Der Himmel von Hollywood - Leon de Winter - E-Book

Der Himmel von Hollywood E-Book

Leon de Winter

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Beschreibung

Der einst vielversprechende Schauspieler Tom Green kehrt nach einem Knastaufenthalt nach Hollywood zurück mit zweihundert Dollar in der Tasche und kaum einer Perspektive. Zufällig trifft er auf zwei Schauspielerkollegen, die wie er schon bessere Tage gesehen haben. Auf einer nächtlichen Sauftour finden die drei sympathischen Loser einen Toten ƒ und planen den Coup ihres Lebens.

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Leon de Winter

Der Himmel von Hollywood

Roman

Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers

Diogenes

Für Moos, Moon & Jes

Ich weiß nicht, wann wir den Bezug zur

Realität und das Interesse daran verloren

haben, aber irgendwann wurde beschlossen,

daß die Wirklichkeit nicht die einzige

Option sein könne, daß es möglich, ja sogar

wünschenswert sei, sie zu verbessern;

daß man sie durch ein angenehmeres

Produkt ersetzen könne.

Ada Louise Huxtable,

The unreal America

1

Wenn dies ein Film wäre, zeigte die erste Einstellung einen hellbeigen, betagten Oldsmobile, der über die Whitley Avenue zu den Whitley Heights hinaufkriecht, tuckernd und qualmend, weil der Motor schon zu abgenutzt ist für die stark ansteigende Straße. Palmen und heruntergekommene Apartmentgebäude, scharfe Konturen durch die dicht über den Dächern einfallende kalifornische Sonne; es ist bereits Nachmittag.

Schnitt auf den Innenraum des Olds: die drei männlichen Insassen werden ins Bild gerückt.

Zwei von ihnen sind sichtlich in die Jahre gekommen – der Mann auf der Rückbank dürfte in den Sechzigern, der Mann neben dem Fahrer sicherlich in den Siebzigern sein. Der Olds wird vom jüngsten der drei gefahren, jemandem um die Vierzig. Sie sagen nichts, jeder sitzt auf seine Art schweigend im Wageninnern, das dieselbe Cremefarbe hat wie die ausladende Karosserie – ein Paradebeispiel für amerikanische Geschmacklosigkeit. Der Älteste, der massige Mann neben dem Fahrer, fummelt an der Klimaanlage herum. Er hat einen vollen, grauen Lockenkopf und unschuldige, dunkelbraune Augen. Ein stattliches Doppelkinn hat seinen Hals verschwinden lassen, und seine Hände sind rührend klein, glatt und weich wie die eines Kindes.

Er könnte so etwas fragen wie: »Ist es so kalt genug?«

Eine knarrende Bauchstimme, die Worte kommen aus seinen Eingeweiden, ein wenig prononciert, als übe er einen Beruf aus, der mit seiner Stimme zu tun hat.

Der Sechzigjährige auf der Rückbank ist ein Mann, der sich gut pflegt. Sein rotes Haar (das Rot sieht ein wenig zu knallig aus, als sei es gefärbt) ist dicht und sorgfältig frisiert, sein Gebiß ist lückenlos. Er hat grünblaue Augen, ein abgehärtetes Gesicht, ein markantes Kinn – der ideale Chefarzt in einer soap. Demonstrativ wischt er sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich komm um vor Hitze«, sagt er. Auch er hat eine tiefe Stimme, aber rauher, kehlig, eine Stimme, die durch Tausende von Zigaretten und unzählige Nächte on the rocks unkontrollierbare Vibrationen bekommen hat.

»Höher läßt sie sich nicht stellen, tut mir leid«, erwidert der dicke Mann bescheiden.

»Konzentration, bitte«, ruft der Fahrer.

Weil er am Lenkrad sitzt, unverkennbar der Jüngste ist und die Autorität besitzt, diese Ermahnung auszusprechen, muß das Publikum den Eindruck gewinnen, daß es um ihn geht. Daß er derjenige ist, dessen Geheimnisse gelüftet werden.

Die drei Männer blicken jetzt in dieselbe Richtung, zur linken Wagenseite hinaus, wo irgend etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht, und der Olds kommt zum Stehen.

Schnitt auf die Straße, in der der Wagen vor einer Artdéco-Villa hält, einem verspielten Hollywood-Bau mit stuckverzierten weißen Wänden und verschnörkeltem Schmiedeeisen vor den Fenstern – den Schmuckelementen des alten Hollywood. Auch hier Palmen und blühende tropische Sträucher Diesem Haus gilt ihr Interesse.

Schnitt auf einen black-and-white, einen Streifenwagen des Los Angeles Police Department, der direkt vor dem Olds parkt. Ein Polizist in Uniform steht neben dem black-and-white und raucht eine Zigarette. Er winkt den Insassen des Olds zu.

Cut back auf die drei Männer, die zu dem Haus hinüberstarren und dem Polizisten keine Beachtung schenken.

»Machen wir’s?« fragt der Fahrer.

»Machen wir’s«, sagt der dicke Mann.

»Gut«, sagt der Schwitzende.

Schnitt auf den Olds von außen. Sie steigen aus und gehen zur Rückseite des Wagens. Ohne Eile. Alle drei tragen dunklen Anzug, weißes Oberhemd, neutrale Krawatte, aber sie sehen nicht wie Gangster aus; sie könnten Kriminalbeamte (darauf läßt diese Begrüßung schließen) oder Privatdetektive sein. Einer der drei, der Schwitzer, ruft dem Polizisten zu: »Hör auf mit dem Gewinke, Charlie. Du hältst hier Wache, wir gehen rein.«

»Wie du willst, Chef.«

Also Polizei.

Obwohl sich sein Rücken unter seinem Gewicht und der Last der Jahre gekrümmt hat, überragt der dicke Mann die beiden anderen. Sein Körperumfang nimmt bis zu seiner Mitte hinunter beständig zu, und von der Mitte abwärts wieder ab: schmale Knie und schlanke Waden haben sich der Verfettung entzogen, und die Beine stützen den Rest seines Leibs wie stockartige Fremdkörper. Die Gestalt einer wandelnden Birne.

Die Männer heben drei Koffer aus dem Kofferraum des Wagens und spazieren gemächlich zur Rückseite der Villa, auf einem mit hellroten Natursteinplatten gepflasterten Weg rechts um die Garagen herum.

Der Älteste geht voran, er scheint sich hier auszukennen. Er öffnet eine schmiedeeiserne Zierpforte, führt die beiden anderen am Swimmingpool entlang (ein shot von oben, so daß der rotgekachelte Boden zu sehen ist) und bleibt vor einem Fenster des Hauses stehen.

Von den Nachbarn werden die Männer durch eine dichte Wand aus Strohmatten abgeschirmt, an denen sich die Tentakel von Efeu und anderen Gewächsen emporgehangelt haben. Keiner kann sie dort sehen.

Das Fenster hat Schieberahmen und ist in sechs kleinere Scheiben unterteilt.

»Das schlage ich jetzt ein«, kündigt der dicke Mann keuchend an. Der kurze Gang hierher hat ihn erschöpft. Sein Alter und seine schlechte Kondition erlauben eigentlich nicht, daß er vorangeht.

Mit heiserer Stimme fährt er fort: »Im Haushaltsraum ist keine Alarmanlage. Danach gehe ich in die Küche, und da wird dann die Sirene losheulen. Die habe ich binnen fünf Sekunden abgeschaltet. Also: nicht wegrennen, der Lärm gehört dazu.«

Darf die Polizei einfach irgendwo einbrechen? muß sich das Publikum fragen.

»Ich mach mir gleich in die Hose«, sagt der Schwitzende. »Für so was bin ich nicht zu gebrauchen.«

»Du kannst jetzt keinen Rückzieher mehr machen«, ermahnt ihn der Fahrer.

