Geronimo - Leon de Winter - E-Book

Geronimo E-Book

Leon de Winter

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Beschreibung

»Geronimo« lautete das Codewort, das die Männer vom Seals Team 6 durchgeben sollten, wenn sie Osama bin Laden gefunden hatten. Doch ist die spektakuläre Jagd nach dem meistgesuchten Mann der Welt wirklich so verlaufen, wie man uns glauben macht? Ein atemberaubender Roman über geniale Heldentaten und tragisches Scheitern, über die Vollkommenheit der Musik und die Unvollkommenheit der Welt, über Liebe und Verlust.

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Seitenzahl: 470

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Leon de Winter

Geronimo

Roman

Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers

Diogenes

{5}Für Jes, Moos & Moon,

die das Leben

erstrahlen lassen

{7}Jede Übereinstimmung mit tatsächlichen Personen, Organisationen, Ereignissen oder historischen Fakten beruht auf bloßem Zufall.

{9}Telefongespräche Februar 2012

TOM JOHNSON und VERA BARRANCO

V:

Vera Barranco.

T:

Hallo, Vera.

V:

Tom?

T:

Ja, hi.

V:

He, Tom, ich dachte mir schon, dass du um diese Zeit herum anrufen würdest.

T:

Ja, ich dachte, ich will dich mal kurz anrufen.

V:

Ja, schön. Gut. Puh, ich muss kurz umschalten.

T:

Warst du gerade mit irgendwas beschäftigt?

V:

Ich erwarte gleich einen wichtigen Kunden. Aber ein Minütchen habe ich schon noch für dich. Wie geht’s? Was machst du? Wohnst du noch in London?

T:

Alles okay. Ich schau mich ein bisschen um. Ganz entspannt, glaube ich.

V:

Was ist das für eine Nummer? Von wo rufst du an?

T:

Ich bin jetzt in Israel.

V:

Ach. In Tel Aviv?

T:

Ja, für ein paar Wochen.

V:

Da tut sich viel in der Kunstszene, ich müsste eigentlich auch mal für ein paar Wochen hin. Aber dich sehe ich nicht unbedingt die Galerien ablaufen.

T:

Unterschätz mich nicht.

{10}V:

Habe ich nie getan.

T:

Und du, alles gut?

V:

Ja. Wirklich gut.

T:

Und deine Tochter? Wie alt ist sie jetzt? Ein Jahr, nicht?

V:

Ja, sie ist gerade ein Jahr alt geworden. Sie ist ein Segen. Ich habe deinen Eltern Fotos gemailt, hast du sie gesehen?

T:

Nein, nein.

V:

Ich mail sie dir. Habe ich deine Mailadresse?

T:

Die alte AOL-Adresse tut’s noch.

V:

Sie ist ganz ihr Vater. Oder hätte ich das nicht sagen dürfen?

T:

Wir sind schon sechs Jahre geschieden, du kannst alles sagen.

V:

Was hast du gestern gemacht?

T:

Nichts Besonderes.

V:

Wirklich nicht?

T:

Nein, nichts. Ich hatte nur so eine Idee …

V:

Was?

T:

Es ist viel passiert in den letzten drei, vier Jahren, oder eigentlich schon seit damals natürlich, mit uns und … und mit Sarah, und ich dachte, ich schreibe das mal alles auf.

V:

Warum?

T:

Um das Ganze abzurunden.

V:

Für ein Buch?

T:

Nein, nur für mich. Zur Vervollständigung. Um Klarheit zu gewinnen.

V:

Aber doch wohl kein Buch, oder?

T:

Kein Buch. Nur so etwas wie buchhälterische Vollständigkeit.

{11}V:

Wenn das hilf‌t, ja, warum nicht?

T:

Das dachte ich auch. Nicht, um es zu veröffentlichen.

V:

Wozu sollte das gut sein?

T:

Eben. Was hast du gestern gemacht?

V:

Ganz normal gearbeitet. Zwischendrin geweint. Sonst nichts Besonderes.

T:

Sie wäre neun geworden.

V:

Ich weiß, Tom.

T:

Ich hätte doch gern noch einmal …

V:

Noch einmal was?

T:

Es ist schiefgelaufen zwischen uns, weil wir vielleicht nicht genug darüber geredet haben.

V:

Du klingst jetzt ein bisschen wie ’ne zickige Psychotante. Entschuldige, wenn ich das sage.

T:

Wir haben nie richtig darüber geredet.

V:

Wir haben bis zum Umfallen darüber geredet.

T:

Für mein Empfinden nicht. Ich hab’s nicht kapiert.

V:

Wir haben geredet und geredet und geredet. Wir wissen, woran es zerbrochen ist, mein Lieber.

T:

Woran?

V:

Schuldgefühle. Daran ist alles zerbrochen. Bei jedem von uns auf seine Weise. Aber für mich ist das passé. Ich habe gestern sehr, sehr lange geweint und an Sarah gedacht, und zwischendrin habe ich mein Baby an mich gedrückt. [Ja, ich komme!] Mein Kunde ist da, Tom, tut mir leid. Rufst du ein andermal an?

T:

Mach ich. Viel, viel, whatever, Glück, Erfolg!

V:

Dir auch!

*

{12}V:

Tom?

T:

Vera? Hallo.

V:

Oh, entschuldige, mir fällt plötzlich ein, shit, bei dir muss es ja mitten in der Nacht sein. Wie spät ist es dort jetzt?

T:

Mal schauen. Halb fünf. Morgens.

V:

Oh, das tut mir leid, daran habe ich überhaupt nicht gedacht.

T:

Macht nichts. Ich bin immer früh auf. Gehe hier um sechs Uhr raus, am Strand spazieren.

V:

Wohnst du in einem schönen Hotel?

T:

Ich hab über Airbnb ein kleines Apartment gemietet.

V:

Ist das gut? Hab ich noch nie gemacht.

T:

Warum solltest du auch, du bist ja steinreich. Aber einfache Landstreicher wie ich müssen das wohl oder übel, wenn sie irgendwo ein paar Wochen bleiben wollen. Man muss genau hingucken, wenn man sich etwas aussucht, aber ansonsten geht das prima. Ich wohne ganz zentral, mit schöner Dachterrasse und Blick über die Stadt. Hab keine Vorhänge im Schlafzimmer, das ist doof, aber sonst alles okay. Woher hast du meine Telefonnummer?

V:

War in der Anrufliste von heute morgen.

T:

Wie ist es gelaufen mit deinem Kunden?

V:

Ich habe ihm die Arbeiten eines jungen Malers gezeigt. Einer von hier. Großes Talent. Indianische roots. Halb abstrakt, halb figurativ. Der Kunde ist ein großer Sammler. Er kommt morgen noch mal wieder. Macht eine kleine Tour durch die Galerien hier. Ich bin zuversichtlich. Der Künstler wird selbst dabei sein. Er hätte {13}eigentlich heute Morgen schon dabei sein sollen, aber da hat er im Guesthouse seinen Rausch ausgeschlafen.

T:

Deinem Guesthouse?

V:

Ja, wir haben ein Guesthouse. Und nicht nur eines, sondern drei. Ist nicht ungewöhnlich in Ricks Gesellschaftsschicht.

T:

Hast du einen Chauffeur?

V:

Nein, ich fahre selbst, Tom. Höre ich da so etwas wie Neid?

T:

Ich gönne es dir. Wie Rick das geschafft hat, ist mir ein Rätsel. Phantastisch.

V:

Ja, er ist unglaublich.

T:

Ja.

V:

Ja.

T:

Wie gut, dass du anrufst.

V:

Ja, ich dachte, ich ruf dich zurück. Das Gespräch heute Morgen war ja doch ein bisschen komisch.

T:

Ja. Ich dachte, ich muss dich anrufen, Sarahs Geburtstag, wie sonst.

V:

Ja, ist gut, ist nicht schlimm, wirklich.

T:

Ich hocke hier rum und starre irgendwie monomanisch vor mich hin, und da dachte ich …

V:

Kennst du denn dort niemanden?

T:

Doch, doch. Ich habe Kontakte und so. Ich brauche mich nicht zu langweilen.

V:

Du wolltest Dinge aufschreiben.

T:

Ja, aber das klingt so offiziell. Es ist einfach nur für mich. Nichts Besonderes.

V:

Über damals?

T:

Ja. Damals.

{14}V:

Du musst nach vorne sehen, Tommy. Wirklich. Wie steht es um deine Gesundheit?

T:

Geht. Alles funktioniert. Aber wenn ich ein paar Stunden auf den Beinen war, bin ich echt müde. Ich fahre viel Fahrrad.

V:

Ach. Da kann man Fahrrad fahren?

T:

Ja, eine echt gute Stadt zum Radfahren. Echt gut. Es gibt auch einen schönen Weg am Strand entlang. Fährst du da drüben auch Rad?

V:

Nein. Wenn wir in L.A. sind, schon, aber nicht hier.

T:

Habt ihr auch ein Haus in L.A.?

V:

In den Palisades, ja. Mit Blick auf den Pazifik. Bin gern dort.

T:

Das kann ich mir vorstellen.

