Stadt der Hunde - Leon de Winter - E-Book

Stadt der Hunde E-Book

Leon de Winter

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Beschreibung

Der renommierte niederländische Gehirnchirurg Jaap Hollander ist im Ruhestand, aber Ruhe findet er nicht. Seit seine Tochter zehn Jahre zuvor in Israel verschwunden ist, kehrt er jedes Jahr nach Tel Aviv und in die Wüste Negev zurück. Diesmal wird er dort unversehens gebeten, eine äußerst riskante Gehirnoperation durchzuführen. Er sagt zu, obwohl die Erfolgsaussichten verschwindend gering sind. Nicht nur das Leben seiner mächtigen Patientin hängt von der Operation ab, vielleicht eröffnet sie ihm sogar eine neue Spur zu seiner Tochter.

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Leon de Winter

Stadt der Hunde

Roman

Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer

Diogenes

Für Jess,

Moos und Moon

ERSTER TEIL

1

Als der israelische Botschafter sie benachrichtigte, war bereits ein Tag vergangen. Genau genommen waren sogar schon zwei Tage verstrichen. Am ersten hatte seine Tochter noch nicht als vermisst gegolten, und niemand hatte Alarm geschlagen.

Am Morgen des zweiten Tages wurden Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Rettungsdienste, Spürhunde und ein Hubschrauber durchkämmten die Negev-Wüste, wie er später erfuhr. Am Ende dieses Tages erhielt Jaap den Anruf der israelischen Botschaft. Im Lauf des Abends folgten weitere Telefonate mit genaueren Informationen. Die Botschaft organisierte Flugtickets. Am dritten Tag saßen Jaap und Nicole in der Business Class einer El-Al-Maschine nach Tel Aviv. Obwohl die breiten Armlehnen sie trennten, waren sich Jaap und Nicole für kurze Zeit näher als in den letzten Jahren ihrer verkümmerten Ehe. Sie schliefen schon seit geraumer Zeit in getrennten Schlafzimmern.

 

Nicole hatte auf seiner Station gearbeitet; sie war eine der attraktivsten Frauen dort gewesen, und Jaap schlief mit ihr, wie er es auch mit anderen Krankenschwestern tat. Als sie ihm eröffnete, dass sie von ihm schwanger war, war Jaap achtunddreißig, Nicole achtundzwanzig.

Zuerst war er sauer, weil sie die Pille vergessen hatte; dann vermutete er, dass sie es absichtlich getan hatte, denn er war der Hauptgewinn der Abteilung: ledig, schlank, Verführerblick, wenn er es darauf anlegte, und Geld wie Heu. Vielleicht, dachte er dann aber irgendwann, war es an der Zeit, Vater zu werden, und er sollte dies wie ein Naturgesetz akzeptieren, auch wenn er Nicole nie als Lebenspartnerin in Betracht gezogen hatte und es andere Krankenschwestern gab, die er für geeigneter gehalten hätte. In puncto Abtreibung dachte er konservativ, was Nicole wusste, und daher ließ ihm die Schwangerschaft keine Wahl.

Jaap kauf‌te für teures Geld eine Bruchbude an der Vecht und ließ sie abreißen. Auf dem Grundstück errichtete er eine Villa im Stil der Landhäuser des achtzehnten Jahrhunderts, aber zeitgemäß, mit einer modernen Küche und hinter dem Wohnzimmer, in dem sie nie saßen, einem kleinen Kino. Er hatte alles selbst entworfen. Lea war anderthalb, als sie einzogen.

 

Wie konnte man Jaap am besten beschreiben? In seinen besten Jahren hatte er Al Pacino geähnelt, nur in einer hochgewachseneren Version. So attraktiv war er. Diesen Macho-Look hatte er seit seiner Jugend, aber dem Zahn der Zeit hielt er nicht stand. Je älter Jaap wurde, desto mehr schwebte Al von ihm weg. Nach dem Verschwinden seiner Tochter war nichts mehr von ihm übrig. Pacino und Glatze vertragen sich nicht.

Und Nicole? Wollte man sie mit einer Berühmtheit vergleichen, dann hätte man ihr im besten Licht, in den besten Tagen ihrer besten Jahre, also vor ihrer Heirat mit Jaap, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Sängerin Blondie bescheinigen können – breite Wangenknochen, blondes Haar, grüne Augen, die gleiche sinnliche Ausstrahlung. Doch die musste sich Nicole hart erarbeiten. Bevor sie das erste Mal mit Jaap ins Bett ging, hatte sie monatelang im Fitnessstudio geschwitzt und mit verschiedenen Schminktechniken, Frisuren und Kleidungsstilen an dem »Typ« gearbeitet, auf den er stand. »Der gehört mir«, hatte sie befreundete Kolleginnen wissen lassen.

Hatten Jaap und Nicole wirklich Ähnlichkeit mit diesen Promis? Auf der Station glaubte man es, und Nicole fühlte sich geschmeichelt.

»Alle finden, dass du wie Al Pacino aussiehst«, hatte sie in der Zeit ihrer Schwangerschaft einmal bemerkt.

»Dieser hässliche Typ?«, hatte er geantwortet.

»Und ich, sehe ich immer noch aus wie Blondie?«, hatte Nicole gefragt.

»Niemand sieht so aus wie du«, hatte er geantwortet.