Ist er der Anführer der drei? Wie der Älteste hat er große braune Augen, aber bei ihm strahlen sie etwas Melancholisches oder Trauriges aus und keine Unschuld. Man könnte sich vorstellen, daß er immer so dreinblickt, auch wenn er abgespannt oder verärgert ist. Er hat vermutlich die Art von Stoffwechsel, die einen gleich aufgeschwemmt aussehen läßt, wenn man mal ein, zwei Kilo zunimmt. Sein dunkles Haar beginnt sich zu lichten, er hat schwarze Augenbrauen und lange, feminine Wimpern. Wenn er Schauspieler wäre, ließe sich jede Rolle mit ihm besetzen, doch vermutlich würden Casting Directors in ihm einen osteuropäischen Halunken oder einen verkommenen Juden sehen.

Der dicke alte Mann zieht schmutzige Arbeitshandschuhe aus Leder an, deren Fingerspitzen von jahrelangem Gebrauch speckig glänzen. Er drückt eine der kleinen Scheiben aus ihrem Rahmen.

Das Geräusch von splitterndem Glas, kaum mehr als das Klirren eines Weinkelchs oder eines Frühstückstellers, geht in dem Verkehrslärm unter, der vom Hollywood Freeway ungehindert an der Nordseite des Hauses emporquillt. (Um zu verdeutlichen, woher dieser Lärm kommt, vielleicht zuvor einen shot auf den Freeway einblenden, der vom Olds aus sichtbar wird, wenn sie den Hügel hinauffahren?) Der Dicke greift mit einer Hand durch die Öffnung, entriegelt das Fenster und schiebt es hoch.

Er braucht Hilfe, als er über den Fenstersims ins Haus hineinsteigt. Denn immerhin ist er ein dicker alter Mann mit steifen Gliedern, und vielleicht muß er in irgendeiner Weise eine Schwäche zu erkennen geben, die auf ein ernsteres Leiden hindeutet.

Vom point of view des Fahrers sieht man den alten Mann zur Küchentür gehen.

Unmittelbar darauf heult die durchdringende Sirene der Alarmanlage los. Der Schwitzende blickt sich, vom gellenden Lärm überrascht, verschreckt um, und der Fahrer macht eine beruhigende Gebärde.

Nach fünf Sekunden geht die Sirene aus, wie der alte Mann versprochen hat, und erstirbt mit einem langgezogenen, klagenden Seufzer. Die Welt scheint sich an diesem Einbruch in die Ordnung der Dinge nicht zu stören.

Die Kamera bleibt draußen, bis der alte Mann von innen her die Küchentür öffnet.

»Kommt rein«, sagt er. »Nichts anfassen. Wir gehen gleich nach unten.«

Schnitt auf das Innere der Villa. Die drei Männer durchqueren, die leeren Koffer schwenkend, die Küche. Die Küche sieht noch wie bei ihrer Einrichtung in den roaring twenties aus, bis hin zu dem riesigen gußeisernen Herd und den Art-déco-Wandfliesen, aber auch eine Mikrowelle, ein Mixer und eine moderne Espressomaschine sind vorhanden.

Der alte Mann öffnet eine Tür, und sie sehen eine Treppe, die in einen Keller führt.

»Vor einer Woche hab ich noch von nichts gewußt«, seufzt der Schwitzende.

»Halt doch den Mund«, gebietet der Fahrer.

Sie stolpern die Treppe hinunter und gelangen in einen dunklen Gang. Der alte Mann macht das Licht an.

Die Decke ist im Stil romanischer Bögen gewölbt, der Fußboden ist mit braunen Klosterfliesen ausgelegt, die Wände sind unverputzt. Dieser Teil des Gebäudes stellt einen Stilbruch zum Art déco des Erdgeschosses dar, das offen, hell und elegant ist. Dem Kellergeschoß dagegen haftet eine schwere, ernste Atmosphäre an – fast so etwas wie eine germanische Unterwelt, die die verspielte Oberwelt stützt.

Der alte Mann öffnet eine weitere Tür, knipst auch dort das Licht an, und dann folgt der Enthüllungs-shot: ein eingemauerter Tresor, eine schwere, grün gespritzte Tür von anderthalb Meter Höhe, eingehängt in zwei Scharniere, die an der Außenseite des breiten Metallrahmens angebracht sind.

»Mister Green, walten Sie Ihres Amtes«, sagt der alte Mann.

Er schlurft beiseite und macht dem Fahrer Platz. Der heißt also Green. Muß man sich merken!

Die Decke ist niedrig, für Green aber gerade noch hoch genug.

Er zieht einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und betrachtet ihn ein wenig zu lange – beobachtet von den beiden anderen, die ebenfalls vom Anblick des Schlüssels fasziniert sind, wodurch der Moment etwas Feierliches bekommt.

Green schiebt den beweglichen Metalldeckel vor dem Schloß beiseite und steckt den Schlüssel hinein.

»Hat sie uns gelinkt?« fragt der Schwitzende.

Das Publikum weiß nicht, wer mit sie gemeint ist. Aber es vertraut darauf, daß es das später schon noch erfahren wird. In guten Filmen geschieht nie etwas ohne Grund.

»Paßt er?« fragt der dicke Mann.

Green dreht den Schlüssel herum.

Nun plötzlich ein gewagter shot vom Mechanismus des Tresors, als sei die Kamera in die Tür hineingekrochen. Zahnräder, die sich drehen, Bolzen, die in Bewegung gesetzt werden, irgendwas in der Art.

Und dann wieder cut back auf Green. Mit beiden Händen faßt er den nach rechts zeigenden Hebel, der oberhalb vom Schloß aus der Tür ragt – er steht auf halb fünf –, und bewegt ihn nach links, auf halb acht.

»Wie Olivenöl«, flüstert er.

Dann zieht er die Tresortür, eine zehn Zentimeter dicke Platte, die perfekt ausbalanciert in den Scharnieren hängt und sich geschmeidig mitbewegt, auf.

Sie schauen in den tiefen Panzerschrank hinein.

Im Schein der Taschenlampe des dicken Mannes werden (Nahaufnahme!) Stapel von Banknoten sichtbar. Eventuell ein Schwenk über die Stapel, um zu verdeutlichen, daß es sich hier um Millionen Dollar handelt.

Ein Gegenschuß vom Innern des Tresors auf die drei Männer, die stumm auf das Geld starren.

Dann, wie auf ein Zeichen hin, lassen sie hastig die Koffer aufspringen und beginnen mit zitternden Händen das Geld einzupacken.

Wenn dies ein Film wäre, käme jetzt eine Abblende, und auf der dann schwarzen Leinwand erschiene in weißen Lettern ein Schriftzug: ZWEI WOCHEN DAVOR.

2

Zwei Wochen davor saß Green um acht Uhr morgens in einer Cafeteria Ecke Vine/Hollywood Boulevard, einem Treffpunkt von Unternehmern in Sachen Dope, Diebstahl und Prostitution im Herzen des alten Hollywood, und las bei einem großen Becher Kaffee – einen Dollar fünfundzwanzig, inklusive Gratis-refill – in der Los Angeles Times.

Bei seiner Verhaftung hatte man an die hunderttausend Dollar unter seiner Matratze gefunden, vier Designeranzüge im begehbaren Kleiderschrank, englische Schuhe neben dem Nachttisch, eine Bomberjacke einer teuren französischen Marke über der Rückenlehne eines Stuhls, einen Laptop mit Zubehör auf dem Schreibtisch und die Schlüssel für einen Cadillac Allante neben einem Päckchen Kondome. Alles, inklusive der Durex, war beschlagnahmt worden. Jetzt, nach Verbüßung seiner Strafe – zwölf Monate, von denen ihm fünf erlassen worden waren –, besaß er einen kleinen Koffer mit Kleidung, zwei Schreibblöcke, drei Kugelschreiber und einhundertneunundachtzig Dollar Bargeld. Keine Kreditkarten oder Schecks, ja nicht einmal ein Bankkonto. Sein Geld reichte für höchstens eine Woche. Danach würde er sich den Obdachlosen an der Ocean Avenue in Santa Monica anschließen können, die dort von homosexuellen Paaren, welche ihre Fürsorge zwischen Aidskranken und auf der Straße lebenden Vietnamveteranen verteilten, mittags Suppe und Brot bekamen.