V:

Und, äh, hast du schon angefangen zu schreiben?

T:

Nein, noch nicht.

V:

Ich möchte eigentlich nicht mehr daran denken, Tom. Gestern schon, natürlich. Dann denke ich nur an sie. Aber sonst … So wenig wie möglich. Und das heißt nicht, dass ich Sarah nicht geliebt habe. Im Gegenteil. Alles tut weh.

T:

Das verstehe ich, Liebling.

V:

Aber durch deinen Anruf, verstehst du?

T:

Verstehe ich.

V:

Es gibt wirklich Wochen, in denen ich keine Sekunde daran denke, dass sie nicht mehr da ist.

T:

Ja, wie gut.

V:

Manchmal schon. Tagelang. Aber manchmal auch nicht. Dann ist er weg, der Schmerz.

T:

Das machst du gut.

{15}V:

Ich weiß nicht. Es geht von selbst. Und du?

T:

Weniger, glaube ich.

V:

Weniger?

T:

Ja. Es gibt so Phasen. Da überfällt es mich richtig, da ist es wieder da. Alles.

V:

Ja?

T:

Ja.

V:

Du hast niemanden.

T:

Wie meinst du das?

V:

Ich meine: Vielleicht hättest du auch wieder heiraten sollen. Oder klingt das abwegig?

T:

Denkst du an jemand Bestimmtes?

V:

Bevorzugst du bestimmte Maße?

T:

Die kennst du.

V:

Ja. Entschuldige. Ich hätte nicht davon anfangen sollen.

T:

So geht das eben, das weißt du doch.

V:

Ja.

T:

Es hat dir geholfen, ein neues Leben.

V:

Ich wäre sonst verrückt geworden. Dass du nicht verrückt geworden bist!

T:

Ich bin verrückt geworden, Liebste.

V:

Nein. Du bist ein Held. Was du getan hast!

T:

Und was du getan hast, damals.

V:

Ich möchte nicht daran denken, Tom.

T:

Ich auch nicht.

V:

Aber du denkst die ganze Zeit an sie, nicht?

T:

Na ja, die ganze Zeit. Oft. Gestern natürlich. Seit ich denke, dass ich es aufschreiben muss.

V:

Welchen Sinn soll das haben?

T:

Der Sinn ist, dass ich es notiere.

{16}V:

Ist das Sinn genug? Muss es dafür wieder aufgerührt werden?

T:

Am Tag nach ihrem Geburtstag wollte ich dich kurz sprechen. Das ist alles.

V:

Ja, ich weiß.

T:

Ja.

V:

Na dann, einen schönen Tag dort drüben.

T:

Ja, dir auch, hm?

V:

Es ist nun einmal so. Ich habe wieder eine Tochter. Eine andere Tochter. Wunden können heilen, Tom. Sie können sich wirklich schließen.

T:

Ich bin der lebende Beweis dafür, Vera.

V:

Ja, ich weiß. Ich weiß, was du durchmachen musstest. Schrecklich …

T:

War nicht schön, nein. Also gut.

V:

Gut.

T:

Danke, dass du angerufen hast.

V:

Ja. Natürlich. Einen schönen Tag, ja?

T:

Ja, dir auch, noch einen schönen Abend da drüben, hm?

V:

Ja, ciao!

T:

Ciao!

*

V:

Hallo, Tom, ich bin’s. Hab echt mies geschlafen nach diesen Gesprächen gestern. Sie haben mich, ich weiß nicht, ich bin irgendwie ein bisschen daneben. Vielleicht auch mehr als nur ein bisschen. Ist noch früh hier, bin einfach aufgestanden. Bist du gerade auf dem Fahrrad {17}unterwegs? Oder vertue ich mich jetzt wieder mit dem Zeitunterschied? Lass mal von dir hören heute. Bin vormittags beschäftigt, also vielleicht danach, ja? Gut. Okay, ich höre dann von dir, ja?

 

T:

Hallo, Vera, hab gerade deine Nachricht gehört. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs, ja, und hab deinen Anruf nicht mitgekriegt. Ich möchte nicht, dass du deswegen nicht schlafen kannst. Natürlich nicht. Du brauchst nicht zurückzurufen, wenn du nicht willst. Okay? Alles, alles Liebe, ja?

*

V:

Hallo, Tom.

T:

Hi.

V:

Ich habe deine Nachricht gehört.

T:

Ja, ich hatte dich zurückgerufen.

V:

Hatte irgendwie einen Scheißtag.

T:

Tut mir leid, das war nicht meine Absicht.

V:

Ich weiß.

T:

Wie ist es mit deinem Kunden und dem betrunkenen Künstler gelaufen?

V:

Lief perfekt. Vier Bilder verkauf‌t.

T:

Wo ist denn deine Galerie?

V:

Ganz vorn.

T:

Ich erinnere mich … Als wir da mal gegessen haben.

V:

Eine meiner beschämenden Erinnerungen.

T:

Eine meiner befriedigendsten Erinnerungen.

V:

Bitte nicht, Tom.

{18}T:

Ich bin nicht mehr in Santa Fe gewesen, seit wir damals …

V:

Du kannst jederzeit bei uns übernachten, im Ernst.

T:

Ich weiß nicht, ob ich je wieder weggehe, wenn ich in so ’nem schicken Guesthouse bin.

V:

Bleib, so lange du willst.

T:

Lieb, dass du das sagst. Ich schau mal, hm?

V:

Schau mal.

T:

Als ich aus London wegging …

V:

Bist du wirklich von dort weg?

T:

Ja, ich hab die Wohnung gekündigt. Wurde mir auch zu teuer.

V:

Wo wohnst du denn jetzt?

T:

Eigentlich nirgends, ich miete mich immer wieder woanders ein. Ich ziehe ein bisschen in der Gegend rum.

V:

Das stelle ich mir schrecklich vor.

T:

Das siehst du falsch. Ich fühle mich jetzt erheblich besser. Ein paar Wochen hier, dann wieder weiter.

V:

Du hast also keinen festen Wohnsitz?

T:

Aber eine Kreditkarte.

V:

Und wo sind deine Sachen?

T:

Eingelagert. Bin auf ein paar Fotos gestoßen, als ich beim Packen war. Drüben auf der Plaza. An dem Abend, als wir uns zum ersten Mal …

V:

Ich möchte nicht daran denken, Tom.

T:

Nein.

V:

Nein. Das jetzt ist schon schlimm genug.

T:

Mit mir zu reden, meinst du?

V:

Ich finde es schlimm, dass es dir nicht gutgeht.

{19}T:

Es geht mir gut, Vera.

V:

Nein. Dann würdest du dich nicht so verhalten. Dass du das willst, das Geschreibe. Keinen festen Wohnsitz hast.

T:

Ich habe alles im Griff.

V:

Gib dich nicht stärker, als du bist.

T:

Ich bin okay. Es geht mir nicht supergut, nein, aber es geht. Es gefällt mir hier, schönes Wetter, gutes Essen, ganz passabel. Ich möchte alles abrunden.

V:

Durch Reden oder Schreiben wird da nichts draus. Leben musst du.

T:

Ich muss das erst abrunden. Danach sehe ich weiter.

V:

Diese Art der Kommunikation ist nicht gut. Lassen wir es lieber, ja?

T:

Wie du möchtest.

V:

Ja, ich möchte das.

T:

Ich wollte nur anrufen, weil Sarah Geburtstag hatte, Veer.

V:

Das weiß ich, das weiß ich, das nehme ich dir nicht übel. Aber du rufst an, und alles ist wieder da. Das kann ich nicht gebrauchen.

T:

Dass ich dich so aus der Bahn werfe, finde ich echt scheiße.

V:

Ja, Mist.

T:

Ja.

V:

Ich hab jetzt zu tun. Okay?

T:

Ja, klar.

V:

Wir werden sehen, hm?

T:

Klar.

V:

Okay. Also dann.

{20}T:

Ja. Okay. Gut. Also dann alles Gute, hm?

V:

Ja. Okay. Ciao.

*

V:

Hier ist die Voicemail von Vera Barranco. Ich bin die kommenden zehn Tage verreist. In dringenden Fällen rufen Sie bitte mein Büro an. Ansonsten können Sie mir eine Nachricht auf Band sprechen. Ich höre die Voicemail jeden Tag ab.

 

T:

Hi, ich bin’s. Ich hab dich ein paar Wochen in Ruhe gelassen, hoffentlich hat das geholfen. Bin eifrig am Schreiben. Möchte dich trotzdem sprechen, wenn das okay ist. Ich schick dir eine Mail mit meiner Nummer, ja? Alles Liebe!

 

TEXTNACHRICHT V:

Hab deine Nachricht gehört. Muss mich noch von deinen vorherigen Anrufen erholen. Brauche Zeit. Lass mich nachdenken. XXX

 

TEXTNACHRICHT T:

Ich möchte nicht, dass du dich von meinen Anrufen erholen musst. Ich lass dich in Ruhe. Leb wohl. T.