Nicole hatte nicht daran gezweifelt, dass er das im positiven Sinne gemeint hatte. Und sie hatte recht. Doch das sollte sich ändern.

 

Nach Leas Verschwinden – darüber später mehr – musste sich Jaap damit behelfen, unbekannte Menschen mit den Namen von Filmstars zu etikettieren; Jaap brauchte das als Gedächtnisstütze, um Gesichter und Namen behalten zu können. Er hatte ein absurd gutes Gedächtnis für fast alles, aber seit Lea fort war, konnte er sich Gesichter in Verbindung mit Namen nicht mehr einprägen. Der Vergleich mit Hollywoodstars half ihm. Er war ein großer Kinofan, und an Filmgesichter konnte er sich stets einwandfrei erinnern. Er ließ bei sich im Krankenhaus Hirnscans anfertigen, aber sie blieben ohne Befund: kein Alzheimer, kein Parkinson. Die Unfähigkeit, sich Namen und Gesichter zu merken, musste auf einer neurologischen Störung beruhen. Der medizinische Fachausdruck lautete Prosopagnosie. Er fand sich damit ab.

2

Mit der Zeit begann Nicole, Jaap auf die Nerven zu gehen. Die tragische Erkenntnis kam ihm eines Abends bei einer Dinnerparty mit einem befreundeten Paar, der Mann war ein Kollege von ihm an der Amsterdamer Universitätsklinik AMC. Es war ihre schrille Stimme, die in nichts an Blondie erinnerte und in der ein Tremolo lag, das er schon lange verabscheute, eigentlich von Anfang an; er hörte Ängstlichkeit, Unsicherheit, Unterwürfigkeit heraus, und er wusste, dass seine Gereiztheit nicht nachlassen würde.

Als sie sich noch nicht lange kannten und der Sex okay war, empfand er diese Stimme als erregend, weil Nicole dadurch den Eindruck erweckte, dass sie es genoss, wenn er sie mit Lust überfiel. Wenn kein Sex im Spiel war, ertrug er diese Stimme nicht.

Von diesem Abend an sah er in erster Linie ihre Schwächen, zumindest das, was er als Schwächen wahrnahm, und begann, sie zu verachten, obwohl er sich deswegen schuldig fühlte. Nicole war die Mutter seiner Tochter. Er sollte sie respektieren, sie lieben.

Solange sie nicht sprach und er ihre hysterisch hohe Stimme nicht hörte, war alles in Ordnung. Er nahm an, dass sie nicht wusste, dass er sie manchmal verabscheute. Dann wiederum wurde er von Mitleid überwältigt und kauf‌te ihr einen Ring oder eine Uhr, kostspieliges Zeug, das sie schätzte und mit dem sie vor Freundinnen und Bekannten angeben konnte. Er schob das Unvermeidliche vor sich her. Aber wie lange würde er es mit ihr aushalten?

Damals war eine Abtreibung für ihn nicht infrage gekommen. Er rettete Leben und brachte keinen Tod. Und das Leben begann für ihn mit der Empfängnis. Eine andere Denkweise war ihm nicht möglich. Später bedauerte er seine Geradlinigkeit; eine Abtreibung hätte diese Ehe verhindern können. Aber dann hätte es Lea nie gegeben. Ein Kind aus einer Ehe, die ein Fehler gewesen war.

Nicole war weder dumm noch unsensibel. Sie traute sich kaum, in seiner Gegenwart mehr als ein paar Worte zu sagen, egal zu welchem Thema. Sie fürchtete seine Wutausbrüche, bei denen er sie mit einem einzigen Wort demütigen konnte, besonders in Gesellschaft anderer. Jaap vermutete, dass Nicole wusste, dass er das manchmal absichtlich tat. Und ihm war klar, dass Nicole wusste, dass auch Lea das merkte. Er konnte nicht ausschließen, dass seine Gereiztheit Nicole in ein ängstliches, unsicheres Wesen verwandelt hatte, obwohl sie versuchte, ihre Unsicherheit zu verbergen. Oder war sie schon immer so gewesen, und es war ihm nicht aufgefallen, als sie sich kennengelernt hatten?

Lea wuchs zu einem stillen Teenager mit nervösem Blick heran, der Jaap an ihre Mutter erinnerte, und vermutlich erkannte seine Tochter die Abneigung, die er dabei empfand. Er schämte sich, dass er so über Lea dachte: O nein, hoffentlich wird sie nicht so wie ihre Mutter! Vielleicht war er einfach ein Mistkerl und Flegel und hätte unverheiratet bleiben sollen. Es war nicht gut, nicht richtig, und er machte sich Vorwürfe, wenn er allein war, etwa im Auto auf dem Weg zum AMC, wohin er fuhr, um Menschen zu retten und wo er den Status eines Halbgottes innehatte. Und dann kamen diese Anrufe von der israelischen Botschaft.

3

Lea wollte zum Judentum konvertieren. Jaap war Jude, Nicole nicht. Jaap war das Kind von Eltern, die den Krieg im Versteck überlebt hatten, und nach der Befreiung – eine kuriose Bezeichnung für diejenigen, deren Familien ausgelöscht worden waren, sie hatten nie eine Befreiung erlebt – waren sie zwar traumatisiert, aber den alten Traditionen treu geblieben. Seit seinem siebten Lebensjahr hatte Jaap Hebräisch lernen müssen, und mit dreizehn Jahren hatte er seine Bar Mitzwa gefeiert, aber nach dem frühen Tod seines Vaters hatte er nie wieder einen Fuß in eine Synagoge gesetzt.

