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Hermann Stegemanns vierbändige "Geschichte des I. Weltkrieges" gehört zu den umfangreichsten und detailliertesten Werken über die Jahre 1914 - 1918 mit insgesamt über 2200 Seiten in dieser Neuausgabe. Stegemann arbeitete während der Kriegsjahre für die Schweizer Zeitung "Der Bund" und schrieb die Kolumne "Zur Kriegslage", die in Teilen im Anhang der jeweiligen Bände zu finden ist. In diesem ersten Band betrachtet er die Vorgeschichte des Krieges, die militärische Lage zu Beginn und die Kriegsereignisse im Westen und im Osten bis Mitte September 1914.
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Seitenzahl: 815
Geschichte des I. Weltkriegs
Band 1
HERMANN STEGEMANN
Geschichte des I. Weltkriegs, Band 1, Hermann Stegemann
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849680105
www.jazzybee-verlag.de
Vorwort2
Aus der Vorgeschichte des Krieges. 7
Um Elsass-Lothringens willen. 7
England und Deutschland. 10
Die Politik König Eduards. 14
Das Balkanproblem... 22
Die europäischen Bündnisse. 29
Der Zerfall des europäischen Konzertes. 36
Die orientalische Krise. 42
Zwischenspiel47
Die Stellung der Mächte zur Kriegsgefahr49
Im Irrgarten der Verhandlungen. 52
Kaiser und Zar56
Deutschlands Verhandlungen mit den Westmächten. 60
Vom Bruch und vom Missbrauch der belgischen Neutralität66
Auf der Schwelle des Krieges. 72
Die militärische Lage Europas. 77
Allgemeine Erwägungen. 77
Die Russen. 80
Die Rumänen. 83
Bulgaren und Türken. 84
Serben und Montenegriner85
Die Italiener87
Die Franzosen. 88
Die Belgier96
Die Engländer100
Österreicher und Ungarn. 102
Die Deutschen. 105
Schweizer und Holländer109
Der Feldzug im Westen bis zum 15. September 1914. 110
Die Vorkämpfe. 110
Der Kampf um Lüttich. 110
Das Treffen bei Mülhausen. 117
La Garde und Schirmeck. 119
Der deutsche Vormarsch durch Belgien. 120
Das Gefecht bei Haelen. 121
Das Gefecht bei Dinant123
Das Treffen bei Tirlemont124
Die Schlachten im Sundgau und in Lothringen. 126
Das zweite Treffen bei Mülhausen. 128
Die Schlacht bei Mörchingen und Saarburg. 130
Die Schlacht in den Vogesen. 134
Die Schlachtenfolge in Belgien und Frankreich. 137
Die Belagerung von Namur138
Die allgemeine Lage am 22. August139
Die Schlacht bei Mons und Charleroi143
Die Schlacht an der belgischen Maas. 148
Die Schlacht an der Semois. 151
Die Schlacht bei Longwy. 153
Nach der ersten Schlachtenfolge. 154
Die Schlachten um die Oise- und Maaslinie. 157
Die Schlacht bei Le Cateau und Landrecies. 157
Das Treffen bei Combles. 159
Die Schlacht bei St. Quentin—Guise. 159
Die Kämpfe zwischen Dinant und Rethel163
Die Kämpfe im Maastal164
Die Kämpfe um Nancy und St. Dié. 167
Der erste Ausfall der Belgier168
Der Fall der französischen Grenzsperren. 169
Von der Aisne über die Marne. 171
Die Lage der Deutschen. 172
Die Lage der Franzosen und Engländer175
Joffres strategischer Rückzug. 177
Der deutsche Vormarsch auf Paris. 178
Die Schlacht an der Marne. 181
Die Neugliederung des französischen Heeres. 182
Joffres Entschluss zu schlagen. 184
Die strategische Lage am 5. September186
Die Vorkämpfe im Marnebogen. 187
Die Schlacht am Ourcq. 192
Die Kämpfe in der Lücke von Rebais. 198
Die Kämpfe bei Montmirail—Sézanne. 200
Die Kämpfe bei Vitry und Sermaize. 207
Die Kämpfe zwischen Revigny und Verdun. 209
Der deutsche Rückzug auf die Aisne. 213
Betrachtungen zur Schlacht an der Marne. 215
Die Auswirkung der Schlacht an der Marne. 221
Der zweite Ausfall der Belgier223
Der Vormarsch der Franzosen und Engländer225
An der Aisne. 227
Der Feldzug in Ostpreußen bis zum 15. September 1914. 229
Aufmarsch und Vorkämpfe. 229
Der Aufmarsch. 229
Die ersten Kämpfe in Ostpreußen. 232
Die deutschen Gegenmaßnahmen. 233
Das Treffen bei Gumbinnen. 236
Die strategische Lage am 21. August238
Die Berufung Hindenburgs. 242
Die großen Entscheidungen. 245
Die Schlacht bei Tannenberg. 245
Betrachtungen zur Schlacht bei Tannenberg. 255
Die Schlacht an den masurischen Seen. 258
Betrachtungen zur Schlacht an den masurischen Seen. 265
Der Feldzug in Galizien und Südpolen bis zum 15. September 1914. 271
Der österreichisch-ungarische Aufmarsch. 271
An Dnjestr und San. 274
Die strategische Lage am 18. August276
Der Vormarsch der Österreicher und Ungarn. 280
Das Treffen bei Krasnik. 282
Die strategische Lage am 25. August284
Die Schlachten nördlich und südlich von Lemberg. 287
Die Kämpfe bei Zamosc—Komarow (erste Phase)287
Die Kämpfe am Chodelbach und vor Lublin. 291
Die Kämpfe bei Zamosc—Komarow (zweite Phase)293
Die Kämpfe bei Przemyslany— Rohatyn (erste Phase)297
Die Kämpfe bei Przernyslany— Rohatyn (zweite Phase),.302
Die strategische Lage am 30. August307
Die Schlachten westlich von Lemberg. 310
Die Vorbereitungen. 310
Die letzten Kämpfe vor Lublin und Grubieszow.. 311
Die Abbröckelung der österreichischen Nordfront314
Die Kämpfe bei Rawa Ruska. 315
Die Kämpfe an der Wereszyca. 318
Die letzten Kämpfe zwischen Tanew und Wereszyca. 321
Der Rückzug der Österreicher und Ungarn. 324
Betrachtungen zu den Schlachten in Galizien und Südpolen. 326
Die Auswirkung des Rückzuges. 328
Die allgemeine Lage am 15. September 1914. 330
Schlusswort332
Anhang zur Vorgeschichte des Krieges. 333
Anhang zur militärischen Lage Europas. 388
Aus den Betrachtungen zur Kriegslage. 405
Sehr geehrter Leser,
wir, der Herausgeber dieses Buches, halten Hermann Stegemanns Werk über den Ersten Weltkrieg, das lange Zeit nur kaum, schwer oder gar nicht erhältlich waren, für unverzichtbar für das kulturelle Erbe Deutschlands und der Welt.