 

TEXTNACHRICHT V:

XXX

{21}Erster Teil

Einmal an der Macht, etablierten die Taliban ein autoritäres Regime nach strengsten Grundsätzen. Islamische Strafen wurden eingeführt, einschließlich der Hinrichtung und des Verlusts der Hände für Verbrechen. Fernsehen, Kino und Musik wurden wegen ihres korrumpierenden Einflusses verboten.

historyofwar.org

Wir waren elf Brüder und arbeiteten am Bau von Straßen und Tunneln im Bauch der Berge und an Verstecken für die afghanischen Mudschaheddin.

Usama bin Laden

In: Through Our Enemies’ Eyes

Anonymous, 2002

Er war mehr Ingenieur als Soldat, und er war ein Experte im Tunnelbau.

Generalleutnant Hamid Gul

Chef des pakistanischen Geheimdienstes ISI

The Guardian,21.8.1998

{23}1Abbottabad, 11. September 2010

UBL

Usama bin Laden lebte fünf Jahre lang hinter den Mauern seines Verstecks, lautet die offizielle Geschichte. Das ist unrichtig. Er ist nachts regelmäßig ins Freie gegangen.

Auch am frühen Morgen des 11. September 2010 – acht Monate vor Operation Neptune Spear – schlüpf‌te er aus seinem Haus und fuhr das Moped aus dem Lagerraum. Wie üblich steuerte er ein Lebensmittelgeschäft an, das nie die Türen schloss.

In Abbottabad, Pakistan, war es Viertel nach zwei in der Nacht, und UBL – so die vom amerikanischen Geheimdienst für ihn benutzte Abkürzung, die seine jüngste Braut, Amal, ihm auch manchmal herausfordernd ins Ohr flüsterte: »UBL, mein Scheich, kommst du?« – war ein glücklicher Mensch.

Jetzt bloß keine übereilten Schritte tun, sagte er sich. Er durf‌te sich nicht von dem wunderbaren Gedanken verleiten lassen, dass er morgen schon erreichen konnte, worauf er dreißig Jahre lang hingearbeitet hatte; länger noch, eigentlich sein ganzes Leben lang, seit er das Licht der Welt erblickt hatte. Das Blatt würde sich wenden. Geduld, dachte er, Geduld. Es wäre dumm, wenn er seinen Trumpf nach Jahren der Isolation und der Rückschläge nun Hals über {24}Kopf ausspielen würde. Mit dem, was er jetzt wusste, war er in der Lage, seine Gegner schachmatt zu setzen.

Allah belohnte seinen Glauben und seine Demut. Ihm war eine Waffe geschenkt worden, vor der sich niemand schützen konnte.

UBL hätte seine Freude am liebsten laut herausgeschrien und den stillen Straßen und schlafenden Häusern zugerufen: Ich weiß es, ich weiß es, ich habe es entdeckt, ich weiß, was niemand weiß! Grinsend fuhr er auf seinem klapprigen Moped dahin und dachte: Es ist wahr, UBL wird sich die Welt wieder gefügig machen!

Wie tarnte er sich, wenn er nachts sein Versteck verließ? Den Beschreibungen nach, die man mir gegeben hat, wie folgt: Auf dem Kopf trug er einen vorsintflutlichen Helm, eine Art halbierten Lederball mit Ohrenklappen. Auf der Nase eine Brille mit Bifokalgläsern, die seine Augen verzerrten, und um Hals und Kinn einen Schal, der einen Großteil seines Gesichts verbarg. Im Winter trug er einen halblangen grünen Militärmantel, wie er Männer in weiten Teilen Asiens warm hält. Solche Mäntel gibt es überall für wenig Geld zu kaufen, schwere Mäntel aus dicker Baumwolle, in die man ein zusätzliches Futter aus dickem Schaf‌fell knöpfen kann (das Fell brauchte er noch nicht, obwohl die Nächte in dieser Bergstadt wieder kühler zu werden begannen).

Dazu trug UBL eine beigefarbene, an den Knöcheln enganliegende Pluderhose, den sogenannten Salwar, den er auch schon in den Jahren in Afghanistan getragen hatte, und an den Füßen verschlissene Sandalen.

Seine Körpergröße konnte er nicht ändern oder verhüllen. {25}Er war groß, viel größer als die meisten Pakistaner, aber auf dem Moped fiel seine Größe nicht auf. Und wenn er abstieg, stützte er sich auf einen Spazierstock und bewegte sich mit schleppenden Schritten und gebeugtem Rücken, was ihn zwanzig Jahre älter erscheinen ließ. Er gab sich wie irgendeiner, der mit einem aus gebrauchten Teilen zusammengeschusterten Moped nachts einen rund um die Uhr geöffneten Laden namens The Abbottabad Nite Shop ansteuerte.

Hinten auf dem Moped führte er eine kleine Kühlbox mit, in der er das Eis verstauen konnte, das er seiner jüngsten Frau versprochen hatte. Sie kannte ihn besser als jeder andere, besser noch als seine älteste Frau. Wie ein wildes Tier war sie, mit ihrem kleinen, aber geschmeidigen Körper und ihrer Intuition, die ihn manchmal in Erstaunen versetzte. Er hatte die Pflicht, seine Frauen zu besuchen, aber die jüngste, eine Frau mit gierigen Augen und Schenkeln voll Feuer, wusste immer, auch wenn er schwieg, in welcher Stimmung er war. Selbst tagsüber, wenn ihn Sorgen drückten, konnte sie ihn in Erregung versetzen. In Anbetracht seines Alters konnte er die Frau, die er an diesem Abend zu besuchen hatte, nicht lieben, wenn er keine blaue Pille schluckte – aber die Frauen akzeptierten das ohne Murren.

In Abbottabad lebte er mit drei Frauen. Die älteste war Khairiah Saber, Kinderpsychologin und Mutter eines Kindes. Siham Sabar war Arabischlehrerin und hatte ihm vier Kinder geschenkt, darunter Khaled, der zum Glück auch bei ihm im Haus lebte. Und schließlich Amal Ahmed al-Sadah, Usamas jüngste Frau. Sie war siebzehn, als er sie heiratete, er bereits dreiundvierzig. Wenige Tage nach Nine-Eleven {26}gebar sie ihm eine Tochter, die nach einer jüdischen Spionin im Dienst des Propheten Mohammed benannt wurde.

Ja, ihr Führer, ihr Steuermann, ihr Scheich war er, aber er respektierte sie. Mit der Macht über seine Frauen ging er nicht leichtfertig um. Nie schlug er sie, auch wenn sein Glaube das zuließ, solange kein Blut floss – ein Blick oder ein drohend erhobener Zeigefinger genügte, um seine Frauen zum Schweigen zu bringen, falls das nötig war. Er schirmte seine Frauen gegen die Verzweiflung und Frustration ab, die er selbst so oft erfuhr, und sie wiederum linderten seine Sorgen. Der Gedanke an Verrat war ihnen fremd – ohne ihn seien sie verloren, erklärten sie ein ums andere Mal, und im Gebet flehten sie Allah jeden Tag an, ihn zu beschützen. Und er flehte Allah an, seine Frauen zu beschützen.

Sein Verbündeter und Kurier Al-Kuweiti war bei Anbruch des Abends aus Islamabad zurückgekehrt. Es war der Tag des Zuckerfests, am Morgen hatten sie das Fasten gebrochen. Al-Kuweiti war zwei Wochen umhergereist. Er stellte UBLs Vertrauten Mitteilungen von ihm zu (UBL war noch voll in die Organisation eingebunden und stand mit vielen Gruppen in Kontakt) und sorgte dafür, dass die Verlautbarungen, die UBL in seinem beengten Arbeitszimmer verfasste, zu Al-Dschasira oder CNN gelangten.

Abu Ahmed al-Kuweiti, sein teurer Freund, war pakistanischer Nationalität und gehörte zur Volksgruppe der Paschtunen, aber er war in Kuwait geboren. Er sprach fließend Arabisch und Paschtu und Urdu. Zu einem anderen Zeitpunkt der Geschichte wäre Al-Kuweiti, der einst von einem der kreativen Geister ausgebildet worden war, mit denen {27}UBL die Anschläge von Nine-Eleven ausgetüftelt hatte, Minister oder Topmanager gewesen. Aber es war Krieg, und Al-Kuweiti war ein glühender Kämpfer.

UBL hatte den ganzen Tag auf seine Ankunft gewartet, und als er das Tor aufgehen hörte, setzte er sich einen großen Hut auf und wartete draußen unter dem Baum, bis Al-Kuweiti aus seinem weißen SUV gestiegen war.

»Scheich, ich denke, es ist geglückt«, sagte Al-Kuweiti. Er öffnete seine Faust und präsentierte auf der offenen Handfläche einen USB-Stick, als handelte es sich um ein kostbares Schmuckstück.

UBL fragte: »Haben wir, was wir suchten?«

»Alles. Deine Macht kennt jetzt keine Grenzen mehr.«

In seinem Zimmer im zweiten Stock, einem sechs Quadratmeter großen Raum mit Fernsehgeräten, mehreren Computern und Stahlschränken, in denen er CDs, DVDs, Bücher, Karten aufbewahrte, ließ er, nachdem er sicherheitshalber das Internetkabel herausgezogen hatte, den Stick zum Leben erwachen.