Ein paarmal hatte er Israel besucht. Er empfand weder Zu- noch Abneigung zu dem Land und dem, was die Juden dort machten. Auf Geschäftsreise hatte er dort auf Einladung von Kollegen, die sein Fachwissen bei schwierigen Operationen gut gebrauchen konnten, ausgefüllte und entspannte Tage verbracht. Bei jedem Besuch hatte er mit Barbara geschlafen (später, viel später, dachte er: Auch wenn er bei ihr keine Eselsbrücke brauchte, sie sah aus wie Penélope Cruz), einer schönen, jungen Neurochirurgin argentinischer Abstammung, die an seine Zimmertür im Sheraton in Tel Aviv geklopft hatte, weil sie, nachdem sie einen Nachmittag neben ihm in einem Konferenzraum gesessen hatte, nun Sex mit ihm wollte. Bei der Konferenz hatten sich ihre Arme absichtlich-unabsichtlich berührt, dann ihre Finger, und die Blicke, die sie austauschten, brachten ihn auf Gedanken, die er nicht hätte haben dürfen. Seine Ehe war zerrüttet, aber er war treu. Für ihn zählte ein gegebenes Wort. Aber sie war unwiderstehlich schön, und sie küsste ihn, noch bevor die Zimmertür ins Schloss gefallen war.

Später, als es kein Thema mehr war, bedauerte Jaap, dass er sich nicht sofort von Nicole getrennt hatte und nach Tel Aviv zurückgekehrt war, um Barbara aus der beschissenen Ehe mit ihrem manisch-depressiven Mann zu befreien – ein heldenhaftes Unterfangen. Er hatte die Möglichkeit vor Augen und hätte etwas daraus machen können, aber er hatte nichts unternommen. Der Sex mit ihr war der beste, den er je erlebt hatte, was dramatisch klang, aber der Wahrheit entsprach. Bei jedem Besuch verbrachten sie eine oder mehrere Nächte zusammen im Sheraton am Strand von Tel Aviv. Mit ihr fühlte er sich frei, alterslos und sogar fröhlich. Er hielt die Affäre vor Nicole geheim, und Barbara beschwor ihn, ihr Mann dürfe nichts erfahren.

 

Zehn Jahre nach Leas Geburt lebte er mit der Gewissheit, dass er eine katastrophale Ehe aufrechterhielt. Er hätte ein Leben mit Barbara führen können, aber er musste sich eingestehen, dass die Arbeit für ihn im Mittelpunkt stand – er war einer der besten Neurochirurgen der Welt –, und er ließ die Jahre verstreichen. Nach Leas Verschwinden verwandelte er sich in eine glatzköpfige, geschrumpf‌te Version von Al Pacino und konnte sich nicht vorstellen, dass Barbara für ihn die Hüllen fallen lassen würde.

Jaap schämte sich für das, was er im Lauf der Jahre verloren hatte: das Haar, die Jugend, die Neugier. Regelmäßig dachte er an Barbara, und er fragte sich, ob sie auch an ihn dachte, befürchtete aber, dass sie es nicht tat.

 

Nicole, die aus einer katholischen Familie stammte, war genauso wenig gläubig wie er. Rätselhaft, wie es manchmal so geht: Mit dreizehn begann ihre stille Tochter, sich mit den Traditionen ihrer jüdischen Großeltern zu beschäftigen, die Jaap nichts bedeuteten. Lea las die Bücher Mose, vertief‌te sich in die alte Geschichte und den Holocaust und meldete sich bei der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Amsterdam, wo sie in eine Gruppe junger Mädchen aufgenommen wurde, die als jüdisch anerkannt werden wollten. Sie alle hatten einen jüdischen Vater und waren damit sogenannte Vaterjuden, was für die Rabbiner aus irgendeinem Grund keine Bedeutung zu haben schien; sie stellten nur dann eine Bescheinigung über das Jüdischsein aus, wenn die Mutter Jüdin war. Lea aber wollte diese Bescheinigung unbedingt.

Sie hatte sich vorgenommen, nach ihrem Schulabschluss eine sogenannte Birthright-Reise nach Israel zu unternehmen, eine kostenlose Fahrt, durchgeführt von einer israelischen Organisation für junge Juden, Vaterjuden und Großvaterjuden, die auf der Suche nach ihren Wurzeln waren. Lea schaffte ihren Abschluss und machte sich auf den Weg. Dieser Drang seiner Tochter hatte Jaap befremdet, aber irgendwann hatte er sich damit abgefunden. Nach der Rundreise wolle sie noch ein bisschen länger in Israel bleiben, hatte sie ihrer Mutter erzählt. Nicole beriet sich mit Jaap, und er war einverstanden.

Zusammen mit einem jungen Amerikaner verschwand sie, löste sich in einer kalten Wüstennacht quasi in Luft auf. Lea war achtzehn, Joshua Pollock zwanzig.

 

Jaap selbst hatte diesen Vergleich nie angestellt, aber Folgendes lässt sich festhalten: Lea hatte Ähnlichkeit mit einer sehr jungen Gal Gadot. Und Joshua könnte man mit Bradley Cooper in seiner jugendlichen, gut aussehenden Version von 1995 vergleichen, als er noch Englisch und Französisch studierte. Schöne junge Menschen.