Aus diesem Grund haben wir unter anderem dieses Ihnen hier vorliegende Werk zusammengesetzt aus Scans des in den 1910er Jahren erschienen Originals –– eine spannende, aber auch sehr herausfordernde Aufgabe, da selbst den allerbesten Adleraugen der eine oder andere Druck- oder grammatikalische Fehler entgeht.
Deswegen geschätzter Leser, seien Sie nachsichtig, wenn Sie über etwas stolpern, das so ganz offensichtlich dort nicht hingehört. Teilen Sie uns auch gerne Ihre Funde mit, wir werden die entsprechenden Stellen schnellstens berichtigen.
In diesem Sinne, sehr viel Freude beim Lesen,
Ihr Jazzybee Verlag
(Jürgen Beck)
"Wer sich in einem Element bewegen will, wie der Krieg es ist, darf durchaus aus seinen Büchern nichts mitbringen als die Erziehung seines Geistes. Bringt er fertige Ideen mit, die ihm nicht der Stoß des Augenblicks eingegeben, die er nicht aus seinem eigenen Fleisch und Blut erzeugt hat, so wirft ihm der Strom der Begebenheiten sein Gebäude nieder, ehe es fertig ist." Clausewitz.
Das Geschlecht, das den europäischen Krieg erlebt, ist von diesem ungeheuren Völkerschicksal im Innersten aufgewühlt worden. Tief empfindet die heutige Generation das Bedürfnis, sich mit dem weltgeschichtlichen Erlebnis auseinanderzusetzen, es in seinen Ursachen und Zusammenhängen zu erfassen und sich von der Vorgeschichte und der Entwicklung des Krieges eine möglichst sichere Vorstellung zu machen. Dem widerstrebt der geschichtliche Erfahrungssatz, der uns lehrt, die Zeit walten zu lassen, Entfernung zu nehmen und auf die Geschichtsschreibung so lange zu verzichten, als die Ereignisse noch im Fluss sind und laut, mit der Stimme der Leidenschaft, zu uns sprechen. Auch wird man mit Recht gemahnt, dass heute noch viele Quellen verschlossen liegen und der Geschichtsschreiber auf Mutmaßungen und der Darsteller der kriegerischen Begebenheiten vielfach auf Kombinationen angewiesen ist, um der Ereignisse Herr zu werden und sie zu verknüpfen, dass es also noch nicht möglich sei, eine Geschichte des Krieges zu schreiben.
Wenn ich es trotzdem unternommen habe, eine zusammenhängende Darstellung der Feldzüge des europäischen Krieges zu Wasser und zu Lande, in Europa und Asien sowie in den afrikanischen Kolonien zu geben, so tue ich das im Bewusstsein, dass damit ein Wagnis verbunden ist, das nur aus besonderen Gesichtspunkten betrachtet und gerechtfertigt werden kann und vor allem aus dem persönlichen Verhältnis zu erklären ist, in dem ich mich zu diesem Kriege befinde.
Als der Krieg begann, weilte ich, von längerem Leiden genesend, am Thunersee und wurde von der gewaltigen Vorstellung der weltgeschichtlichen Auseinandersetzung so ergriffen, dass ich, gestützt auf langjährige geschichtliche und kriegsgeschichtliche Studien und gewisse militärwissenschaftliche Kenntnisse, die Aufgabe übernahm, den Gang und die Entwicklung des Krieges mit Betrachtungen zu begleiten, die im Berner "Bund" abgedruckt wurden. Kurz darauf entschloss ich mich, meine Stellung als literarischer Redakteur dieses Blattes niederzulegen und auch die politische Mitarbeit einzustellen, um mich der freiwillig übernommenen Aufgabe ganz zu widmen. Die Betrachtungen erschienen zuerst unter wechselnden Titeln; seit dem 10. August 1914 werden sie unter der Bezeichnung "Zur Kriegslage" veröffentlicht. Anfangs geschah das ohne Angabe des Verfassers, seit dem 16. Dezember 1914 unter Beifügung der Initialen. Die Aufsätze fanden einen sehr großen Leserkreis. Aus diesem liefen bald zahlreiche Anfragen ein, ob die Artikel nicht gesammelt und gesondert zu haben seien. Dann erhielt der Verfasser von verschiedenen Seiten die Aufforderung, eine Geschichte des Krieges zu schreiben, zu welcher die Vorarbeit ja bereits in Gestalt dieser Betrachtungen geleistet werde. Nach langen Kämpfen, die wesentlich von der Erkenntnis getragen waren, dass diese Aufgabe die Kräfte eines Stärkeren aufzehren und dass ich mein Leben und Schaffen in eine neue Richtung lenken müsste, entschloss ich mich, dem Rufe Folge zu leisten. Ich fühlte, wie mich die Aufgabe unwiderstehlich lockte. Zugleich gehorchte ich der moralischen Verpflichtung, die ich mir aufgeladen hatte, als ich darangegangen war, die kriegerischen Ereignisse im Augenblick des geschichtlichen Geschehens aufzuzeichnen, am Kartentisch zu verfolgen und ohne Voreingenommenheit und Parteinahme nach bestem Wissen sachlich darzustellen und auszulegen. In welchem Maße der Gestaltungstrieb, in welchem Umfang die Leidenschaft für das Wesen der Kriegskunst und die brennende Teilnahme an der geschichtlichen Entwicklung diesen Entschluss bestimmt haben, wage ich nicht zu entscheiden. Es sieht mir aber unverrückbar fest, dass ich einem wissenschaftlichen Interesse dienstbar geworden bin. als ich diese Aufgabe übernahm.
Bedarf es einer Erklärung, dass ein Schriftsteller sich erkühnt, eine Geschichte des europäischen Krieges zu schreiben, der bisher nur als Dichter bekannt geworden ist, nachdem er sein Fachstudium dem journalistischen Beruf geopfert hat? In romanischen Landen wäre das weniger notwendig als in germanischen, aber ich will immerhin darauf hinweisen, dass ich seit 25 Jahren als historisch-politischer Schriftsteller tätig gewesen bin und der Dichtung nur die Stunden der Selbsteinkehr und der Muße schenken konnte, und ich behaupte, dass der Anreiz, den Krieg jetzt schon in seinen Zusammenhängen zu erfassen und die Feldzüge ins Klare zu stellen und zu ergründen, bevor die operativen Anweisungen sich in den Archiven der Generalstäbe als ungeheure, jeder Sichtung spottende Materie niedergeschlagen haben, ein eminent künstlerischer ist.
