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Wie können Kinder in ihren Bildungsprozessen begleitet und unterstützt werden? Dieser so grundlegenden wie aktuellen Frage von Erziehungswissenschaft und -beratung widmete sich ein Forscher:innenteam der Universität zu Köln. Eine mögliche Antwort gibt Marte Meo: ein praxisorientiertes, videobasiertes Beratungsmodell, das fünf Basiselemente für eine förderliche Interaktion postuliert: "Wahrnehmen", "Bestätigen", "Benennen", "Sich abwechseln" sowie "Lenken und Leiten". In diesem Buch wird zwei zentralen Fragen nachgegangen: erstens, wie Marte Meo Kinder in ihren Entwicklungs- und Bildungsprozessen begleitet und unterstützt, und zweitens, wie Marte Meo als Beratungskonzept Erwachsene (Professionelle sowie Bezugspersonen) diesbezüglich unterstützt. Diese Fragen werden aus einer Kombination qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden beantwortet – bzw. es werden 'erste Antworten' formuliert sowie neue Fragen aufgegriffen. Nach einer Einführung in das Marte-Meo-Konzept – von Maria Aarts selbst geschrieben – werden sowohl der Forschungsprozess als auch die Forschungsergebnisse ausführlich dargestellt: eine systematische Literaturrecherche sowie hermeneutische, konzeptuell-theoretische Vorarbeiten, die Auswertungen zahlreicher qualitativer Interviews, die Analyse von Videoaufzeichnungen von Alltagssituationen in Kindertagesstätten als auch die Konzeption, Durchführung und Auswertung einer Online-Befragung von über 200 Marte-Meo-Expert:innen. Wie in der Marte-Meo-Beratungsmethode konnten durch das Projekt Bildungsprozesse – konkret und kleinschrittig – sichtbar und beschreibbar gemacht werden, so dass pädagogische Fachkräfte in der Begleitung kindlicher Bildungsprozesse professionalisiert werden können. Damit gelingt eine differenzierte, theoriegeleitete Beschreibung als Annäherung an Verständigung und Verstehen des Kindes. In diesem Buch wird empirische Bildungs- und Beratungsforschung anhand qualitativer und quantitativer Methoden auch für Praktiker:innen (be)greifbar und gut nachvollziehbar beschrieben.
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Seitenzahl: 516
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Dirk Rohr
Ergebnisse eines 10-jährigen Bildungs- und Beratungsforschungsprojektes
Mit Begleittexten von Maria Aarts und Christian Hawellek
Unter Mitarbeit von Ellen Aschermann, Charles Deutsch, Sophia Nettersheim sowie Lea Maria Andrä, Robert Baum, Aylin Bösche, Nada Chamseddine, Vivian Gabert, Allyn Greiner, Simone Hirt, Inga Hückeler, Isabella Kneuper, Sara Ko, Marina Kürzinger, Vivien Magyar, Martina Masurek, Robin Menschel, Sofia Molot, Wanda Ristau, Alexandra Roszak, Katrin Schäfer, Clara Stein, Isabel Tenhaef, Alina Themm, Miriam Sabrina Wilbert, Freya Windelen, Janina Wisniewski, Ester Yasemin Yücel und Leonie Ziehm
Mit einem Vorwort von Maria Aarts
2023
Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt
Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg
Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages
Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel
Printed in Germany
Umschlagillustration: Maj Jablonski
Erste Auflage, 2023
ISBN 978-3-8497-9019-6 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-9046-2 (ePub)
DOI: 10.55301/9783849790196
© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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Vorwort von Maria Aarts
1 Einleitung
2 Marte Meo
2.1 Ursprung und Entstehung von Marte Meo
2.2 Verbreitung von Marte Meo
2.3 Einführung in das Konzept (von Maria Aarts)
2.3.1 Grundlage der Methode: Lernen vom natürlichen Entwicklungsmodell
2.3.2 Probleme sind Entwicklungs- und Wachstumsmöglichkeiten
2.3.3 Das Internationale Marte-Meo-Netzwerk
2.3.4 Marte-Meo-Entwicklungscheckliste
2.3.5 Die Vermittlung der Information: Das Marte-Meo-3W-Beratungssystem
2.3.6 Marte-Meo-Learning-Sets
2.3.7 Wichtige Begriffe
2.4 Elemente förderlicher Kommunikation
2.4.1 Basiselemente förderlicher Kommunikation
2.4.2 Meta-Elemente förderlicher Kommunikation
2.5 Marte Meo als Modell
2.5.1 Die Videointeraktionsanalyse als Beratungsmethode
2.5.2 Die vier Schritte in der Videointeraktionsanalyse
2.5.3 Die wichtigsten Werkzeuge der Videointeraktionsanalyse
2.5.4 Die Videointeraktionsanalyse im Review
2.5.5 Videoberatung – die Kraft der eigenen Bilder
2.5.6 Review
2.6 Marte-Meo-Ausbildungsformate
2.6.1 Marte-Meo-Practitioner
2.6.2 Marte-Meo-Therapist und -Colleague-Trainer:in
2.6.3 Marte-Meo-Supervisor:in
2.6.4 Marte-Meo-Licensed-Supervisor:in
3 Forschungskonzept: Mixed-Methods-Design
4 Literaturrecherche und konzeptuell-theoretische Vorarbeiten
4.1 Systematische Literaturrecherche
4.1.1 Empirischer Gehalt der gefundenen Literatur
4.1.2 Bewertung der gefundenen Literatur
4.1.3 Wissenschafts-Gap und Fragestellung
4.2 Einordung des Marte-Meo-Beratungskonzeptes
4.2.1 Die Einordnung in systemische und humanistische Beratungsansätze
4.2.2 Die Einordnung von Marte Meo anhand von Wirkfaktoren
4.3 Das Marte-Meo-Lehrkonzept (von Christian Hawellek)
4.3.1 Was gelehrt wird
4.3.2 Wie gelehrt wird
4.3.3 Schlussbetrachtungen
5 Qualitative Forschung Teil 1: Qualitative Interviewforschung
5.1 Methodik
5.1.1 Methoden der Datenerhebung
5.1.2 Auswertung im Rahmen des Kodierparadigmas der Grounded Theory
5.2 Wie Marte Meo den alltäglichen Blick auf Kinder verändert
5.2.1 Theoretischer Rahmen
5.2.2 Ergebnisse
5.2.3 Diskussion
5.2.4 Fazit und Ausblick
5.3 Interviews zum Marte-Meo-Beratungskonzept
5.4 Interviews mit Klient:innen (Eltern)
5.4.1 Die Rolle der Eltern in der Arbeit mit Marte Meo
5.4.2 Analyse der Interviews nach der Grounded Theory Methodologie
5.4.3 Eine Einschätzung der Beraterin
5.4.4 Offene Fragen und Ausblick
5.4.5 Fazit
5.5 Marte Meo an Schulen
5.5.1 Anwendbarkeit und Anwendungsfälle in der Schule
5.5.2 Strukturelle Aspekte
5.5.3 Aspekte einer „Schulkultur“
5.5.4 Schulische Handlungsmöglichkeiten im Überblick
5.5.5 Fazit und Ausblick
6 Qualitative Forschung Teil 2: Analysen von Videos
6.1 Methodik
6.1.1 Entwicklungslinien der Videographie
6.1.2 Überblick über methodische Ansätze und Felder der Videoanalyse
6.1.3 Videointeraktionsanalysen – Leitperspektive und Forschungsfrage
6.1.4 Die dokumentarische Bild- und Videointerpretation nach Bohnsack
6.1.5 Exemplarische Videoanalysen
6.2 Sensitive Responsivität und Marte Meo
6.2.1 Das Konzept der sensitiven Responsivität
6.2.2 Definition: Sensitive Responsivität
6.2.3 Zur Bedeutung der Interaktionskultur im Kindergarten
6.2.4 Untersuchungsmethode nach Remsperger
6.2.5 Gegenüberstellung von Sensitiver Responsivität und Marte Meo
6.2.6 Analyse
6.2.7 Abschließende vergleichende Analyse nach Marte Meo
6.2.8 Fazit
6.3 Unterstützung der kindlichen Sprachentwicklung
6.3.1 Kindliche Sprachentwicklung
6.3.2 Sprachrelevante Aspekte in der Marte-Meo-Methode
6.3.3 Diskussion
6.4 Die Bedeutung der eigenen Kongruenz
6.4.1 Theoretische Grundlagen der Kommunikation
6.4.2 Kongruenz – Definition und Begriffsklärung
6.4.3 Inkongruenz – Definition und Begriffsklärung
6.4.4 Blickwinkel Marte Meo
6.4.5 Videoanalyse – Ziel und Vorgehen
6.4.6 Fazit
6.5 Die Bedeutung von Peer Learning
6.5.1 Einführung in den Peer-Learning-Ansatz
6.5.2 Marte Meo und Peer Learning
6.5.3 Anwendung der theoretischen Grundlagen
7 Quantitative Forschung
7.1 Studiendesign
7.1.1 Fragebogenkonzeption
7.1.2 Proband:innenakquise
7.1.3 Auswertung
7.2 Ergebnisse
7.2.1 Soziodemographisches
7.2.2 Qualifizierungsgrad
7.2.3 Anwendungskontext
7.2.4 Ziele beim Einsatz von Marte Meo
7.2.5 Der „Marte-Meo-Blick“
7.2.6 Einsatz von Marte Meo als Beratungsmethode
7.2.7 Vorgehen bei Marte Meo als Beratungsmethode
7.2.8 Evaluation Allgemein
7.3 Diskussion
7.3.1 Abweichungen der Ergebnisse von der Theorie
7.3.2 Zufriedenheit der Expert:innen mit Marte Meo
7.3.3 Ergebnisbetrachtung unter Einbezug der Wirkfaktoren
7.3.4 Kritik an Marte Meo
7.3.5 Limitationen der quantitativen Studie
7.3.6 Implikationen für die weitere Forschung
7.3.7 Implikationen für die Praxis
7.4 Fazit und Ausblick der quantitativen Teil-Studie
8 Marte Meo als Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte
8.1 Marte Meo an Fachschulen
8.2 Marte Meo an Fachhochschulen und Hochschulen
8.3 Marte Meo als Supervision
8.4 Potenziale und Grenzen der Marte-Meo-Methode
8.5 Fazit
9 Ausblick
Anhang
Literaturverzeichnis
1974 arbeitete ich als Spezialistin für Kinder mit Autismus in einer stationären Einrichtung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Niederlanden. Meine Arbeit mit diesen Kindern verlief durchaus erfolgreich. Doch an einem Sonntagnachmittag änderte sich mein professionelles Leben: Eine Mutter kam, um ihren kleinen Sohn zu besuchen. Sie sah, dass ich mit ihm in Kontakt treten konnte, fing an zu weinen und sagte mir: „Maria, ich bin seine Mutter, er ist mein Sohn. Wenn du weißt, wie du mit ihm in Kontakt treten kannst, dann bringe es mir doch bitte bei. Ich habe genug Zeit, ich trage genug Liebe in mir und ich bin motiviert. Das Einzige, was mir fehlt, sind konkrete Informationen darüber, wie ich mein Kind mit Autismus richtig unterstützen kann.“ Dies war die Geburtsstunde des Marte-Meo-Konzeptes. Ich werde im Folgenden einige grundlegende Informationen zum Marte-Meo-Konzept zur Entwicklungsförderung in Alltagssituationen liefern.
