komplexität in den Anforderungen der Lebensbewältigung wurde der Bedarf von niedrigschwelligen und spezialisierten Angeboten zur Kenntnis genommen. Diese sollen eher einer früh ansetzenden Hilfelogik und der Idee der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ sowie der Prävention folgen als einer Behandlung von schweren Erkrankungen im Nachhinein. Daher hat sich im Laufe der Jahre das Hilfsangebot für Menschen in Krisen- und Problemlagen auf vielfältige Weise entwickelt. Im Zuge dessen hat sich das Feld der psychosozialen Beratung etabliert und zunehmend an Bedeutung gewonnen.

Ursprünglich wurde Beratung häufig als Querschnittsaufgabe in unterschiedlichen Bereichen gesehen. An vielen Stellen zeigt sich ihre Entwicklung in Anlehnung an die Schulen der Psychotherapie. Heute ist Beratung sowohl als Querschnittsaufgabe professionellen Handelns in zahlreichen Feldern sowie als eigenständige Kernaufgabe zu verorten (vgl. beispielsweise Schnoor, 2006, S. 14; Engel, Nestmann & Sickendiek, 2018, S. 88). Die psychosoziale Beratung ist durch eine Kombination unterschiedlicher Disziplinen zu einem eigenen, nur als interdisziplinär zu verstehenden Handlungs- und Forschungsfeld geworden. Die Etablierung der Beratung, als eigenständiges interdisziplinäres Feld ist in Deutschland noch im Aufbruch und bedarf weiterer wissenschaftlicher Verortung und Fundierung (vgl. Schubert, Rohr & Zwicker-Pelzer, 2019, S. 17). Die Professionalisierungsbestrebungen sind maßgeblich daran zu erkennen, dass sich spezifische Ausund Weiterbildungsformen an Hochschulen sowie eine eigene Beratungswissenschaft und -fachliteratur finden lassen. Einen wichtigen Beitrag dazu, dass sich Beratung in Deutschland bereits mit einem „eigenen Markenzeichen professioneller Hilfeleistung“ (ebd., S. 18) ausstatten konnte, hat der Dachverband Deutsche Gesellschaft für Beratung (DGfB) geleistet. Dieser hat die einzelnen Bestrebungen nach verbandlicher Organisation und Vernetzung in den vielen Bereichen der Beratung zusammengeführt und ein gemeinsames Beratungsverständnis (vgl. DGfB, o. D.) erarbeitet.

Trotz der aufgezeigten Bemühungen innerhalb der professionellen Beratung wird das Feld als unübersichtlich, „zerrissen“ (Seel, 2014, S. 36) und insbesondere für fachfremde Akteure nur wenig transparent beschrieben. Daher formuliert Reichel treffend: „Viele Menschen stehen ziemlich ratlos im psychosozialen Shoppingcenter“ (Reichel, 2016, S. 42). Die unterschiedlichen inhaltlich-thematischen Ausrichtungen der Beratungen (wie Drogenberatung, Erziehungsberatung, Schwangerschaftskonfliktberatung, Paarberatung, Organisationsberatung u. v. m.) und die Orientierungen an den unterschiedlichen Schulen, Beratungsstilen und -kulturen (wie humanistisch, systemisch, behavioristisch u. v. m.) sind nicht nur für fachfremde Personen verwirrend. Die Wissenschaft der psychosozialen Beratung ist immer wieder damit beschäftigt, sich einerseits gegenüber reiner Fachberatung und andererseits gegenüber Psychotherapie abzugrenzen (vgl. ebd., S. 78 ff.; Schubert, Rohr & Zwicker-Pelzer, 2019, S. 17 f.). Innerhalb der Fachliteratur fällt auf, dass der Anteil des Wissens, welches sich auf die Beratung im Allgemeinen bezieht, relativ klein im Vergleich zu den Beiträgen ausfällt, die unterschiedliche Beratungsrichtungen und -schulen voneinander abgrenzen und im Einzelnen beschreiben und definieren. Allerdings entsteht der Eindruck, dass sich seit circa zwei Jahren der Trend leicht verändert hat und der Anteil übergreifender Konzepte zunimmt.

Die Aus- und Weiterbildungsangebote unterscheiden sich bezüglich ihrer Inhalte und Intensitäten. Somit sind Interessierte vor die Aufgabe gestellt, sich in dem vielseitigen Angebot zu orientieren und zu positionieren sowie ein passendes Ausbildungsangebot für sich zu finden. Lehrende sind damit konfrontiert, das Wissen auszuwählen, welches sie für relevant halten und sich in dem heterogenen Feld von Vorgaben und Theorien zurechtzufinden (vgl. Seel, 2014, S. 17 f.). Ratsuchende und Netzwerkpartner:innen müssen in der Landschaft ein passendes Angebot suchen und selbst Kriterien festlegen, anhand derer sie eine Auswahl treffen. Auch Träger:innen und Arbeitgeber:innen müssen eigens Auswahlkriterien für die Beurteilung geeigneter Qualifikationen erstellen.

Um diesen Verwirrungen entgegenzuwirken, bedarf es gemeinsamer Konzepte und Theorien. Diese ermöglichen das Festlegen beratungsspezifischen Wissens und damit auch von Beratungskompetenzen, die Berater:innen mit dem Abschluss einer qualifizierenden Ausbildung erwerben. Diese Ideen werden in dem Projekt des Deutschen Qualifikationsrahmens Beratung (DQR Beratung) umgesetzt (vgl. DGfB, 2017), das ich mit einigen Kolleg:innen seit Herbst 2021 durchführe (vgl. 9.2) und in das die in diesem Buch beschriebenen zehn Prinzipien (vgl. 8) direkt einfließen – ebenso wie die Standards des Europäischen Dachverbandes (der EAC), dem ich zur Zeit vorstehe, als auch z. B. die US-amerikanischen Standards (vgl. Rohr, 2021). Der Deutsche Qualifikationsrahmen Beratung ist ein Projekt, welches sich damit beschäftigt, zwei bis drei Kompetenzniveaus festzulegen. Dabei geht es um eine Einordnung von Beratungskompetenzen in ein Übersichtsinstrument für Abschlüsse in Deutschland, den Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR). Der DQR ist ein nationales Vergleichsinstrument, äquivalent zum Europäischen Qualitätsrahmen (EQR), das somit einen Vergleich von qualifizierenden Abschlüssen europaweit ermöglicht (vgl. BMBF, 2021; Rohr 2021).