Hlywd Spcl $75 wk, kit apts avail, qt htl.

Eine Annonce im typischen Telexstil, dessen man sich in amerikanischen Zeitungen bediente. Hollywood Special $75 week, kitchen apartments available, quiet hotel. Er rief die in der Annonce angegebene Telefonnummer an und erkundigte sich nach der Adresse.

Das St. Martin’s Hotel, ein Haus am Hollywood Boulevard, berechnete nur fünfundsiebzig Dollar für sieben Übernachtungen und konnte nichts anderes als ein tristes Loch mit Kakerlaken, Mäusen, Ratten und verlorenen Seelen sein. Die zweite Annonce in der Rubrik hotel/motel rooms bot ein Zimmer für vierhundertfünfundsiebzig Dollar an: relocating? spcl 475mo, spcl dly & wkly rts, das hieß fast hundertzwanzig die Woche. Wenn Green sich dort ein Zimmer nahm und in dieser Woche keinen Job fand, blieb ihm so gut wie nichts zum Leben.

Ein Taxi war zu teuer, also nahm er den Bus – einziger Europäer zwischen stämmigen kleinen Latinos, die zu den Hollywood Hills hinauffuhren, wo sie Gärten und Swimmingpools säuberten. Der Abschnitt des Hollywood Boulevards, an dem das Hotel lag, verband heruntergekommene Lagerschuppen mit verbarrikadierten Geschäften und kahle Ruinen mit brachliegenden Grundstücken. Doch es gab hier auch Kneipen und Läden von abenteuerlichen Gestalten mit orange gefärbten Haaren und gepiercten Wangen, postmodernen Punks, die eine Kundschaft aus Künstlern und Banditen bedienten. Und noch immer waren da die Klitschen von Leuten, die keine Möglichkeit hatten, anderswo von vorne anzufangen. Ihre kümmerlichen Auslagen mit Teppichen, Möbeln und Brautkleidern sahen sich allerhöchstens die mittelamerikanischen Putzfrauen, Garten- und Bauarbeiter an, die Tag für Tag auf dem Weg von der Bushaltestelle zu den gesicherten Villen am Fuße der Hügel, nur wenige hundert Meter hinter dem Boulevard, hier vorüberkamen.

Das St. Martin’s, ein stuckverzierter Würfel mit hohen Fenstern und sechs Wohngeschosse stark, ein Jugendstiljuwel aus den Glanzzeiten der Stummfilmära, stand Ecke Hollywood/Western. Die Fenster hatten Blendrahmen in fließenden Formen, Rosettenornamente, und auf der Fassade klebten Lilien und Lianen – all das schadhaft und angefressen, unter der unerbittlichen Sonne Kaliforniens vor Schönheit zugrunde gehend.

In der Hotelhalle, einem quadratischen, schmutziggelben Saal, saß ein Schwarzer auf einem Kunstledersofa und schlief, das Kinn auf der Brust, eine Zeitung auf dem Schoß, die geöffneten Hände wie um etwas bittend neben sich auf dem speckigen Polster. Der Empfangsschalter war ein vergittertes Guckloch in der Wand. Rund um dieses Loch herum klebten vergilbte Zettel mit handgeschriebenen Mahnungen in bezug auf Drogengebrauch, Lärmbelästigung und Nichtbezahlung. Es roch nach scharfen Desinfektionsmitteln, die auf die Atemwege schlugen. Eine dicke Frau, jünger als Green, schaute ihn von der anderen Seite der Gitterstäbe her an, mit Augen, die zuviel gesehen hatten.

Er sagte: »Ich habe Ihre Annonce gelesen. Fünfundsiebzig pro Woche. Kann ich mir ein Zimmer ansehen?«

»Wie viele Personen?« Freundlichkeit war nicht ihr Fall.

»Eine.«

»Wie lange?«

»Mindestens eine Woche. Aber ich denke mal, einen Monat.«

»Vierzig im voraus.«

»Kein Problem.«

»Kommen Sie zur Tür.« Sie verschwand.

Er sah jetzt neben dem Schalter eine Metalltür, in derselben gelben Farbe gestrichen wie die Wand. Die Tür wurde geöffnet, und die Frau ging ihm voran zum Fahrstuhl.

Die Wände dieser zweiten Eingangshalle, die Fahrstuhltüren und sogar Teile der Decke waren mit Graffiti bedeckt, größtenteils unleserlich, weil Signets und Parolen übereinandergesetzt waren. Auch das Fahrstuhlinnere war vollgesprayt, vollgeritzt, vollgekritzelt. Bei der Entlassung aus der Haft hatte er sich vorgenommen, fürs erste nichts zu empfinden, keinen Groll, kein Bedauern, keine Wut, keine Scham, keine Liebe. Wie ein Roboter wollte er sich durch die Stadt bewegen, und sein Gemüt durfte sich erst wieder regen, wenn er sich eine mehr oder weniger anständige Existenz aufgebaut hatte. Aber dieses Hotel war schaudererregend. Er war tiefer gesunken, als er es sich in seinen depressivsten Momenten hätte vorstellen können.

Zum Glück war der Flur im vierten Stock sauber. Das Licht schlitterte über dicke Farbschichten auf den Wänden, der Fußboden war aus einem gummiartigen schwarzen Material (das vermutlich gewählt worden war, weil es sich leicht abschrubben ließ), Fußleisten und Türen wiesen eine Unzahl von Dellen und sonstigen Beschädigungen auf, waren aber mehr oder weniger intakt.

In einer Ecke mit einem Münztelefon stand ein spindeldürrer Mann in Unterhemd und Nylontrainingshose und nickte ins Leere. Er hatte den Hörer zwischen eingefallene Wange und knochige Schulter geklemmt.

Die Frau sagte: »Hi, Charlie.«

Er sah sie kurz an. Panischer Blick.

»Hi, Deb.«

Deb ging vor Green her in einen zweiten Flur. Sie öffnete die Tür zu einem Eckzimmer mit zwei Fenstern, die auf den Hollywood Boulevard hinausblickten.

Überrascht stellte Green fest, daß das Bett sorgfältig gemacht und die Bettdecke für den müden Gast schon halb aufgeschlagen war. Im Zimmer standen ein alter Fernseher, ein Stuhl, ein Tisch und so etwas Ähnliches wie ein Büfett; eine Tür führte zu einem separaten Badezimmer mit angestoßenem Waschbecken, Toilette und Duschkabine, alles sauber, wie es schien. Es hingen Handtücher da, und das einzige Geräusch, das er hörte, kam von draußen.

»Wann brauchst du’s?« fragte Deb.

»Jetzt sofort.«

»Kabelfernsehen. Warmes und kaltes Wasser. Du mußt dich sofort entscheiden. Dies ist eins der besten Zimmer, die wir haben. In fünf Minuten nimmt’s ein anderer.«

Sie brauchte die Qualitäten des Zimmers nicht zu unterstreichen. Er hatte hier kein Quartier mit sauberen Handtüchern erwartet. »Ich nehme es.«

»Vierzig im voraus.«

Er gab ihr vier Zehndollarscheine.

»Wenn du nachher runterkommst, kriegst du ’ne Quittung.«

Sie ließ ihn im Zimmer zurück, und er setzte sich aufs Bett. Die Sprungfedern ächzten. Green drückte sein Gesicht in das Kopfkissen und roch frisch gewaschene Baumwolle ohne Spuren von Ausdünstungen früherer Gäste. Er hatte einen Stuhl, einen Tisch, Stift und Papier, und er konnte ungestört an einem Skript arbeiten, das einen Schlußpunkt unter seine Vergangenheit setzen würde. Er schluckte den Kloß hinunter, der ihm seit Betreten des Hotels im Hals gesteckt hatte; unnütze Gefühlsregungen, die er sich nicht leisten konnte, oder eine Reaktion auf die Desinfektionsmittel? Es hätte schlimmer kommen können. Er durfte sich nicht beklagen.