Unter Marte Meo verstehen wir eine filmbasierte Interaktionsanalyse. Wir sehen die Methode als ein Programm, das Eltern, Betreuer:innen und Professionellen detaillierte und praxisnahe Informationen darüber vermittelt, wie sie die soziale, emotionale und kommunikative Entwicklung eines Kindes in täglichen Interaktionssituationen unterstützen können. Ziel des Marte-Meo-Programms ist es, unterstützende, tägliche Interaktionen zu identifizieren, zu aktivieren und weiterzuentwickeln, die das Kind in seiner Entwicklung fördern. Marte Meo kommt mittlerweile in circa 50 Ländern zum Einsatz.
Unter dem Marte-Meo-Eltern-Einladungs-Programm verstehen wir einen Ansatz, der die Zusammenarbeit zwischen den Eltern und Professionellen in den Vordergrund rückt und ihnen konkrete Informationen an die Hand gibt. Das Programm hat den Anspruch, für die Eltern verständlich und unmittelbar nützlich in ihrem alltäglichen Zusammenleben mit ihrem Kind zu sein. Die Professionellen – wie in einer Kita, Schule oder anderen Institutionen – teilen nicht die Probleme mit den Eltern, aber die Information über extra Unterstützung von der Entwicklung ihrer Kinder.
Ich erkannte die Notwendigkeit, Informationen zu entwickeln und aufzubereiten, die für Eltern und Professionelle in alltäglichen Interaktionssituationen nachvollziehbar und nützlich sind.
Ich bin davon überzeugt, dass Kinder in ihrem Leben die größtmöglichen Chancen haben, wenn wir den Eltern zeigen, wie sie mit ihren Kindern in Kontakt kommen und deren Entwicklung unterstützen können. Im Rahmen des Marte-Meo-Eltern-Einladungs-Programm laden wir Eltern ein. Dieses Eltern-Einladungs-Programm haben wir dann auf die Aus- und Weiterbildung von professionellen Fachkräften übertragen.
Marte Meo bedeutet wörtlich „Mit der eigenen Kraft“. Mit diesem Begriff soll der zentrale Fokus des Marte-Meo-Programms betont werden: Menschen zu ermutigen, ihre eigene „Kraft“ zu nutzen, um Entwicklungsprozesse von Kindern, Eltern und Professionellen zu fördern und anzuregen, und somit ihre eigenen Kompetenzen optimal zu nutzen. Ich habe mich nun schon seit 40 Jahren mit der Interaktion von Eltern und Kindern in vielen unterschiedlichen Ländern und Kulturen auseinandergesetzt. Hierbei nutzte ich die Videoaufzeichnung, um diese Interaktionen zu analysieren und detaillierte Erkenntnisse hinsichtlich eines natürlichen, unterstützenden Erziehungsverhaltens in authentischen Alltagssituationen zu gewinnen.
Ich benutze diesen Grundgedanken von Marte Meo, um auf als ungünstig wahrgenommene Entwicklungsprozesse einwirken zu können. Mit Marte Meo beobachten wir spezielles Verhalten mit einem ebenso speziellen Fokus. Wenn sich ein Kind anderen Kindern gegenüber aggressiv zeigt, dann versuchen wir nicht, die Aggression zu unterbinden. Stattdessen beobachten wir das Verhalten zunächst unter Zuhilfenahme von Marte-Meo-Entwicklungs-Checklisten: Welche Spielfähigkeiten konnte dieses Kind möglicherweise noch nicht entwickeln, die es ihm ermöglichen würden, auf eine friedlichere Art mit anderen Kindern zu spielen? Welches Wissen benötigen Eltern oder professionelle Fachkräfte darüber, wie Kinder miteinander ins Spiel finden können? Die Marte-Meo-Entwicklungs-Checklisten habe ich zu diesem Zweck entwickelt. In dieser Weise können die Entwicklungs-Checklisten als Grundlageninformationen zur Entwicklungsunterstützung benutzt werden, um damit Entwicklungsprozesse zu „reaktivieren“.
Auf der großen Konferenz bei Dirk 2017 in Köln habe ich hierzu Videoausschnitte aus dem australischen Projekt „Die Implementierung von Marte Meo zur Qualitätssteigerung“ gezeigt; denn eigentlich ist es natürlich viel besser Marte Meo zu zeigen, als es ‚nur‘ zu beschreiben. Hier kann ich es nur ganz kurz umreißen:
In diesem Projekt werden unterstützende Interaktionen, die auf natürliche Weise in alltäglichen Situationen zwischen Kindern unter Erzieher:innen stattfinden, identifiziert und bestätigt. Für jeden dieser „guten“ Interaktionsmomente wird der entwicklungsbezogene Einfluss auf das Kind benannt, sodass die Erzieher:innen den bedeutenden Einfluss dieser Interaktionen auf die Entwicklung der Selbstwahrnehmung der Kinder erkennen. Die Videoaufzeichnungen helfen dabei, im Rahmen einer Interaktionsanalyse Schritt für Schritt Informationen über die Bedürfnisse des Kindes zu entdecken.
Marte Meo benennt auf eine eindeutige und verständliche Weise Formen der Unterstützung, die das Kind in seinem Entwicklungsprozess unterstützen kann und lädt professionelle Fachkräfte ein, gelungene Interaktionssequenzen mit anderen zu teilen. Marte Meo konzentriert sich auf die Frage nach dem „Wie?“ der kindlichen Entwicklung. Kern des Ansatzes sind Auskünfte über die Unterstützung der sozialen und emotionalen Entwicklungsbedürfnisse von Kindern, welche das Fundament für alle weiteren Entwicklungsprozesse darstellen.
In diesen Kontext meiner engen Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen kommt dieses Buch von Dirk und seinem Team. Wir haben uns 2017 in Köln, 2018 in Eindhoven und dann 2019, 2021 sowie 2022 wieder in Köln über sein Forschungsprojekt unterhalten, das er entwickelt und – mit der Unterstützung der Forscher:innengruppe – umgesetzt hat. Deswegen freue mich sehr, an dieser Stelle nun das Vorwort zu schreiben.
Marte Meo wurde mit dem Fokus der Entwicklungsförderung begründet und weiterentwickelt. Dieses Buch fokussiert nun Marte Meo als Bildungsbegleitung sowie als Beratungsmodell – und geht damit einen neuen, sehr spannenden Weg. Der Fokus liegt damit auch nicht mehr (nur) auf ‚schwierige’ Kinder (eben mit Entwicklungsschwierigkeiten), sondern nun auf allen Kinder. Damit wird Marte Meo für alle bedeutsam – und kann damit gleichzeitig einen Beitrag zur Inklusion leisten.
Wie wir die Bildung der Kinder bestmöglich begleiten können, darum handelt dieses Buch. Ganz konkrete Interaktionen werden – anhand von Videoanalysen als Forschungsmethode – untersucht, viele Interviews wurden geführt und ausgewertet sowie eine große Fragenbogenaktion durchgeführt und analysiert. Und somit wurde Marte Meo empirisch beforscht.
Für Marte Meo sind eben solche Forschungen enorm wichtig. In gewisser Weise handelt es sich um ‚Belege‘ unserer Intuition.
Lassen Sie sich begeistern – sowie überzeugen …
Maria Aarts, im Januar 2023
Dieses Buch soll zwei zentralen Fragen nachgehen:
wie Marte Meo Kinder in ihren Entwicklungs- und Bildungsprozessen begleitet und unterstützt als auch
wie Marte Meo als Beratungskonzept Erwachsene diesbezüglich unterstützt.
Diese Fragen werden im Folgenden aus einer Kombination von qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden beantwortet – bzw. es werden ‚erste Antworten‘ formuliert sowie neue Fragen aufgegriffen. Das umfangreiche Forschungsprojekt wurde 2012 an der Universität zu Köln ins Leben gerufen, gibt mit diesem Buch einen Zwischenbericht und wird 2024 beendet werden. Insgesamt haben ca. 40 Forscher:innen mitgewirkt.
Ein besonderer Dank gilt den folgenden Forscher:innen, deren Arbeiten in diesen Zwischenbericht direkt Eingang gefunden haben:
Ellen Aschermann, Charles Deutsch, Kathrin Meiners, Sophia Nettersheim sowie Lea Maria Andrä, Robert Baum, Aylin Bösche, Nada Chamseddine, Vivian Gabert, Allyn Greiner, Simone Hirt, Inga Hückeler, Isabella Kneuper, Sara Ko, Marina Kürzinger, Vivien Magyar, Martina Masurek, Robin Menschel, Sofiia Molot, Wanda Ristau, Rebecca Rohn, Alexandra Roszak, Katrin Schäfer, Clara Stein, Isabel Tenhaef, Alina Themm, Miriam Sabrina Wilbert, Freya Windelen, Janina Wisniewski und Ester Yasemin Yücel.
Begleitet wurde unser Projekt von Maria Aarts, die neben dem Vorwort auch das Einführungs-Kapitel in das Konzept Marte Meo (2.3) geschrieben hat sowie von Christian Hawellek, der das Kapitel ‚Marte Meo als Lehrkonzept‘ (5.4) geschrieben hat.
Aufgrund des Themas und der Vorgehensweise handelt es sich damit sowohl um ‚empirische Beratungsforschung‘ als auch um ‚empirische Bildungsforschung‘. Für eine Definition nehmen wir Bezug auf Gräsel (2011, S. 13):
„Die Empirische Bildungsforschung untersucht die Bildungsrealität in einer Gesellschaft, wobei der Schwerpunkt auf der institutionalisierten Bildung liegt. Bildungsforschung fragt im Kern, wie Bildungsprozesse verlaufen, wer welche Qualifikationen und Kompetenzen im Bildungssystem erwirbt, wovon dieser Qualifikations- und Kompetenzerwerb abhängig ist, und welche Auswirkungen er hat.“
Auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff müssen wir an dieser Stelle jedoch verzichten; diesbezüglich verweisen wir auf frühere Publikationen: „Bildungswissenschaften“ (Rohr & Roth, 2012) und „Kinderwelten – Bildungswelten“ (Schäfer, Staege & Meiners, 2010).
In Bezug zur ‚empirischen Beratungsforschung‘ verweisen wir auf das Buch „Von 40 Grundhaltungen und Interventionen zu 10 Prinzipien von Beratung. Ergebnisse eines 15-jährigen empirischen Beratungsforschungsprojektes“ (Rohr, 2022).
Da Marte Meo, basierend auf den von Maria Aarts herausgearbeiteten Basiselementen der Interaktion zwischen Eltern und ihren Kindern, vielseitig im Kontext von entwicklungs- und bildungsfördernden, psychosozialen Feldern angewandt wird, enthält dieses Buch vielfältige Analysen auf verschiedenen Systemebenen.
Ein wesentlicher Aspekt unserer Untersuchungen hierbei ist die Marte-Meo-Beratung.
Das Forschungsdesign unseres Projektes (siehe drittes Kapitel) ist ein Mixed-Methods-Forschungsdesign. Es umfasst fünf Phasen (siehe Abb. 1). In der ersten Phase werden eine systematische Literaturrecherche sowie hermeneutische – also konzeptuell-theoretische – Vorarbeiten durchgeführt (viertes Kapitel), die in der zweiten Phase in qualitative Interviews und Analysen (fünftes Kapitel) mündet. Es wurden alles in allem 18 Interviews durchgeführt und analysiert.