Der Bedarf gemeinsamer Theorien wird vielerorts betont (beispielsweise bei Seel, 2014, S. 17; Reichel, 2016, S. 84 f.). Bei der Forderung gemeinsamer Theoriebildung geht es keineswegs um eine Missachtung oder Aufhebung der kulturellen Vielfalt innerhalb der Beratungslandschaft, die eindeutig als Ressource hervorzuheben ist (vgl. Seel, 2014, S. 18). Auch für den DQR Beratung betont die DGfB, dass ein breites und kulturell vielfältiges Beratungsangebot zu erhalten ist (vgl. DGfB, 2017, S. 44). Dennoch bedarf es eines Verständnisses in Form von Konzepten und Theorien darüber, was Beratung ausmacht, um beispielsweise Kompetenzen als Qualitätsmerkmale zu formulieren. Somit können allgemein gehaltene Beratungstheorien dazu beitragen, die Qualität von Beratung zu definieren, aufzuzeigen und weiterzuentwickeln. Durch schulübergreifende Theorien kann eine Basis für den Austausch innerhalb der Beratungslandschaft geschaffen werden. Infolgedessen können neue praktische Entwicklungen und eine wichtige Grundlage für weitere wissenschaftliche Arbeiten entstehen. Neben einer Verbesserung der Kommunikation innerhalb des Feldes können Theorien und Konzepte psychosozialer Beratung die Transparenz und Kommunikation nach außen fördern. Das Feld der Beratung kann eine eindeutigere Strukturierung erhalten und sich zu naheliegenden Feldern deutlicher abgrenzen. Folglich kann eine Orientierung von Netzwerkpartner:innen, Ratsuchenden und Träger:innen von psychosozialer Beratung erleichtert werden. Durch eine gezielte Betrachtung dessen, was Beratungen gemeinsam haben, kann es gelingen, diese zunehmend aus einem zersplitterten Feld zu führen und eine gemeinsame Identität geschaffen werden. Das Professionsbestreben psychosozialer Beratung bringt die Aufgabe mit sich zwei Eckpfeiler aufzubauen: ein gemeinsames „Selbstverständnis“ und eine gemeinsame „Wissensbasis“ (vgl. Seel, 2014, S. 17). Dies ist ein wichtiger Beitrag auf dem Weg, Beratung als eine Profession zu etablieren, welcher der gesellschaftliche Bereich der Selbstreflexion zugeschrieben wird und klare Funktionen erfüllt. Auch Seel (2016) betont die Bedeutung für Beratung, sich als „professionelle Gemeinschaft mit einem definierten Selbstbild“ darzustellen (S. 312). Entsprechend dieser Bestrebungen kann eine Lobby geschaffen werden, um ein Beratungsangebot flächendeckend und bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen und in festen Finanzierungsmodellen zu integrieren (vgl. Reihen-Vorwort).

Beratung trägt einen wichtigen Teil zur Gesellschaft bei, indem sie Hilfestellung im Umgang mit bio-psycho-sozialen Herausforderungen und persönlichem Wachstum bietet und somit positiven Einfluss auf die Lebensgestaltung und Lebensqualität haben kann. Es steht die Forderung im Raum, Beratung als festen Bestandteil des Gesundheitssystems zu etablieren (vgl. DGfB, 2019; Dettmers & Cosanne, 2020).

In eben diesem Sinne engagiere ich mich im Auftrag der „International Association for Counselling, IAC“ und der „European Association for Counselling, EAC“ in einigen WHO-Arbeitsgruppen (vgl. Rohr, 2021). Psychosoziale Beratung stärkt eine produktive Auseinandersetzung mit sich und der Welt, so werden die Individuen der Gesellschaft darin bestärkt, eigenständige und reflektierte Entscheidungen zu treffen, wodurch letztlich die Partizipation und die Gesundheit der Menschen gefördert werden kann (vgl. DGfB, o. D.). Ergo leistet die Beratung nicht nur einen Beitrag zur individuellen Gesundheit und Zufriedenheit, sondern auch zu der Verwirklichung von Grundrechten wie Partizipation, die eine wichtige Grundlage demokratischer Gesellschaften bilden (vgl. WHO „Sustainable Development Goals“ sowie DGfB, o. D., S. 1).

Da die psychosoziale Beratung bereits jetzt eine bedeutende Rolle in unserer Gesellschaft spielt und zudem wichtige Lücken, beispielsweise in einer Fehl- und Unterversorgung im Gesundheitssystem, füllen könnte (vgl. DGfB, 2019), ist eine weitere Etablierung dieses Handlungs- und Forschungsfeldes unbedingt wünschenswert. Die Professionsbestrebungen von Beratung bedürfen mehr schulübergreifender Betrachtungen und grundlegender Theorien.

Dem Anliegen, eine grundlegende Theorie der psychosozialen Beratung zu entwickeln, widme ich mich – gemeinsam mit verschiedenen Gruppen von Forscher:innen – an der Universität zu Köln seit 15 Jahren: seitdem ich den Arbeitsbereich Beratungsforschung an der Humanwissenschaftlichen Fakultät aufbauen durfte.

Im Zuge der Forschung entstanden nun zehn Prinzipien psychosozialer Beratung. Diese Prinzipien wurden in einem Prozess entwickelt, bei dem ich mich gemeinsam mit vielen weiteren Forscher:innen in unterschiedlichen Settings mit einer Sammlung von ‚40 Grundhaltungen und Interventionen‘ (Rohr, Vorlesung Einführung in Beratung (unveröffentlichte Präsentation), 2020) auf verschiedene Arten auseinandergesetzt habe, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen und so grundlegende Prinzipien dieser 40 Grundhaltungen und Interventionen zu definieren. Die Forschungsteams konzentrierten sich darauf, auf welchen grundlegenden Handlungsformen die 40 Grundhaltungen und Interventionen beruhen.