Sieben Fotos. Ein Word-Dokument, unverschlüsselt, mit ergänzenden Daten. Und ein Video. Er sah sich alles an und zog dann den Stick aus dem Computer. Er sank auf seinem Gebetsteppich auf die Knie und dankte Allah, während ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Ausnahmsweise nahm er mit Al-Kuweiti zusammen das Abendessen ein. Normalerweise lebten sie jeder für sich ihr Familienleben. Al-Kuweiti wohnte mit seiner Frau in dem bescheidenen Haus neben dem Haupthaus, in dem UBL sein Versteck eingerichtet hatte. Unter dem Baum auf dem dunklen Innenhof, im spärlichen Licht einer Lampe, die bei {28}Al-Kuweiti im Haus brannte, saßen sie auf einem Teppich, und UBL lauschte dem Reisebericht seines Kuriers.

Nachdem Al-Kuweiti den Stick in Empfang genommen und sich vergewissert hatte, dass das Geheimnis darauf in der Tat die große Enthüllung war, nach der UBL suchte, war er fünf Tage lang kreuz und quer durchs Land gefahren. Er wollte überprüfen, ob man ihm folgte. Ganze fünf Tage lang. Fast ohne Schlaf. Seit ihrem Einzug in dieses Haus hatte er nie etwas von einer Verfolgung bemerkt; wäre dem so gewesen, hätte er eine Alarmnummer anrufen und dann seinem Leben ein Ende machen müssen. Denn wenn man ihm folgte, konnte das nur eines bedeuten: Ein Sicherheitsdienst war ihnen auf den Fersen. Doch Al-Kuweiti zog nie die Aufmerksamkeit auf sich. Er lebte unter dem Radar.

Dass die Recherchen zu einem so bemerkenswerten Ergebnis geführt hätten, sei, wie Al-Kuweiti erklärte, den Männern zu verdanken, die den Bericht zusammengestellt hätten, Mitglieder einer indischen Zelle aus Mumbai. Topstudenten. Hochbegabt und mutig, ja verwegen. Sie waren in Häuser eingebrochen, hatten Tresore geknackt, hatten auch jemanden gefangen genommen, dem sie nach tagelangen Verhören entscheidende Informationen entlockten, worauf sie ihm einen Genickschuss verpassten.

Dennoch unvermeidlich, dass Al-Kuweiti die indischen Studenten durch eine andere Zelle, die nichts von deren Arbeit wusste, eliminieren lassen musste.

»Ich konnte nicht anders, Scheich«, erklärte Al-Kuweiti. »Die Daten sind so sensibel, dass ich kein Risiko eingehen durf‌te.«

{29}»Stellten sie denn ein Risiko dar?«, fragte UBL wider besseres Wissen.

»Das hätte sich erst in einem Jahr erwiesen. Sie waren stark. Aber man weiß nicht, was passiert wäre, wenn sie wieder zu Hause gewesen wären. Sie waren jung, sie hätten sich wahrscheinlich vor ihren Freunden gebrüstet.«

Ihr Tod war ein Opfer, das schmerzte. UBL sagte, dass sie für die Jungen beten müssten. Er bat Allah um Vergebung und flehte Ihn an, die Männer zu Seinem Thron vorzulassen. Sie waren gute und fromme Kämpfer gewesen. Vor fünf Tagen hatten sie Al-Kuweiti stolz den Stick überreicht. Vierundzwanzig Stunden danach explodierte der Kleinbus, mit dem sie Richtung indische Grenze unterwegs waren.

Ein markenloser USB-Stick mit einer Speicherkapazität von 16GB. Sieben Fotos, ein Video und ein dreitausend Wörter umfassender Bericht mit Namen, Orts- und Zeitangaben. Er würde UBL ungeheure Macht verleihen. Ein vier Zentimeter langer Stick, anthrazitgrau, »made in China«, dessen digitaler Speicher genauso viele Seiten fassen konnte wie eine Bibliothek mit hundert Bücherregalen.

Nach dem Essen umarmte er Al-Kuweiti und zog sich ins Haus zurück, wo seine Frauen ihre Räumlichkeiten aufgesucht hatten. In seinem Arbeitszimmer las er im Koran, stellte die Internetverbindung wieder her und surfte zu den Nachrichten und Kommentaren auf den Websites US-amerikanischer Zeitungen. Er besuchte das Bett seiner dritten Frau, denn es war ihre Nacht. Aber er war zu nichts imstande. Danach besuchte er die älteste und die zweitjüngste. In keinem Bett fand er zur Ruhe, konnte er leisten, was sie von ihm erwarteten. Sein Herz klopf‌te wie wild. Er stand {30}immer wieder auf, um in seinem Zimmer nach dem USB-Stick zu sehen. Er musste ihn versteckten. Aber wo?

Er ging zu seiner dritten Frau, und sie deutete seinen Blick, seine Körperhaltung sofort, als könne sie riechen, was in ihm vorging. Sie stand auf und machte ihm Tee. Sie sagte zu ihm: »Du hast etwas zu feiern, Scheich. Du freust dich wie ein Kind, das einen Vogel geschenkt bekommen hat.«

»Einen Falken«, verbesserte er sie. »Ich hatte einen Falken. Ich hatte mehrere Falken.«

Sie ließ ihn in sein Arbeitszimmer gehen. Er nippte an dem Glas Tee und zappte mit der Fernbedienung in der Hand durch die westlichen Nachrichtensender. Nichts Besonderes. Präsident Obama unterbreitete irgendwelche Gesetzesvorhaben. Der Mann sah zufrieden aus. Schön. Dann traf ihn der Schlag umso härter.

Als UBL zu Amal zurückkehrte, saß sie aufrecht im Bett, mit entblößten Brüsten. Eine nackte Glühbirne erhellte den kargen Raum. Die Matratze lag auf dem einfach gefliesten Fußboden. Amal hatte ihm zwei Kinder geschenkt, aber ihre Brüste waren mädchenhaft jungfräulich.

»Geh aus dem Haus«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich dich jetzt zur Ruhe bringen kann. Komm mit Süßigkeiten zurück. Belohne dich. Es gibt etwas, was deine Augen zum Leuchten bringt. Mach dir eine Freude. Und mir auch. Kommst du mit Eis zurück, mein Scheich? Dieses eine Mal? Ich habe es schon seit Jahren nicht mehr gekostet. Vanilleeis. Und bringst du bitte auch Schokolade mit?«

Er lächelte. Ließ sich neben ihr nieder. Sie bewegte sich mit halb geöffnetem Mund auf ihn zu, und er küsste sie. {31}Dann erhob er sich. Er ging Eis kaufen. Eine unsinnige Mission. Aber er wollte das Haus für ein Weilchen hinter sich lassen und draußen die frische Luft auf seiner Haut fühlen. Danach würde er sie besuchen, seine jüngste Braut. Mit Eis. Vanilleeis, das er von ihren Brustwarzen lecken würde. Vanille – er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Wann hatte er es zum letzten Mal benutzt? Ein Wort voller Unschuld. Er fühlte sich frei und jung, wenngleich sein Bart grau war und er wie einer lebte, der zu hundert Jahren Hausarrest verurteilt war. Der USB-Stick hatte ihn von der Last des Alters und der bedrückenden Mauern seines Verstecks befreit.

Bevor er das Schlafzimmer verlassen hatte, hatte sie noch gefragt: »Du weißt, welcher Tag heute ist?«

Er hatte genickt.

»Neun Jahre ist es her. Ein Grund mehr, heute Nacht zu feiern«, hatte sie gesagt.

 

Entspannt kurvte UBL auf dem Moped durch das nächtliche Städtchen, wobei er Unebenheiten im Straßenbelag und jammervollen streunenden Hunden geschickt auswich. Oft fuhr er an den Fluss, wo er dem schnellen Wasser lauschte, oder er fuhr in die Berge, um die Nadelbäume zu riechen. In der Stadt stieg ihm manchmal der Gestank von einem offenen Abwasserkanal in die Nase, aber auch der Duft üppiger Pflanzen oder das berauschende Aroma von Eukalyptusbäumen, Lavendel, Salbei, Minze – nach einem nassen, kalten Winter und einem enttäuschenden Frühling war der Sommer, als die Natur dann endlich unaufhaltsam zum Erblühen kam, wie Balsam gewesen, und jetzt fiel, auf {32}Allahs Weisung, der Herbst ein, einen Tag nach dem Ende des Ramadan.

Das Stadtzentrum war klein und überschaubar mit seiner einen langen Hauptstraße, Teil einer berühmten Fernstraße, die Touristen aus dem Westen magisch anzog. Flache Gebäude und Geschäfte, an denen die schiefen und zerbeulten Rollläden heruntergelassen waren. Da und dort flackerte eine Leuchtreklame. Eigentlich hatte er eine Abneigung gegen die aufdringliche, bunte, billige Kultur, die die pakistanischen Muslime von den indischen Hindus übernommen hatten, doch in dieser Nacht sträubte er sich nicht gegen diese Farben und Formen – er war fröhlich wie selten in seinem Leben.