Abb. 1: Mixed-Methods-Forschungsdesign des Marte-Meo-Projektes
Zum Teil überlappend, also zeitgleich, mit der zweiten Phase haben Forscher:innen aus unserem Team in der dritten Phase in Kindertagesstätten Alltagssituationen gefilmt und dann die videografierten Beobachtungen ausgewertet (sechste Kapitel). Nach einem einheitlichen Schema haben wir über 30 Videos mit knapp 300 Filmsequenzen analysiert. Es folgte nun eine quantitative Phase mit einer Online-Befragung (siebtes Kapitel). Diese vierte Phase beinhaltet die Konzeption, Durchführung und Auswertung einer Befragung von Marte-Meo-Expert:innen mit 97 Fragen und 211 Proband:innen. Eine weitere große quantitative, vergleichende Prä-Post-Studie mit über 300 Proband:innen (Studierende mit und ohne Marte-Meo-Inhalten in der Praktikumsbegleitung) wurde ebenfalls durchgeführt, jedoch noch nicht ausgewertet (vgl. 5.3).
Auf eine umfassende Darstellung aller Teilprojekte und Phasen muss aufgrund des Umfanges dieses Buches verzichtet werden. Ebenso kann auf die fünfte und letzte Phase an dieser Stelle noch nicht eingegangen werden.
Wir werden in Kürze im Sinne einer kommunikativen Validierung Gruppendiskussionen durchführen, in dem wir die hier vorliegende Veröffentlichung ‚unseren’ Expert:innen – sowohl Marte-Meo-Expert:innen als auch ‚critical friends‘ wie z. B. systemischen und humanistischen Berater:innen – zur Verfügung stellen, sie komprimiert vorstellen und besprechen. Diese leitfadengestützten Gruppendiskussionen wiederum werden wir aufzeichnen, transkribieren, auswerten und veröffentlichen. Hierbei greifen wir auf sehr gute Erfahrungen der eigenen Evaluationsstudie eines Online-Beratungsformates (vgl. Rohr et al., 2007) sowie auf die Vorgehensweise im Genogramm-Forschungsprojektes InGeno (vgl. Rohr, 2017, Rohr et al., 2022, Aschermann, Spath & Rohr, 2022) zurück. Erst hiernach werden wir eine abschließende Interpretation der gesamten Teilergebnisse durchführen und veröffentlichen (fünfte Phase).
Zum Ende der Einleitung sei noch erwähnt, dass ich selbst kein Zertifikat einer Marte-Meo-Weiterbildung habe (vgl. 2.6), jedoch bei unzähligen Weiterbildungen (u. a. bei Maria Aarts, Christian Hawellek und Kathrin Meiners) als Beobachter und ‚critical friend‘ teilgenommen habe. Für das Forschungsprojekt – und damit dieses Buch – bringt dies Vor- und Nachteile mit sich. In Bezug zu einer ausführlichen, wissenschaftstheoretischen als auch praxisrelevanten Auseinandersetzung diesbezüglich sei verwiesen auf „Systemische Qualitative Sozialforschung – Über die Re-Konstruktion von Wissen, die Gesprächsführung bei Interviews und eine systemische Perspektive auf Gütekriterien und die Eingebundenheit von Forschenden in den Forschungsprozess“ (Gnest, Masurek & Rohr, 2021).
In diesem Kapitel erfolgt eine Einführung in das Marte-Meo-Konzept. Dabei werden der Ursprung und die Entstehung (2.1) sowie die Verbreitung von Marte Meo (2.2) fokussiert. Aufbauend auf eine Einführung in das Konzept (2.3) werden Elemente förderlicher Kommunikation (2.4) und Marte Meo als Modell (2.5) thematisiert. Abschließend werden die verschiedenen Marte-Meo-Ausbildungsformate (2.6) vorgestellt.
Mit dem primären Ziel, Eltern und anderen Bezugspersonen dabei zu helfen, auch in schwierigen Fällen gelingende Interaktion mit ihren Kindern zu führen, entwickelte Maria Aarts in den 1970er Jahren die Kernidee von Marte Meo (siehe Vorwort). Im Rahmen ihrer Berufspraxis in einem Kinderheim sah sie die Notwendigkeit, allgemeine theoretische Kenntnisse einer förderlichen Interaktion bzw. Kommunikation für Eltern und Familien in einfache Alltagssprache zu übersetzen (vgl. Bösche, 2013; Marte Meo International, 2019b). Aarts nahm an, dass jeder Mensch über ein intuitives Verhaltensrepertoire zur Unterstützung kindlicher Entwicklung verfügt (vgl. Meiners, 2012). Darum sei es lediglich notwendig, durch möglichst leicht verständliche und nachvollziehbare Informationsvermittlung statt schwerverständlicher Ausdrücke die Erziehungskompetenz zu fördern und damit zu innerem Wachstum bzw. Verhaltensveränderung zu befähigen, indem Entwicklungsprozesse angestoßen und unterstützt werden (vgl. Aarts, 2016a).
Ausgehend von diesen Gedanken und Prämissen entwickelte Aarts als Projektleiterin gemeinsam mit Harrie Biemanns gegen Ende der 1970er Jahre im Orion-Zentrum in den Niederlanden ein erstes videogestütztes Familienberatungsprogramm, das sogenannte „Orion-Hometraining“ (vgl. Aarts, 2016b; Marte Meo International, 2019b). Darüber hinaus ist Maria Aarts an einer konsequenten Weiterentwicklung der Methode interessiert. So generierte sie durch fortlaufende videogestützte Verhaltensanalysen positiv verlaufender Dialoge ein immer ausgereifteres Verständnis dessen, was sie als entwicklungsförderliche Kommunikation definiert (vgl. Aarts, 2016b). Dies führte schließlich 1987 zu der Gründung ihrer eigenen unabhängigen internationalen Firma „MARTE MEO“ (vgl. Marte Meo International, 2019b).
Mit der Bezeichnung „Marte Meo“ verweist Maria Aarts auf den zentralen Fokus des Ansatzes: eine permanente Ressourcenorientierung (siehe 4.2.2.3). Denn „mars martis“ bedeutet im Lateinischen so viel wie „etwas aus eigener Kraft“ erreichen (Aarts, 1995). Das Ziel von Marte Meo im weiteren Sinne ist es also, vorhandene Fähigkeiten zu identifizieren, zu aktivieren und weiterzuentwickeln. Konkret zielt Marte Meo darauf ab, Bezugspersonen aus komplementären Beziehungen dabei zu unterstützen, ihre Kommunikationsfähigkeiten zu (re-)aktivieren und auszubauen. Dabei sollen sie durch die Realisierung förderlicher Interaktionen unterstützt und ermutigt werden, ihre eigenen Möglichkeiten zu nutzen, um die Entwicklung des Kindes anzuregen und zu begleiten (vgl. Bünder, 2012a).
Darüber hinaus stellte Maria Aarts mit ihrer lösungsorientierten Vorgehensweise die Prämisse auf, dass Verhaltensprobleme innerhalb alltäglicher Situationen sogenannte Entwicklungsherausforderungen seien. Es gelte die „Botschaft hinter dem Problemverhalten“ zu lesen bzw. sichtbar zu machen (vgl. Aarts et al., 2005, S. 39). Diese Forderung wird durch die methodische Grundlage des Mediums Video erfüllt. Bei Marte Meo werden Videoaufnahmen, Videoanalysen und deren Bildpräsentationen so eingesetzt, dass gefilmtes alltägliches Kommunikations- und Interaktionsverhalten reflektiert und zugrundeliegende „Botschaften“ erkannt werden können (vgl. Kiamanesh et al., 2018; von Schlippe, 2015). Dieser Erkenntnis- und Verständnisprozess kann im Laufe der Beratung als Voraussetzung für Lernentwicklung und Veränderungen verstanden werden. Eine Entwicklungsförderung im Sinne der Marte-Meo-Methode kann gelingen, wenn die Bezugsperson so mit dem Kind interagiert und kommuniziert, dass dessen grundlegenden Entwicklungsbedürfnisse befriedigt werden und es bei der Erfüllung seiner momentanen Entwicklungsaufgaben unterstützt wird (vgl. Bünder, 2012a). Auch wenn die Marte-Meo-Bewegung ursprünglich nicht für die akademische Welt entwickelt wurde (vgl. Aarts, 2016b; Gill et al., 2019), hält sie dem akademischen Interesse und der Bemühung um theoretische Fundierung sowie der Suche nach zugrundeliegenden Theorien durchaus stand (vgl. von Schlippe, 2015). Und zwar verfolgt die Marte-Meo-Methode einen eklektischen Ansatz, in dem sie Komponenten bestehender Forschungsansätze neu miteinander kombiniert. Es lassen sich Grundlagen der Entwicklungspsychologie (z. B. aus Bereichen der Säuglingsforschung), der Bindungstheorie (z. B. das Konzept der Feinfühligkeit), der kognitiven Lerntheorie (z. B. ein kleinschrittiges Vorgehen sozialer Verstärkung, Kontingenzerfahrung oder das Konzept der Selbstwirksamkeit) und der Systemtheorie wiederfinden (vgl. Bünder et al., 2015). Außerdem unterstreicht Aarts (2016) die vielen Ähnlichkeiten und Parallelen zu den Theorien von Daniel Stern und seinem Fokus auf Konzepten wie Intersubjektivität, affektive Abstimmung und frühe Kommunikation (vgl. Stern, 1998, 2000, 2004).
Mittlerweile ist Marte Meo in über 50 Ländern etabliert und wird weltweit von mehr als 10.000 Berater:innen bzw. Therapeut:innen genutzt (vgl. De-Garmo et al., 2019). Die Methode findet inzwischen nicht mehr ausschließlich im Kinder- und Jugendbereich bzw. in der Elternberatung Anwendung, sondern überall dort, wo komplementäre Beziehungen vorliegen. Da etliche Konstellationen von komplementär höheren1 und komplementär niedrigeren2 Personen denkbar sind, sind die Anwendungskontexte von Marte Meo umso vielfältiger (vgl. Bünder, 2012b): von Familienberatung (z. B. bei Kindern mit auffälligen Symptomatiken, mit Behinderungen etc.), über den Einsatz in Einrichtungen und Institutionen (z. B. Jugend- und Gesundheitshilfe, Frühförderung, Kindertageseinrichtungen, Ergo- und Physiotherapie etc.) bis hin zur Supervision und der beruflichen Qualifikation und Qualitätssicherung (vgl. Bünder et al., 2015). Auf der offiziellen Website von Marte Meo International sind mittlerweile 29 zielgruppenspezifisch entwickelte Marte-Meo-Programme verzeichnet (z. B. „Marte Meo ADHD“, „Marte Meo Programs for Autism“, „Marte Meo Programs for Cry Babies“, „Marte Meo Dementia“, „Marte Meo Programs for the Depressed“, „Marte Meo Programs for Drug Users and Addiction After-Care“, „Marte Meo Programs for Elderly Care“ etc.) (vgl. Marte Meo International, 2019c). Da Marte Meo also primär zur nützlichen und anliegenspezifischen Anwendung im Alltag auf induktive Weise konzipiert wurde, betont Aarts die Notwendigkeit, Marte Meo dem jeweiligen Kontext bzw. der individuellen Beschaffenheit der Klient:innen und Situationen anzupassen (vgl. Aarts, 1995, 1996). Marte Meo ist also kein statisches Konzept mit vorgegebenen dogmatischen Prinzipien, sondern „lebt von dem unkonventionellen Geist seiner Gründerin“ (von Schlippe, 2015, S. 11).