Diese 40 Grundhaltungen und Interventionen lehre ich seit 15 Jahren in der universitären sowie außeruniversitären Beratungsaus- und -weiterbildung. Sie sind aus den großen (Therapie-) Schulen abgeleitet (vgl. Rohr, 2016a, S. 54 ff. & Schubert, Rohr, & Zwicker-Pelzer, 2019, S. 64 ff.). In über 40 verschiedenen Expert:innen-Gruppen (Gruppendiskussionen) wurden insgesamt ca. 500 Live-Beratungen und ca. 200 Videomitschnitte von Beratungen anhand dieser 40 Grundhaltungen und Interventionen theoretisch reflektiert (vgl. Rohr, 2016c, S. 123 ff.) bzw. ‚codiert‘ – in einem weiten Verständnis von Codierung.

Hierdurch wurden schulübergreifende Ähnlichkeiten von Prinzipien immer deutlicher – wie z. B. im Hier-und-Jetzt zu arbeiten (Gestalt), Übertragungen und Gegenübertragungen (tiefenpsychologisch), achtsamkeitsbasierte Methoden (dritte Welle der Verhaltenstherapie) sowie Empathie, Wertschätzung und Kongruenz (Personzentriert), Spielanalysen der Berater:innen-Klient:innen-Beziehung (Transaktionsanalyse) oder der Kybernetik 2. Ordnung (systemisch).

Es kristallisierten sich zehn schulübergreifende Prinzipien heraus. Das hier vorgestellte Zwischenergebnis stellt nun einige der Settings der genannten Auseinandersetzungen mit den Prinzipien der 40 Grundhaltungen und Interventionen sowie der daraus abgeleiteten zehn Prinzipien dar. Mit der Grounded Theory Methodology wurden 365 Kurzdokumentationen analysiert; dabei handelt es sich um Protokolle, die Berater:innen in Anschluss an Beratungssitzungen verfasst haben. Anhand dieser Analyse und in stetigem Austausch mit den anderen Forschungsteams entstanden neue Zuschnitte der zehn Prinzipien psychosozialer Beratung, die also ein erster Versuch sind, ein schulübergreifendes Wissenskonzept psychosozialer Beratung aufzubauen.

Damit die Darstellung der zehn Prinzipien als Ziel des Forschungsprozesses nachvollziehbar erfolgen kann, werden im folgenden Kapitel (2) die theoretischen Grundlagen erläutert. Dazu gehören die Definitionen der Grundbegriffe Intervention, Haltung und Prinzip – aber auch Improvisation (2.4). Im dritten Kapitel folgt die Erläuterung der ‚40 Grundhaltungen und Interventionen‘. Im darauffolgenden Kapitel (4) wird das Forschungsdesign, sowie der Verlauf und die Methodik der Forschung bzw. von Teilprojekten vorgestellt. In diesem Kapitel ist es wichtig, die Ausgangssituation der Forschenden sowie die Einbindung der Arbeit in den gesamten Entstehungsprozess der zehn Prinzipien darzulegen, um so das Spezifische der Forschung herauszuarbeiten. Es soll dargestellt werden, wie sich die vorliegende Arbeit methodisch an einer systemischen Forschungslogik orientiert. Anschließend werden im Kapitel (5) die Ergebnisse des Forschungsprozesses und damit die zehn Prinzipien der psychosozialen Beratung vorgestellt. Die Ergebnisse der Forschung werden im darauffolgenden Kapitel (6) diskutiert. Die Diskussion der Ergebnisse dient der Darstellung ihrer Stärken und Schwächen, um so die Relevanz der Ergebnisse für die Beratungswissenschaft einordnen zu können. Das siebte Kapitel ist ein Zwischen-Fazit, bevor dann im achten Kapitel die zehn Prinzipen noch einmal konzeptionell geschärft werden. Mit einem Ausblick (9) wird dieses Buch abgerundet.

2 Grundbegriffe der Forschung

Zuerst gilt es, die relevanten Grundbegriffe zu erläutern: Intervention, Haltung und Prinzip – sowie Improvisation. Dieser Arbeitsschritt ist wichtig, da es sich insbesondere bei Intervention und Haltung um Begriffe handelt, die häufig in der Fachliteratur verwendet werden, allerdings wenig mit expliziten Überlegungen oder Wissen zu ihrer jeweiligen Bedeutung bedacht werden. Daher ist es für ein Verständnis der Forschung hilfreich sich den Begriffen, mit denen im Folgenden gearbeitet wird, kurz zuzuwenden. Insbesondere aus einer konstruktivistischen Perspektive wird deutlich, dass niemals alle Forscher:innen genauso wenig wie alle Leser:innen ein gleiches begriffliches Verständnis haben und haben werden; dies ist auch nicht angestrebt. Es ist jedoch sinnvoll, sich diesen wenig eindeutigen Begriffen anzunähern, indem aufgezeigt wird, wie sie in der Literatur verwendet werden und welches begriffliche Verständnis die Grundlage der Forschung bildet.

2.1 Intervention

Der Interventionsbegriff lässt sich häufig in der Fachliteratur über Beratung und in die angrenzenden Disziplinen der Humanwissenschaft finden, wo er meist ohne weitere Erklärung genutzt wird. Er wird als bekannt vorausgesetzt oder als selbsterklärend verstanden. Dennoch sind viele unterschiedliche Interventionsformen in zahlreichen Publikationen mit dem Titel ‚Intervention‘ beschrieben und präsentieren sehr unterschiedliche Charakteristika. Der eigenen Begriffslogik wird dabei kaum Beachtung geschenkt. Es ist zu beobachten, dass die „Spannweite“ des Begriffes sehr unterschiedlich gefasst wird, sodass an einigen Stellen Beratung allgemein als Intervention gesehen wird (vgl. Stimmer, 2020, S. 227) und an anderen Stellen Intervention als isoliert zu betrachtende, sorgfältig geplante Handlung erscheint, deren Wirkung unmittelbar beobachtbar ist und überprüft werden sollte (vgl. Borg-Laufs & Wälte, 2021, S. 56).