Mit einem Prickeln in den Armen – als wolle sich sein Körper von seinem Entschluß zur Gefühllosigkeit nicht beirren lassen – packte er den Koffer aus, entkleidete sich und ging unter die Dusche. Er nahm sich vor, ein Postfach in West Hollywood zu mieten, einer gesonderten Stadtgemeinde mit gutem Ansehen, damit sein Aufenthaltsort geheim blieb. Und sobald er eine feste Einkommensquelle gefunden hatte, würde er sich eine Wohnung in den foothills oder westlich der Fairfax mieten. Sein Gesicht war naß, ob vom Duschwasser oder vom Greinen, das seiner Kehle entwich, war nicht auszumachen.

Adressen waren in dieser Stadt wichtig, dachte er. Er mußte hier so schnell wie möglich weg.

3

Vom Münztelefon beim Fahrstuhl aus rief Green die Firmen an, die in der LA Times Jobs ohne große Voraussetzungen anboten. Er war zu jeder Arbeit bereit: als Nachtportier, Vertreter, Koch oder Wachmann. »Wir suchen jemand Jüngeres«, bekam er jedesmal zu hören. Er war zweiundvierzig.

Plötzlich tauchte Charlie mit breitem Grinsen im Gesicht neben ihm auf. Eine Hälfte der Zähne war ihm schon ausgefallen, die andere von Fäulnis zerfressen. Große Augen in einem knochigen Gesicht. Er hüpfte hin und her, als habe er Speed geschluckt – ein durchgedrehter Zauberer.

»Du bist doch in vier zwölf, oder?«

Green nickte.

»Da hat Bukowski drin gewohnt. Und Kerouac, behauptet man.«

»Schön.«

»Tolle Aussicht da. Und die Schwingungen sind gut.«

»Ja.«

»Wenn du was brauchst, ich bin Charlie, okay? Ich bin hier in vier null sieben, weißte, schon fast zwei Jahre. Hast du ’nen Farbfernseher?«

»Weiß ich nicht. Ich glaube, ja.«

»Stell ihn auf Schwarzweiß, okay? Stell die Farben ab. Sofort.«

»Warum?«

»Mach’s einfach, okay? Wird sich später schon zeigen, warum. Keine Farben! Das ist das wichtigste! KEINE Farben!«

Er schlingerte in sein Zimmer zurück, das direkt neben dem Telefon lag, und ließ Green allein. Die nächste Firma, die er anrief, warb mit dem Slogan: Earn while you learn, need self-motivated, high energy sales personnel.

 

Dreißig Minuten später saß Green im Bus Richtung Valley. Er trug den einzigen Anzug, den er noch besaß, einen dunkelgrauen thousand dollar suit von Hugo Boss (nicht beschlagnahmt, da er schon vor seinem Aufenthalt in Maine in seinem Besitz gewesen war), zu dem er ein weißes Oberhemd, eine blaue Krawatte und spiegelblank geputzte Schuhe angezogen hatte. Die Latinos im Bus starrten ihn befremdet an, nicht gewöhnt an den Anblick eines Fahrgastes, der sich als Anwalt verkleidet hatte. Noch nicht einmal ein Vormittag war seit seiner Ankunft in LA verstrichen, aber Green hatte es eilig.

Der Bus folgte dem Hollywood Freeway, der ins Valley hinunterführte. In ihrem Verlauf durchschnitt diese Autobahn die Santa Monica Mountains, ein Band ausgedörrter, unwirtlicher Hügel, Täler und Felsformationen, das sich von der Küste im Westen bis zum Hochgebirge im Osten der Ebene hinzog. Hier passierte sie völlig unbewohntes Gebiet. Die Hänge waren zu steil und zu zerklüftet für die Bebauung (obwohl sich die Architekten an waghalsige Konstruktionen herantrauten: Manchmal wurde ein Haus auf nur einem Stahl- oder Betonfuß an den Rand einer Schlucht gesetzt), und hier offenbarte sich, was diese Region ursprünglich einmal gewesen war: eine Wüste mit Oasen aus dornigen Sträuchern, bewohnt von Geiern und Kojoten.

Doch wo die Santa Monica Mountains in die Hollywood Hills übergingen, war jeder Zentimeter Boden bebaut. Manche Villen waren Kopien toskanischer Originale mit Springbrunnen, Ziergärten, Rosenrabatten, Swimmingpools, eine an die Riviera erinnernde Hügellandschaft, in der sich die Stars der Vorkriegszeit ihre Paläste hatten errichten lassen. Die Ruhe, die sie damals suchten, war durch den Bau des Freeways für immer gestört worden. Zehnspurig donnerte der Verkehr unablässig unter Gärten voller Oleander, Bougainvilleen, Zypressen und Palmen dahin, einstmals stumme Zeugen von Gartenfesten mit Valentino, Chaplin, Pickford oder Fairbanks.

In besseren Zeiten hatte sich auch Green regelmäßig auf solche Feste verirrt. Valets standen an der Auffahrt bereit, um seinen Wagen zu parken, Bodybuilder überprüften seine Einladungskarte oder sahen seinen Namen in einer exklusiven Liste nach (»Green, sagten Sie? Sammie Green?« – »Tom, Tom Green.«), entfernte Bekannte begrüßten ihn wie einen alten Freund, junge Frauen in hautengen Kleidern, die nur mit brainpower Karriere machen wollten, hielten ihn fälschlicherweise für einen power player, Produzenten auf der Jagd nach dem einen Geldgeber, der gerade in ihr Projekt investieren wollte, würdigten ihn keines Blickes, betrunkene Schriftsteller quatschten blindlings auf ihn ein, und Kollegen Greens – andere Schauspieler – tappten hilflos herum, ohne Skript, ohne Regie.

 

Die erste Runde des Bewerbungsverfahrens fand in einem unansehnlichen Hotel in der Nähe der Universal Studios statt.

Ein Schild in der Lobby wies den Weg in den Crystal Room, einen farblosen Saal, in dem Green von einer Assistentin der Bewerbungsleitung Fragebogen und Stift gereicht wurden. Er füllte aus, was er ausfüllen konnte.

Fünf Minuten später brachte ihn eine andere Frau in einen Raum im dritten Stock, der für diesen Anlaß zu einem Besprechungszimmer eingerichtet worden war.

Ein gedrungener, südländisch wirkender Mann mit Froschaugen, die ihm beinahe aus den Höhlen sprangen, ein Bruder des Glöckners von Notre-Dame, empfing ihn mit professionellem Lächeln.

»Harry Lena.«

»Tom Green.«

Er schüttelte Greens ausgestreckte Hand. Dicht behaarte Arme, goldenes Kettchen am Handgelenk. Sizilianischer Abstammung.

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich.«

Lena ließ sich hinter einem Schreibtisch in einen Ledersessel fallen und sah sich den Fragebogen an. Er ragte kaum über die Tischkante hinaus. Filzartiger Teppichboden, ein großer brauner Fleck an der Wand, wo das Kopfende eines Bettes gestanden hatte. Ein Hotel für verlorene Handelsreisende und eilige Huren.

»Emmy-Nominierung?« Lena blickte überrascht auf, mit Augen, die aus Glas zu sein schienen.

Zum Beweis schob Green ihm die Urkunde hin. »Ist schon ’ne Weile her«, sagte er, »1982.«

Er war stolz auf die Nominierung. Sie hatte ihn aus der Anonymität herausgehoben und ihm jahrelang gutbezahlte Fernseharbeit verschafft. Aber ihr Nachhall war seit geraumer Zeit verklungen. Er merkte, daß er nervös war, und konzentrierte sich auf den Nasenrücken des Froschs, ein alter Schauspielertrick, um Ruhe und Besinnung zu finden. Lächerlich, er fühlte sich, als mache er Probeaufnahmen für einen Spielberg-Film. Nichts fühlen, dachte er, nichts an mich ranlassen.