Heute ist der Geschichtsschreiber auf die täglichen Veröffentlichungen der Heeresleitungen, auf zufällig aufgefundene Befehle, auf Feldpostbriefe, Verlustlisten und das Studium der Karte angewiesen, wozu das Miterleben tritt, dessen feine Ausstrahlungen nicht unterschätzt werden dürfen. Trotz dieser verschiedenen, ungleichmäßig fließenden Quellen ist es möglich, den Krieg in seinen Zusammenhängen zu erforschen und zu belauschen, wenn man die durch geschichtliche und kriegswissenschaftliche Studien gezügelte Kombinationsgabe mitsprechen lässt, soweit sie solche Unterlagen zu deuten und zu verwerten vermag. Nicht, als ob sich daraus eine in allen Teilen und Verknüpfungen richtige Darstellung ergäbe — dazu wird die Arbeit von Generationen nötig sein —, aber man wird zu einer gefestigten einheitlichen Auffassung und auf ursächliche Zusammenhänge geführt, die neue Perspektiven aufschlagen. Gewiss wird vieles Vermutung bleiben, manches später umgedacht und anders gewertet werden müssen; das wird man indes gern in den Kauf nehmen, denn wir müssen auf irgendeine Weise mit diesem Kriege innerlich fertig werden, ohne der Phantasie, die Clausewitz in diesem Zusammenhang fein "die ausgelassene Göttin" nennt, die Führung zu übertragen.
Ich sah daher meine Aufgabe nicht darin, lediglich eine chronistische Zusammenstellung der Kampfhandlungen und ihrer Ergebnisse anzufertigen, sondern fühlte mich gedrängt, die Geschehnisse mit der Wangenröte des Lebens zu malen, ohne festgestellte Beobachtungen zu verlassen, die Kämpfe möglichst in Zusammenhang zu bringen und die strategischen Beziehungen herzustellen. Dadurch wurde ich zu Betrachtungen veranlasst, die die Synthese durch eine sorgfältige Analyse aufzuhellen streben, woraus sich allerdings auch eine gewisse Kritik ergab, die indes keineswegs aus wohlfeiler Lob- und Tadelsucht geübt wird, sondern lediglich dem wissenschaftlichen Zwecke dient, den verschiedenen Möglichkeiten der strategischen Zusammenhänge nachzugehen und alte Lehren der Kriegsführung mit den Erfahrungen des größten aller Kriege zu vergleichen, um daraus weitere Aufschlüsse zu gewinnen.
So furchtbar dieser Krieg auch ist, niemand wird verkennen, dass in ihm geistige Kräfte tätig sind, dass wir vor einem herz- und hirnsprengenden, unser seelisches Gleichgewicht zerstörenden Ereignis stehen, welches wir nur dann fassen und einordnen können, wenn wir versuchen, ihm von der psychologischen Seite beizukommen. Wir sollen nicht nur das wahnsinnige Morden sehen, sondern vor allem auch das geistige Element zu erkennen trachten, das in ihm wirksam ist, Völker und Heere gegeneinander führt und politischen Ideen und strategischen Gesetzen gehorcht, die aus Plan und Gegenplan bald schattenhaft, bald plastisch gerundet hervortreten. So habe ich den Krieg gesehen, so will ich ihn zu schildern und auszulegen suchen.
Der erste Band umfasst die Vorgeschichte des Krieges nebst den dazugehörenden diplomatischen Aktenstücken und einer Reihe von geschichtlichen Anmerkungen, einen Abriss der militärischen Lage Europas vor Beginn der Verwicklung und die Feldzüge im Westen und Osten bis zur ersten großen Epoche, die ich auf den 15. September 1914 lege. Die Gliederung des Stoffes richtet sich nach den Wechselbeziehungen, die ich in dieser Entwicklung wirksam zu sehen glaube, und zwar ist mehr nach operativen Zusammenhängen als nach Zeiträumen geordnet worden. Die Darstellung der Feldzüge im Westen folgt, abgesehen von der Benutzung der Generalstabsberichte aller Parteien und einer methodischen Verwertung der deutschen Verlustlisten, über die ich im Quellenverzeichnis Auskunft gebe, meist belgischen, englischen und französischen Quellen, die im Osten meist deutschen und österreichischen Nachrichten, die sämtlich kritisch betrachtet und verwertet worden sind. Es sei ausdrücklich bemerkt, dass für alle Vorgänge Belege nachgewiesen werden können, während die allgemeinen Betrachtungen und die strategischen Verknüpfungen vom Verfasser hineingetragen wurden, der sich bemüht hat, das Werk Zeile für Zeile so zu gestalten, dass der gewaltige Krieg als ein großes Ganzes erscheint.
Wenn man sich nicht auf eine Übersicht beschränken wollte, so war dem Stoff nur durch darstellendes Nachschaffen der Ereignisse und eine bestimmte Ökonomie beizukommen, und ich nehme an, dass das Werk aus drei oder vier Bänden bestehen wird, deren erster am 21. September 1915 vollendet worden ist. Da es erst heute möglich war, die Freigabe dieses Bandes in Deutschland zu erlangen, ohne dass Streichungen oder Änderungen zugestanden werden mussten, so war ich wiederholt genötigt, Nachträge anzubringen und Überarbeitungen vorzunehmen, an der Auffassung habe ich nichts geändert.
Es ist die persönliche, jedem fremden Einfluss entzogene Arbeit eines Schriftstellers, der als Bürger eines neutralen Landes in der Lage war, alle erreichbaren Quellen gleichmäßig zu benützen. Da von einer Stelle, die keinen Einblick in meine Tätigkeit hat, behauptet worden ist, dass ich mich in meinen Betrachtungen im "Bund" auf Mitteilungen des deutschen Generalstabes stützte, so sei auch hier ausdrücklich und ehrenwörtlich festgestellt, dass daran nichts wahr ist. Mich verbinden mit dem deutschen Generalstab keine anderen Beziehungen als das eingehende Studium der von ihm herausgegebenen kriegswissenschaftlichen Literatur, und wenn es mir im Laufe des Krieges gegeben war, im Rahmen der Zurückhaltung, die sich ein neutraler Beobachter auferlegen muss, zuweilen strategische Absichten und die Entwicklung der Operationen zu deuten, so ist das wohl mit auf diese Belesenheit zurückzuführen.