Der Ausgangspunkt meiner Arbeit ist stets, strukturierte Marte-Meo-Konzepte für spezifische Zielgruppen in Zusammenarbeit mit Fachleuten aus den jeweiligen Arbeitsfeldern zu entwickeln. Das heißt, Konzepte, die sich auf ihre jeweilige Arbeitssituation anwenden und in ihren Arbeitskontext integrieren lassen, hervorzubringen. Ich möchte Fachleute unterstützen, auf ihre persönliche Art und Weise, ihr fachliches Wissen in Kombination mit Marte-Meo-Informationen zu nutzen, um die Entwicklungsbedürfnisse ihrer Zielgruppe zu unterstützen. So wurden von mir schon verschiedenste, auf spezielle Berufsgruppen der Prävention, Frühförderung und Behandlung abgestimmte „Marte-Meo-Informationspakete“ entwickelt.
Es erfreut mich immer wieder, auch am Ende eines erfolgreich abgeschlossenen Ausbildungszyklus zu sehen, wie verschiedene Marte-Meo-Projekte entstanden sind und wie individuell die immer wieder gleiche Marte-Meo-Basisinformation verstanden und maßgeschneidert benutzt wird. „Aus eigener Kraft“ implementieren unterschiedlichste Fachkräfte, Kulturen und Länder die Marte-Meo-Methode und profitieren vom Erfahrungsaustausch innerhalb des Internationalen Marte-Meo-Netzwerks.
Im Mittelpunkt der Marte-Meo-Methode steht die Qualität einzelner Interaktionen. Denn es ist die Qualität der Interaktionen, die die Entwicklung unterstützt und Möglichkeiten für Wachstum und Wohlbefinden schaffen kann. Diese Möglichkeiten nicht zu verpassen, sondern zur Verbesserung der Lebensqualität zu nutzen, das ist das zentrale Anliegen der Marte-Meo-Methode.
Marte Meo ist eine videobasierte Methode zur Entwicklungsunterstützung und Beratung. Sie stellt Eltern, Angehörigen und Fachkräften detaillierte und praktische Informationen zur Verfügung, wie sie Kinder, Jugendliche und Erwachsene bei der Bewältigung ihrer jeweils ganz individuellen Entwicklungsaufgaben in unterschiedlichen Lebensphasen unterstützen können. Diese Informationen werden mit Hilfe von differenzierten und sehr genauen Interaktionsanalysen aus kurzen Videoclips alltäglicher Situationen gewonnen.
Ziel der Methode ist es, Eltern, Angehörige und Fachleute zu befähigen, unterstützende Interaktions- und Kommunikationsfähigkeiten mit Hilfe der Videobilder wahrzunehmen, zu trainieren und weiterzuentwickeln, um sie dann in alltäglichen Interaktionen bewusst einzusetzen.
Marte-Meo-Information ist verstehbare und brauchbare Information
In der intensiven und langjährigen Zusammenarbeit mit Eltern habe ich die Erfahrung gemacht, dass Mütter, Väter und andere Bezugspersonen vor allem verstehbare und brauchbare Informationen darüber benötigen, wie sie Kinder bestmöglich in ihrer Entwicklung unterstützen können. Die meisten Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind. Ich verstand schnell, dass Kinder die besten Chancen in ihrem Leben haben, wenn wir mit ihren Eltern die Informationen darüber teilen, wie sie ihre Kinder bestmöglich unterstützen können.
Daraus entstand das „Marte-Meo-Eltern-Einladungsprogramm“ (siehe Vorwort). Dies bedeutet: Wenn Profis die Marte-Meo-Information in ihrem Arbeitsalltag einsetzen, teilen sie diese Entwicklungsunterstützungsinformationen mit den Eltern.
Die Marte-Meo-Methode – „Marte Meo“ – Aus eigener Kraft
Ich habe den Begriff in klassischen lateinischen Texten gefunden und eine der Bedeutungen sprach mich direkt an, nämlich „Aus eigener Kraft“. Etymologisch kommt „marte” von „mars“ und drückt damit beispielsweise „Kraft“ aus. „Meo“ kommt von „meus“ und bedeutet „mein“ bzw. „unabhängig“. Also: „Marte Meo“ kann man aus dem Lateinischen übersetzen mit: „Aus eigener Kraft“. Der Begriff „Marte Meo“ (lat.: „Aus eigener Kraft“) beschreibt das zentrale Anliegen des Programms: Fähigkeiten aufzuzeigen, zu aktivieren und zu entwickeln, die zu konstruktiver Interaktion und Entwicklung beitragen. Das Ziel von Marte Meo ist es, Menschen zu ermutigen, ihre eigene Kraft zu nutzen, um Entwicklungsprozesse voranzubringen und anzuregen. Auf diese Weise können sie Fähigkeiten entwickeln, die es ihnen ermöglichen, die Qualität ihres alltäglichen Lebens und ihren Arbeitsalltag zu verbessern.
Eine Methode zur Entwicklungsunterstützung im Alltag
Marte Meo ist eine Methode zur Entwicklungsunterstützung. Sie vermittelt praktische Kenntnisse mit Hilfe von Videoaufnahmen von Alltagsinteraktionen. Mit Marte Meo lernen Menschen Möglichkeiten zu sehen, um Entwicklungsprozesse im Alltag anzuregen und zu unterstützen.
Grundlage der Methode ist das genaue Beobachten und Analysieren von Interaktionsmomenten im Alltag. Professionell und mit Hilfe von Videointeraktionsanalysen habe ich damit Anfang der 1980er Jahre begonnen. Meine Mutter würde jedoch sagen, dass ich bereits mit 4 Jahren mit der genauen Beobachtung von Menschen begonnen habe. Sie hat noch versucht, mir dies abzugewöhnen, weil sie es unhöflich fand, dass ich die Menschen immer „angestarrt“ habe. Aber ich konnte nicht damit aufhören. Ich fand es einfach zu interessant zu beobachten, was zwischen Menschen geschieht und wie unterschiedlich dies war. Glücklicherweise hat meine Mutter noch mitbekommen, was mir das gebracht hat. Sie begleitete mich 1993 zum Abschluss eines dreijährigen Projektes in Trondheim/Norwegen. Die fünf Berufsgruppen, die ich dort trainiert habe, präsentierten auf der Bühne, was sie von mir gelernt hatten: Das genaue Beobachten mit dem Fokus auf das Erkennen von Möglichkeiten in komplizierten Situationen. Zurück im Taxi zum Hotel, sagte meine Mutter zu mir: „Maria, das war aber klug von dir, wenn du nicht mit dem Gucken aufhören konntest, deinen Beruf daraus zu machen!“
Regelmäßig sprechen mich Menschen darauf an, dass die Basisinformationen der Marte-Meo-Methode auf den ersten Blick so einfach wirken, dass sie aber bei ihrer Anwendung in der Arbeit eine so große Wirkung entfalten. Dann erkläre ich den Menschen, dass dies ein Endresultat von jahrelanger intensiver Beobachtung ist. Ich habe sehr hart daran gearbeitet, um es so einfach aussehen zu lassen. Mit viel Ausdauer und Fokussierung habe ich all die Jahre geübt, geübt und geübt und dabei immer auf die Feinheiten und Details in den alltäglichen Interaktionsmomenten geachtet. Durch die Arbeit mit vielen Familien in so vielen unterschiedlichen Kulturen und Berufsgruppen hatte ich die Gelegenheit, immer wieder detailliert zu analysieren, was genau in den Interaktionen geschieht.
Zu Beginn der Arbeit mit einer neuen Berufsgruppe, in einem neuen Land und einer neuen Kultur, habe ich mich immer erst mit der Analyse von gut funktionierenden Interaktionen in dieser Kultur beschäftigt. Das hat mir einen Rahmen gegeben, in dem ich entdecken konnte, welche unterstützenden Kommunikationsfähigkeiten noch nicht ausreichend entwickelt waren, wenn es Probleme gab.
Im natürlichen Entwicklungsprozess ist es wichtig, den Entwicklungsinitiativen des Kindes zu folgen. Um einen unterbrochenen Entwicklungsprozess zu reaktivieren, ist es deshalb von enormer Wichtigkeit, jede Entwicklungsinitiative des Kindes, der Familie, einer Fachkraft oder einer anderen Person wahrzunehmen und darauf aufbauend den natürlichen Entwicklungsprozess wiederherzustellen. Da ich die Informationen über Entwicklung aus Beobachtungen im Alltag gewonnen habe, ist die Anwendung der Marte-Meo-Informationen so passend für die Verbesserung der Qualität von Interaktionen im Alltag. Alle Programme können genutzt werden, um Handlungsmuster im Alltag zu verändern. Meiner Meinung nach finden Veränderungen vor allem im praktischen Handeln und nicht nur im Kopf allein statt.
Probleme, die uns im Leben begegnen, stellen oft auch eine Möglichkeit zu Wachstum und Weiterentwicklung dar. Häufig sehen wir sie nur als „Schwierigkeiten“ an und übersehen dabei die damit verbundene „Möglichkeit“, neue Fähigkeiten zu erlernen. An Problemen erkennen wir, welche Fähigkeiten Menschen noch nicht ausreichend entwickelt haben, um mit ihrem eigenen Leben zurecht zu kommen. So führt auch die Meisterung von Problemen zu mehr Wachstum und zur Verwandlung von Problemen in Möglichkeiten, welche die Lebensqualität verbessern. Ich bin fest davon überzeugt, dass die meisten Menschen und Familien über das Potenzial verfügen, ihre eigenen Probleme zu lösen und ihren eigenen Entwicklungsprozess zu gestalten. Marte-Meo-Professionals werden darin ausgebildet, mit Hilfe der Marte-Meo-Entwicklungschecklisten Menschen darin zu unterstützen, Wachstumsmöglichkeiten zu nutzen und den natürlichen Entwicklungsprozess wiederherzustellen. Die hierfür benötigten Informationen werden mit Videoaufnahmen aus eigenen Alltagssituationen in einem Review vermittelt. Videointeraktionsanalysen werden als Werkzeug benutzt, um diese Informationen passgenau und Schritt-für-Schritt zu vermitteln. Ein großer Teil des Trainings von Marte-Meo-Professionals ist ein spezifisches Kommunikationstraining – siehe die „Marte-Meo-Checkliste-Review“ – das darauf abzielt Menschen in Entwicklungsstimmung zu bringen. Denn: Marte-Meo-Zeit ist Entwicklungszeit!
Die Marte-Meo-Methode enthält so viele Informationen über die Struktur erfolgreicher Interaktionsmomente und unterstützenden Verhaltens, dass sich immer wieder ganz unerwartete Berufsgruppen davon angesprochen fühlten. Ich ging zunächst davon aus, dass sich die Marte-Meo-Methode nicht in der Altenpflege anwenden ließe. Als ich aber Anfang der 1990er Jahre von Mitarbeitern aus Schweden und Dänemark gebeten wurde, den Einsatz von Marte Meo in der Altenpflege zu supervidieren, nahm ich die Herausforderung an. Ich stellte es mir interessant vor, ein solches Projekt auszuprobieren und zu sehen, ob sich aus meinen Erfahrungen mit dieser Berufsgruppe ein spezielles Marte-Meo-Programm für diese Zielgruppe entwickeln ließe und zu welchen Ergebnissen dies wohl führen würde. Die Erfahrung, dass es offensichtlich möglich war, die Qualität des Lebens dieser höchst verletzlichen Menschen mit Marte Meo zu verbessern, berührte mich sehr. Die Arbeit in der Altenpflege machte mir erneut deutlich, wie das Internationale Marte-Meo-Netzwerk weltweit zu einer Quelle von Initiativen wird, die zu neuen Marte-Meo-Programmen führen.