»So etwas veraltet nicht«, entgegnete Lena, von der Echtheit des Papiers überzeugt. Er betrachtete es von allen Seiten, nickte bewundernd und gab es Green mit breitem Lächeln zurück: »Ich sag immer, verkaufen ist Showbusineß, das ganze Drumherum, das Gefühl dabei, muß angenehm sein, unterhaltsam. Leute mit schauspielerischer Erfahrung haben Pluspunkte.«

»Schön«, sagte Green und, ebenfalls mit einem Lächeln: »Gibt’s in Ihrer Branche auch Auszeichnungen, Preise?«

»Und ob. Nur noch kurz ein paar Fragen, Tom.«

Harry war nicht bereit, ihm so ohne weiteres grünes Licht zu geben. Green sollte kämpfen.

»Nur zu, Harry.«

»Keine Verkaufserfahrung?«

»Jedes Vorsprechen ist eine Art Verkauf, Harry. Du mußt dafür sorgen, daß sie dich kaufen und keinen anderen.«

»Viel Konkurrenz?« fragte Harry.

»Ja. Auch mit Emmy-Nominierung muß man sich jedesmal aufs neue beweisen.«

»Sie haben viel gemacht. Warum hören Sie damit auf?«

»Man muß irgendwann den Mut haben, einen Strich darunter zu ziehen. Die Chance, daß ich in meinem Alter plötzlich den großen Durchbruch erziele, ist gering. Und die Rollen, die ich gern spielen würde, sind für mich unerreichbar. Also mache ich lieber was anderes. Ich liebe Autos und betrachte es als Herausforderung, mit einem guten Produkt zu arbeiten.«

Er liebte Autos keineswegs, und die Herausforderung war minimal. Geld, das war alles, die dringende Notwendigkeit. Wenn er etwas anderes fand, das besser bezahlt war, würde er das geliebte Produkt sofort fallenlassen.

»Wir arbeiten mit einem niedrigen festen Gehalt und einer hohen Provision.«

»So muß es sein. Leistungszulage.«

Er schwafelte irgendwas daher, Hauptsache, bei Harry kam es an. Wenn Harry wollte, daß er einen Kopfstand machte, würde er auch das tun. Er hatte seine Stimme gut unter Kontrolle, schaute dem Mann direkt ins Gesicht, saß mit entspanntem Rücken und ruhigen Händen in seinem Sessel.

»Im vergangenen Jahr haben Sie nichts gemacht, sehe ich.« Harry wies auf den Fragebogen.

»Nein. Ich bin im Land herumgereist, hab ein einjähriges Sabbatical genommen, um mich zu besinnen, was ich eigentlich will.«

»Und da ist Ihnen der Gedanke gekommen: Autoverkäufer, das ist meine Zukunft«, sagte Harry.

»Ich weiß nicht, ob es Leute gibt, die davon träumen, Autoverkäufer zu werden, ich glaube nicht, aber für mich ist das im Augenblick das beste«, antwortete Green, dem vor seiner eigenen Heuchelei schauderte. Aber er war sich sicher, daß er große Integrität ausstrahlte.

»Sind Sie technisch begabt?«

»Bevor ich nach Amerika kam, habe ich in Europa eine technische Ausbildung gemacht.«

»Das ist ein großer Vorteil«, Harry nickte. »Viel gesehen im vergangenen Jahr?«

Harry wußte Bescheid. Offenkundig glaubte er nicht, daß Green ein Sabbatical genommen hatte. Dieser hinterlistige Giftzwerg war ein erfahrener Bewerbungsleiter, und er hatte sofort erfaßt, daß Green gesessen hatte.

»War hauptsächlich an der Ostküste. New York, Maine vor allem.«

»Noch gearbeitet unterwegs?«

»Kleinere Sachen, hier und da.«

Jetzt wurde es brenzlig. Green hielt besser den Mund und log sich nicht zuviel zusammen.

»Wir könnten gern noch ellenlang so weiterreden, aber ich denke, daß soweit alles klar ist. Sie müssen wissen, Tom, daß wir, ehe wir jemanden einstellen, Erkundigungen über dessen Vorgeschichte einholen. Also ungelogen: Ihr Resümee sieht phantastisch aus, beinahe zu gut sogar, und Sie sind perfekt gekleidet, ebenfalls zu gut, in dieser Hinsicht haben wir auch so unsere Vorstellungen, welcher Hersteller?«

»Hugo Boss.«

»Donnerwetter«, sagte Lena bewundernd. »Von mir aus könnten Sie gleich nächste Woche eingeführt werden. Zumindest, wenn wir nicht auf irgend etwas stoßen. Ich nehme doch an, daß dem nicht so sein wird?«

»Nein, alles in Ordnung«, sagte Green. Er wußte, daß er den gleichen Fehler machte wie damals – zu schweigen, anstatt die Karten gleich offen auf den Tisch zu legen –, aber irgendwie konnte er nicht anders. Die Wahrheit war zu stark befrachtet. Vor der Kamera, auf der Bühne, konnte er einiges verkraften. Er hätte das zuvor in seinem Verschlag im St. Martin’s proben sollen. Wieder kam dieser blöde Kloß hoch, eine Zusammenballung monatelang unterdrückten Geflennes, und er schluckte und spürte, daß sich der Schutzvorhang von seinen Augen schob und nackte Existenzangst enthüllte.

Harry erhob sich, seine Glupschaugen wäßrig vor geheuchelten Gefühlen: »Wir werden Ihnen dann in einigen Tagen telefonisch Bescheid geben, Tom.«

»Danke«, sagte Green in dem lastenden Bewußtsein, daß der Zwerg morgen auf dem Computerausdruck von seiner Vorstrafe erfahren würde.

4

Green klopfte an Charlies Tür.

»Wer ist da?« erklang es gedämpft.

»Vier zwölf.«

Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und ein Auge Charlies musterte Green forschend, seinen Anzug begutachtend, als sei er aus Gold gewirkt.

»Was willst du?«

»Es könnte sein, daß ich angerufen werde. Wenn sie nach Tom Green fragen, sagst du mir dann bitte Bescheid?«

»Seh ich aus wie deine Sekretärin?«

»Wenn ich abnehme und es wird nach Charlie gefragt, sag ich dir auch Bescheid, okay?«

»Wieso?«

»Wieso? Weil der Anstand das erfordert, scheint mir.«

»Anstand?« Charlie zog die Tür ein Stück weiter auf, und Green erhaschte einen Blick in sein Zimmer. Kleidung auf Drahtbügeln von der Reinigung, aufeinandergetürmte Fernsehgeräte, mannshohe Stapel von Zeitungen und Zeitschriften. Säuerlicher Mief schlug ihm entgegen.

»Anstand?« wiederholte Charlie. »Weißt du eigentlich, wo du hier bist, Mann? Hast du mal die Augen aufgesperrt und um dich geguckt?«

»Anstand ist das, was uns noch von der Gosse trennt«, sagte Green müde. »Wenn angerufen wird und es ist für jemand anders, dann bin ich nicht so ein Arsch und leg einfach auf. Dann ruf ich dich. Wenn wir so was nicht machen, wird jede Form des Zusammenlebens unmöglich.«

»Zusammenleben?« Charlie sah Green mit schiefgelegtem Kopf an und teilte ihm mit zu Schlitzen verengten Augen und gespitztem Mund einen Platz in seinem Universum zu. »Dafür hab ich keine Zeit, Mann. Nenn mir einen einzigen Grund, weshalb ich dir helfen sollte.«

»Hör zu, Charlie. Es ist mir scheißegal, was du mit deiner Zeit machst, ich möchte nur, daß du mich kurz rufst, wenn für mich angerufen wird, kapiert?«

»Hast du die Farben abgestellt?«

»Was meinst du?«

»Deinen Fernseher, Blödmann. Ich hab’s dir doch gesagt! Stell die Farben ab.«

»Nein, ich hab noch nichts gemacht.«

Charlie schüttelte abwehrend den Kopf, sagte: »Laß mich bloß in Ruhe, Mann«, und schloß die Tür.