Auf neutralem Boden entstanden, sucht das Werk, dessen ersten Band ich mit dem Bewusstsein seiner Unfertigkeit aus der Hand gebe, die geschichtliche Wahrheit zu erkennen, wie ich sie sehe, vielleicht subjektiv im Ergebnis, aber objektiv im Bestreben.
Das gilt sowohl von der kurzen historisch-politischen Einleitung als auch von der umfassenden Schilderung und Betrachtung der Feldzüge, die den eigentlichen Gegenstand des Werkes bilden. Die beigegebenen Karten verfolgen den Zweck, die großen Bewegungen und Schlachten der ersten Monate übersichtlich und anschaulich darzustellen, und scheuen daher vor einer gewissen Stilisierung der eingezeichneten Linien nicht zurück.
Der europäische Krieg wird in viel höherem Maße "einen Wust von Trümmern" zurücklassen als der Siebenjährige Krieg, dem kein anderer als Friedrich der Große diese Kennzeichnung ausgestellt hat. Der militärische Geschichtsschreiber aber darf seine Aufgabe nicht darin suchen, nur die Schauder des Krieges zu malen; wenn ich daher das furchtbare Phänomen von der gestaltenden Seite packte, so erklärt sich das aus der Großartigkeit der weltgeschichtlichen Erscheinung, die der europäische Krieg auch dann bleibt, wenn man ihn als eine ungeheure Katastrophe betrachtet.
Die Frage nach seiner Dauer ist mir schon sehr oft vorgelegt worden, und ich glaube an dieser Stelle nicht an ihr vorbeigehen zu dürfen. Am 15. September 1914, dem Tag, mit dem der vorliegende Band schließt, war klar geworden, dass sich die Dauer einer so weitgreifenden, stets neue strategische und politische Probleme gebärenden Auseinandersetzung nicht befristen lässt. Es gibt hierfür keinen klassischeren Zeugen als den größten Strategen der nachnapoleonischen Zeit. Am 14. Mai 1890 sprach Generalfeldmarschall v. Moltke im Deutschen Reichstag die prophetischen Worte: "Wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als zehn Jahre lang wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt — wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegeneinander in den Kampf treten; keine derselben kann in einem oder in zwei Feldzügen so vollständig niedergeworfen werden, dass sie sich für überwunden erklärte, dass sie auf harte Bedingungen hin Frieden schließen müsste, dass sie sich nicht wieder aufrichten sollte, wenn auch erst nach Jahresfrist, um den Kampf zu erneuern. Es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden — und wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfass schleudert!" Wir leben der Hoffnung, dass Moltke, der die Organisation der modernen Großstaaten und die Auswirkungsmöglichkeiten einzelner Feldzüge so scharf erfasst hat, die Dauer des großen Krieges, verglichen mit den von ihm gewählten geschichtlichen Beispielen, zu weit erstreckt hat und dass dieser längst für den Frieden reife Krieg doch noch in diesem Jahre enden möge. Mehr zu sagen, wäre vermessen.
Bern, 9. Januar 1917.
Hermann Stegemann
Als ich am 18. Januar 1871 das neue Deutschland in der Spiegelgalerie zu Versailles mit den Hochrufen auf Kaiser Wilhelm I. gebieterisch ankündigte, schob die Weltgeschichte einen neuen Stuhl zwischen die vier goldenen Sitze, die um den Tisch der höchsten Macht gereiht standen. England, Frankreich, Russland und Österreich, die von alters an diesem Tisch gesessen, sahen sich aufgefordert, dem neuerstandenen Deutschen Reiche Platz zu machen, ihm Einfluss und Stimme zu geben und Anteil an den Gütern der Erde zu gewähren.
Die Erhöhung Deutschlands ist erst dadurch möglich geworden, dass der deutsche Staatenbund sich unter Führung Preußens im Kriege gegen Frankreich zur nationalen Einheit durchrang. Aus der Niederlage Frankreichs erwuchs das Deutsche Reich. Diese tragische Verkettung von deutschem Aufstieg und französischem Abstieg hat in ihrem ursächlichen Zusammenhang die geschichtliche Entwicklung Europas in den vierundvierzig Jahren bestimmt, die vom Frankfurter Frieden bis zum Ausbruch des Europäischen Krieges verstreichen sollten.
Wohl war der Krieg von 1870/71 ein neues Glied in der Kette von Zusammenstößen und Auseinandersetzungen, die Frankreich und Deutschland im Laufe von Jahrhunderten miteinander erledigt hatten, aber wenn es den Deutschen als Endglied erschien und von ihnen als gerechter Abschluss dieser vielhundertjährigen Entwicklung betrachtet wurde, so teilte Frankreich diese Anschauung mitnichten. Der nationale Stolz der Franzosen ließ den Krieg von 1870 umso weniger als entscheidende Auseinandersetzung mit Deutschland gelten, als ihnen im Frankfurter Frieden ein Stück nationalen Bodens entrissen worden war. Wohl ist das Elsass einst ein Teil des deutschen Siedlungs- und Machtgebietes gewesen und wertvolles deutsches Kulturland geblieben, aber die Einverleibung des Landes in den französischen Nationalstaat hatte sich zu Zeiten vollzogen, da das deutsche Staatsgefühl noch nicht lebendig war. In losem Zusammenhang fügte sich das Elsass dem glänzenden Reich des Sonnenkönigs an. Dann wurde es mit von der Revolution erfasst und erlebte mit Frankreich die Emanzipation des dritten Standes, die Verkündigung der Menschenrechte und die Aufrichtung eines bürgerlichen Staatswesens auf demokratischer Grundlage. Die Leidenszeit der napoleonischen Ära tat ein Übriges, und die industrielle Blüte, der das Land schon in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts entgegenging, vollendete den politischen Entwicklungsgang. Im Wesen blieb das Land deutsch, im Kulturgefühl wurde es von deutschen und französischen Einflüssen gespeist, in der politischen Denkart war es Frankreich verwandt und im Bau ein Stück Frankreichs geworden.