Tritt man einen Schritt zurück und richtet einen weniger fachspezifischen Blick auf den Begriff, zeigt sich beispielsweise im Duden-Wörterbuch folgender Eintrag zu ‚intervenieren‘:

1)

A) [vermittelnd] in ein Geschehen, einen Streit o.Ä. eingreifen, sich [als Mittler] einschalten

B) bei wirtschaftlichen Problemen ausgleichend eingreifen

2)

sich protestierend in bestimmte Vorgänge einschalten; Protest gegen etwas anmelden

3)

(von einer Regierung, einem Land) sich aktiv in die Angelegenheiten eines anderen Staates einmischen (Dudenredaktion, o. D.a)

Ein großer Anteil des Bedeutungsraumes von ‚intervenieren‘ liegt im politischen Bereich und bezieht sich auf einen Eingriff, bei dem sich jemand zwischen Etwas bewegt, etwa zwischen Personen, Parteien oder Handlungen von Einzelnen. Es symbolisiert eine Reaktion, die sich auf das Verändern der Dynamik einer Situation richtet. In einigen Texten nähern sich die Autor:innen dem Wort von seinem Ursprung her und beziehen sich dabei auf das lateinische Wort ‚intervenire‘, welches übersetzt ‚dazwischenkommen‘, ‚dazwischen treten‘ oder ‚sich einschalten‘ heißt (vgl. Lutz et al., 2012, S. 16). Der weitere Wortstamm bleibt oft unbeachtet, wobei dieser interessante Aspekte der Wortbedeutung beinhaltet, wie etwa (lat. interventus) Vermittlung von Beistand sowie (lat. interventrix) Vermittler:in und Fürsprecher:in (vgl. Stimmer, 2020, S. 226). Es zeigt sich ein Wort, das in seiner Bedeutung zwischen Stören und Dazwischentreten, aber auch Vermitteln und Beistand befindet.

In der Medizin und der Psychologie wird eine Intervention deutlich in eine Handlungsabfolge eingebettet, die aus Diagnostik, Indikation und Intervention besteht (vgl. Lutz et al., 2012, S. 17). Die Intervention gilt hier als „geplante und gezielte Maßnahme, um Störungen vorzubeugen (Prävention), sie zu beheben (Psychotherapie) oder deren negative Folgen einzudämmen“ (Wenninger, 2000). Dabei handelt es sich um eine defizitorientierte Sichtweise, bei der zuerst ein Leiden bestehen muss, welches nach der Intervention verbessert oder beseitigt sein sollte.

Innerhalb der Pädagogik wird der Begriff etwas weniger monokausal eingesetzt. Im Pädagogik-Lexikon (vgl. Heim et al., 2015, S. 227) wird Intervention als ein „zielgerichtetes Eingreifen“ in fünf Schritten wie folgt beschrieben:

Problemerfassung

Informationssammlung

Methodenauswahl

Methodenanwendung

Auswertung (ebd.)

Im Fokus von Interventionen stehen hier Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale von Individuen, sowie gesellschaftliche Strukturen, Normen und sozioökologische Bedingungen (vgl. ebd.). Der Interventionsbegriff wird hier größer gefasst und zeigt eine deutliche Präsenz von Methoden auf, die in eine Handlungsfolge eingebettet werden.

Intervention wird teilweise synonym mit Methode verwendet (beispielsweise bei Stimmer & Ansen, 2016, S. 214 ff.) und insbesondere im Fachbereich des Coachings wird häufig das Wort ‚Tool‘ gebraucht. Allen ist gemeinsam, dass sie sich auf aktive Handlungen beziehen. Allerdings zeichnen sich Methoden meist durch mehr Regeln und explizitere Anweisungen aus. So formulieren Stimmer und Ansen zum Beispiel ein „Kriterienraster zur Beurteilung von Methoden“ (ebd.). Bei Methoden gibt es oft klare Vorstellungen von richtigen Handlungen und deren Ausführungen, was durch Formulierungen, wie ‚methodisch sauber‘, ‚methodensicher‘, ‚methodisch korrekt‘ o. ä. verdeutlicht wird. Der Interventionsbegriff scheint sich umfassender auf die beraterischen Handlungen zu beziehen, die ein Versuch sind, zu einer hilfreichen Auseinandersetzung mit der Thematik beizutragen. So kann die Durchführung einer Methode eine Intervention darstellen (vgl. Borg-Laufs & Wälte, 2021, S. 55).

Zeitlich werden Interventionen bei Borg-Laufs und Wälte (2021) – die eher verhaltenstherapeutisch geprägt sind – dort verortet, wo bereits eine Beziehung aufgebaut ist und Ziele geklärt sind (S. 56). Zudem werden Interventionen hier als zeitlich isolierbar betrachtet. Damit ist gemeint, dass immer nur eine Intervention zurzeit erfolgt und diese im Anschluss, ähnlich wie es oben beschrieben wird, hinsichtlich ihrer Wirkung bei den Ratsuchenden überprüft werden soll. Damit ist nicht gemeint, dass eine gezielte Wirkung überprüft werden soll, sondern die Resonanz durch die Intervention einer Betrachtung unterzogen, bevor sich einer neuen Intervention zugewandt wird (vgl. ebd., S. 57). Stimmer (2020) beschreibt Intervention in der Sozialen Arbeit passend dazu als „Teil des zirkulären Problemlösungsprozesses“ (S. 226). Diese Idee hebt die Zirkularität, welche in der Beratung eine wichtige Rolle spielt, hervor. Intervention wird hier nicht als etwas verstanden, was unmittelbar, direkt und gezielt planbar ein vorhandenes Defizit beseitigt. Vielmehr bildet eine Intervention einen Anteil des Prozesses der Problembearbeitung. Es handelt sich um eine Handlung, welche in die (gedanklichen) Prozesse der Ratsuchenden eingreift. Diese Handlung zeige sich aktiv, geplant und intentional, wobei die Wirkung vorher niemals genau festgelegt ist. Die Planung und Ausführung von Interventionen kann immer nur auf den Hypothesen basieren, die Berater:innen in diesem Moment als hilfreich erachten. Die Reaktion auf eine Intervention zeigt sich im Anschluss und beeinflusst den weiteren Prozess, den der:die Berater:in einschlägt. Damit ist die Auffassung von Intervention, als Teil eines zirkulären Problemlösungsprozesses, für die Beratungswissenschaft anschlussfähig.