Marte Meo wird mittlerweile von sehr vielen Berufsgruppen in ganz unterschiedlichen Arbeitsfeldern genutzt: von Frühgeborenen und Schreibabys über Kindergärten und (Förder-)Schulen bis hin zu Erwachsenenpsychiatrie und Altenpflege.
Marte Meo wurde ursprünglich nicht für die akademische Welt entwickelt. Dennoch zeigen sich verschiedene Universitäten und Wissenschaftler sehr interessiert am Einsatz der Methode in ihrem jeweiligen Arbeitsbereich. Ich bin froh darüber, dass weltweit Universitäten, Fachhochschulen und Institutionen so viel Interesse zeigen, um in Zusammenarbeit mit mir die „Marte-Meo-Information für ihre Ausbildungssysteme passend zu machen (vgl. 6.10.2).
Viele Universitäten nutzen bereits die Möglichkeit, Marte Meo als Bindeglied zwischen Theorie und Praxis einzusetzen (vgl. 5.3). Häufig wird mir berichtet, wie schwierig es für sie ist, einen Weg von der Theorie zur aktuellen Praxis zu finden und wie hilfreich sie die Marte-Meo-Methode auf diesem Weg empfinden. Darüber hinaus bekomme ich regelmäßig aus den Universitäten und Hochschulen die Rückmeldung, dass die Informationen aus der Marte-Meo-Methode hervorragend zu den neuesten Theorien über die Entwicklung von Kindern und den Ergebnissen der neurobiologischen Forschung passen. Vermutlich deswegen werden immer mehr wissenschaftliche Artikel und Thesen zur Marte-Meo-Methode und ihrer Anwendung veröffentlicht. Aktuelle Forschungen finden Sie auf unserer Website www.martemeo.com.
Mit Hilfe der Marte-Meo-Basisinformationen und den unterschiedlichsten Marte-Meo-Checklisten kann Kindern mit Entwicklungs- bzw. Verhaltensproblemen geholfen werden. Die Botschaft hinter dem auffälligen Verhalten lesen zu können, bietet uns die Möglichkeit einer auf Entwicklungsebene konsequent entwicklungsorientiert zu schauen, was das Kind braucht, statt nur auf Verhaltensebene unerwünschtes Verhalten zu beobachten und den Versuch zu machen, das Verhalten rein verhaltens- und problemorientiert zu verändern. Nur wenn es uns gelingt, die Botschaft hinter dem auffälligen Verhalten zu lesen, bekommen wir die wichtige Information darüber, was das Kind an Unterstützung braucht, um den nächsten Entwicklungsschritt zu gehen. Die Arbeit mit den Marte-Meo-Checklisten ermöglicht einen klaren Überblick über anstehende Entwicklungsschritte. Dieser Überblick ist der Anfang der Unterstützung von Eltern, Kindern und auch Fachleuten, damit Entwicklungsprozesse angestoßen oder wieder in Gang gesetzt werden können.
Die Marte-Meo-Entwicklungschecklisten sind hilfreich, um Entwicklungsbotschaften hinter auffälligem Verhalten zu lesen. Sie liefern detaillierte und konkrete Informationen darüber, wie kleine praktische Schritte in der Entwicklungsunterstützung im Alltag aussehen können.
Mein neuer Marte-Meo-Supervisionsstil: Als Supervisor:in nicht sagen, was ich sehe – sondern sagen, worauf ich achte. Während ich die Marte-Meo-Methode entwickelte, stellte ich fest, dass meine Kursteilnehmer:innen immer sehr davon beeindruckt waren, wie gut es mir gelang, in einem wenige Minuten dauernden Video so viele Informationen über die Entwicklung des Kindes und das unterstützende Verhalten der Eltern zu erkennen. Immer wieder fragten sie mich: „Wie siehst du all das?“ Ich fragte mich selbst, wonach genau ich schaute und wie ich Filme, die ich zum ersten Mal sah, betrachtete. Auf diese Weise veränderte ich meinen Supervisionsstil komplett und sagte den Marte-Meo-Trainees ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nur, was ich sah, sondern beschrieb ihnen Schritt für Schritt (Step-by-Step), worauf ich bei der Analyse der Interaktionen in den Filmen achtete! Dadurch gelang es mir, den Fokus und die Aufmerksamkeit der Kursteilnehmer:innen von der Bewunderung meines schnellen Sehens, auf die eigene erfolgreiche Entwicklung dieser Fähigkeit zu richten. So ermöglichte ich es den Trainees, die aus Marte-Meo-Sicht interessanten Momente in den Filmen selbst zu entdecken. „Aus eigener Kraft!“
Nach und nach entstanden auf diese Weise Entwicklungschecklisten für unterschiedliche Arbeitsgebiete und Tätigkeitsfelder. Diese Entwicklungschecklisten sind für Marte-Meo-Anwender ein hilfreiches Handwerkszeug. Nach Abschluss ihrer Marte-Meo-Ausbildung geben die Teilnehmer:innen häufig die Rückmeldung, sie schauen nun ganz anders auf Interaktionen: Nämlich durch eine „Marte-Meo-Brille“ (vgl. 6.2).
In ihrem beruflichen Alltag nutzen Fachleute aus dem Internationalen Marte-Meo-Netzwerk die Marte-Meo-Entwicklungschecklisten. Die Marte-Meo-Entwicklungschecklisten werden in der Familientherapie, Frühberatung, Kita, Schule, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Erwachsenenpsychiatrie, Altenpflege, in Krankenhäusern, der Behindertenhilfe und in vielen vergleichbaren Arbeitsfeldern eingesetzt.
Die Marte-Meo-Entwicklungschecklisten sind ein Analyse- und Diagnosewerkzeug. Mit ihrer Hilfe wird anhand von ausgewählten Videosequenzen aus alltäglichen Situationen eine Marte-Meo-Entwicklungsdiagnose erstellt. Die Marte-Meo-Entwicklungsdiagnose gibt Auskunft darüber, welche Fähigkeiten und Kompetenzen schon entwickelt und vorhanden sind. Sie hilft ebenso wahrzunehmen, in welchen ganz konkreten Situationen im Alltag, durch Eltern und Fachleute Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungsgelegenheiten genutzt werden können. Somit gibt man einem Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen die Gelegenheit, einen nächsten Entwicklungsschritt anzustoßen und den Entwicklungsprozess zu reaktivieren. Die ausgewählten Videosequenzen aus alltäglichen Interaktionsmomenten werden Eltern, Fachleuten und Bezugspersonen und gegebenenfalls auch den Kindern und Betreuten selbst in der Review-Sitzung vermittelt. Die Marte-Meo-Checklisten habe ich zunächst für die Arbeit mit Kindern entwickelt. Bei deren Anwendung und Weiterentwicklung hat sich jedoch schnell gezeigt, dass sie auch bei Jugendlichen und Erwachsenen erfolgreich angewendet werden können.
Das Marte-Meo-3W-Beratungssystem ist das Beratungswerkzeug der Marte-Meo-Methode. Mit seiner Hilfe werden die Marte-Meo-Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten und Unterstützungsgelegenheiten im Alltag ganz konkret vermittelt. Das betrifft auch die Informationen, die wir als „Botschaft hinter dem auffälligen Verhalten“ lesen und erkennen. Das auffällige Verhalten, das meist deutlich als Problem zu sehen ist, enthält gleichzeitig immer auch den hieraus zu „lesenden“ Hinweis auf die dahinter liegende Entwicklungsmöglichkeit. In 2005 haben meine Schwester Josje und ich das Marte-Meo-3W-Beratungssystem gemeinsam entwickelt und ausgearbeitet. Es ermöglicht die konkrete Vermittlung der Marte-Meo-Informationen im Review und folgt stets dem Muster WANN, WAS, WOZU:
WANN: In diesem Moment
WAS: Was kann man tun? Information zu unterstützenden Kommunikationsfähigkeiten
WOZU: Wozu ist es wichtig? Information zur Entwicklungsprozess-Unterstützung
Marte-Meo-Profis sind Entwicklungsspezialist:innen im Alltag. Sie lernen Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungsgelegenheiten so zu kommunizieren, dass die zu unterstützenden oder zu beratenden Menschen in Entwicklungsstimmung kommen können. Dies bedeutet, dass sie „Lust auf Entwicklung“ bekommen. Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit besonderen Bedürfnissen und deren Eltern, Angehörige, Betreuer:innen oder Bezugspersonen bieten die Marte-Meo-Checklisten eine Grundlage zur Unterstützung der Entwicklung spezieller elterlicher oder betreuerischer Fähigkeiten.
In unserer täglichen Arbeit haben wir festgestellt, dass es für Marte-Meo-Supervisor:innen, Marte-Meo-Colleague-Trainer:innen und Marte-Meo-Therapeut:innen in Ausbildung häufig schwierig war, „den Faden nicht zu verlieren“, wenn sie ihre Beratung und die Informationen für Eltern und Fachleute gleichermaßen vorbereiteten. Marte-Meo-Supervisor:innen, Marte-Meo-Colleague-Trainer:innen und Marte-Meo-Therapeut:innen in Ausbildung sollen lernen, den Blick konsequent auf Entwicklung zu richten. So können sie „einen geraden Weg gehen“, in Richtung passgenauer Beratung. Eine passgenaue Beratung, die den präzisen Gebrauch der Marte-Meo-Basisinformationen über die Unterstützung der Entwicklung spezieller Fähigkeiten beachtet. Diese Art des Fokussierens ermöglicht es ihnen, das Thema mit dem passenden Bild und der dazugehörigen Marte-Meo-Information zu verbinden. Das Marte-Meo-3W-Beratungssystem ist als Leitfaden gedacht. Sind die „3Ws“ beantwortet, führen die „3Ws“ zu konkreter und effektiver Beratung. Sie geben den Marte-Meo-Professionals Aufschluss darüber, wie die Entwicklung neuer Fähigkeiten jeweils unterstützt werden kann. In den Folgefilmen stellten wir fest, dass sowohl Eltern als auch Fachleute mithilfe des Marte-Meo-3W-Beratungssystems Kinder oder andere Personen erfolgreicher unterstützen konnten. Sie waren in der Lage, dem Kind bzw. der Person die jeweils passende Information zu geben. Eine schnellere und vor allem nachhaltigere Entwicklung war das Ergebnis.
Ich habe bereits berichtet, wie früh ich damit angefangen habe Menschen zu beobachten und, dass ich mich später professionell darauf spezialisiert habe. Von Anfang an war ich sehr beeindruckt, wie unterschiedlich Menschen aufeinander reagieren. Mein Augenmerk lag darauf, im Detail ganz genau zu schauen. Ich kann gewiss keine umfassende Darstellung vom alltäglichen Leben beschreiben. Das Leben selbst ist weit mehr als das, was sich zu Papier bringen lässt. Videofilme sind ein viel geeigneteres Medium, etwas zu veranschaulichen. „Marte-Meo-Learning-Sets“ sind Sammlungen von Videoclips, die alltägliche Interaktionsmomente zeigen und deutlich machen, wie die Marte-Meo-Informationen als Konzept in verschiedenen Arbeitsfeldern (Familie, Kindertagesstätte, Gesundheitsdienst, Pflege, Kliniken, Kinder-, Jugend-, Alten- und Behindertenhilfe etc.) und als „goldenes Geschenk“ zur Qualitätsverbesserung der Interaktionsmomente maßgeschneidert eingesetzt werden.