In seinem Zimmer zog Green sofort den Anzug aus – er wollte ihn schonen, vielleicht mußte er ihm noch jahrelang für formelle Anlässe dienen – und ging in Jeans und T-Shirt nach unten. In der Halle beugte er sich zu dem vergitterten Schalter hinunter und erkundigte sich bei Deb nach einem Supermarkt. Er brauchte ein paar Dinge für den täglichen Bedarf, Zahnpasta, einen Teller, einen Becher, Besteck, Geschirrspülmittel.

Gedämpft sagte sie, überraschend freundlich: »Du solltest dich hier besser nicht so kleiden, weißt du.«

»Ich werd’s nicht mehr tun.«

»Dann pumpen sie dich nur an. Oder sie brechen deine Tür auf, wenn du weg bist.«

»Der Anzug ist das einzige, was ich noch habe.«

»Das steht aber nicht drauf«, entgegnete sie.

Green nickte mit starrer Miene.

Als er in Richtung Ausgang lief, sah er Jimmy Kage.

Kage saß neben dem Schwarzen, der bei Greens Ankunft auf dem Sofa geschlafen hatte. Der Schwarze erzählte mit großen Gebärden irgendeine Geschichte, legte Kage vertraulich die Hand auf den Arm und beugte sich zu ihm hinüber. Sie lachten. Kage trug T-Shirt, kurze Hose und Plastiklatschen, als wohne er am Strand von Malibu, und sah besser aus als auf Fotos von vor etwa fünf Jahren, den jüngsten, die Green kannte. Er war mindestens sechzig, aber er hatte eine gesunde, sommersprossige Haut mit dem typischen blaßrosa Teint der Rothaarigen, muskulöse Schultern und schlanke Beine, als trainiere er regelmäßig im Fitneßstudio und trinke keinen Tropfen Alkohol mehr. Abgesehen von seinem gefärbten Haar – das seiner Erscheinung etwas Zuhälterhaftes verlieh – hatte Kage jetzt den Kopf, um einen gewieften Politiker oder einen abgeklärten Chirurgen zu spielen. Genau wie Harrison Ford hatte er ein leicht schiefes, asymmetrisches Gesicht, das ihm etwas Jungenhaftes, Unbesonnenes gab.

In den siebziger Jahren war Jimmy Kage ein bekannter Schauspieler gewesen, aber im Laufe der letzten zehn Jahre hatte er sich unmöglich gemacht. Green hatte vor sieben Jahren einen einzigen Tag mit ihm gearbeitet und seither nur noch mit ihm zu tun gehabt, als er Fire vorbereitete, das Filmprojekt, das ihn hinter Gitter brachte. Er hatte das Skript damals an eine Postfachadresse am Wilshire Boulevard geschickt. Offenbar versteckte sich auch Kage hinter einer Postfachnummer. Mit hochgezogenen Schultern und abgewandtem Gesicht ging Green hinter Kages Rücken auf die Straße hinaus.

Er folgte dem Weg, den Deb ihm beschrieben hatte, und kam an zig schwarzen Obdachlosen vorbei, fast alle im Besitz eines mit großen Plastiktüten beladenen Einkaufswagens.

Als er Kage das letztemal gesehen hatte, war Paula noch bei ihm gewesen. Bei Paula hatte er das elektrisierende Gefühl gehabt, er habe das ganze Leben nach ihr gesucht, was natürlich nicht sein konnte, aber er hatte dieses Gefühl gehegt, weil es ihm die Illusion vermittelte, ein Ziel im Leben zu haben: eine gemeinsame Existenz mit Paula Carter. Green hatte nie an etwas so Verstaubtes wie das Schicksal geglaubt, bis Paula sich ihm offenbarte – ja, nicht weniger als das war es gewesen. Bei ihrem ersten Blickwechsel erkannte er sie wieder, und sie ihn, begegnete ihnen im anderen etwas von früher, das nur ein Seelenverwandter sehen konnte. Alles würde gut werden. Er hatte sein Spiegelbild gefunden. Bei Paula brauchte er nicht zu spielen.

Mit gesenktem Kopf fragte er sich, wie lange er Kage wohl aus dem Weg gehen konnte. In diesem Viertel gab es mindestens ein Dutzend billiger Absteigen mit Zimmern, die in der Woche vielleicht zwanzig, dreißig Dollar mehr kosteten, wo er aber keinen Bogen um Kage zu machen brauchte. Green schämte sich. Ein viel zu kostspieliges Gefühl für seine derzeitigen Verhältnisse.

5

Das Büro von Kant & Associates befand sich im elften Stock eines Bürogebäudes am Wilshire Boulevard, nahe dem Rodeo Drive. Die Fenster gaben Ausblick auf die Geschäftsstraßen von Beverly Hills und, weiter nach Nordwesten, die grünen Hügel von Bel Air, der schwer gesicherten Enklave der Allerreichsten.

Im Eingangsbereich neben den Fahrstühlen bediente eine junge Frau die Telefonzentrale. Über hauchdünne Kopfhörer, die ihre perfekt gestylte roaring-twenties-Frisur – wie von dem Mädchen in Pulp Fiction – nicht zu berühren schienen, nahm sie ein Gespräch entgegen, ließ warten und stellte durch, alles in demselben singenden Ton.

Danach sah sie Green fragend an. Sie hatte ein weißgeschminktes Gesicht, als müsse sie gleich anschließend auf dem Set eines Gruselfilms erscheinen.

Er log: »Ich habe einen Termin, mit Robert Kant.«

»Wie ist Ihr Name?«

»Green, Tom Green.«

»Nehmen Sie bitte einen Moment Platz, Mister Green?«

Er setzte sich und nahm eine Zeitschrift von dem Glastisch. Anstatt Einkäufe zu machen, die er für seinen Aufenthalt im St. Martin’s brauchte, war er in einem Anfall von Verzweiflung in den Bus nach Beverly Hills gestiegen. Nun saß er plötzlich hier, ohne den stärkenden Boss-Anzug, mit rastlosen Fingern, die hastig die Zeitschriften durchblätterten und – so fürchtete er – Robert auf Anhieb die Gründe für sein Kommen verraten würden.

Energischen Schrittes kam eine Sekretärin auf Pfennigabsätzen auf ihn zugestöckelt. Kurzes blondes Haar, Augen voller Feuer, Perlen um den Hals und an den Ohrläppchen.

»Mister Green, es tut mir leid, aber ich kann Ihren Namen in Mister Kants Terminkalender nicht finden.«

»Ich wollte nur mal sehen, ob Robert eventuell Zeit hätte.«

»Mister Kant ist jetzt in einer Besprechung.«

»Ist Anna nicht da? Die weiß, wer ich bin.«

»Anna arbeitet nicht mehr hier, Mister Green.«

»Ach, nein? Okay, es ist ja gleich Mittag. Ich bin drüben in ›Schaffner’s Deli‹. Wenn Sie Robert das sagen würden, dann kann er mich dort treffen.«

»Ich werde es ihm ausrichten. Aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen.«

»Wie heißen Sie?«

»Sheila.«

Green hatte Robert Kant, einen Prager Juden, der 1938 nach Amerika geflüchtet war, gleich in seiner Anfangszeit auf einer der Partys kennengelernt – er erinnerte sich noch gut daran: eine Villa in Beverly Hills, ein Garten mit tropischer Vegetation, ein Swimmingpool von olympischen Ausmaßen, Schalen mit Beluga, gekühlten Erdbeeren, Melonen, Mangos, französischem Käse, ein milder kalifornischer Abend, voll heißer karibischer Musik, Margueritas und Piña Coladas. Sie hatten Deutsch miteinander gesprochen, was eine Art Bündnis zwischen ihnen entstehen ließ; sie sprachen die Geheimsprache seiner Jugend, einen Code, der nur von lumpigen hundert Millionen absonderlichen Europäern verstanden wurde, und Green – wie immer, wenn er Männer aus der Generation seines Vaters traf, ein willenloses Kind – benahm sich wie der Sohn, den Kant nie bekommen hatte.