Interventionen sind demnach als aktives, meist intentionales Eingreifen im Prozess der Beratung zu verstehen. Sie zielen darauf ab, eine Verbesserung im Verhalten oder der Problemwahrnehmung zu erzeugen (vgl. Beushausen, 2020, S. 148). Interventionen beziehen sich darauf, was die Berater:innen tun, um hilfreich ins Geschehen einzugreifen. Allerdings braucht gute Beratung zusätzlich zu den Interventionen eine passende Haltung, um ihr Potential entfalten zu können.

2.2 Haltung

Betrachtet man das Wort Haltung und seine Verwendung im deutschen Sprachgebrauch, wird deutlich, dass diese sich sowohl auf das Innere wie auch auf das Äußere des Menschen bezieht. Im Duden-Wörterbuch ist bezüglich Haltung folgendes formuliert:

1)

Art und Weise, besonders beim Stehen, Gehen oder Sitzen, den Körper, besonders das Rückgrat zu halten; Körperhaltung.

2)

A) innere [Grund]einstellung, die jemandes Denken und Handeln prägt

B) Verhalten, Auftreten, das durch eine bestimmte innere Einstellung, Verfassung hervorgerufen wird

C) Beherrschtheit; innere Fassung (Dudenredaktion, o. D.b)

Im Folgenden werden wir uns auf die Bereiche 2A) und 2B) konzentrieren: Haltung als eine innere Verfassung, die sich in der Art und Weise der Handlungen eines Menschen zeigen.

Kurbacher (2008) beschreibt Haltung als Bezugnahme auf Etwas. Eine Bezugnahme kann auf all den genannten Ebenen passieren und findet permanent statt. Diese permanente Bezugnahme kann bewusst und unbewusst erfolgen. Da die Möglichkeit besteht, reflexiv auf unsere Haltung zu schauen, also sich dieser bewusst zu werden und sie aktiv zu beeinflussen, entsteht das Potenzial, Verantwortung für unser Tun zu übernehmen (vgl. ebd., S. 4). Allerdings ist es nur bedingt möglich, Haltung bewusst und intentional zu formen; sie ist immer auch abhängig von biographischen Erfahrungen, die wir in unserem kulturellen und zeitlichen Kontext erleben. Und die große Wirkmächtigkeit eben dieser Sozialisations-Erfahrungen müssen wir im Kontext Beratung nicht betonen – vgl. exemplarisch „Über die Arbeit mit Genogrammen“ (Rohr, 2017a).

Wir entwickeln Haltung also in Abhängigkeit von unseren Erfahrungen. Sie zeigt sich jedoch in komplexen Zusammenhängen eingebettet und durchaus dynamisch. Die Komplexität des Begriffes wird mit dem Bewusstsein deutlich, dass sich Haltung grundsätzlich in einem dynamischen Prozess befindet und veränderbar ist, sowie es möglich ist, mehrere Haltungen zur selben Zeit zu haben, ohne dabei zerrissen zu wirken (vgl. Kurbacher, 2008, S. 5). Die Haltung ist das Ergebnis und das Fundament einer selbstaktiven Steuerung (vgl. Klein & Vogt, 2015, S. 4). Die Entwicklung einer Haltung als Regulation von Affekten ist ein lebenslanger Entwicklungsprozess. Eine bewusste Haltung kann das Treffen von Entscheidungen unterstützen und Handlungen begründen. So kann die Haltung dabei helfen, zu überprüfen und zu reflektieren, ob Handlungen zum Selbst passend sind oder waren und sich damit stimmig zeigen (vgl. die „doppelte Stimmigkeit“ bei Schulz von Thun, 1998). Ihre Entwicklung läuft ebenfalls über das Selbst ab, da es sich um eine aktive Auseinandersetzung mit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen handelt. Wer also eine Haltung entwickeln möchte, braucht ein Bewusstsein für die eigene, intuitiv entwickelte Haltung, was letztlich nur in einer Auseinandersetzung mit dem Selbst erfolgen kann (vgl. ebd., S. 5 f.). Sie ist nicht durch reines Wissen zu erzeugen, sondern lediglich durch eine „Selbstverortung innerhalb der eigenen Erfahrungen“ (ebd. S. 6) – also letztlich einer ‚Selbsterfahrung‘ wie sie Bestandteil von Beratungs-Weiterbildungen ist (vgl. Rohr, 2017b). Haltung zeigt sich bislang als abhängig, dynamisch und doch reflexiv zugänglich, sowie omnipräsent.

Insbesondere in pädagogischen Tätigkeitsfeldern wird die Haltung als „Schlüsseldimension“ (Kreft & Mielenz, 2021, S. 401) einer wirkungsvollen Verknüpfung von Theorie und Praxis gesehen. Sowohl Wissen als auch Handlungen bekommen erst ihre vollständige Wirkkraft durch eine professionelle Haltung. Watzlawicks Grundsatz: ‚Man kann nicht nicht kommunizieren‘ lässt sich auch auf Haltung übertragen. Wir nehmen immer eine Haltung ein und vermitteln diese in unserem Handeln gegenüber Themen und Menschen (vgl. Lerch et al., 2018, S. 603). Dieser gilt es allerdings bewusst zu werden und sie aktiv zu gestalten, damit sie professionell wirksam werden kann. Das Einnehmen einer Beratungshaltung baut demnach auf einer Alltagskompetenz auf – sowie der Entwicklung von sich selbst in einer professionellen Rolle (vgl. Seel, 2016, S. 315). Haltung ist also eine Rollenkompetenz, die nur in einem professionellen Setting realisiert werden kann (vgl. ebd.). Die Entwicklung einer Beratungshaltung kann nur durch eine Auseinandersetzung mit den eigenen, oft unbewussten Normen, Werten und Einstellungen erfolgen. Folglich ist die Entwicklung einer Beratungshaltung auch niemals abgeschlossen, sondern ein fortwährender Entwicklungsprozess (vgl. ebd.) – und reflexiver Teil der eigenen Supervision.