Für jemanden, der aus dem Fenster geschaut und ihn gesehen hätte, wäre er irgendwer gewesen, der mitten in der Nacht auf einem Moped mit Kühlbox auf dem Gepäckträger unterwegs war. Um Eis für seine Lieblingsfrau zu kaufen. Ging er ihretwegen dieses Risiko ein? Nein. Manchmal wurde ihm das Drinnenhocken zu viel. Er hatte den Hausarrest zwar selbst über sich verhängt, aber er war ein Mann, der seit seiner frühen Jugend Wanderungen über felsige Bergpfade gemacht hatte. Er konnte tagelang an Schluchten entlanglaufen, auf den rauhesten Hängen überleben. Das hatte er in den vergangenen Jahren am meisten vermisst. Aber er hatte nie die Hoffnung aufgegeben, dass er eines Tages wieder auf einem Bergpfad stehen und über ein grünes Tal blicken würde.

Er lebte hinter Mauern. Es ging nicht anders. Aber er hatte einen Fluchtweg, eine Garage aus Beton, die er als kleinen Lagerschuppen benutzte. Dort parkte er sein Moped. {33}Dutzende Male war er schon nachts durch das Städtchen gefahren. Dabei hatte er immer mal wieder haltgemacht und war, auf seinen Stock gestützt, ein Stückchen spazieren gegangen.

Eine pakistanische Stadt ist nie ganz verlassen, auch Abbottabad nicht, das heißt, es gab immer Augen auf der Straße, Arbeiter in der 24-Stunden-Industrie, die auch in Abbottabad um sich gegriffen hatte, Obdachlose, Straßenkinder, LKW-Fahrer, die in ihren mit bunten Lichterketten aufgezäumten Trucks Waren anlieferten, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, dass der Mann mit diesem komischen Lederhelm, mit dieser unsäglichen, klobigen Brille, der Mann, der wie ein Schauspieler urplötzlich das linke Bein nachzog, wenn er sich von jemandem bemerkt fühlte, UBL war.

Der Laden, zu dem er wollte, lag im Abbottabad Cantt Bazar und gehörte einem Paschtunen, der viele Jahre am Golf gearbeitet hatte. Er hatte gespart, um den Laden von seinem Onkel zu übernehmen. Mit ihm sprach UBL englisch. Bei seinem ersten Besuch hatte UBL gar nichts gesagt, sondern nur unsicher auf ein Päckchen Marlboro gezeigt und stumm das Geld auf den Ladentisch gelegt. Der Paschtune hatte ihn nicht erkannt. Es gab mehrere Geschäfte, die die ganze Nacht geöffnet hatten, aber nur in dieses hatte UBL sich hineingewagt. Grünliches Neonlicht. Keine Überwachungskameras.

Am Abend seines ersten Besuchs im Abbottabad Nite Shop hatte Al-Kuweiti schlechte Nachrichten überbracht. Bei einem Raketenangriff war eine große Gruppe von Kämpfern ums Leben gekommen, mitsamt ihren Frauen {34}und Kindern. Es war der Abend des 20. Juni 2007. Die Kämpfer waren am Tag davor getötet worden. Es war ein Blutbad gewesen. Drei amerikanische Raketen hatten eine Koranschule im pakistanischen Grenzstädtchen Mami Rogha getroffen. Fünfundzwanzig Kämpfer waren zerfetzt worden, und es hatte sechzehn weitere Opfer gegeben, Usbeken, Tschetschenen, Araber. UBL las den ganzen Abend bis zum Anbruch der Nacht im Koran. Er konnte nicht schlafen und stieg auf sein Moped, um sich irgendwo Zigaretten zu kaufen. Zwei Jahre lang hatte er nicht geraucht. Rauchen war eine seiner Schwächen. Er war selten allein, und im Beisein seiner Frauen und Kinder oder seiner Mitstreiter konnte er dieser Schwäche nicht nachgeben, doch wenn er eine Gelegenheit fand, dann rauchte er. Für Zigaretten, für seine Nikotinsucht, riskierte er Kopf und Kragen. Aber niemand rechnete damit, dass in diesem Städtchen, zu einem unmöglichen Zeitpunkt mitten in der Nacht, UBL mutterseelenallein in einen Laden spaziert kommen würde, um ein Päckchen Marlboro zu kaufen. Niemand auf der Welt war auf so etwas gefasst. Er hätte in einen Late Night Shop mitten in Manhattan gehen können, um sich danach auf dem Times Square mit Blick auf die gelben Taxis und Grüppchen betrunkener Touristen eine Zigarette anzuzünden, ohne dass man ihn bemerkt hätte. Ein hochgewachsener stiller Mann, der nachts rauchen wollte. Rauchen musste.

Bei jenem ersten Besuch würdigte der Paschtune ihn keines Blickes. Vor dem Laden rauchte UBL drei Zigaretten. Bei seinem vierten oder fünf‌ten Besuch sprach der Mann ihn auf Paschtu an.

{35}»Englisch«, murmelte UBL hinter seinem Schal, »ich spreche englisch.«

Auf den Videos, die um die ganze Welt gingen, sprach er das klassische Arabisch des Korans. Wenn er englisch sprach, war die Wahrscheinlichkeit, dass man seine Stimme erkannte, äußerst gering. Anfangs tauschten sie nur Höf‌lichkeitsfloskeln aus. Später nahm sich UBL die Zeit, mit ihm über die Golfstaaten zu sprechen, über Terrorismus, den Iran, Amerika. UBL hatte sich als Abu Abdullah vorgestellt. In der islamischen Welt trugen viele Millionen diesen Namen. Abu Abdullah, »Vater Abdullahs«, hieß er in seiner eigenen Familie. Abdullah war der Name seines ältesten Sohnes, der sich vom Lebenswerk seines Vaters abgewendet hatte.

Als er zum ersten Mal zu dem Laden gefahren war, hatte ihn Trauer erfüllt wegen der Raketen auf Mami Rogha. Jetzt fuhr er jubelnd durch Abbottabad. Der Jubel war für niemanden zu sehen oder zu hören, aber seinem Empfinden nach war es so. Hin und wieder wurde er von einem Motorrad oder einem anderen Moped überholt. Oder von einem tuckernden Auto. Er sah aus wie ein harmloser Sonderling mit bekloppter Kopfbedeckung. Er hockte wie in einem Lehnstuhl auf dem rissigen langen für drei Personen ausreichenden Plastiksattel seines lahmen und altersschwachen Mopeds. Der meistgesuchte Mann der Welt, auf einem schäbigen Moped, das nicht schneller fuhr als dreißig Stundenkilometer. Die US-Regierung hatte ein Kopfgeld von fünfundzwanzig Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt. Wie viele Menschen in Abbottabad verdienten so viel Geld? Vielleicht brachten es die Einwohner der ganzen Region {36}zusammengenommen auf ein Jahreseinkommen von fünfundzwanzig Millionen. Wo war die Person, die ihn verraten würde? Die gab es nicht. Der Mann, der auf einem Moped unterwegs war, um Vanilleeis für seine Braut zu holen, war ein Vermögen wert. Eis, um zu feiern, dass er Informationen erhalten hatte, die alles verändern würden.

Schmelzendes Vanilleeis auf ihren Brustwarzen.

Es hieß, er verstecke sich in Höhlen in Afghanistan. Oder sei tot. Er schmunzelte, während er an heruntergelassenen Rollläden vorüberdüste. Er war in dieser Nacht ein glücklicher Mensch. Er hatte alles gewonnen und alles verloren, und jetzt würde er erneut alles gewinnen. Er hatte die Chance erhalten, sich die Welt gefügig zu machen. Auf dem Stick waren digitale Informationen gespeichert, die so zerstörerisch waren wie ein Arsenal Atombomben. Im übertragenen Sinne. Er hatte es geschafft. Durch Hartnäckigkeit. Vertrauen. Glauben. Glück. Die Unterstützung Allahs. Der USB-Stick befand sich sicher in seiner Manteltasche.

{37}2Abbottabad, 11. September 2010

Fortsetzung: UBL

UBL stellte das Moped vor dem heruntergelassenen Gitter einer Werkstatt ab und ging, auf seinen Stock gestützt, zum Abbottabad Nite Shop hinüber. Er brauchte nicht mehr als hundert Meter im Licht einiger Außenlampen zu überbrücken. Der Name des Ladens war irgendwann einmal mit der Hand auf ein Schild gemalt worden, doch die Farben waren verblasst und unter einer Rußschicht verschwunden, die der Straßenverkehr darauf hinterlassen hatte. Das Licht der Neonröhren im Laden strahlte nach draußen und war nicht schön hell und weiß, sondern im Ton leicht grünlich. Sechs Reihen Regale und alle Wände mit einem Sammelsurium von Lebensmitteln und Haushaltsartikeln vollgestaut. Links vom Eingang, dessen Glastür offen stand, war der Ladentisch, hinter dem Ghairat, der Inhaber, auf einem hohen Hocker saß. UBL war auch in warmen Nächten hier gewesen, dann war die Tür zu, und die Lüftung summte.