Kant hatte Green angesprochen, weil er ihm zu seinen Artikeln gratulieren wollte. Im Los Angeles Magazine, in der Times und der LA Weekly hatte Green ein paarmal über seine Abenteuer in der neuen Welt geschrieben, als ein unbeschriebenes Blatt, ein noch grüner Immigrant, der sich bis zu dem Zeitpunkt, da er Europa den Rücken kehrte, der kulturellen Unterschiede zum alten Kontinent nie bewußt gewesen war. Damals war das Schreiben für Green ein entspannendes Hobby gewesen; ohne nennenswerte Anstrengung schrieb er einmal im Quartal einen Essay oder eine Erzählung, in denen er seine Eindrücke so genau wie möglich in Worte faßte und dadurch in den Griff bekam. Nachdem Paula ihn verlassen hatte, hörte das Schreiben auf, wie alles aufhörte. Dutzende kläglicher Gedichte hatte er gekritzelt, aber Paula ließ sich nicht zu Binnenreimen und Alliterationen verdichten. Und das Schreiben von Erzählungen und Artikeln verbot sich für ihn schon ganz und gar. Dafür brauchte man Zielgerichtetheit und Selbstvertrauen, Eigenschaften, die ihm seither mit einem Mal fehlten.

»Wenn ich dir bei irgend etwas behilflich sein kann, ruf mich an«, hatte Kant unzählige Male auf deutsch gesagt. »Und im Gegensatz zu den meisten Sprücheklopfern in dieser Stadt meine ich, was ich sage.«

Ohne daß sich je ein intensiver Kontakt zwischen ihnen entwickelt hätte, hatten sie eine Freundschaft aufgebaut, die durch den großen Altersunterschied (Kant war bereits vierundzwanzig gewesen, als er aus Prag flüchtete) nicht beeinträchtigt wurde. Sie gingen zusammen ins Kino und redeten hinterher noch stundenlang über den Film; Robby nahm ihn mit zu Partys, sie analysierten die politischen Entwicklungen in Amerika, sie versuchten das Phänomen des ›Verträumens der Wirklichkeit‹, wie Green die Folgen von Internet, virtual reality und Hollywood umschrieb, zu ergründen, und Green schenkte Kant seine Aufmerksamkeit und sein Verständnis, wenn dieser von seiner Kindheit im Vorkriegs-Prag erzählen wollte.

Kant war Agent und hatte so manche große Karriere mit aus der Taufe gehoben. Ein gutes Jahr hatte Green sich nicht bei ihm gemeldet. Das war auch früher schon mal vorgekommen, aber wenn sie sich jetzt unterhielten, würde es wieder so sein, als hätten sie sich vor ein paar Tagen noch gesehen. Green hatte Kant nie um etwas gebeten. Wenn er ihn anbettelte, wäre das ein katastrophaler Verstoß gegen die Regeln, die Green für seinen Umgang mit Kant aufgestellt hatte. Er war jetzt ausschließlich hier, weil er einen alten Freund wiedersehen wollte. Und aus keinem anderen Grund. Aber er verspürte den starken Wunsch – er gab sich die größte Mühe, keinen Gedanken daraus reifen zu lassen, es war eher ein Gefühl in seinem Bauch, so etwas wie bohrende Krämpfe –, Robert möge alles durchschauen.

Das ›Schaffner’s‹ war eine große Halle, in der sechzigjährige, über Krampfadern und Senkungen klagende Kellnerinnen bedienten. Die Sandwiches, die man hier bekam, stillten den Bedarf an Corned beef oder Pastrami für mindestens eine Woche und hatten heftiges Aufstoßen und Sodbrennen zur Folge. Aber die Cholesterinbomben waren die besten in LA, und die booths waren rund um die Uhr voll. Green nahm nur Kaffee.

Als er von seinem zweiten Gratis-refill,amerikanischem blend, der bei Europäern kaum mehr als die Erinnerung an Kaffee weckt, aufschaute, sah er Robert Kant den Wilshire Boulevard überqueren. Zwanzig Meter von der nächstgelegenen Ampel entfernt stapfte er, auf einen Stock gestützt, resolut über die Straße und zwang den Verkehr unerschrokken zum Anhalten. Mit kleinen Schritten – sein Wille war zwar stark, die Beine jedoch schwach – kam er auf den Deli zugetrippelt. Er sah Green am Fenster sitzen und winkte grinsend.

Keuchend ließ er sich ihm gegenüber auf die Kunstlederbank sinken. Kant hatte den offenen Blick eines neugierigen Jungen, ein rundes jüdisches Gesicht und die graziösen Hände eines Musikers. Wenn er nicht geflüchtet wäre, wäre er Pianist geblieben.

»Hast du gesehen, wie sie alle angehalten haben?« fragte er, und der Schalk blitzte aus seinen Augen. »Haben alle eine Höllenangst vor ’nem Rechtsstreit. ›Alter Mann von rücksichtslosem Millionär überfahren.‹«

Er nahm Greens Rechte und drückte sie. Auf deutsch sagte er: »Wie geht es dir? Du siehst gut aus. Aber das täuscht bestimmt. Ich glaube nicht, daß du je zu mir gesagt hast: ›Ja, es geht mir ausgezeichnet.‹ Bei dir ist immer alles Scheiße. Und ich nehme dir das nie ab.«

Kant litt an allen Leiden, die ein Mensch nur bekommen konnte, aber er sah immer vergnügt aus, mit strahlenden Augen und lebhaft gestikulierenden Händen. Er hatte schon einige Jährchen auf dem Buckel, Green hatte den Überblick verloren, wie viele, und die Haut seines Gesichts und seiner Hände sah dünn und verletzlich aus. Sein schneeweißes Haar war noch erstaunlich voll, und manchmal ließ er sich einen kleinen Bart stehen, was ihm das Erscheinungsbild eines schwedischen Aristokraten verlieh. Heute waren seine Wangen glattrasiert.

»Diesmal kannst du es mir wirklich glauben.«

»Du bist jung. Ein wirkliches Problem kannst du nicht haben. Wenn du so alt bist wie ich, dann hast du ein Problem, glaub mir, und zwar eins, das nicht zu lösen ist.«

»Du wirst bestimmt hundertundzwanzig«, sagte Green. »Es sind immer die Falschen, die so alt werden wie du. Die Netten gehen immer zu früh.«

»Dann wirst du uralt.«

Kant bestellte Tee und ein Sandwich und erzählte, wieviel er an diesem Vormittag um die Ohren gehabt hatte.

»Sheila ist mir eine große Hilfe. Sie schirmt mich ab und hält mir die Verrückten vom Leib, manchmal auch die Normalen, aber so ist das nun einmal, wo gehobelt wird, da fallen Späne. Aber sie hat dich ja auch noch nie am Apparat gehabt. Wann haben wir uns zum letztenmal gesehen?«

»Vor vierzehn Monaten. Ich war damals in New York und kam kurz zum Synchronisieren her. Da waren wir im ›Drai’s‹ essen.«

Das Drai’s war ein hangout für das Rolls-Royce-Publikum in Hollywood. Robert hatte wie immer bezahlt (er wurde fuchsig, wenn Green zu seinem Portemonnaie griff), und Green hatte ihn nach Hause gefahren, zu seinem Apartment am Doheney, in einem der höchsten Wohnhochhäuser in diesem Teil von LA, neben dem Four Seasons Hotel. Kant war schon Witwer gewesen, als Green ihn kennenlernte, und von den Malen abgesehen, da er einer seiner Klientinnen Gesellschaft leistete, hatte er Kant nie in Begleitung einer Frau gesehen.