In Arbeitsfeldern, die von starker Unsicherheit geprägt sind und in denen mit der Flexibilität und Diversität menschlicher Lebenswirklichkeiten gearbeitet werden muss, kommen Routinehandlungen selten vor. Stattdessen bilden Ausnahmen die Regel. In diesen Feldern kann professionelles Handeln nicht ausschließlich durch tiefes und komplexes Wissen über das Fach hergestellt werden. Da jeder Einzelfall einen individuellen Umgang benötigt, spielt die Haltung bei dem professionellen Handeln, also wie den Menschen gegenübergetreten wird, eine fundamentale Rolle (vgl. Kreft & Mielenz, 2021, S. 401). Eine reflektiert entwickelte und bewusst eingenommene Haltung und die daraus abgeleiteten und damit erklärbaren Handlungen (Interventionen) und Entscheidungen ergeben hier den Unterschied zwischen Alltagshandlungen und professionellen Handlungen. Haltung bietet damit einen Orientierungsrahmen für theoretisches und praktisches Handeln und verbindet diese Felder, indem sie praktische Handlungen theoretisch-fachlich begründbar macht (vgl. Lerch et al., 2018, S. 603).

Aus diesem Grund sollte das Entwickeln einer bewussten Beratungshaltung ein Ziel einer jeden Aus- und Weiterbildung sein (vgl. Rohr, 2017b). Bei der Beschäftigung mit der eigenen Haltung geht es um das wesentliche Grundgerüst der beruflichen Expertise, indem eine Auseinandersetzung mit z. B. den folgenden Fragen erfolgt: „Welches Menschenbild liegt meinem Tun zugrunde? Welches Verständnis von Beratung habe ich? Was ist das, was meiner Meinung nach ‚wirkt‘ zwischen mir und meinen Klienten?“ (Barthelmess, 2016, S. 9). Methoden und Interventionen tragen einen wichtigen Teil zum professionellen Handeln bei, aber eine Methode ohne eine passende Haltung macht nicht den Kern professioneller Handlungen aus. Haltung führt zu einer wirklichen, innerlichen gereiften Beratungskompetenz (vgl. Hargens, 2016, S. 45).

Haltung zeigt sich in einem Spannungsfeld, einerseits etwas statisches Verlässliches zu sein und andererseits einem stetigen Entwicklungsprozess unterzogen zu sein, und damit eine Flexibilität zu besitzen. Insbesondere die Beratungshaltung zeichnet sich als ein fluider Prozess aus und kann eher in ihrer Beweglichkeit verstanden werden. Gerade aufgrund ihres dynamischen Charakters, mit dem angemessen flexibel auf Situationen reagiert werden kann, soll sie Halt bieten (vgl. Obermeyer & Pühl, 2016, S. 64). Die flexiblen Eigenschaften von Haltung können nachvollzogen werden, begreift man diese als zu erbringende Leistung, welche der:die Berater:in durchgängig im Kontakt mit den Klient:innen erbringen muss (vgl. Seel, 2016, S. 313). So zeigt sich Haltung in jeder Situation phänotypisch unterschiedlich. Zusammenfassend ist Haltung die Antwort auf die Frage: „Wie begegne ich meinen Klient:innen (und speziell des:der aktuellen Klient:in) und ihren Problemen/Fragen und Erwartungen an mich als Berater:in?“ (ebd.). Diese Frage hebt hervor, dass sich Haltung in der Beratung auf das ‚wie‘ bezieht.

Während Haltung sich auf die Art bezieht, ‚wie‘ gehandelt wird, bezieht sich der Interventionsbegriff eher auf das, ‚was‘ in der Beratung getan wird. Eine professionelle Beratung braucht beides, Haltung und Intervention. Diese sind aufeinander angewiesen. Ohne eine Haltung verliert die Intervention ihren Sinn und kann nicht situationsgerecht ausgewählt und eingesetzt werden. Ohne eine Handlungsform, in der sie sich zeigen kann, hilft die beste Haltung keinem und keiner Klient:in weiter.

Innerhalb unserer Forschung hat sich immer mehr gezeigt, dass Interventionen nicht als zeitlich isolierbar und auch nicht immer als bewusst und intentional eingesetzt betrachtet werden können, wie Borg-Laufs und Wälte (2021, S. 56) noch postulieren.

2.3 Prinzip

Der Begriff Prinzip findet bislang nur vereinzelt Beachtung in der Beratungswissenschaft. Da sich das Projekt mit der Definition von 10 Prinzipien beraterischen Handelns beschäftigt, sind einige grundlegende Überlegungen zum Verständnis dieses Begriffs bedeutsam.

Wie schon bei den anderen Grundbegriffen des Projektes, wird der Begriff zuerst im allgemeinen Sprachgebrauch betrachtet. Im Duden-Wörterbuch ist der Begriff wie folgt definiert:

1)

feste Regel, die jemand zur Richtschnur seines Handelns macht, durch die er sich in seinem Denken und Handeln leiten lässt, Grundsatz

2)

allgemeine Regel, Grundlage auf der etwas aufgebaut ist; Grundregel, Grundsatz

3)

Gesetzmäßigkeit, Idee, die einer Sache zugrunde liegt, nach der etwas wirkt; Schema, nach dem etwas aufgebaut ist, abläuft (Dudenredaktion, o. D.c)

Mit Prinzip ist also die Grundlage einer Sache gemeint. Diese kann dazu dienen, etwas darauf aufzubauen oder wie in 1) beschrieben das eigene Denken und Handeln davon leiten zu lassen. Bei der Recherche nach dem Wort Prinzip findet man sich schnell in der Philosophie wieder. Dort wird Prinzip als etwas beschrieben, in dem Sein oder Erkenntnis den Ursprung hat (vgl. Precht & Burckhard, 2008). Weiter heißt es, ein Prinzip ist etwas, aus dem eine Sache besteht, entsteht oder erkannt wird (vgl. ebd.). Erkenntnistheoretisch scheinen Prinzipien also die Basis von Wissensgebieten zu sein, die weitere Erkenntnisse begründen oder diese aus sich ableiten lassen. Ulfig (1993) schreibt treffend: „Sie bilden das Fundament des Aufbaus eines Wissensgebietes“ (S. 333).