4

Im AMC übernahm Jaaps Team die Operationen, die er hätte durchführen sollen, und nach der Ankunft in Israel wurden er und Nicole in einem Polizeifahrzeug zu dem Ort in der Negev-Wüste gebracht, an dem Leas und Joshuas Sachen gefunden worden waren.

Die jungen Leute hatten in einem B&B übernachtet und sich mit dem Fahrrad auf den Weg in den riesigen Krater südlich der Kleinstadt Mitzpe Ramon gemacht, eine Tour von über einer Stunde. Sie wollten zu den Ruinen der Saharonim-Festung, die vor Tausenden von Jahren neben der einzigen Wasserstelle in der ganzen Region, den gleichnamigen Quellen, erbaut worden war und an der Gewürzroute von der südlichen arabischen Halbinsel zu den Mittelmeerhäfen lag.

Der Ramon-Krater war ein riesiges Loch in der Sand- und Steinwüste am Fuße steiler Canyonwände mit einer Tiefe von über vierhundert Metern, einer Länge von vierzig Kilometern und einer Breite von neun Kilometern. In einigen Reiseführern stand, dass der Monsterkrater die Form eines Herzens besitze – hatte das Lea und Joshua dazu verführt, einen Abstieg in den vierzig Kilometer langen Krater zu wagen? Ihre Kleidung, Bücher und Toilettenartikel waren im B&B zurückgeblieben.

In jener Nacht hatte Joshua einen leichten Kunststoffrucksack mit dem Buch The Hebrew Goddess des Anthropologen Raphael Patai, vier Flaschen Wasser und ein paar Äpfeln und Bananen dabei. Dieser Rucksack und ihre Handys waren an jenem zweiten hektischen Tag gefunden worden. Die Mietfahrräder waren nie wieder aufgetaucht. Lea und Joshua hatten Fotos voneinander gemacht, jung, glücklich und unbeschwert.

Ein Video, das Lea aufgenommen hatte, wurde von den fähigsten Köpfen der israelischen Armee ausgewertet.

 

Im hellen und zugleich geisterhaften Licht des Handys lächelt Joshua sie an.

»Ist das wirklich wahr?«, hört man Lea sagen.

Joshua nickt.

»Und das ist hier irgendwo?«

»Ja.«

»Aber?«, fragt sie.

»Du darfst nichts bei dir haben, auch keine Kleidung. Total …«

»Nackt«, sagt Lea, »aber es ist kalt.«

»So sind die Spielregeln.«

5

Einen Tag nach ihnen trafen Joshuas Eltern aus San Diego ein. Ebenso wie Nicole und Jaap waren sie übermüdet und gleichzeitig vollgepumpt mit Adrenalin und überzeugt davon, dass sie so etwas nicht verdient hatten. Im Nu verbrüderten sich die beiden Ehepaare und teilten ihre Sorge, Hoffnung, Wut und Angst. Samuel Pollock, ein stämmiger, gedrungener Mann mit dichtem weißen Haar, war mit Business-Sof‌tware reich geworden. Joyce Pollock war spindeldürr und trug extrem kostspielige Designerkleidung (Nicole musste Jaap darauf hinweisen, er hatte keinen Blick dafür). Materiell gesehen hatten die Pollocks alles: ein Ehepaar, das bei ihnen wohnte und den Haushalt und das Kochen übernahm, vier Autos, ein Haus am Lake Tahoe und einen Privatjet, den sie sich mit sechs anderen wohlhabenden Familien teilten. Seit dem Anruf des israelischen Konsuls in Los Angeles war ihnen jedoch bewusst geworden, dass alles, was sie hatten, ohne Joshua keinen Pfifferling wert war.

In Jaaps Vorstellung glich Sam dem wunderbaren Schauspieler Rod Steiger, der bereits in Vergessenheit geraten war, aber einst neben Marlon Brando im Hollywoodklassiker Die Faust im Nacken mitgespielt hatte. Sam ähnelte dem übergewichtigen Steiger in den späteren Phasen seines Lebens, als er keine Hauptrollen mehr bekam. Joyce war eine noch dünnere Version der ewig dünnen Nicole Kidman und einen halben Kopf größer als Sam.

In ihrem Hotelzimmer sahen sie sich die dreißig Sekunden an, die Lea mit ihrem iPhone aufgezeichnet hatte. Die Pollocks entschuldigten sich für Joshuas Verhalten, als wäre er die Ursache für das Verschwinden der beiden. Zwei Nächte hatten die Kinder – the kids – in einem Zimmer geschlafen, was den Pollocks peinlich war. Leas angebrochener Pillenblister lag noch herum.

Lea hatte ihrer Mutter weisgemacht, sie würde mit ein paar Freundinnen herumreisen, was sich jetzt als Lüge entpuppte. Wohl hatte sie Nicole anvertraut, dass im Kibbuz im Norden ein netter Amerikaner wohne, ebenfalls ein Birthright-Suchender, der eine jüdische Mutter hatte, und dass sie alles dafür tun würde, ebenfalls Jüdin zu werden.

 

Zunächst glaubte man an eine Entführung. Es machte Schlagzeilen in Israel: das Verschwinden der Tochter von Professor Jaap Hollander, dem Hirnchirurgen, der auch in Tel Aviv und Haifa für seine »fast telepathischen Fähigkeiten« bei den schwierigsten Hirnoperationen geschätzt wurde, wie Professor Barbara Ben Zion, die ihn persönlich kannte, in The Jerusalem Post verlauten ließ.