In den kommenden Jahren konzentriere ich mich auf die Entwicklung von „Marte-Meo-Learning-Sets“. „Marte-Meo-Learning-Sets“ sind Sammlungen von Videoclips, die alltägliche Interaktionsmomente zeigen und deutlich machen, wie die Marte-Meo-Information in verschiedenen Arbeitsgebieten als „goldenes Geschenk“ eingesetzt wird.
So entwickle ich Konzepte, wie Marte Meo in unterschiedlichen Arbeitsfeldern maßgeschneidert eingesetzt werden kann. In Familien, Kindertagesstätten, im Gesundheitsdienst, in der Pflege, in Kliniken, in der Jugend-, Alten- und Behindertenhilfe etc. Das erste „Marte-Meo-Learning-Set” beschäftigt sich mit Kleinkindern von 0–3 Jahren: „10 goldene Geschenke an Kinder.”
Die „Marte-Meo-Learning-Sets“ werden nach und nach auf www.martemeo.com veröffentlicht. Das Buch Das Goldene Geschenk mit alle Entwicklung Checkliste kann man bestellen auf www.martemeo.com.
Im Folgenden erkläre ich einige wichtige Begriffe, die insbesondere zur Vermittlung der Marte-Meo-Informationen benutzt werden:
Das „Review“ ist die Form der Beratung in der Marte-Meo-Methode. Dabei werden zur Fragestellung zuvor ausgesuchte Filmsequenzen gezeigt und mit entwicklungsunterstützender Information verknüpft.
Die Marte-Meo-Checkliste-Review ist eine Checkliste, die die Marte-Meo-Berater:innen unterstützt, die Vermittlung der passgenauen Videosequenzen auf Informations- und Kommunikationsebene zu strukturieren und den zu Beratenden in Entwicklungsstimmung zu bringen.
Anschluss und eine gute Atmosphäre sind Grundvoraussetzungen für ein gelingendes Review. Gleich zu Anfang der Sitzung kann man über alltägliche Dinge der Reviewpartner:in sprechen: Über den Kaffee, den Keks oder den Hund.
„In den Bildern sprechen“ heißt, dass Bild und Information zusammenpassen, dass die gegebene Information gleichzeitig auf dem Bild sichtbar sein muss.
In Marte Meo gehen wir davon aus, dass hinter jedem auffälligen Verhalten eine Entwicklungsbotschaft zu erkennen und zu lesen ist. Welche Entwicklungsunterstützung benötigt diese Person, um ein angemessenes Verhalten zu zeigen? Ein Beispiel: Wenn ein Kind ein anderes Kind schlägt, versuchen wir nicht in erster Linie sein Problemverhalten zu ändern, sondern wir filmen dieses Kind zusammen mit anderen Kindern in einer Spielsituation und diagnostizieren mit Hilfe der Marte-Meo-Entwicklungscheckliste „Spielfähigkeiten“, in welchen Entwicklungsbereichen das Kind noch Unterstützung benötigt, um in einer guten Art mit anderen Kindern zusammen spielen zu können.
Die Marte-Meo-Entwicklungschecklisten sind ein Analyse- und Diagnosewerkzeug. Mit ihrer Hilfe wird anhand von ausgewählten Videosequenzen aus alltäglichen Situationen eine Marte-Meo-Entwicklungsdiagnose erstellt.
Die Marte-Meo-Entwicklungsdiagnose gibt Auskunft darüber, welche Fähigkeiten und Kompetenzen aktuell schon entwickelt und vorhanden sind. Sie hilft ebenso wahrzunehmen, in welchen ganz konkreten Situationen im Alltag, Entwicklungsgelegenheiten genutzt werden können, um einen nächsten Entwicklungsschritt anzustoßen und den Entwicklungsprozess zu reaktivieren.
Mit „Goldminen“ sind die individuellen Entwicklungspotenziale, Interessen und Talente eines jeden Menschen gemeint. Sie zeigen sich in den spontanen Initiativen und wenn wir diese unterstützen, können sie sich mehr entfalten.
In Holland heißt es „Happ-Happ“, wenn man einen Löffel mit Essen zu sich nimmt. Wie das Essen vom Löffel sollte man oft und regelmäßig „gute, emotionale Momente und Komplimente essen!“ Eltern, Angehörige und Fachleute geben oft sehr viel von sich selbst und lassen viel ihrer Energie in die Arbeit fließen. Darum: „Nicht vergessen, schöne Momente essen“! Zum Beispiel: Wenn Ihnen in Alltagssituationen jemand zeigt: „Ich genieße deine Hilfe“, dann können Sie sich mit dieser Bemerkung/Erfahrung selbst emotional füttern und es wie „herrliches Essen in den Bauch sinken lassen“, als Prävention gegen Burn-Out.
Der Marte-Meo-Ansatz benennt fünf basale Elemente bzw. Verhaltensmuster und zwei Metaelemente förderlicher Kommunikation, die besagen, „worauf es in der Kommunikation ankommt“ (Bünder et al., 2015, S. 65). Eine Kommunikation wird als gelungen oder nicht bezeichnet, je nachdem wie es gelingt, diese Elemente (intuitiv) anzuwenden (vgl. Bünder et al., 2015). Folglich bieten die im Folgenden aufgeführten Elemente einer förderlichen Kommunikation einen gewissen Leitfaden bzw. eine gewisse Orientierung für die Durchführung einer Marte-Meo-Beratung (vgl. Bareis, 2013).
Im Folgenden wird erst einmal das theoretische Modell von Marte Meo nach Castello und Grotz vorgestellt, indem die inneren Strukturen und die enthaltenen Elemente des Programms kurz erläutert werden.
Dr. Armin Castello und die Diplompsychologin Marlene Grotz (2007) entwickelten im Rahmen eines wissenschaftlichen Projektes ein theoretisches Modell der Marte-Meo-Methode. Ziel des theoretischen Modells ist eine Veranschaulichung der Arbeitsstrukturen innerhalb der Methode (vgl. Castello & Grotz, 2007, S. 17).
Das theoretische Modell umfasst drei Ebenen, welche auf dem Basismodell der unterstützenden Kommunikation basieren (siehe Abb. 2). Dieses setzt sich aus fünf Kernelementen zusammen. „Entwicklung von Initiativen, wahrnehmen/folgen, benennen, positiv leiten/begleiten/unterstützen [und] bestätigen“ (ebd., S. 19). Diese stehen dabei in einer engen dynamischen Wechselwirkung zueinander und bilden einen geschlossenen Kreislauf (vgl. ebd., S. 19).
Abb. 2: Basismodell der unterstützenden Kommunikation
Auf diesem Basismodell werden drei (Beratungs-)Ebenen realisiert (Abb. 3). Zentrales Mittel aller drei Ebenen ist die Beratung mittels repräsentativer Videoaufzeichnungen kommunikativer Handlungsprozesse, dem Review. Die einzelnen Ebenen beschreiben dabei die jeweiligen Akteur:innen und Beziehungen der Beratungen. Die erste Ebene des Modells ist die „Eltern-Kind-Ebene“, in der die Eltern mit ihren Kindern in Kommunikation treten. Diese Ebene wird von dem:der Berater:in gefilmt, aufmerksam beobachtet und im Anschluss mittels einer Marte-Meo-Interaktionsanalyse ausgewertet.
In der zweiten Ebene, der „Reviewing-Ebene“, findet ein Review anhand des durch den:die Berater:in vorab analysierten und individuell ausgewählten, positiv bestärkenden Videomaterials statt. Somit werden die Eltern immer anhand gezeigter Videobilder hinsichtlich ihres kommunikativen und positiven Handelns mit ihren Kindern beraten. Die beratende Rolle nimmt dabei die Marte-Meo-Therapeut:in ein.
Die dritte Ebene, auch „Supervisions-Ebene“, findet ebenfalls anhand von Videomaterial in einem Review statt. In diesem werden die Therapeut:innen hinsichtlich des kommunikativen Handelns mit den Eltern betrachtete und analysiert. Hier findet die Beratung durch den:die Marte-Meo-Supervisor:in statt. Ziel aller (Beratungs-)Ebenen ist die positive Unterstützung im Umgang mit anderen Personen (vgl. ebd., S. 19 ff.).
Abb. 3: Drei Ebenen der Beratung
Um die Initiativen von Handlungen und kommunikativen Prozessen der jeweiligen Akteur:innen der Ebenen zu begleiten und zu unterstützen, werden die Kernelemente aus dem Basismodell entwicklungsunterstützender Kommunikation in allen Ebenen angewandt (vgl. ebd.).
Im Folgenden werden die fünf Basiselemente sowie die zwei Metaelemente mit ihren Funktionen und Bedeutungen für eine förderliche Kommunikation, in der von Aarts anfänglich gewählten Unterscheidung, ausführlicher dargestellt.
Als basale Voraussetzung einer gelingenden Kommunikation formuliert Maria Aarts das Wahrnehmen dessen, „was ist und was noch wachsen muss, um die nächsten Entwicklungsschritte zu machen“ (Bareis, 2013, S. 18). So wird in der Videoanalyse nach Initiativen bzw. Verhaltenssignalen gesucht, die auf die Bedürfnisse des Kindes schließen lassen. Die Besonderheit von Marte Meo liegt in der gezielten Aufmerksamkeit auf jeden noch so kleinen Moment, dessen Relevanz erkannt, genutzt und geschätzt werden soll (vgl. Bösche, 2013, S. 3). Dies verlangt konsequenterweise die Notwendigkeit, sich mit genügend Zeit dem Tempo des Kindes anzupassen. Dadurch, dass die Bezugsperson aktiv wartet und den Initiativen folgt, kann anschließend angemessen auf diese reagiert werden (vgl. Bösche, 2013; Bünder et al., 2015; Oberheiden, 2015).
Werden Verhaltensinitiativen wahrgenommen, gilt es dies verbal oder nonverbal (z. B. durch Nicken) zu signalisieren. Indem die Bezugsperson zustimmend auf ihr Gegenüber eingeht, verdeutlicht sie die verbale oder nonverbale Botschaft: „Ich erkenne, was du jetzt brauchst, und ich bin bereit, es dir zu geben“ (Bünder et al., 2015, S. 73). Die in dieser Rückmeldung enthaltene Beziehungsbotschaft ist elementar für die Entwicklung, da sie zum Zeigen weiterer Verhaltensinitiativen ermutigt und positives Interaktionsverhalten verstärkt (vgl. Bareis, 2013).
Neben dem Bestätigen gezeigter Initiativen wirkt ebenso das Element des „Benennens“ verstärkend. In einer förderlichen Kommunikation benennt die Bezugsperson konsequent laufende und bevorstehende Initiativen, Ereignisse, Erfahrungen und Gefühle des Kindes sowie von sich selbst (vgl. Bünder, 2012a). Das Benennen „kann eine Form von Bestätigung sein, geht aber über Bestätigen hinaus: Das Kind erhält Wörter und wird damit nicht nur implizit auf der Ebene der Wahrnehmung, sondern explizit auf der Ebene von Begriffen in Symbolwelten eingeführt“ (vgl. Meiners, 2012, S. 99 f.). Neben der Unterstützung der Sprachentwicklung werden dabei auch Kompetenzen wie soziale Aufmerksamkeit, Kontaktfähigkeit und Konzentration gefördert (vgl. Bösche, 2013). Darüber hinaus führt das Spiegeln von Gefühlen dazu, dass das Kind sich selber besser kennen und seine Gefühle zu regulieren lernt (vgl. Bareis, 2013).