Prinzipien in der Beratung

Mit einem Blick in die Subdisziplinen der Beratung und die vorhandene Literatur zur Beratung selbst sind einzelne Versuche der Formulierung von Prinzipien der Beratung zu finden.

Mattejat (2005) hat Befunde der Wirksamkeit familientherapeutischer Verfahren bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen untersucht. In seiner Arbeit wurden die Gemeinsamkeiten von evidenzbasierten Verfahren betrachtet und herausgearbeitet. Ähnlich wie in unserem Forschungsprojekt geht es bei Mattejat (2005) darum, herauszuarbeiten, welche Vorgehensweise innerhalb familientherapeutischer Interventionen gewählt wurde. Allerdings beziehen sich Mattejats Überlegungen auf therapeutische Interventionen und nicht auf beraterisches Handeln. Zudem umfassen sie nur eine spezifische Altersgruppe innerhalb der Klientel und lassen daher keine allgemeinen Schlüsse zu.

In der Publikation „Die Ordnung des Selbst“ stellt Bohn (2017) eine Studie vor, in der er sich unter anderem mit der Frage beschäftigt, mit welchen Methoden, Verfahren und normativen Leitbildern psychosoziale Beratung auf bestehende Probleme reagiert. In der Studie werden normative Orientierungspunkte der Handlungen innerhalb von Beratung herausgearbeitet. Anhand dessen werden Prinzipien nach Sander durch Interviews ‚belegt‘. Diese sind:

Kommunikation und Beziehung

Hinwendung zum Individuellen

Aufklärung und Lernprozesse anregen

Lösungsorientierung

Kompetenzen fördern

Ressourcen aufzeigen (Bohn, 2017, S. 14)

Die Entstehung dieser Prinzipien stammt aus der Literaturarbeit und folgt einer deduktiven Logik. Zum einen können sie nur im Rahmen dessen bleiben, was in der Literatur zum Beratungshandeln zu finden ist, weil sie dort ihren Ursprung haben. Zum anderen werden durch die Interviewform Prinzipien konstruiert, welche die Berater:innen selbst als Grundlage ihrer Handlungen sehen oder sehen wollen. Somit ist davon auszugehen, dass durch die Analysemethode des Projektes diese Perspektive, auf Prinzipien der Beratung, sinnvoll ergänzt werden kann.1

Auch Stimmer (2016) hat Überlegungen zu Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern angestellt und sich in umfassender Weise mit schulübergreifenden Konzepten auseinandergesetzt. Er formuliert ebenfalls zehn Prinzipien beraterischen Handelns. Die Idee hinter seinen Prinzipien ist, dass sich diese von allgemeinen Wirkfaktoren (nach Grawe) ableiten lassen (S. 55). Stimmer formuliert folgende Prinzipien:

Verständigungsorientiert handeln

Sinn verstehen

Bestätigen

Ressourcen fördern

Kontext stabilisieren

Mehrperspektivisch Denken und Handeln

Motivieren

Moralisch handeln

Netzwerkorientiert Denken und Handeln

Effizient handeln (Stimmer, 2016, S. 55)

Die Ausführungen zeigen einen rein theoretischen Zugang. Daher handelt es sich auch hier wieder um einen deduktiven Zugang, der auf die Erkenntnisse der vorhandenen Literatur verwiesen bleibt.

Die drei aufgezeigten Versuche der Formulierung von Prinzipien liefern jeweils sinnvolle Betrachtungsweisen. Sie ergeben einen guten Ausgangspunkt für uns. Allerdings zeigt sich die geplante Forschung als sinnvolle Ergänzung zu den vorgestellten, deduktiv ausgerichteten Konzepten. Das Vorgehen ergänzt die Ausführungen insofern, als dass induktiv, an jedem Einzelfall neu beobachtet wird, wie die Berater:innen handeln, wenn sie beraten. Das Projekt liefert daher, ausgehend vom vorhandenen Wissen, eine empirische Analyse der grundlegenden Handlungsvorgänge innerhalb der Beratung. Es werden die Muster der Handlungen von einer Metaebene aus beobachtet und dadurch ihre Grundlagen aufgezeigt. Demgemäß sollen die Prinzipien, welche hinter dem Handeln in der Beratung stehen, definiert werden.

2.4 Beratung als Improvisation

Es ist wichtig, an dieser Stelle schon zu betonen, dass die Phänomene und die bis hierher genannten Begrifflichkeiten nicht trennscharf sind. In unserer Forschung hat sich in den Gruppendiskussionen immer deutlicher gezeigt, dass es keine Interventionen gibt unabhängig von einer Haltung sowie es keine Haltung gibt, die sich nicht in Verhalten/Interventionen zeigt. Insofern haben wir in einem ersten Schritt die „40 Grundhaltungen und Interventionen“ – etwas vereinfacht – ‚gleichgesetzt‘: Alle 40 Aspekte/Phänomene von Beratung sind also sowohl Haltung als auch Intervention. Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, dass für die zehn Prinzipien ähnliches gilt. Um die ‚engen Definitionsversuche‘ (=Reduktion von Komplexität) nun etwas mehr an die ‚tatsächliche‘ Beratungspraxis anzupassen, werden wir nun Beratung als Improvisation und als Spiel betrachten.