Ghairat nickte ihm zur Begrüßung zu, drehte sich um und griff in das Regal mit den Zigaretten.

Auf seinen Stock gestützt, schaute UBL zu, wie Ghairat mit der einen Hand ein Päckchen Marlboro und mit der anderen ein flaches Streichholzbriefchen über den glatten {38}Ladentisch zu ihm hinschob, zwei synchrone Bewegungen, die jahrelange Routine verrieten. Auf der Lasche, die die Streichholzköpfe bedeckte, war Werbung für Ghairats Laden aufgedruckt.

»Streichhölzer habe ich noch«, sagte UBL. Wie immer sprach er mit dem Schal vor dem Mund.

Ghairat war ein kleiner Mann mit silbergrauem Haar, feingeschnittenem Gesicht und blitzenden Zähnen. Seine Finger waren schlank und erweckten den Eindruck, als ob er nie mit den Händen gearbeitet hätte, doch das traf nicht zu. Er war am Golf Bauarbeiter gewesen, hatte sich hochgearbeitet und in ein Bauunternehmen einkaufen können. Nach zwölf Jahren hatte er genügend Geld verdient, um in der Stadt seiner Kindheit den kleinen Supermarkt des Bruders seiner Mutter zu übernehmen.

In einer Halterung unter der Decke hing ein Fernseher. UBL sah Bilder eines pakistanischen Senders. Präsident Obama hatte zu einem früheren Zeitpunkt in diesem Jahr die neuen Gesetze zur Reform der Gesundheitsfürsorge in den USA unterzeichnet. Sie galten als großer Triumph für ihn. Jetzt musste er die Gesetze bestätigen und eine ganze Reihe von Unterschriften leisten. Für jede Unterschrift nahm er einen anderen Stift. Dabei strahlte er und verbreitete großes Selbstvertrauen. Die Stifte waren Geschenke für die Gäste, die um ihn herumstanden. Die Sendung handelte nicht von ihm, sondern von einem dieser Gäste, einem Mann pakistanischer Abstammung.

UBL öffnete das Päckchen Zigaretten und klopf‌te eine heraus. Im Laden standen Schüsseln und Schalen mit würzigen Kräutern, aber trotzdem roch er den frischen Tabak, {39}als er sich die Zigarette unter die Nase hielt. Das war kein Marlboro-Imitat.

Ghairat sagte: »Paiman, mein Großneffe, war dabei.« Er schob einen Aschenbecher heran.

»Wobei?«, fragte UBL.

»Im Weißen Haus. Beim Präsidenten. Paiman hat in Amerika studiert. Harvard. Er hat an diesen Gesetzen mitgeschrieben. Er ist ein bedeutender Mann geworden.«

»Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, sagte UBL. Er reichte Ghairat eine Zigarette.

»Paiman war ein guter Schüler. Schon als Kind wollte er nach Amerika.«

Er hob einen Finger, während er konzentriert den Fernseher im Blick behielt.

»Da, schau, dritte Reihe links.«

Sein Neffe war ein glattrasierter Mann mit ernstem Blick, in einem Anzug westlichen Schnitts, eine Krawatte um den Hals, die ihn zu würgen schien.

UBL fragte: »Ist Paiman fromm?«

»Vor zwei Jahren hat er seinen Vater besucht, der damals sehr krank war. Da hat er fünfmal am Tag gebetet. Aber vielleicht tut er das in Amerika nicht.«

»Ein Muslim sollte Amerika lenken«, sagte UBL. »Das Land muss die Botschaft des Propheten, Friede sei mit Ihm, annehmen.« In seiner Manteltasche befanden sich die Informationen, die dafür sorgen konnten.

»Friede sei mit Ihm«, wiederholte Ghairat. Er hielt ein Feuerzeug hoch.

UBL steckte die Zigarette zwischen den vor seinen Mund geschlungenen Schal und sog die Flamme in die Zigarettenspitze. {40}Der Rauch zog durch die Luftröhre in seine Lunge. Einen Moment lang fühlte er sich wie benebelt. Ghairat zündete sich seine Zigarette an. Er hatte nie gefragt, warum UBL auf diese kuriose Art rauchte, mit der Zigarette zwischen dem Schal vor seinem Mund. Die Antwort hätte gelautet: Weil ich fürchte, dass meine Lippen mich verraten.

»Ich habe es dich nie gefragt, mein Freund«, begann UBL, »aber jetzt tue ich es: Wann schläfst du?«

Ghairat lächelte. »Zwischen zwölf und drei Uhr mittags. Jeden Tag. Das ist ausreichend. Und du, Abu Abdullah? Ich habe dich nur nachts gesehen.«

»Ich arbeite immer«, antwortete UBL. In gewissem Sinne entsprach das der Wahrheit. Wenn er schlief, arbeitete er in seinen Träumen.

Ghairat fragte nicht nach der Art seiner Arbeit. UBL hatte dafür eine Antwort parat: Ingenieur. Aber Ghairat hatte die Frage nie gestellt.

UBL fragte: »Hast du Eis?«

»Eiswürfel? Ja.«

»Speiseeis, meine ich. Mit Geschmack.«

»Natürlich habe ich das.«

»Halal?«

»Was dachtest du denn?«

»Hast du welches mit Vanillegeschmack?«

Ghairat erhob sich, und UBL folgte ihm in einen Winkel des Ladens, in dem er bisher noch nie gewesen war. Er lief sonst immer geradewegs vom Eingang zum Ladentisch und wieder zurück.

Ghairat öffnete den Deckel einer Kühltruhe. Beißende Kälte wallte daraus hervor.

{41}»Ich habe gut zwanzig Sorten. Auch Vanille. Hier, Vanille mit Schokolade.«

Ghairat zeigte auf einen Plastikbehälter in Schalenform. Auf dem Deckel klebte ein Etikett, auf dem ein Herz abgebildet war und darunter der Name »Wall’s«. Der Deckel war durchsichtig und gab den Blick auf das Eis mit Schokoladenstückchen frei.

»Mögen Frauen das?«

»Ja.«

»Gut. Und dazu noch eine Tafel Schokolade.«

Ghairat gab ihm die Eisschale, und UBL spürte, wie seine Finger an dem kalten Plastik haften blieben, ein Gefühl, wie er es seit seinen Kindertagen nicht mehr erlebt hatte.

»Ich habe ChocRich. Wird bei uns im Land hergestellt.«

Ghairat ging ihm voran zu einem Regal, in dem nur Süßigkeiten lagen. ChocRich war in Tüten verpackte Schokolade. Darauf war eine Schokoladenfigur abgebildet.

UBL fragte: »Was stellt das dar?«

Ghairat verstand sofort, was UBL meinte: »Das ist keine menschliche Figur. Ich glaube, es soll ein Tier sein.«

Er hielt die Tüte hoch, damit UBL sie sich ansehen konnte. UBL nahm sie in die Hand und legte den Kopf ein wenig in den Nacken, um die Figur durch die untere Hälfte seiner Brillengläser näher zu betrachten. Die Figur hatte keine menschliche Gestalt. Es war ein Fabelwesen, irgendwas zwischen Kakerlake und Ziege. Unter dem Namen »ChocRich« stand chocolate lolly. Man musste also daran lecken.

Er gab die Tüte zurück: »Nein. Lieber eine Tafel Schokolade.«

{42}Ghairat legte die Tüte wieder hin und zeigte auf einen Schokoladenriegel von Gr8’s in gelber Verpackung.

»Auch ein pakistanisches Produkt«, sagte er.

Auf der Verpackung der Gr8’s-Schokolade waren keine Figuren abgebildet.

»Gut. Ich nehme fünf davon«, sagte UBL.

»Fünf«, wiederholte Ghairat. Er nahm die Tafeln mit zum Ladentisch, und UBL stellte das Eis daneben.

Eis und Schokolade – seine jüngste Braut würde singen und tanzen. Aber noch war das Feuer in seinen Lenden nicht aufgelodert. Wenn das geschah, benötigte er die blaue Pille, und die würde er einnehmen, sobald er nach Hause kam. Später würde er sich in ihren Körper verlieren, aber im Moment war er berauscht von der tiefen Befriedigung über den Computerstick und verspürte ein Prickeln, wie er es seit Ewigkeiten nicht erlebt hatte, ähnlich wie bei der Berührung des Eisbehälters.

Ghairat gab ihm eine Plastiktragetasche, und UBL verabschiedete sich mit einem Nicken, nahm die gebeugte Haltung an und lief, auf seinen Stock gestützt, zu seinem Moped zurück.