Jaap und Barbara trafen sich für ein paar Stunden in Tel Aviv, aber ihre Begegnung wurde von den Umständen überschattet, und sie gingen nicht miteinander ins Bett. Damals hatte Jaap übrigens noch Haare auf dem Kopf.

6

Nach zwei Wochen in Mitzpe Ramon musste Jaap wegen einer Operation, die er persönlich durchführen wollte, nach Amsterdam zurückkehren. Auch Sam Pollock musste aus geschäftlichen Gründen nach Hause.

Hätte ein anderer Chirurg die Operation übernehmen können? Vielleicht. Aber es war ein kniff‌liger Fall: ein Blutgefäßgeflecht tief im Gehirn, das ohne Eingriff zu Lähmungen und kognitiven Störungen hätte führen können. Die Patientin war Mutter von drei Kindern. Es war befreiend, für eine Weile wieder im AMC zu sein und nicht in Nicoles Augen schauen oder ihre Stimme ertragen zu müssen. Die Operation – zwölf Stunden absolute Konzentration, keine Vergangenheit, nur die Gegenwart – verlief erfolgreich.

Im Nachhinein betrachtet markierte dieser kurze Aufenthalt in den Niederlanden den Schlusspunkt ihrer Ehe. Allein in Mitzpe Ramon wurde Nicole noch hysterischer, als sie ohnehin schon war. Sie stritt sich kreischend mit Joyce, die ihr vorwarf (wie antiquiert konnte man sein?), dass sie Lea erlaubt habe, Sex zu haben. Lea habe Josh verführt, und es sei daher ihre Schuld, dass ihr Sohn verschwunden und, wer weiß, verunglückt oder von arabischen Banditen getötet worden sei.

Als Jaap nach drei Tagen zurückkam, hatte Nicole eine große Menge Beruhigungstabletten geschluckt, aber nicht genug, um ihn nicht zu beschimpfen, dass er sie mit dieser verrückten amerikanischen Schlampe allein gelassen habe und sie genauso vernachlässige wie seine Tochter. Drei Jahre später würden sie die Scheidungspapiere unterschreiben.

 

In diesem fieberhaften ersten Jahr nach Leas Verschwinden reduzierte Jaap seine Arbeit auf das Nötigste und flog, so oft es ging, nach Tel Aviv, wo er von einem Mitarbeiter der niederländischen Botschaft und jemandem von einer israelischen Regierungsbehörde abgeholt, über eine VIP-Route durch die Flughafengebäude gelotst und zu einem Polizei-Kleinbus gebracht wurde, der ihn in die Wüste fuhr. Er sprach noch ein paarmal mit Barbara, aber nur am Telefon, mehr nicht. Auch Sam Pollock flog regelmäßig nach Israel.

Später, nach diesem ersten Jahr, als die Israelis ihm eröffnet hatten, dass das Rätsel nicht gelöst werden könne, heuerten er und Sam Guides an, die sie durch den Krater führten, bis die Pollocks die Reise emotional nicht mehr verkraften konnten. Sie hätten sich mit Joshuas Tod abgefunden, teilte ihm Sam zu Beginn des dritten Jahres mit gebrochener Stimme über Skype mit.

Jaap besuchte den Beduinen, der vom Shin Bet, dem israelischen Sicherheitsdienst, für ein paar Tage festgehalten worden war, aber der Mann war unschuldig. Jeder, der vom israelischen Sicherheitsdienst verhört und dann wieder freigelassen wird, ist wirklich unschuldig; ein Geheimnis vor dem Shin Bet zu verbergen, ist unmöglich.

Im ersten Jahr begleitete Nicole ihn jedes Mal, aber sie verließ das Hotel nicht. Im zweiten Jahr blieb sie zu Hause in Weesp, wanderte durch die verlassenen Zimmer und begann zu trauern, weil sie überzeugt war, dass Lea nicht mehr lebte. Im dritten Jahr fing sie ein Jurastudium an, um auf Distanz zu Jaap zu gehen und etwas Selbstachtung zurückzugewinnen. Am Ende dieses Jahres verließ sie ihn.

Nachdem sie den letzten Umzugskarton nach draußen gestellt hatte, drehte sie sich zu ihm um und ließ ihren Blick über die Fassade der Villa schweifen: »Weißt du, im Grunde konnte ich dieses Haus nie leiden. Es ist genauso wenig menschenfreundlich wie du. Ein großer, bedrückender, dunkler blöder Kasten.«

7

Jaap weigerte sich zu akzeptieren, dass Lea tot war. Er reiste nicht mehr so häufig in die Wüste, aber noch immer relativ regelmäßig. Jedes Jahr verbrachte er um das Datum von Leas Verschwinden herum drei, vier Wochen in Mitzpe Ramon, wo es nichts gab als staubige, kahle Straßen, gesäumt von drei- bis vierstöckigen Wohnhäusern, ein paar verzweifelte Bäume, Hotels und Restaurants.

Diejenigen, die schon zur Zeit von Leas und Joshuas Verschwinden dort gelebt hatten, wussten, wer er war und was er dort machte. Immer wieder wurde er in einem Geschäft oder auf der Straße angesprochen und gefragt, ob er zum Essen oder zum Gottesdienst in die Synagoge kommen wolle. Er ging nie darauf ein, und mit der Zeit wurde er nicht mehr eingeladen.