Dieses Buch entsteht im Kontext des Beratungsdiskurses, in dem sich eine anhaltende Thematisierung der Güte und Qualität der Beratungspraxis beobachten lässt, die Ehmer und Busse mit der Frage „Wissen wir, was wir tun, wenn wir beraten“? treffend formulieren (vgl. Busse & Ehmer, 2010, S. 7). Die folgenden Absätze dieses Kapitels sind eine Zusammenfassung von Höcker, Hummelsheim & Rohr (2017)2:

Trotz oder gerade aufgrund aller Professionalisierungsbestrebungen scheinen die Bemühungen, Licht in die „Black-Box Beratung“ (Galdynski & Kühl, 2009) zu bringen, mehr denn je von Bedeutung zu sein. Man könnte geneigt sein, einen beruflich-identitären Mangel, einen Wunsch nach Selbstvergewisserung, oder einen Ruf nach legitimierenden Referenzpunkten der im Feld der Beratung tätigen Professionals anzunehmen. Die vermuteten Unschärfen und Unsicherheiten im Beratungsfeld sagen jedoch zunächst nichts über die faktische Qualität von Beratung in der Praxis aus. Die Problematisierung der Beratungsgüte verweist vielmehr auf Fragen, die von bestimmter Seite mit spezifischen Absichten und Interessen gestellt und beantwortet werden.

Eine Antwort kann aus unserer Sicht einem politisch-institutionellen Diskursstrang zugeordnet werden. Fachgesellschaften und Berufsverbände haben ein legitimes Interesse daran, die Qualität ihrer Profession auszuweisen, um Dilettantismus und Scharlatanerie auszuschließen, um die „Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ zu scheiden. Der Beratungsbereich folgt bei diesem Selektionsprozess derzeit dem Weg der klassischen Professionalisierung über Standardisierung, Formalisierung und Normierung von Qualitätskriterien und Ausbildungsformaten (vgl. z. B. DGfB, 2010; Zwicker-Pelzer & Rohr, 2017; sowie Weinhardt, 2014).

Eine weitere relevante Antwort entspringt dem theoretisch-wissenschaftlichen Beratungsdiskurs, der ohne Zweifel in enger Wechselwirkung mit dem erstgenannten Diskursstrang steht. Hier lässt sich einerseits eine Adaption des derzeit hegemonialen Bildungsdiskurses mit einer Fokussierung auf Kompetenzmodelle und Outcome-Orientierung beobachten (vgl. u. a. Zwicker-Pelzer, 2010; Schiersmann & Weber, 2013); andererseits eine Betonung der Relevanz von subjektivem Erfahrungswissen bzw. implizitem Wissen zur Erläuterung der Könner:innenschaft von Beratungsexpert:innen und daran anschließende Überlegungen, wie das „Schweigen der Könner“ (Neuweg, 2015) zur Sprache gebracht und für Lehr-Lern-Prozesse verfügbar gemacht werden kann (vgl. z. B. Böhle, 2010; Gold, 2014). Mit der Metapher des Spiels möchten wir in unserem Beitrag eine weitere Möglichkeit eruieren, Beratungsexpertise zu beschreiben. Wir wollen erkunden, welche sinnvollen Anschlüsse sich für die Beratungslehre ergeben und knüpfen damit an die Suchbewegung an, auf vielfältigen Wegen Beratung zu lehren und zu erlernen, die wir mit dem Projekt der Einladung an dreißig Beratungslehrende, anekdotisch und persönlich über ihre Lehrerfahrungen zu berichten, begonnen haben (vgl. Rohr, Hummelsheim & Höcker, 2016).

„I'll play it first and tell you what it is later.“3

Arist von Schlippe hat die Vielschichtigkeit von (systemischer) Beratung als Schnittmenge von „Handwerk, Kunst, Wissenschaft und Profession“ beschrieben (von Schlippe, 2008) und es ließe sich hieran anschließend fragen, ob Beratung eine Meister:innenlehre erfordert, ob sich Erfahrungswissen in fachsystematisches Buchwissen überführen lässt oder ob sich strukturierte Didaktiken für die Lehre von Beratung entwickeln lassen. Wenn aber das „Salz in der Suppe“ von Beratungsprozessen eher in einem spielerischmenschlichen Miteinander zu finden ist, welches die oben genannten Kategorien gleichsam durchzieht (von Schlippe, 2008, S. 462 ff.), wäre es dann nicht angebracht zu fragen, wie sich vor allem das Spielen beim Beraten erlernen und lehren lässt? Um diese Frage weiter zu verfolgen, möchten wir an das in der Professionalisierungsdebatte häufig anzutreffende Expertisemodell von Dreyfus und Dreyfus anknüpfen.

In der Expertiseforschung erfolgte eine detaillierte Beschäftigung mit und eine Aufwertung von sogenanntem Erfahrungswissen, Anwendungswissen oder Handlungswissen. Es wurde dabei insbesondere festgestellt, dass Expert:innen, d. h. Personen, die auf einem Gebiet dauerhaft hervorragende Leistungen zeigen, sich von Anfänger:innen zwar auch durch den Umfang expliziten Fachwissens, jedoch mehr noch durch die Nutzung inkorporierten bzw. impliziten Wissens unterscheiden (vgl. dazu Gruber & Ziegler, 1996). So erscheinen Expert:innen aus der Sicht von Neulingen schnell als „intellektuelle Magier“ (ebd., S. 7), deren Tricks verschlossen und ungreifbar bleiben. In dieser Hinsicht entmystifizierend kann das von Dreyfus und Dreyfus (1987) entwickelte Stufenmodell gelten, welches innerhalb des Weges vom Noviz:innentum zum Expert:innentum die Anwendung unterschiedlicher Wissensorganisation, Entscheidungskriterien und Handlungsprämissen beleuchtet. Damit wird „Meister:innenschaft“ nicht als Ausdruck von Genialität, sondern grundsätzlich als erlernbar deklariert. Das Modell in aller Kürze:

1. Anfänger:innen nutzen zur Analyse der aktuellen Situation sowie für die Planung und Ausführung von Handlungen abstrakte, kontextfreie Regeln, die explizit in Form von Theorien, Modellen und rezepthaften Verfahren vorliegen.

2. Fortgeschrittene Anfänger:innen handeln aufgrund konkreter Erfahrungen zunehmend situationsangepasst. Nicht objektivierbare, kontextgebundene Aspekte von Situationen werden erkannt, jedoch immer noch im Korsett der handlungsleitenden Regeln verarbeitet.