Niemand hatte ein Auge auf ihn. Zu wärmeren Zeiten sah er Männer auf Fahrrädern und Mopeds vorüberkommen, die nach Hause oder zur Arbeit unterwegs waren, aber jetzt lag die Straße verlassen da. Er ging an stillen Läden und Werkstätten entlang, verbarrikadiert hinter Rollläden und Rollgittern, die fast alle mit Graffiti und Plakaten und Aufklebern bedeckt waren. In vielen Hauseingängen und kleinen Seitengassen lagerten afghanische Flüchtlinge, die es sich nicht leisten konnten, einen Schuppen oder sonstigen {43}Verschlag zu mieten, die Ärmsten der Armen. Sie waren von den milden Sommern und dem Wohlstand hier im Land angelockt worden und ließen ihre Kinder betteln gehen, wie er auf Abbottabad Online gelesen hatte. Die Polizei hatte afghanische Flüchtlinge bei Taschendiebstählen, Ladendiebstählen und Einbrüchen gefasst, ließ sie aber, obwohl sie so zahlreich waren, in Ruhe, solange sie nicht straf‌fällig wurden.

Er öffnete die Kühlbox, die er auf den Gepäckträger des Mopeds geklemmt hatte, und legte die Tragetasche hinein. Bevor er aufstieg, wollte er eine zweite Zigarette rauchen. Er nahm das Päckchen aus seiner Manteltasche, zündete sich eine Zigarette an und trat auf den Laden hinter ihm zu. Dort wollte er sich auf eine der vier Stufen der Steintreppe setzen, die zum Eingang des Geschäfts hinauf‌führte. Sein Stock lehnte am Moped. Er fühlte sich unbeobachtet und brauchte nicht gebeugt zu gehen.

In einer Ecke neben der vergitterten Tür saß das Mädchen.

UBL hatte sie im vergangenen Jahr häufiger hier gesehen. Nicht bei jedem Besuch im Abbottabad Nite Shop, aber acht-, neunmal bestimmt. Eine kleine Bettlerin. Kein Kind mehr, dachte er, vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Eine Waise vermutlich. Sie war verstümmelt. Sie hatte keine Hände. Vielleicht gehörte sie einem traditionellen Stamm an, hatte gestohlen und war verstoßen worden. Vielleicht gehörte sie zu einer Bettlerfamilie, die Kinder verstümmelte, damit sie mehr Almosen bekamen, aber er hatte sie nie in Gesellschaft gesehen. Das Mädchen hatte zwei primitive Prothesen, simple Haken, die neben ihr lagen. Wer band sie ihr um? Kinder, die von Geburt an keine Hände hatten, waren {44}manchmal sehr geschickt mit ihren Füßen und Zehen, aber dieses Mädchen konnte seine Prothesen nicht ohne fremde Hilfe an- und ablegen. Sie kauerte auf einem Stück Pappe, in bunte Tücher gehüllt, die nur ihre Augen frei ließen. Sie hatte keine Schuhe an. Von einer Laterne auf der anderen Straßenseite fiel ein wenig Licht herüber, direkt auf ihre Augen, schöne, große, helle Augen, und natürlich: traurige Augen, denn wer konnte unter diesen Umständen glücklich sein? Sie schlug die Augen nieder, als er den Blick nicht von ihr wandte. Das Mädchen stellte keine Gefahr dar. Eine behinderte Bettlerin. Er war eine größere Gefahr für sie als sie für ihn, denn sie war seinem Mitleid ausgesetzt. Das hatte er, wie er feststellte. Ein guter Muslim kümmert sich um die Schwächeren. Wer beschützte sie, wenn sie nachts von einem Mann belästigt wurde? Oder ließ sie sich missbrauchen, und war das für sie ein Weg der Nahrungsbeschaffung?

UBL setzte sich, ihr unbekümmert den Rücken zuwendend, auf die Treppe und rauchte. Er fuhr mit den Fingern über die Außenseite seines Mantels und fühlte, ob sich der USB-Stick immer noch sicher in seiner Tasche befand. Er grinste vergnügt. Als Ahmed auf der Reise gewesen war, um diesen Schatz zu erwerben, hatte UBL sich ausgemalt, was passieren würde, wenn die Informationen von dem Stick in der Inbox der großen Pressebüros landeten. Er konnte die Dateien nicht von seinem Haus aus verschicken, das musste in einem Internetshop in Mardan oder Islamabad geschehen. Amerika würde vor Empörung in Aufruhr geraten, vielleicht würden Demonstranten versuchen, das Weiße Haus zu stürmen, und eine Revolution anzetteln. Wegen der auf seinem kleinen Stick gespeicherten Daten. »Allahu {45}Akbar«, murmelte UBL, während der Rauch seinen Lippen entwich.

Er hatte die Absicht, die Verbreitung der Dateien mit neuerlichen Anschlägen auf New York und Washington zu synchronisieren. Wegen der Sicherheitsvorkehrungen auf Flughäfen war es nicht mehr möglich, Passagierflugzeuge dafür zu benutzen; er befasste sich schon seit einigen Jahren mit den Möglichkeiten des Einsatzes von radioaktivem Abfall. Der fand sich in Versuchszentren vieler Universitäten in Amerika und konnte ganze Städte auf Jahre hin lahmlegen, und sei es nur durch die Angst. Unsichtbar und krebserregend. Das würde sein »Comeback« werden, wie sie es nannten. Sein ultimativer Triumph, der Nine-Eleven noch übertreffen würde.

Er kostete die Marlboro bis zum Filter hinunter aus. Danach wischte er den Filter auf den Stufen hin und her, bis nichts mehr brannte, und warf ihn weg. Natürlich war er sich darüber im Klaren, dass der Filter jetzt DNA-Spuren von ihm trug, doch es war undenkbar, dass eine amerikanische Aufklärungseinheit auf der Suche nach genetischen Spuren von UBL die Zigarettenkippen von Abbottabad zusammenkehren würde. Hier suchten sie nicht. Die einzige Spur nach Abbottabad zogen die Al-Kuweiti-Brüder, und die hatten sich im Laufe vieler Jahre auf die Entdeckung von Verfolgern spezialisiert. Oft schlugen die Al-Kuweitis Haken, die viele Tage in Anspruch nahmen. Und sie würden eher ihre eigene Zunge verschlucken, als ihn zu verraten.

UBL stemmte sich hoch und wandte sich dem Mädchen zu. Wieder schlug sie die Augen nieder. Hellblaue Augen. Sie hatte ihn beobachtet, das hatte er gespürt. Während er {46}in seiner Manteltasche nach ein paar Münzen fischte, ging er zu ihr hinüber. Er hatte keine Ahnung, wie sie diese Münzen annehmen könnte, nicht einmal, wenn sie die Hakenprothesen getragen hätte, die lediglich über ihre Stümpfe gestülpt und an den Unterarmen festgeschnallt wurden. Wie wusch sie sich? Wie konnte sie Essen zum Mund führen? Die Tücher, in die sie gehüllt war, schienen sauber zu sein, obwohl er das schwer erkennen konnte, da sie in seinem Schatten saß. Er trat einen Schritt zur Seite, damit das Licht von einem Laden gegenüber auf sie fiel. Er sah keinen Schmutz. Sie stank auch nicht. Irgendjemand musste für sie sorgen. Und dennoch – was für ein grauenvolles Leben, als junge Frau in der Nacht allein, ohne die Geborgenheit der Familie. Warum hatte er, der Scheich, sie all die Male ihrem Schicksal überlassen? Jetzt gab er ihr zum ersten Mal ein Almosen. Der wunderbare USB-Stick, der Auslöser für seinen nächtlichen Ausflug war, hatte ihn zu ihr geführt. War es das, was Allah, der Allbarmherzige, jetzt von ihm verlangte: Mitgefühl für dieses verlorene Geschöpf?

Er ging in die Hocke und legte ein paar Münzen in ihren Almosennapf. Dabei sah er den Zipfel eines Fotos unter ihrem einen Knie hervorschauen, sie saß halb darauf. Er wollte es sehen, denn er erkannte die Kopfbedeckung. Er streckte die Hand aus, und sie zuckte zusammen. Ängstliches Tierchen. Vorsichtig zog er das Foto unter ihr hervor.

Es war eine schmuddlige Ansichtskarte. Sie war schon allzu oft befingert worden, die Ränder waren schwarz, das Bild geknickt. Es war eines der berühmten Fotos von ihm selbst, UBL, viele Jahre jünger und in der Blüte seines Lebens, mit leuchtenden Augen und einem Lächeln voller Verständnis {47}und Barmherzigkeit über einem nur mit leichtem Grau durchzogenen Bart. Es war überall in der islamischen Welt verkauf‌t worden, als bekannt wurde, dass er die Ehre der islamischen Nation verteidigte und die Ungläubigen demütigte. Er wurde damals angebetet. Sein Bildnis wurde geküsst. Was tat dieses Mädchen mit dem Foto?

Er schob es zurück und ließ sich neben ihr nieder. Sein Rücken ruhte am Gitter der dunklen Ladentür. Sollte er sie töten? Hatte Allah, der Allbarmherzige, der Wohltätige, der Herrscher, der Friedenstiftende und Allerreinste, ihn in dieser Nacht hierhergeführt, um ihn auf die Gefahr hinzuweisen, die von diesem Mädchen ausging? Oder sollte er dieses arme Wesen beschützen, Allah zu Ehren, dessen erster Name in der Liste der neunundneunzig heiligen Namen »der Allbarmherzige« lautete?