Er wohnte im einzigen Fünf-Sterne-Hotel in dieser gottverlassenen Einöde, dem Beresheet Hotel, einem Luxus- und Komfortkomplex für amerikanische Juden, die nicht auf ihre Dollars achten mussten und gerne mit Blick auf den höllischen Krater erwachen wollten. Bei seiner Abreise buchte er im Voraus für das nächste Jahr und erhielt als Stammgast einen Sonderpreis. Es war ihm egal. Er verdiente einen Haufen Geld, und ihm blieb auch nach Abzug des Unterhalts für Nicole noch genug, um sich teure Hobbys leisten zu können. Die er aber nicht hatte. Von den vierzehn Zimmern seines neoklassizistischen Hauses an der Vecht in der Nähe von Weesp nutzte er ein Schlafzimmer und die geräumige Küche, in der er im Grunde alle Stunden verbrachte, die er zu Hause war, auch dann, wenn er zur Vorbereitung auf die Operationen, die er durchführen musste, Akten studierte. Er fuhr einen alten, aber gut erhaltenen Volvo und arbeitete und arbeitete.

Dachte er oft an Lea?

Nein, er konnte es nicht. Es war sinnlos. Und auch wenn er in Mitzpe Ramon war, dachte er nicht an sie. Jaap lebte mit Möglichkeiten, Optionen, Theorien, Szenarien, und darin spielte Lea natürlich eine Rolle, aber er weigerte sich, sich in Melancholie oder Nostalgie oder etwas Ähnlichem zu verlieren. Ohne Beweise oder Anhaltspunkte konnte er sich nicht mit etwas abfinden, das unvollendet war. Denn es war unvollendet.

Lea war nach Israel gegangen und noch nicht wieder nach Hause gekommen. Das war’s. Das war alles. Deshalb musste er in diesem stillen Haus bleiben und alles so in Ordnung halten, wie es war, einschließlich ihres Zimmers, das aussah, als könnte sie jeden Moment hereinspazieren.

Was wäre aus ihm geworden, wenn er kein Hirnchirurg gewesen wäre, wenn er nicht ein Mann gewesen wäre, der sich ganz auf seine Arbeit konzentrieren und seine Gefühle wegsperren konnte? Er holte das Letzte aus sich und seiner Station heraus. Er wusste, dass einige Mitarbeitende wegen seiner »Schreckensherrschaft« in ein anderes Krankenhaus geflohen waren. Aber wer nicht stets nach Perfektion strebte, konnte seinetwegen gerne gehen. Auch das Verschwinden von Lea hatte ihn nicht aus der Bahn geworfen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zur Küche hereinkam. Bald würde sie achtundzwanzig werden.

 

Im Jahr zuvor, ein paar Tage vor dem neunten Jahrestag von Leas und Joshuas Verschwinden, erhielt er eine WhatsApp mit der Frage, ob man ihn anrufen dürfe. Es war ein Verwandter der Pollocks. Joyce war gestorben, am selben Tag wie ihr Mann Samuel. Jaap fragte nicht nach den Umständen; es war offensichtlich. Er sagte, es tue ihm leid, das zu hören. Gleichzeitig dachte er aber auch: feige. Sie würden in Mitzpe Ramon begraben werden, sagte der Verwandte. Wenn Jaap dort war, besuchte er ihr Grab und legte Kieselsteine darauf. Okay, sie waren feige gewesen, aber dennoch war es auch traurig.

 

Zur gleichen Zeit, also neun Jahre nach dem Verschwinden, musste Jaap aufhören zu arbeiten. Er war gezwungen, in den Ruhestand zu gehen, als wäre sein Wissen mit dem Erreichen des gesetzlichen Rentenalters plötzlich verschwunden. Es gab keine Teambesprechungen mehr, keine Gespräche mit Patienten, kein Fußballgeplänkel an der Kaffeemaschine, kein Flirten mehr mit den hübschen, jungen Krankenschwestern, die ihm vorgaukelten, er sei immer noch ein attraktiver Mann, was sie nur taten, um sich bei ihm beliebt zu machen, schließlich war er der tyrannische Oberarzt der Station.

Im Jahr von Leas Verschwinden hatte der Haarausfall eingesetzt. Jaap war immer noch schlank, hatte elegante Hände wie ein Pianist, was ein treffender Vergleich war; er fühlte sich mit Künstlern verwandt. Nach Leas Verschwinden war er ein kahler Schatten seiner selbst geworden. Er war ein Künstler, der Schädel öffnen konnte und dort Möglichkeiten sah, wie es höchstens sechs, sieben andere Kollegen auf der Welt vermochten. Vielleicht hatte aber auch niemand sonst diese Gabe.

Das niederländische Gesetz zog einen Schlussstrich. Seine Lehrtätigkeit an der Universität hatte er schon früher aufgegeben. Das Einzige, was er behalten hatte, war sein Professorentitel. Professor Jaap Hollander.

 

Als Jaap diesen ehrenvollen Titel erhielt, war sein Vater Simon schon seit Jahren tot. Als Kind hatte Jaap ihn oft begleitet, wenn er den Heizölvorrat in den eingegrabenen Erdheizöltanks in Haarlem und Umgebung mit dem dicken, schweren, schwarzen Schlauch auf‌füllte. Oliejood, »Öljude«, oder oliejoodje wurde er genannt.