Für Frankreich bedeutete aber die Abtretung Elsass-Lothringens nicht nur eine Minderung an Macht und Volkstum, eine Einbuße an militärischer Kraft und eine Verschlechterung seiner Ostgrenze, sondern auch einen politischen Verlust. Die Tatsache, dass aus dem kunstvollen Gebäude des politischen Einheitsstaates ein Stück herausgebrochen worden war, erschien den Franzosen als eine Verletzung ihres Staatsideals. Dieser Gedanke belebte den Wunsch nach Wiederherstellung der alten Rheingrenze stets aufs Neue und hat Frankreich nicht schlafen und es den Krieg von 1870 nicht vergessen lassen. Das Bewusstsein dieses geschichtlichen Verlustes hat die Politik der französischen Republik während vierundvierzig Jahren unverrückbar bestimmt. Es gab Zeiten, da man den Verlust im Dunkeln ließ, Zeiten, in denen man ihn in Worte fasste und mit dem banalen Ruf "Revanche" über die Grenze sandte — verschmerzt war er nie. Dazu trat das brennende Gefühl, besiegt worden zu sein. Der französische Nationalstolz hat, abgesehen vom Verlust Elsass-Lothringens, die Niederläge an sich nie verschmerzt und nie vergessen.
Die französische Republik hat sich nach dem Kriege von 1870 trotz der unerhörten Opfer, die das Endringen gefordert hatte, rasch und kraftvoll wieder zur Höhe emporgeschwungen, hat Welt- und Machtpolitik getrieben, ungeachtet schwindender Volksfruchtbarkeit ein Kolonialreich von unbegrenzter Entwicklungsfähigkeit errichtet, im Grund aber alles dem einen Leitgedanken dienstbar gemacht, dem Gambetta die denkwürdigen Worte lieh: "Bonjours y penser, jamais en parier." Gerade der Umstand, dass das napoleonische Frankreich im Jahre 1871 als Republik aus dem unglücklichen Krieg mit Deutschland hervorging, hat die Abtrennung Elsass-Lothringens so tief empfinden lassen und der Revanchepolitik einen idealen Inhalt gegeben. Nicht nur um Elsass-Lothringens willen, sondern vielmehr weil die Republik — la république une et indivisible — sich dadurch in ihrer idealen Unverletzlichkeit gekränkt fühlte, hat Frankreich unentwegt die Hoffnung auf die Wiedereroberung der beiden Provinzen genährt. Aus den Grundsätzen und Errungenschaften der großen Revolution leiteten die Franzosen auch ein moralisches Recht auf die Reichslande ab, deren politische Entwicklung durch den Heimfall an das Deutsche Reich zurückgeschnitten wurde und nur stockend nachwuchs. Solange die politischen Rechte der Elsass-Lothringer geringer waren als die der französischen Staatsbürger — die völlige Verschiedenheit der Verhältnisse tat nichts zur Sache — und Elsass-Lothringen nicht als neues, ebenbürtiges Glied in die Reihe der deutschen Bundesstaaten aufgenommen war, fühlten die Franzosen sich in gewissem Sinne verantwortlich für das politische Wohlergehen der beiden Lande und die Elsass-Lothringer sich stark von dem älteren bürgerlichen Staatswesen und seinem republikanischen Staatsideal angezogen.
Trotzdem vollzog sich in Frankreich im Laufe der Jahre eine Entwicklung der Geister, die in einem gewissen Umfang einer friedlichen Neuordnung des Verhältnisses zu Deutschland günstig war. Je mehr sich das Schwergewicht im inneren politischen Leben der Republik nach links verschob, desto aussichtsvoller erschien diese Entwicklung. Die radikale bürgerliche Partei, die sich auf den bäuerlichen Kleinbesitz stützt, wertete den Frieden zu hoch, um ihn zu gefährden. Die Sozialisten hofften das Problem auf dem Wege zu lösen, der zur Internationale und zur Einebnung der Grenzen führte. Beide Parteien waren einem Kriege um Elsass-Lothringen abhold. Einzelne glaubten die elsass-lothringische Frage durch die Forderung der Autonomie für die Reichslande erledigen zu können, niemand aber verzichtete darauf, einen so oder anders gefassten politischen Anspruch auf die ehemaligen Ostdepartements in Gedanken, in Wort oder Schrift geltend zu machen.
Die Aussicht, Elsass-Lothringen wieder zu erwerben, hat Frankreichs äußere Politik bis auf den Tag des Kriegsbeginns beherrscht und zum mindesten von einem Ausgleich mit Deutschland abgehalten. "Elle attend" steht unter dem schönen, sanft pathetischen Bilde einer Elsässerin, das J. J. Henner kurz nach dem Deutsch-Französischen Kriege als Symbol gemalt hat. In Wirklichkeit hat, mit Ausnahme einer dünnen Schicht großbürgerlicher Kreise, nicht das Elsass, sondern Frankreich bis auf den 2. August 1914 gewartet und dem Lande, das schon sein eigenes politisches Leben zu leben begonnen hatte, das Bild der Vergangenheit untergeschoben. Aber abgesehen von diesen Gefühlen und Erwägungen, die in Frankreich immer wieder durchbrachen, die Befreiung vom Revanchegedanken nicht aufkommen ließen und die Entwicklung der Geister in der Richtung einer Verständigung mit Deutschland stets aufs Neue hemmten, bat in Paris zweifellos auch eine starke Besorgnis vor einem Angriffskrieg Deutschlands und einer deutschen Vorherrschaft in Europa bestanden. Diese Befürchtung ist durch die Tatsache, dass das Deutsche Reich seit seinem Bestehen keine Gelegenheit ergriff, um kriegerischem Ehrgeiz zu frönen und mit dem Erwerb von Kolonialgebiet weit hinter der fortschreitenden Ausbreitung der Westmächte und Russlands zurückblieb, in keiner Weise entkräftet worden.
Der Wunsch, sich wieder in den Besitz der Rheingrenze zu setzen, und die Besorgnis, von Deutschlands riesenhaft anwachsender Macht erdrückt zu werden, hat die französische Republik in die Arme Russlands geführt, Russland die französischen Goldquellen eröffnet und schließlich zu einem innigen Einvernehmen mit England getrieben.
Der Abschluss des russisch-französischen Bündnisses, zu dem der Samen schon während der Berliner Kongresszeit gelegt wurde, das aber erst nach der Auflösung des deutsch-russischen "Rückversicherungsvertrages" in die Reife schoss, hat die europäische Lage nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Zwar war dieses Gleichgewicht nur ein schwebendes, es blieb indes bei gleichmäßiger Mehrbelastung der entgegengesetzten Waagschalen vorläufig ungestört. Die Gruppenbildung, die das Festland in den französisch-russischen Zweibund und den Dreibund Deutschlands, Österreich-Ungarns und Italiens schied, hat dieses labile Gleichgewicht nicht aufgehoben, sondern in seiner eigentümlichen Schwebelage erhalten. Auch Verwicklungen, die sich außerhalb der europäischen Landfeste im Kolonialgebiet oder auf den Weltmärkten anspannen, brachten Europa vorerst nicht aus dieser Schwebe, doch glaubten beide Bünde, sich durch gegenseitige militärische Bereitschaft und gesteigerte Rüstungen fortgesetzt sichern zu müssen.