Lauter werdendes Hufgetrappel auf dem Asphalt ließ ihn abwartend zur Straße blicken. Ein Mann auf einem Esel kam vorüber. Der Mann saß rittlings und geduckt auf dem Tier wie auf einem Rennpferd, und der Esel gab sein Bestes. UBL liebte Pferde und ritt für sein Leben gern. Nach Nine-Eleven hatte er es nicht mehr getan.

Sagte sie etwas? Er drehte sich zu ihr hin, und sofort wich sie zurück, schlang die Arme um sich und machte sich noch kleiner, verschreckt über seine Aufmerksamkeit.

Ja, sie sagte etwas, er hörte es jetzt: »Allahu Akbar. Allahu Akbar. Allahu Akbar.«

Was wollte sie damit sagen? Dass sie wusste, wer er war?

Sie saß keinen halben Meter von seiner linken Schulter entfernt. Sie war schmächtig, klein, mager. Er war stark, trainierte jeden Tag seine Muskeln, arbeitete mit Gewichten. {48}Er konnte ihr mit einer Hand die Kehle zudrücken und sie erwürgen. Das würde nicht mehr als ein Minütchen dauern. So gut wie lautlos. Sie würde sich seiner Übermacht ergeben und unterwürfig, vielleicht sogar willig, in den Tod gleiten. Man würde das leblose Mädchen am Morgen finden, wenn der Laden öffnete. Die Polizei würde kommen, man würde sie wegbringen, und dann? Nichts. Sie würde eine Woche lang im Kühlraum der Leichenhalle liegen und danach in ein anonymes Grab geworfen werden. Wer würde für sie beten?

»Allahu Akbar«, flüsterte er.

Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie wollte noch weiter zurückweichen, doch in der Ecke, in der sie saß, war kein Platz mehr dafür. Er nahm das Tuch, das sie um den Kopf gewunden hatte, zwischen Daumen und Zeigefinger und zog es behutsam herunter.

Sie hatte die Augen geschlossen und hob reflexartig die Arme, um ihr Gesicht zu bedecken. Aber sie hatte keine Hände. Nur vernarbte Stümpfe. Ihre Haare waren gebürstet und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden – wer hatte das gemacht? Sie presste jetzt die Stümpfe auf ihre Ohren. Er zog ihren rechten Arm herunter; sie hatte dort kein Ohr. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und drehte ihren Kopf – sie sträubte sich, aber nach wenigen Sekunden gab sie mit zugekniffenen Augen ihren Widerstand auf. Auch den anderen Arm zog er herunter. Ihr fehlten beide Ohrmuscheln.

Es gab Stämme, die solche Strafen vollstreckten. Für eheliche Untreue. Häufig in Kombination mit dem Abschneiden der Nase. Das Abhacken der Hände war die Strafe für {49}Diebstahl, das der Ohren für Ehebruch. Hatte dieses Mädchen beide Verbrechen begangen?

Wann hatte er sie zum ersten Mal gesehen? Vor einem Jahr, dachte er. Er war auf seinem Weg zum Nite Shop achtlos an ihr vorübergegangen. Ein verlassenes Mädchen, hatte er gedacht. Bemitleidenswert, aber bei ihm hatte sie nie irgendeine Regung ausgelöst. Und jetzt? Sollte er sie töten? Wusste sie, wer er war? Ja, davon musste er ausgehen.

Er schaute sich um. Es würde ihn nicht mehr als eine Minute kosten. Die Straße war verlassen. Aber hinter dem Gitter, das die Ladentür sicherte, war im rechten oberen Winkel eine winzige Überwachungskamera angebracht. Sofort fühlte er, ob der Schal seine untere Gesichtshälfte noch ausreichend bedeckte. Ja. Durch die Brille, den Schal und den Lederhelm mit den Ohrenklappen war er unkenntlich – was offenbar nicht für das Mädchen galt, das ihn trotz aller Vermummungen erkannt hatte. Aber konnte er sie hier erwürgen?

Er wusste nicht, ob die Kamera funktionierte und an ein Aufnahmegerät angeschlossen war. Er durf‌te kein Risiko eingehen. Dieses Mädchen durf‌te nicht zu seinem Untergang werden, ausgerechnet jetzt, da er mit den Informationen auf dem USB-Stick den Präsidenten von Amerika und die gesamte satanische westliche Welt leiden lassen konnte.

Irgendjemand sorgte für sie. Sie war sauber, ihre Haare waren gepflegt, die Prothesen wurden umgebunden und abgenommen, und sie war zwar mager, machte aber keinen unterernährten Eindruck.

Welche Sprache sprach sie? Im Urdu, der ersten Sprache Pakistans, war er nicht sehr bewandert, aber über Fernsehen {50}und Radio hatte er genug davon aufgeschnappt, um sich in einfachen Worten darin ausdrücken zu können.

Er fragte: »Wie heißt du, mein Mädchen?«

Sie saß mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen neben ihm, ein Häuf‌lein jämmerliches, einsames Leben. Sie sagte nichts.

Er wiederholte seine Frage: »Wie ist dein Name?«

Jetzt sah er, dass sich ihre Augenlider bewegten, doch sie schaute nicht auf. Ihre Lippen bebten, als sie fast unhörbar hauchte: »Apana.«

Das war ein afghanischer Mädchenname, der »Mandel« bedeutete, wie er sich zu erinnern meinte. Oder bedeutete er etwas anderes? Sie war keine Pakistanin. Eine von den afghanischen Flüchtlingen. Hellblaue Augen, also Paschtunin.

Er sprach fließend Paschtu. »Bist du Paschtunin?«

Sie nickte.

»Aus Afghanistan?«

Sie nickte.

»Wie kommst du hierher?«

»Männer haben mich mitgenommen.« Ihre Stimme war tonlos. Er hörte, dass sie Angst hatte. Natürlich hatte sie Angst.

»Hatten sie dich gekauf‌t?«

Sie nickte.

»Waren sie schlecht?«

Wieder nickte sie.

»Bist du weggelaufen?«

Sie nickte.

»Und hier? Hast du hier Angehörige?«

»Nein.«

{51}»Warum bist du hierhergekommen, ohne Familie?«

»Ich hörte, dass die Menschen hier barmherzig sind.«

»Wer sorgt für dich?«

»Ein Junge und eine Frau.«

»Was für ein Junge?«

»Jabbar.«

»Wo wohnt er?«

»Weiß ich nicht.«

»Und die Frau?«

»Sie ist seine Mutter.«

»Warum tun sie das?«

»Sie sind barmherzig.«

»Barmherzig?«

Sie nickte.

»Warum hast du dieses Foto bei dir?«

»Für Almosen. Manchmal geben die Menschen etwas, wenn sie das Foto sehen.«

»Weißt du, wer das auf dem Foto ist?«

Noch immer wagte sie ihn nicht anzusehen – sie kannte die Regeln, solange er es ihr nicht ausdrücklich erlaubte, würde sie seinem Blick ausweichen –, doch ihm entging nicht, dass sie die Augen zukniff, als rechne sie mit einem zerschmetternden Schlag.

Sie nickte.

Für UBL bestand kein Zweifel mehr: Sie wusste, wer er war. Der verhassteste und gefeiertste Muslim der modernen Zeit, den die allerbesten Ermittlungsdienste der Welt seit Jahren nicht aufspüren konnten, war von einer kleinen afghanischen Bettlerin erkannt worden. Wenige Stunden nach Erhalt des USB-Sticks brachte Apana alles in Gefahr. Allah, {52}der Allbarmherzige, spielte mit ihm. Aber er würde niemals aufgeben.

UBL sollte sie töten. Das war ein unangenehmer Auftrag.

Er legte den Mittelfinger seiner rechten Hand unter ihr Kinn und schob ihr Köpfchen hoch. Sie hielt die Augen geschlossen.

»Sieh mich an«, sagte er.

Sie tat es.

Was sah er in ihren Augen? Er wollte nichts empfinden bei diesem Blick. Sein Auftrag war unendlich viel größer als das, was dieses Mädchen ihm zeigte. Grenzenlose Angst. So nackt, so hilf‌los. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden, schon vor langer Zeit, das las er in ihren Augen. Sie hatte dank barmherziger Hände, die sie nährten und säuberten, überleben können. Er sollte sie von ihrem Leiden erlösen.

»Wer ist der Mann auf dem Foto?«, wiederholte er.

»Der Scheich«, sprach sie, ihn ansehend.

Er wusste, dass sie es wusste.

Er ließ das Foto in seine Manteltasche gleiten und schnallte die Prothesen an ihren Armstümpfen fest. Er bedeckte ihren Kopf. Er half ihr aufstehen und nahm das Zinnschälchen für die Almosen mit.

Er brauchte sie nicht festzuhalten, sie folgte ihm gehorsam, sie hatte keine Wahl, sie ergab sich in ihr Schicksal.

Er hob sie hoch – was wog sie, fünfunddreißig Kilo? – und setzte sie aufs Moped, zeigte ihr, wie sie sich mit ihren Haken am Lenker festhalten konnte, und fuhr dann mit dem Mädchen zwischen seinen Armen los. An seinem Kinn spürte er das flatternde Tuch, das ihren Kopf bedeckte.

{53}