Wie waren sie stolz, Jaap und seine Mutter, als Simon am Leidsevaart eine Tankstelle eröffnen konnte, mit einem Vertrag mit Fina, dem Verbrauchernamen des belgischen Ölkonzerns Petrof‌ina, der später in Total aufgehen sollte. Jaaps Mutter Sara betrieb die Tankstelle, während Simon weiterhin Heizöl lieferte. Sie hatten es geschafft; die frühere Armut der Hollanders verblasste zu einer Erinnerung.

 

Auf einer der Runden mit dem Bedford-Transporter, als Jaap gerade sein Abitur machte – er schrieb an diesem Tag seine Matheklausur –, erlitt Simon eine Hirnblutung und fuhr mit dem Tankwagen gegen einen Baum am Straßenrand. Jaap war überzeugt, dass die Klausur gut gelaufen war, als er nach Hause kam und dort großer Tumult und Trauer herrschten. Später dachte er, dass er Glück gehabt hatte, gerade mitten in den Prüfungen zu stecken, sie hatten ihn abgelenkt und so gerettet.

Seine Mutter verkauf‌te das Heizölgeschäft und behielt die Tankstelle. Vier Jahre später eröffnete sie eine zweite. Sie war bei Leas Geburt dabei und auch bei seiner Antrittsvorlesung an der Universität. Damals war er dreiundvierzig. Wenige Monate danach starb sie im Alter von dreiundsiebzig Jahren.

Jaap hatte nicht aus Liebe zum Arztberuf Medizin studiert. Er wäre lieber Bauingenieur geworden, hatte sich aber für das Medizinstudium entschieden, weil sich seine Eltern, als sich seine Wissbegier zeigte, keinen respektableren Menschen als einen Arzt vorstellen konnten. »Du wirst doch Arzt, nicht wahr, Jaap?«, hatte sein Vater mehr als einmal gesagt. Nach der Antrittsvorlesung erinnerte seine Mutter Jaap erneut daran, aber das war nicht nötig. Jaap war der Sohn, der es einmal zu etwas bringen sollte, und das tat er mit Hingabe. Er spezialisierte sich auf Neurologie, Chirurgie und schließlich auf Neurochirurgie. Als er damit anfing, ahnte er nicht, dass er dafür geboren war. Er entpuppte sich als Naturtalent, das sich voll und ganz auf die Arbeit konzentrierte und zu einer Maschine mit zielgerichtet eingesetztem Fachwissen wurde. Er ahnte es nicht, aber der Beruf verlangte nach ihm, rief nach ihm, sofern so etwas möglich war.

8

Während des vergangenen Jahres hatte sich Jaap als frischgebackener Rentner in die Renovierung seines riesigen Hauses gestürzt. Er hatte sein Archiv geordnet, die Holzvertäfelung und die Holzböden im Keller und im Erdgeschoss abgeschliffen und lackiert, hier und da eine Wand trockengelegt und neu verputzt, und jetzt war er in den beiden oberen Stockwerken angekommen. Das oberste war im Grunde nie benutzt worden, auch nicht, als Nicole und Lea noch da waren. Achthundert Quadratmeter für eine Person.

Jaap konnte zimmern, streichen, verputzen, Rohre verlegen. Er übersah nichts, und seine Hände taten genau das, was er sich vorstellte. Er hätte auf dem Bau arbeiten können, aber vermutlich gab es auch dort Altersgrenzen. Leas Zimmer betrat er nicht, auch wenn er sich manchmal beim Anblick der Mesusa, die sie an ihrem Türrahmen befestigt hatte, danach sehnte.

Ab und zu sprach er mit Nicole. Sie war Vertragsanwältin und arbeitete in einer Kanzlei im Amsterdamer Viertel Zuidas, und sie hatte einen Verehrer. Er konnte ihre Stimme immer noch nicht ertragen, obwohl sie ihm inzwischen wesentlich weniger auf die Nerven ging. Sie kam nie vorbei. Er traf sich mit anderen Ärzten und Spezialisten, die er als »meine Freunde« bezeichnete, obwohl er damit den Begriff »Freundschaft« erheblich strapazierte; er hatte keinen einzigen echten Freund.

Und das war auch gut so.

 

Regelmäßig erhielt er Besuch von Geertje, der Witwe seines ehemaligen Steuerberaters. Schon als ihr Mann noch lebte, hatte er ein Auge auf sie geworfen, wenn er in ihre Kanzlei in Bussum kam, um seine Abrechnungen und Quittungen abzugeben. Sie hatte drei Ehemänner verschlissen, und mit ihm konnte sie vertrauensvollen Sex ohne Risiko haben. Geertje – man denke an Claire Danes mit zwanzig Kilo Übergewicht – war eine nette Frau, etwas breit in den Hüften, mit gut gefüllten Brüsten und einem üppigen Hintern, eine echte Präsenz im Bett, aber durf‌te er sich vielleicht beschweren? Er war ein drahtiger, kahlköpfiger Mann von siebenundsechzig Jahren, der früher von Weitem irgendwie Al Pacino geähnelt hatte und der blaue Pillen schlucken musste, um seinen und ihren Erwartungen gerecht werden zu können. Was Pacino wohl schluckte? Schließlich war seine jetzige Frau über fünfzig Jahre jünger.