Solange England gegenüber den Festlandsmächten in einer unabhängigen Stellung verharrte, die von dem konservativen Staatsmann Salisbury als "splendid isolation" bezeichnet wurde, war ein europäischer Krieg schwer zu entfesseln, da Deutschland nicht auf einen "Präventivkrieg" ausging (3). Aber der Druck, der auf Deutschland lastete, wuchs unaufhörlich. Es drohte der Einkreisung zu erliegen, die durch seine geographische Lage militärisch und wirtschaftlich erleichtert wurde. Diese Einengung hätte auf die Länge die Entwicklung des Deutschen Reiches, das sich nach Bismarcks Ausspruch in seinen europäischen Grenzen im Wesentlichen gesättigt fühlte, unterbunden. Rur die ungeheure wirtschaftliche Lebenskraft, die aus dieser spätgeborenen europäischen Großmacht hervorbrach, bewahrte Deutschland davor, sich in der notwendigen militärischen Bereitschaft zu erschöpfen, warf es aber dem angespanntesten Industrialismus in die Arme. Deutschland wuchs in einem Menschenalter zu einem großen Industrie- und Handelsvolk heran, das auf den Weltmärkten zu hohem Verdienst und Ansehen kam, und nahm aus diesem Gewinn die Mittel, seine militärische Rüstung zu vervollständigen und seine sozialen Einrichtungen auszubauen.
Deutschlands Weltwirtschaft entband Deutschlands Weltpolitik. Solange das geschehen konnte, ohne Englands Eifersucht und Besorgnis zu wecken, entstanden daraus keine Gefahren für den europäischen Frieden. Das gewaltige Ausbreitungsbedürfnis Deutschlands, dieses modernsten, ältere Industriestaaten und ihre Traditionen überholenden, wissenschaftlich und technisch am besten vorbereiteten Wirtschaftsvolkes, konnte sich dank dieser Entwicklung ausleben. Sein Ehrgeiz wurde in neue, friedliche Bahnen gelenkt und die Kulturwelt durch den starken sozialen und ethischen Antrieb bereichert, der aus deutschem Grübel- und Ordnungssinn plötzlich gestaltungshungrig hervorbrach und einen bewundernswürdigen staatlichen Organismus auf dem Gebiet des Verwaltungswesens schuf. Dieser vom kategorischen Imperativ der Pflicht beherrschte Staatsbau war allerdings stark vom Autoritätsprinzip durchdrungen, das die staatliche Zucht vielfach aus den Quellen des in Fleisch und Blut übergegangenen militärischen Gehorsams speiste, und ließ die innere politische Entwicklung, die Fortbildung der Verfassung des Reiches und besonders die des führenden Staates Preußen beträchtlich zurücktreten. Das ist bei der Betrachtung der deutschen Weltpolitik und des Verhältnisses Deutschlands zu England von Bedeutung, da Deutschlands Imperialismus, sein Streben nach überseeischer Geltung weniger vom Volke als von den bevorzugten Kreisen getragen und vom Willen einzelner gelenkt erschien. Falsche Vorstellungen von der Machtbefugnis des Trägers der Kaiserkrone, die besonders in England und Frankreich genährt wurden, ließen dies noch schärfer hervortreten. Unter diesem Vorurteil hat Deutschlands Weltpolitik gelitten.
Der Imperialismus Frankreichs und Englands wandte sich nach außen, innen war er von der Demokratie getragen; der Deutschlands wirkte innen und außen, und zwar nicht nur überseeisch und gegenüber farbigen Völkern, wie bei den vorgenannten Staaten, sondern auch im eigenen Lande autoritär. Das sind tiefgehende Unterschiede, die zu klaffenden Gegensätzen wurden und die demokratisch gerichteten Staaten England, Frankreich und Italien, ja sogar das in gewissen Schichten liberal empfindende, wenn auch zaristisch regierte Russland von Deutschland trennten. So bildete sich gewissermaßen eine auf äußerlichen Merkmalen fußende gemeinsame politische Weltanschauung gegen Deutschland und das mit ihm verbundene Österreich, das ebenfalls das alte Autoritätsprinzip hochhielt, ohne es genügend mit modernen Staatsgedanken zu erfüllen, die sich in diesem von Rassen- und völkischen Gegensätzen heimgesuchten Reiche sehr schwer gestalteten.
Solange das Verhältnis Deutschlands zu England ungestört blieb, ließen sich große, aus dem allgemeinen Streben nach Weltgeltung entstehende Konflikte bannen. Sobald aber England sich durch den neuen Nebenbuhler in seiner Machtfülle, in seiner Seegewalt und Handelsherrschast geschädigt fühlte, musste Deutschlands Weltpolitik zu einer größeren Verwicklung führen, als sie jemals auf der alten Landfeste Europa gedroht hat. Dann wuchs Englands geschichtlicher Kampf um die Seeherrschaft, die ihm die Unverletzlichkeit seines Heimgebietes und seines Systems von Herrschaftsgebieten und Tochterstaaten verbürgte, in eine neue Phase. Dann mündete der Konflikt, den das Inselreich mit dem Spanien Philipps II., dem Frankreich Ludwigs XIV. und Ludwigs XV., mit den Niederlanden, mit der Universal-Monarchie Napoleons I. und dem Russland Nikolaus' I. ausgekämpft hatte, in einen Weltkrieg mit Deutschland.
Die Gefahr dieses Interessengegensatzes ergab sich aus den Verhältnissen. War Deutschland zu spät zur Machtfülle gekommen, um Machtpolitik zu treiben, ohne in die Interessensphären der früher zur nationalen Einheit und Größe gelangten Weltmächte einzugreifen, so musste es doch darauf bedacht sein, eine gewisse Seegeltung zu erringen, um seiner Handelsflagge die nötige Achtung zu sichern und Siedlungsgebiet jenseits der Meere zu erwerben. Unterließ es das, so geriet es in Gefahr, ins Leere zu bauen und seine Kraft zu vergeuden. So trieb die weltwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands das Reich auch zu weltpolitischer Betätigung. Die Betätigung führte zur Schaffung einer Seemacht, die zur Seegeltung notwendig erschien. Das Ausmaß blieb zu bestimmen.