Schon kurz nach der Geburt beginnt die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit zum sogenannten „Turntaking“, des „Sich-abwechseln-Könnens“ (Bareis, 2013). In einer förderlichen Interaktion wird diese Fähigkeit vertiefend unterstützt, damit das Kind lernt, sich als Teil einer sozialen Gemeinschaft angemessen zu verhalten. Hierbei liegt der Fokus darauf, dass alle Gesprächsteilnehmer:innen Beachtung finden und dann agieren, wenn sie an der Reihe sind (vgl. Aarts, 2016b). Je nach Situation kann ein Kind entweder angehalten werden, abzuwarten und zuzuhören oder ermutigt werden, sich zu äußern (vgl. Bünder et al., 2015). So lernen die Kinder, dass sich Handlungen in Interaktionen aufeinander beziehen und eine auf die Nächste folgt (vgl. Bünder, 2012a).
Eine der Aufgaben der Bezugsperson ist es, das Interaktionsgeschehen mit allen seinen Facetten zu steuern. Im Wesentlichen besteht dieses Steuern aus den drei folgenden Aspekten: Erstens sollen eindeutige Anfangs- und Endsignale einer Handlungsepisode aufgezeigt werden, was das Lernen zeitlicher Rahmenstrukturen bestimmter Abläufe (z. B. Beginn und Ende des Erledigens der Hausaufgaben) ermöglicht. Zweitens soll das Kind angeleitet werden, bestimmte Handlungsabläufe selbstständig durchzuführen. Dabei werden konkrete Fähigkeiten vermittelt. Schließlich sollen klare Regeln aufgestellt und sinnvolle Grenzen gesetzt und aufgezeigt werden. Dadurch wird ein orientierungsschaffender Rahmen gezogen, der Kontinuität und Vorhersagbarkeit in Abläufen ermöglicht (vgl. Aarts et al., 2005; Bünder et al., 2015). So bewirkt die Bezugsperson, „Kinder zu sozialen Wesen zu machen, sie mit den gesellschaftlichen Regeln und Normen so vertraut zu machen, dass sie in der Gesellschaft ihren Platz finden können“ (Bareis, 2013, S. 20).
Zur Sicherstellung einer wertschätzenden und fehlerfreundlichen Atmosphäre während eines Marte-Meo-Beratungsprozesses werden zwei Meta-Elemente als Voraussetzung aufgestellt. Sie treten nie isoliert auf und tragen entscheidend dazu bei, dass eine Kommunikation gelingt (vgl. Bünder et al., 2015).
Der Tonfall der Stimme als grundlegender Überlieferer von Beziehungsbotschaften bestimmt die Qualität und den Verlauf einer Interaktion. Je nach Ton wird eine Kommunikation unterschiedlich erlebt. Zum Beispiel vermittelt eine aufgeregte, scharfe Stimme inneren Druck und Unsicherheit, eine helle, lockende Stimme aktiviert oder eine feste Stimme gibt Trost und Halt. Hingegen werden Alltagssituationen, in denen Stimmeinsatz fehlt bzw. nur bei Kritik auftritt, als massiv negativ erlebt (vgl. Bünder et al., 2015).
Daher sollte der Grundton der Stimme sowie der Einsatz verschiedener Tonlagen je nach Inhalt und Anlass der Situation möglichst differenziert gestaltet werden. So kann die Stimme „je nach Situation lenkend, einladend, aufmerksam, freudig, beruhigend, aufmunternd oder grenzsetzend sein“ (Bünder et al., 2015, S. 86). Grundsätzlich wird ein ruhiger, warmer Ton empfohlen, der dem Kind Übersicht, Sicherheit und Klarheit vermittelt. Folglich ist ein Ziel von Marte Meo das Bewusstwerden der Bedeutung von Stimme und Ton für die Kommunikation. Praxisnah wird die Stimme so lange geübt bis sich der gefundene Klang und die Worte passend und angemessen anfühlen, um sie folglich in konkreten Alltagssituationen anzuwenden (vgl. Bünder et al., 2015).
Kommunikation gelingt dann, wenn durch die Art eines Dialogs ein Höchstmaß an Klarheit und Übereinstimmung erzielt wird. Übereinstimmung wird durch ein zustimmendes Ja gepaart mit einem freundlichem Gesicht und einer insgesamt freundlichen, zugewandten Haltung und Gestik signalisiert (vgl. Bareis, 2013; Bünder et al., 2015). Marte Meo zielt auf eine Kommunikation ab, die von dieser offenen, zustimmenden Haltung, in der die Zahl der Ja-Aussagen, die der Nein-Aussagen deutlich übersteigt, geprägt ist. Diese „Ja-Reihen“ (Aarts, 2016b, S. 214) führen dazu, dass sich alle Beteiligten in der Kommunikation wohlfühlen und der Umgang als respektvoll und förderlich erlebt wird (vgl. Bünder et al., 2015).
Da Marte Meo einen konzeptuellen Rahmen entwicklungsförderlicher Kommunikation bietet, wird die ursprünglich von Maria Aarts konzipierte Methode vermehrt auch als theoretisches Modell psychosozialer Entwicklung betrachtet (vgl. Bösche, 2013; Bünder & Sirringhaus-Bünder, 2008; Bünder et al., 2015; Hawellek, 2008; Øvreeide & Hafstad, 1996; Sirringhaus-Bünder, 2006). Marte Meo liefert modellartiges Anwendungswissen „über die jeweilige Unterstützung von Entwicklungsprozessen und die jeweilige Entwicklung von Unterstützungsprozessen. In der Regel führen Schwierigkeiten bei der Koppelung beider Prozesse zum Aufsuchen professioneller Hilfen“ (Hawellek & von Schlippe, 2011c, S. 29).
Insgesamt scheint die Unterscheidung der Begriffe zwischen Modell und Methode in der Literatur nicht absolut trennscharf zu sein. Nichtsdestotrotz will an dieser Stelle betont werden, dass man zwischen der „Marte-Meo-Haltung“ (Bösche, 2013, S. 10) bzw. dem „Marte-Meo-Blick“ und der konkreten Marte-Meo-Kommunikations- bzw. Beratungsmethode unterscheiden kann. Letztere darf als international geschützte Ausbildungsbezeichnung nur durch jene Personen durchgeführt werden, die mindestens über eine Marte-Meo-Lizensierung (siehe 2.6) des Levels Marte-Meo-Colleague-Trainer:in, Marte-Meo-Therapist oder höher verfügen (vgl. Marte Meo International, 2019a).
Die Marte-Meo-Methode liefert als niederschwelliges, videobasiertes Beratungsangebot methodisch konkret umsetzbare Handlungshilfen (vgl. Bünder, 2011). In einem solchen Beratungsprozess werden die (in 2.4 genannten) Elemente förderlicher Kommunikation verständlich eingeführt und abhängig vom Videomaterial individuell und wertschätzend besprochen. So können sich je nach Anliegen des:der Klient:in verschiedene Beratungsschwerpunkte bilden (vgl. Bünder, 2012b). Typische Beratungsanliegen, die sich in einem Erstgespräch aufzeigen, können sich einerseits auf die Beziehungsstruktur innerhalb einer Dyade (oder Gruppe) und andererseits auf ein problematisches, symptomatisches Verhalten innerhalb einer Interaktion beziehen (vgl. Bünder et al., 2015). So wird die Marte-Meo-Beratung flexibel auf die jeweilige Klient:in und ihr Anliegen sowie den jeweiligen Kontext angepasst (vgl. Aarts et al., 2005). Die Auftragsklärung, die den Beratungsanlass, eine Sozialanamnese und die Ziele bzw. Anliegen des:der Klient:in berücksichtigt, sollten als Beratungsgrundlage schriftlich in einem verbindlichen Kontrakt formuliert und festgeschrieben werden (vgl. Bünder et al., 2015).
Anschließend werden (in Folgesitzungen) problemspezifische Alltagssituationen ausgewählt und kurze Szenen dieser Interaktionssituationen gefilmt. Diese Szenen dauern meist 10 - 15 Minuten und werden dort aufgenommen, wo sie die alltägliche Situation einer Interaktion (zwischen 2 oder mehr Personen) am authentischsten abbilden (z. B. im häuslichen Kontext oder in Organisationen und Einrichtungen etc.) (vgl. Bünder et al., 2015). Diese Videoaufnahmen, so betont Hawellek (2014), seien keineswegs neutral. Durch die Sequenzauswahl und die Art der Kameraführung könne bereits ein direkter Einfluss auf die Erfahrungen der Beobachterinnen genommen werden (vgl. Hawellek, 2014, S. 46). Daher sollen die Filme so erstellt werden, dass in den ausgewählten Alltagsszenen die Fähigkeiten und Ressourcen beider Interaktionspartner:innen erkennbar werden. So sollte, wenn möglich, eine Videoaufnahme im Vorhinein geplant werden und je nach Fragestellung darauf geachtet werden, welche Situationen gefilmt werden sollten. Man unterscheidet hier zwischen der sogenannten „regelgeleiteten oder aufgabenorientierten Situation“ und der „spiel- und spaßorientierten“ Situation (Bünder et al., 2015, S. 106). Als aufgabenorientiert werden alle Momente verstanden, deren Ablauf strukturiert und durch Regeln und Vorgaben geleitet sind (z. B. Hausaufgaben erledigen, Mahlzeiten). Als freie, spielorientierte Situationen gelten solche, in denen keine Leistungsanforderungen sondern Spiel und Spaß und gestaltungs- und entscheidungsfreies Handeln im Fokus stehen (vgl. Bünder et al., 2015).
Folgende zwei Elemente von Marte Meo als Beratungsmethode sind essentiell: die „Videointeraktionsanalyse“ (vgl. 2.4.1), in welcher vorhandene Initiativen, Bedürfnisse und Ressourcen exploriert, elementare Beobachtungssequenzen selektiert und Entwicklungsfelder abgeleitet werden (vgl. Bünder, 2011; Oberheiden, 2015), sowie das „Review“ (vgl. 2.4.6), das eigentliche Beratungsgespräch bzw. die Intervention (vgl. Bünder et al., 2015). So werden Schritt für Schritt Veränderungen verdeutlicht und eingeübt. Mithilfe von Follow-up-Videoaufnahmen, erneuten Videointeraktionsanalysen und Reviews können in einer sogenannten „therapeutische(n) Spirale“ (Hawellek & von Schlippe, 2011, S. 28) differenzierte Verhaltensveränderungen erzielt werden.
Heutzutage bieten vielfältige Medien neue Technologien, die auch in der Therapie und Beratungsarbeit als Hilfsmittel eingesetzt werden (vgl. Hawellek & von Schlippe, 2011, S. 23; Rohr, 2017). In alltäglichen Settings angefertigte Videos dienen als Medium, anhand dessen beraten wird. Diese Videos werden von der:dem Berater:in vor der Rückmeldung an die Klient:innen analysiert und in der Regel geschnitten. Mit der sogenannten Videointeraktionsanalyse (VIA) wird kleinschrittig analysiert, inwieweit die Beteiligten entwicklungsförderliche Kommunikation bereits intuitiv anwenden und in welchen Bereichen sie noch konkrete Unterstützung benötigen. Die oftmals kleinen Momente, welche die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen der Beteiligten zum Vorschein bringen, gilt es bei der VIA als Beratungsmethode zu erkennen und für die Beteiligten sichtbar zu machen. Auch psychologische Prozesse können anhand der Aufnahme sehr exakt und unmittelbar beobachtet und analysiert werden (vgl. Hawellek & von Schlippe, 2011, S. 23). Durch das Medium Video werden Aspekte der menschlichen Entwicklung und der Interaktion sichtbar, die ohne diese Aufnahmen nicht in einer solchen Detailtreue zu erkennen wären (vgl. ebd.) Auf dieser Grundlage können die Eltern ihre positiv wirksamen Kommunikationsmomente anschauen, nachvollziehen und somit lernen, sich damit zu identifizieren. Das Ziel ist, dass das gewonnene Wissen von den Eltern in ein konkretes positives Handeln umgewandelt wird (vgl. Puschmann, 2012, S. 1 f.).