Robert fragte: »Wo bist du die ganze Zeit gewesen? Ich war vor etwa sieben Monaten mal in New York und hab bei dir angerufen, aber du wohntest gar nicht mehr dort. Gib’s zu: Du hast eine steinreiche Frau mit einer kleinen Marotte geheiratet.«

»’ne große Marotte würde mir auch nichts ausmachen.«

»Je größer die Marotten, desto schöner«, sagte Robert und beschrieb mit den Händen die Konturen eines großen Busens. Das war typisch Kant; er war ein wenig altmodisch, ein Charmeur der alten Schule, dessen Scherze und Anzüglichkeiten noch aus der Vorkriegszeit stammten.

»Ich bin gut ein Jahr in Maine gewesen.«

»Maine? Adonái.« Das war jiddisch für »ach, du lieber Himmel!«. »Was macht ein jüdischer Junge in Maine? Sind das da nicht alles protestantische Antisemiten?«

»Ja, aber zufällig bin ich genau den dreien begegnet, die es nicht sind.«

»Du siehst aus wie ein Goi. Sie haben es nicht gewußt, sonst hätten sie dich bestimmt aus ihrem Staat verjagt. Was hast du da gemacht?«

»Ein paar Sachen. Nicht so viel.«

»Du bist mal wieder sehr präzise. Was denn genau?«

»Ach, nichts Besonderes, kleinere Rollen.«

»Und dafür bist du nach Maine in die Verbannung gegangen? Na, da wird wohl eine Frau dahinterstecken.«

Green versuchte zu lächeln: »Das auch.«

»Warum sagst du’s dann nicht?«

»Eine Frau. Ging schief.«

»Wie fast immer. Gilt für das Leben im allgemeinen«, sagte Kant, während er auf einem Bissen Pastrami kaute. »Wenn ich es mir recht überlege, ist mir kein Fall bekannt, in dem das Leben gut ausgeht. Hat immer ein böses Ende. Deswegen wollen wir hier in Hollywood ja auch immer ein happy end. Die größte Illusion, auf die ein Mensch kommen kann.« Er strich eine Extraportion Senf auf das Pfund stark gewürzten Fleischs, das auf zwei hauchdünnen Scheiben Vollkornbrot lag. »Ich hege die Illusion, daß das hier gut für mich ist. Wenn’s mir schmeckt, fühl ich mich besser, und wenn ich mich besser fühle, scheint das allerlei gesunde Hormone zu aktivieren. Hab ich mal irgendwo gelesen. Stimmt, ich bin der lebende Beweis dafür.«

»Ich habe vor einiger Zeit ein Skript geschrieben.«

Das Skript hatte ihn sogar in den Knast gebracht, aber diese Mitteilung behielt Green für sich.

Kant sah von seinem Teller zu Green auf. Und nickte mit herzlichem Lächeln.

»Gut. Endlich«, sagte er auf deutsch. Er legte seine Gabel hin und drückte Green noch einmal die Hand. »Das freut mich.« Und er sagte noch einmal »endlich«, ehe er sich wieder seiner Pastrami widmete.

Schmatzend sagte er: »Du bist ein guter Schauspieler. Aber du bist, glaube ich, auch ein guter Autor. Ich bin froh, daß du endlich etwas geschrieben hast.«

»Es ist ein Thriller.«

»Wenn er gut ist, wirst du einen Thriller immer los. Vielleicht nicht gleich für die große Leinwand, vielleicht nur fürs Kabelfernsehen oder ein movie of the week, aber wenn er gut ist, dürfte Geld dafür aufzutreiben sein.«

»Ich möchte auch selbst Regie führen«, sagte Green, ohne groß nachzudenken.

»Schwierig, aber nicht ausgeschlossen.«

»Das mache ich zur Bedingung.«

»Sprich mit deinem Agenten darüber.«

»Ich habe keinen Agenten mehr.«

Erstaunt blickte Kant auf: »Du warst doch bei The Unlimited?«

»Schon lange nicht mehr.«

»Durch wen hast du dich denn dann vertreten lassen?«

»Das hab ich selbst gemacht.«

Kant nickte. Das bedeutete, daß Green nicht gearbeitet hatte.

»Darf ich mich deines Skripts annehmen?«

»Gern.«

»Du hast es nicht zufällig bei dir?«

»Ich bring dir morgen eine Kopie.«

»Gut. Titel?«

»Fire.«

»Warum nicht?«

Kant aß weiter, sah ihn plötzlich an: »Du hast doch hoffentlich etwas gegessen?«

»Bevor du gekommen bist.«

»Möchtest du noch etwas?«

»Was ich vorhin gegessen habe, reicht mir für ’ne ganze Woche.« Er hatte nur Kaffee getrunken, denn die Sandwiches kosteten hier mindestens sieben Dollar. Mit dem Betrag mußte er einen ganzen Tag auskommen.

Kant schien einen Moment nachzudenken, fragte dann: »Willst du bei mir unterzeichnen? Ich weiß, daß du das immer vermieden hast, aber jetzt wäre es doch ein logischer Schritt, scheint mir. Wir sind eine gute Agentur für Skripts wie deines. Wenn du dich nicht vertreten läßt, machst du es dir nur schwer. Wieso haben wir eigentlich nie zusammengearbeitet?«

»Wer will schon mit dir zusammenarbeiten?«

»Ich hasse dich auch, das paßt doch prima zusammen«, entgegnete Kant schmatzend. »Tommie, du brauchst dich vor mir nicht größer zu machen, als du bist. Denn für mich bist du groß genug, wie du weißt. Du hast ein Scheißjahr hinter dir. Also, du unterzeichnest bei uns. Brauchst du jetzt im Moment Geld?«

»Nein«, sagte Green resolut, als wäre das das letzte, woran er dachte, »ich komme schon zurecht.«

»Stell auch eine Namensliste zusammen. Ich möchte wissen, wen du bei den Rollen in deiner Geschichte so vor Augen hast.«

»B-Namen?«

»Mach dir keine Illusionen hinsichtlich A-Namen. Wir sollten, denke ich, auch nicht gleich zu hoch greifen. Wenn wir’s bei HBO oder Showtime unterbringen, bin ich schon zufrieden. Und falls sie da nach Lektüre des Skripts total aus dem Häuschen sind, können wir immer noch erwägen, ob wir es ganz groß rausbringen.«

»Gut, ich mach dir eine Liste.«

»Wohnst du wieder in der Stadt?«

»Hollywood. Fürs erste im Hotel«, sagte Green möglichst leichthin, als habe er einen Bungalow im Chateau Marmont bezogen. Kant nickte ernst. Er ließ sich von Greens Finten nicht täuschen.

»Hast du morgen Zeit?«

»Klar.«

»Ich werde gleich nachher einen Vertrag aufsetzen lassen. Den kannst du morgen unterzeichnen.«

Er winkte einer der Kellnerinnen und bezahlte.

Green wollte ihm helfen, als er sich erhob: »Finger weg, ich bin kein Greis.«

Sie gingen auf die Straße hinaus. Der mittägliche Stoßverkehr verstopfte den Wilshire.

»Weißt du, was ich vor ein paar Wochen zufällig noch einmal gelesen habe? Deinen Beitrag über den Unterschied zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Kino. Über das Bedürfnis der Europäer, die Wirklichkeit widerzuspiegeln, und das Bedürfnis der Amerikaner, die Wirklichkeit zu ersetzen.«

Green hörte Kant zu, als spreche er von jemand anderem. Die seligen Abstraktionen der Zeit vor Paula hörten sich in seinen Ohren wie Äußerungen aus einer fremden Kultur an. Sie waren ihm abhanden gekommen.