Geertje war Wirtschaftsprüferin. Ihr dritter Mann hatte Geld gehabt und war zu Hause verstorben, nachdem sie sich wegen einer neuen, jungen Sekretärin gestritten hatten und sie zu ihrer Schwester nach Zwolle geflohen war. Wenn sie den Streit zu Hause ausgetragen hätten und sie nicht weinend weggefahren wäre, hätte sie ihn nicht einen Tag später in der Garage finden müssen. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich um Jaaps Steuererklärung gekümmert. Sie hatten einmal zusammen zu Abend gegessen, und danach hatte er bei ihr übernachtet, allerdings nur wenig Schlaf bekommen. Geertje nahm viel Platz weg. Aber er war dankbar dafür, dass sie neben ihm lag.

Seit er im Ruhestand war, besuchte Geertje ihn öfter. Sie kannte seine Launen und beklagte sich nicht, wenn er nach dem Sex irgendwo im Haus herumwirtschaftete, auch nicht am Abend. Sie stellte ihm Kaffee oder Tee hin, und wenn es seine Stimmung zuließ, blieb sie bei ihm, las etwas in der Küche oder sah fern, manchmal kochte sie auch für ihn. Wenn er sie besuchte, ging er nach dem Morgenkaffee nach Hause.

Es herrschte Einvernehmen zwischen ihnen, keiner verlangte mehr, als der andere geben konnte oder wollte. Sie parkte ihren Porsche Panamera neben seinem alten Volvo V70; sie hatte Geld wie Heu. Der Volvo hatte bereits dreihunderttausend auf dem Buckel, war aber erstklassig in Schuss und ließ ihn nie im Stich.

Außer für die Renovierung gab Jaap kein Geld aus. Die Fahrten nach Israel waren ein festes Ritual, aber ansonsten verreiste er nie, aß wenig und vermied Fleisch, trug Kleidung von C&A und Sportschuhe von Nike aus dem Sale. Er kleidete sich, weil die Gesellschaft Nacktheit nicht tolerierte. Er verstand nichts von Mode oder Trends. Geertje hatte ihm ein kostspieliges Deo geschenkt, und er benutzte es, weil Geertje anscheinend fand, dass er nicht gut roch; er wollte nicht, dass sie wegblieb und ihre Intimitäten beendete, also kauf‌te er, als die Dose leer war, ein neues Deo der gleichen Marke. Ansonsten arbeitete er tagein, tagaus hart daran, nicht an Lea zu denken.

 

Und dann – dann reiste Jaap zum zehnten Jahrestag von Leas Verschwinden erneut nach Israel.

ZWEITER TEIL

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Jaap nahm den Nachmittagsflug der El Al. Er hatte seinem Kontakt im israelischen Außenministerium gemailt, dass er käme. Jemand würde ihn am Flughafen Ben Gurion abholen und ihn ungehindert zu einem Auto lotsen, das draußen in der sengenden Sonne auf ihn wartete. Das Auto mit Fahrer mietete er inzwischen selbst. Der Service für eine reibungslose Ankunft am Flughafen wurde aufrechterhalten, aber alles andere, etwa die Bereitstellung eines Polizeifahrzeugs und der Besuch bei verschiedenen Ermittlungsbehörden, war nach ein paar Jahren abgeschafft worden. Auf Schiphol wurde er nie von den Israelis behelligt, die in einer Ecke der Abflughalle, hinter Grenzschützern mit schweren automatischen Waffen, Passagiere verhörten, in der Hoffnung, einen Bombenleger oder Unruhestifter zu erwischen. In den Computern war er als VIP registriert; diese Vorzugsbehandlung erhielt man, wenn die Tochter in der Wüste verschwunden war. Er saß vorne auf Sitz 1A, seinem Lieblingsplatz, aber konnte man sich denn über irgendetwas freuen auf einer Reise wie dieser? Er hatte, wie immer, einen Plan, den er unbedingt ausführen wollte.

In den letzten zehn Jahren hatte er mit Archäologen, Psychologinnen, Sektenforschern, Terrorismusexpertinnen und Kennern der verschiedenen Beduinenfamilien gesprochen. In der Anfangszeit hatten sich Hellseherinnen und ehemalige Gefangene von fliegenden Untertassen gemeldet. Die Hellseherinnen versprachen, er dürfe hoffen; Lea und Joshua lebten in Jordanien oder Ägypten oder Neuseeland; die UFO-Experten meinten, sie seien von Außerirdischen entführt worden und betrieben irgendwo auf einem fernen Planeten einen Fischladen. Dieses Jahr hatte er einen Termin bei einem Geologen in Beerscheba.

Im Flugzeug setzte sich ein orthodoxer Jude neben ihn. Er trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd ohne Krawatte, und unter seiner Jacke schauten die Zizit hervor, die Schaufäden, die an einem rituellen Leibchen befestigt sind. Der Mann war etwa in Jaaps Alter, hatte allerdings tiefere Falten im Gesicht, einen weißen Bart und Pejes, die Schläfenlocken frommer Juden, und als er seinen Hut abnahm, sah Jaap dichtes graues Haar unter seiner schwarzen Kippa. Er hatte einen dicken Bauch und war insgesamt stark übergewichtig. Sie nickten sich zu.