Anfangs hielten sich diese Rüstungen in bescheidenen Grenzen, als sie um die Jahrhundertwende mit wachsendem Eifer gefördert wurden und man den Bau einer großen Schlachtflotte in Angriff nahm, begannen sich die Engländer mit Sorgen und Argwohn zu tragen. England wurde vor eine Veränderung seiner Seeverhältnisse gestellt, die es zu ungeheuren Wettrüstungen trieben, wenn es seinen alten Anspruch auf die Beherrschung der Meere aufrechterhalten wollte.
Da die englische Staatskunst glaubte, dass die britische Flotte nicht nur die Unverletzlichkeit des Inselreiches, sondern auch die Herrschaft über die Wogen des Weltmeeres verbürgen müsse, weil das britische Weltreich ohne die Beherrschung der See gefährdet schien, war Großbritannien durch den Eintritt Deutschlands in die Reihe der großen Seemächte zu einer neuen Richtungnahme seiner Machtpolitik gezwungen. Albion wurde aus der glänzenden Einsamkeit, die ihm seit vierzig Jahren die Freiheit des Handelns gegenüber jeder einzelnen Festlandsmacht und der Gesamtheit der europäischen Staaten gesichert hatte, wieder zu einer bestimmten Stellungnahme gegenüber den Gruppierungen auf dem Festland veranlasst. In früheren Epochen hatte es daraus die Folgerung im Sinne des Übergangs zur Koalitionspolitik gezogen. Auf diese Bahn trat es auch diesmal. Noch stand ihm die Wahl frei, einen Genossen zu suchen, noch konnte der Versuch gemacht werden, mit dem mächtigsten der Festlandstaaten, dem frisch in die Zukunft strebenden Deutschen Reich, sich zu verständigen, aber der britische Staatssinn war gegenüber diesem Gedanken von vornherein skeptisch, ging misstrauisch an ihn heran und konnte sich ihn nicht voll zu eigen machen. England hatte sich nie auf ein Bündnis mit dem Stärksten eingelassen, sondern war stets auf die Schaffung einer Koalition gegen die kontinentale Vormacht ausgegangen und hatte dabei stets seine Rechnung gefunden.
Das Interesse Englands war und ist immer und eindeutig das Interesse des britischen Imperiums. Dieser Imperialismus sieht stets — eine Folge jahrhundertelanger Schulung — die Dinge vom insularen Standpunkt aus. Aus dieser klaren, egozentrischen Auffassung britischer Staatspolitik floss seit Generationen die einheitliche Betrachtung aller europäischen und universellen Fragen, einerlei, ob es sich um Handelsverträge, um Ausbreitungsversuche anderer Mächte in Afrika und Asien, um die orientalische oder persische Frage oder um die Sprengung oder Unterstützung festländischer Bündnisse und Gruppierungen handelte. Der Staatsegoismus, der sich darin bekundete, ist von jeher das sichere Grundgefühl der britischen Staatskunst gewesen und hat vielleicht zu einer starken Einseitigkeit, sicher aber auch zu einer festgefügten Grundsätzlichkeit der britischen Politik geführt.
Deutschland hingegen war in seiner politischen Strategie auf "ein System von Aushilfen" angewiesen, die ihm gestatten sollten, zwischen den bereits verankerten russischen, französischen und englischen Weltinteressen für ein eigenes deutsches Interesse Grund zu suchen und sich den "Platz an der Sonne" zu sichern. Ihm fehlte dabei im Gegensatz zu den Angelsachsen eine feste Überlieferung und jegliche Erfahrung, auch stieß es fast überall auf glückliche Besitzer oder ältere Anwärter und Mitbewerber. Es fand nie die nötige Rückenfreiheit zur Einhaltung einer folgerichtigen, bestimmten Grundgesetzen gehorchenden Weltpolitik, unter dem Zwange dieser Umstände setzte Deutschland an die Stelle der Politik der freien Hand zuweilen die Politik der gepanzerten Faust, ohne indes aus der schreckenden Gebärde herauszutreten oder den europäischen Frieden aus dem Gedanken an Krieg, an die Fortsetzung der Politik mit gewaltsamen Mitteln, zu bedrohen. Das gab der deutschen Staatskunst nach außen etwas Unsicheres, scheinbar Unberechenbares und setzte sie weiteren gefährlichen Vorurteilen aus (4).
Bismarck, der letzte große Staatsmann, der in Europa die Welt begriff und diese europäische Welt beherrschte, hat noch keine Weltmachtpolitik im modernen Sinne betrieben. Er hat selbst in seiner großzügigen europäischen Politik die deutschen Interessensphären so nach den Bedürfnissen der Zeit und der Umstände abgegrenzt, dass er noch im Jahre 1888 für die Lösung gewisser Balkanfragen nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers opfern wollte. Dadurch entging er dem Zusammenstoß mit Russland und der Auseinandersetzung mit England.
Die Entwicklung ist darüber hinweggeschritten. Im Jahre 1914 hat sich der europäische Krieg an der Balkanfrage entzündet, und deutsche Soldatengräber wurden von den Karpaten bis Podolien und Wolhynien, in Serbien, Rumänien und Mazedonien gehäuft und schmiegten sich tief in die Hügelfalten der Landzunge von Gallipoli und die Sanddünen von Suez.
Der Gegensatz, der zwischen Deutschland und England entstanden war, als sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die weltwirtschaftlichen Interessen Deutschlands in weltpolitische Tätigkeit umzusetzen begannen, konnte beschworen werden, wenn es gelang, die Machtfrage auf ihre Wurzel zurückzuführen und einen Ausgleich der Interessen anzubahnen. Der erste Versuch ist noch vor dem Burenkrieg gemacht worden und gescheitert.
Zog die altbritische Staatskunst aus der stolzen, ungebrochenen politischen Überlieferung ihres Landes eine große Stärke, so erlitt sie auf der anderen Seite durch die Bewahrung dieser Tradition eine gewisse Einbuße an Beweglichkeit. Die britischen Staatsmänner des zwanzigsten Jahrhunderts verkannten, dass die alte und erprobte britische Staatspolitik, die sich auf dem Grundsatz der Aufrechterhaltung der "balance of powers" in Europa aufgebaut hatte, durch die Entwicklung überholt worden war. Die internationale Interessenverflechtung hatte im Laufe des Maschinenzeitalters eine internationale Gemeinbürgschaft der Interessen geschaffen, die England nicht mehr gestattete, seinen Platz außerhalb dieser Gemeinschaft zu wählen. Dennoch hielt England an dem Fundamentalsatz britischer Politik, der Aufrechterhaltung eines britisch geordneten europäischen Gleichgewichts, fest und nahm seine Koalitionspolitik wieder auf, die es schließlich in den Kampf mit Deutschland getrieben hat (5).