Zur strukturierten Vorbereitung auf das Review führen Marte-Meo-Berater:innen eine Videointeraktionsanalyse (VIA) durch. Die Art und Weise, mit der diese durchgeführt wird, kann maßgeblich die Qualität der Beratung beeinflussen (vgl. Bünder et al., 2015). Nach Aarts et al. (2005) erfordert die professionelle Anwendung der VIA viel Übung, um die komplexen Abläufe einer Interaktionssequenz sorgfältig und gründlich analysieren zu können. „‚Einfach‘ hinschauen und sehen ist eine äußerst komplizierte Angelegenheit“ (Aarts, 2016b, S. 32). Dies verdeutlicht sie am Beispiel des Strickens: man solle „Probleme zerlegen – Schritt für Schritt vorgehen – beim Einfachen beginnen“ (Aarts et al., 2005, S. 50).
Die wesentliche Aufgabe besteht darin, ein individuelles Modell zur Strukturierung von Information zu schaffen und ein Verständnis über den Ist-Zustand der aktuellen Kommunikation zu generieren. Dafür werden aussagekräftige Bilder und Videosequenzen, welche möglichst gelungene Interaktionsmomente oder Hinweise zu Entwicklungsbedarfen beinhalten, ausgewählt und diese mit passenden Kommentaren und Botschaften versehen (vgl. Aarts, 2016b; Bünder et al., 2015). So beabsichtigt die VIA auf lösungsorientierte Weise „die Dekonstruktion ‚des Problems‘ und die Illustration von Lösungen“ (Hawellek, 1997, S. 130).
Nach Hawellek (2008) kommt der VIA eine diagnostische Bedeutung zu. Durch die präzise Beschreibung sichtbarer Fertigkeiten und Anforderungen beider Interaktionspartnerinnen werden individuelle Entwicklungs- und Kommunikationsprozesse sowie alltägliche Organisationsprozesse exploriert. Die Tatsache, dass in der Regel alltägliche Interaktionsmomente untersucht werden, erleichtert die Beurteilung der familiären und sozialräumlichen Lebensweise der Klient:innen im Vergleich zur rein verbalen Exploration im Interview.
Das gefilmte Verhalten beider Interaktionspartner:innen wird analysiert und dabei neben Sprache auch insbesondere auf nonverbale Signale wie die Körperhaltung, Gesten, den Gesichtsausdruck, den Rhythmus und den Tonfall geachtet (vgl. Aarts, 2016b). Bei dem Kind geht es darum, Verhaltensinitiativen zu erkennen und daraus Entwicklungsbedürfnisse abzuleiten (vgl. Bösche, 2013). Verhaltensinitiativen wie Kontakt-, Erkundungs- und Ausdrucksignale werden herausgesucht und dahingehend bewertet, ob sie situations- bzw. altersangemessen sind oder ob sie Entwicklungsbedarf anzeigen. Auf der anderen Seite wird das Kommunikationsverhalten der Bezugsperson fokussiert. So wird zum Beispiel überprüft, inwieweit Initiativen wahrgenommen, bestätigt oder benannt werden. Hinsichtlich der von Marte Meo aufgestellten Elemente förderlicher Kommunikation (siehe 2.4) wird eingeschätzt, wo, wie und wann sich das Verhalten förderlich auf die vermuteten Entwicklungsbedürfnisse (der komplementär niedrigeren Person) auswirkt (vgl. Bünder et al., 2015). So können anhand authentischer Bilder Verhaltensmodelle veranschaulicht werden und für die Klient:innen so aufbereitet werden, dass sie diese verstehen und verinnerlichen.
Die VIA bedient sich vier wesentlicher Werkzeuge: dem „Marte-Meo-3W-Beratungssystem“, den internalen Arbeitsmodellen, der Entwicklungsdiagnose sowie der Arbeits- bzw. Checklisten, welche im Folgenden erläutert werden (vgl. 2.3).
Um möglichst praxisnah nach einem Ausganspunkt für Veränderung zu suchen bzw. Arbeitspunkte zu formulieren, kommt das sogenannte „Marte-Meo-3W-Beratungssystem“ beziehungsweise die Fragen „Wann? – Was? – Warum?“ zum Einsatz. Im Konkreten werden also Fragen zu Mikroereignissen im Video gestellt, die beleuchten, was eine Person wann tut und wozu dies wichtig ist, zum Beispiel: „Was macht die Bezugsperson?“, „Wann tut sie es?“ und „Warum tut sie es?“ oder „In welcher Weise ist diese Aktion wichtig für die Entwicklung des Kindes?“. Durch diese kleinschrittige Analyse können mithilfe des Videomaterials und bereits gezeigten positiven Verhaltens, Lösungen identifiziert werden (vgl. Aarts, 2008; Oberheiden, 2015).
Des Weiteren suchen die Marte-Meo-Berater:innen in den zu analysierenden Videosequenzen nach konkreten Verhaltensweisen, die sich als sichtbarwerdende Repräsentanzen internaler Arbeitsmodelle4 interpretieren lassen (vgl. Hawellek, 2008). Es wird also analysiert, wo und wie das Kind den Anforderungen der Umwelt mithilfe von internalen Arbeitsmodellen altersbezogen und angemessen gerecht wird. Gleichzeitig wird das Verhalten des:der Klient:in als Bezugsperson dahingehend beobachtet, inwieweit es gelingt, ein gutes Beispiel für ein erfolgreiches Modell darzustellen. Marte Meo unterscheidet vier Modelle: das Kooperations- bzw. Austauschmodell (Sicherung gemeinsamer Zielerreichung, altersgerechter Kommunikation), das Aktionsmodell (Sicherung kleinschrittiger konzentrierter und erfolgreicher Ausführung von Alltagshandlungen), das Problemlösungsmodell (Sicherung der selbstsicheren Bewältigung herausfordernder Aufgaben) und das Konfliktlösungsmodell (Sicherung angemessener Reaktionen auf Konflikte und respektvoller Kompromissfindung) (vgl. Bünder et al., 2015).
Auf der Grundlage des durch die VIA erarbeiteten Verständnisses über das Kommunikationsverhalten beider Interaktionspartner:innen formulieren die Marte-Meo-Berater:innen eine sogenannte Entwicklungsdiagnose, auf die sich die Inhalte und die Struktur der Beratung beziehen (vgl. Bünder et al., 2015). Diese Entwicklungsdiagnose versteht sich als eine momentane und veränderbare Beschreibung des Ist-Zustands im Sinne einer Arbeitshypothese. Sie beschreibt, „wie die Initiativen des Kindes und das Verhalten der Eltern aufeinander abgestimmt sind bzw. wie sie zueinander passen“ (Bünder et al., 2015, S. 114). Nachfolgend beginnt der eigentliche Beratungsprozess und es wird erarbeitet, was die Klient:innen benötigen, um eine Verhaltensveränderung bzw. eine bessere Entwicklungsförderung zu erreichen (vgl. Aarts, 2016b). Dafür wird mithilfe der Entwicklungsdiagnose eine sogenannte Arbeitsliste erstellt, in der die notwendigen bzw. wünschenswerten Lern- und Entwicklungsfelder für beide Interaktionspartnerinnen in Absprache mit dem:der Klient:in festgehalten werden (vgl. Bünder et al., 2015). Durch das Verschriftlichen der individuellen, möglichst nicht zu umfangreichen Arbeitsthemen können Fortschritte messbar gemacht werden. Hier sollte das Vorgehen kleinschrittig und die Arbeitsthemen nicht zu umfangreich aufgestellt werden, um eine motivationsfördernde Zielerreichung zu gewährleisten (vgl. Bünder et al., 2015).
Vor dem eigentlichen Review analysieren die Marte-Meo-Therapeut:innen das Videomaterial kleinschrittig. Dies erfolgt in vier Schritten (vgl. Bünder et al., 2013b, S. 109). Diese vier Schritte sind die Grundsteine der Videointeraktionsanalyse, auf denen dann die weiteren Arbeitsschritte sowie das nachfolgende Review aufbauen.
Zunächst liegt das Augenmerk der Marte-Meo-Therapeut:innen auf möglichen Entwicklungsbedürfnissen des Kindes. Dazu werden zunächst die Initiativen sowie das Verhalten des Kindes betrachtet. Es wird in diesem Prozess speziell darauf geachtet, ob das Kind altersentsprechend entwickelt ist und auch dementsprechende Verhaltensweisen zeigt. Deshalb werden sowohl die Kontakt-, als auch die Erkundungs- und die Ausdruckssignale des Kindes genau in Augenschein genommen (vgl. ebd.).
Weiter wird analysiert, ob die Eltern die Initiativen ihrer Kinder
wahrnehmen
und wie sie auf diese reagieren. Insbesondere wird darauf geachtet, ob die Eltern ihre Kinder
bestätigen
. Zudem ist es wichtig festzustellen, ob und in welcher Weise die Eltern die Emotionen ihres Kindes
wahrnehmen
und auch korrekt
benennen
können (vgl. ebd.).
Anschließend wird das elterliche Verhalten eingeschätzt. Dabei wird beobachtet, ob die Eltern eine förderliche Kommunikation im Sinne der Basiselemente verwenden (vgl.
2.4.1
). Außerdem wird in diesem Punkt auch analysiert, inwiefern die Eltern für das Kind ein positives Vorbild darstellen und ob sie den Kindern eine hilfreiche Struktur im Alltag vorgeben (vgl. ebd., S. 110).
Im letzten Schritt wird von Marte-Meo-Therapeut:innen herausgearbeitet, welche Punkte die Eltern noch erarbeiten und erlernen müssen. Dies können beispielsweise Kommunikationselemente sein, mit denen die Eltern noch Schwierigkeiten in der Umsetzung haben (vgl. ebd.).
Folgendes Schaubild veranschaulicht diese vier Schritte der VIA:
Abb. 4: Struktur der VIA (Bünder et al., 2015, S. 113)
Damit eine erfolgreiche Vorarbeit für das Review gelingen kann, muss eine Vielzahl von Aspekten beachtet werden, welche im nachfolgenden Unterkapitel beschrieben werden.
Die Werkzeuge und Hilfsmittel, die für die Erstellung einer VIA herangezogen werden, leisten einen wichtigen Beitrag für das anschließende Review und stehen somit in unmittelbarem Zusammenhang mit der Beratungsmethode. Im folgenden Abschnitt werden die Analysetabelle, Kommunikationsmodelle, Checklisten und die Marte-Meo-Entwicklungsdiagnose näher erläutert.
Weiter dienen Modelle als Werkzeuge für die Erstellung der VIA (vgl. Bünder et al., 2015, S. 115) herauszufinden, was sich ein Kind aneignen müsse, um mit sich selbst und mit anderen angemessen umgehen zu können, sowie zu einer positiven Entwicklung zu gelangen. Daher wird in der Vorbereitung eines Reviews geschaut, welche der folgenden Modelle das Kind bereits anwendet und welche es noch entwickeln sollte (vgl. ebd.):
Das
Kooperations- und Austauschmodell