Das europäische Gleichgewicht, das nach englischer Auffassung die Ruhelage des alten Kontinents durch gegenseitige Schachstellung der Festlandsmächte sicherstellte und England außerhalb dieser Gruppierung eine Vormacht- und Sonderstellung ermöglichte, war infolge des natürlichen Wachstums Deutschlands sowie der Veränderung der Gewichtsverhältnisse am Balkan toter Buchstabe geworden, ein Begriff, den die Entwicklung, "das Kleinerwerden der Entfernungen" und die weltumspannende Verflechtung der Wirtschaftsinteressen in die Luft gesprengt hatten. England hing an ihm und schlug sich für ihn. Das ist begreiflich, denn dieser Aufrechterhaltung der "balance of powers" auf dem Festland verdankte das Inselreich die ungestörte Ausbreitung seiner Welthandelsherrschaft und der Gewalt über die Meere und alle Randländer, die zur Erschließung fremder Erdteile nötig waren. Stand die europäische Waage, in der die Lose Frankreichs, Russlands, Österreichs und Deutschlands ruhten, im Gleichgewicht, so hatte ein Hauch des britischen Kabinetts genügt, sie nach der gewünschten Seite zum Ausschlag zu bringen. Beliebte England die von der zitternden Nadel angezeigte Schwebelage, so war es ihm ein leichtes, seine Herrschaft jenseits der Meere zu erweitern und zu befestigen, während die Festlandsmächte sich gegenseitig zerfleischten oder anstarrten comme des chiens de fayence. Das wurde zum letzten Male geschichtlich offenbar, als England sich anschickte, die Burenfreistaaten Südafrikas endgültig in seinen Machtbereich hineinzuziehen und seinem Weltorganisationsgebilde einzuverleiben. Aber dieser Krieg fesselte und erschöpfte England in höherem Grad, als es vorausgesehen hatte, und machte ihm die Gefahr der "splendid isolation" angesichts der zunehmenden Erstarkung Deutschlands erschreckend klar. Hatte doch das Niederringen der Buren auf dem europäischen Festlande Strömungen hervorgerufen, die sich mit erregtem Wellenschlag gegen England richteten und nur durch die Schachstellung Deutschlands und Frankreichs ihre Wirkung verloren. Mit dem Tode der Königin Viktoria, der im Jahre 1901 erfolgte, stieg auch die verblasste splendid Isolation ins Grab.
König Eduard VII. suchte andere Wege. Der König entzog sich der Erkenntnis nicht, dass das englisch geordnete europäische Gleichgewicht dahin und ein Weltgleichgewicht, in dem England ausschlaggebend hätte wirken können, noch nicht möglich war. England sah sich also vor einen neuen Entschluss gestellt. In Sir Eduard Grey fand König Eduard einen Minister, der bereit war, die Folgerungen aus der veränderten Sachlage in einer bestimmten, gegen Deutschland gerichteten Anordnung zu ziehen. Unter dem Namen der Ententepolitik begann Englands geschichtliche Koalitionspolitik in verfeinertem Zuschnitt wieder aufzuleben. Im Jahre 1902 entstand das Bündnis mit Japan, und im Jahre 1904 erblühte als größter Erfolg die Annäherung Frankreichs, das sich dem Gedanken einer herzlichen Freundschaft mit dem Erbfeind verflossener Jahrhunderte trotz innerer Wesensverschiedenheit gern hingab. Diese Verbindung war auf englischer Seite bereits aus der Befürchtung geboren, dass die Festlandstaaten sich nicht mehr gegenseitig in Schach hielten, dass Dreibund und Zweibund sich nicht mehr aufwogen und dass selbst der stärkste gegen Deutschland und Österreich-Ungarn gerichtete Festlandsbund das schwebende Gleichgewicht nicht mehr sicherstellte. Im Grunde hatte also König Eduard VII. nichts anderes getan, als die Folgerungen aus der Einsicht gezogen, dass das europäische Gleichgewicht, wie es sich in der ursprünglichen Anordnung darstellte, nicht mehr bestand. Er betrieb altbritische Koalitionspolitik, die gegenüber Deutschland zur "Einkreisungspolitik" wurde, gab die "splendid Isolation" auf und knüpfte ein wie mit Spinnfäden gezogenes Netz von Bündnissen, von politischen Freundschaften und mehr oder weniger bindenden Verabredungen, das jeden Lufthauch spürte und jede kleine Bewegung über ganz Europa und um den Erdball fortpflanzte und gerade dadurch zur Erhöhung der Weltspannung beitrug.
Englands Stellung ist jedoch durch diese Freundschaftspolitik wesentlich gestärkt worden. Binnen zehn Jahren hat es den Weg aus der glänzenden, lange gebietenden, zuletzt aber gefährlichen Einsamkeit zur führenden Nolle in einer neuen Mächtegruppe gefunden und zugleich den jahrhundertealten Wettstreit mit Frankreich im Westen und die jüngere Nebenbuhlerschaft Russlands im Osten zu seinen Gunsten gewendet. Frankreich wurde unmittelbar gewonnen, Russland zunächst durch Japan entwaffnet, das Russland von den Grenzen Koreas und des Gelben Meeres in die Mandschurei zurückwarf. Dadurch wurde der englisch-französische Gegensatz in Afrika und der russisch-englische Gegensatz in Asien stillgelegt. Deutschland vermochte diesem großen Spiel nicht zu folgen, das Frankreich eng an Englands Seite führte und damit die Figuren zur größten europäischen Auseinandersetzung stellte.
Im Jahre 1898 war der große geschichtliche Gegensatz zwischen England und Frankreich noch einmal hell aufgeflammt. Damals erschien die Militärmission Marchand, die vom französischen Kongo nach Osten aus. gebrochen war, am Nil und hisste in Faschoda am Oberlauf des Stromes die französische Fahne. Ohne Verzug forderte England die Räumung des Nillandes, das es seit 1881 besetzt hielt, seinen Handelsinteressen und der Verbindung mit Indien dienstbar gemacht und gegen einheimische Erhebungen und die Einfälle der Mahdisten behauptet hatte. Frankreich sah sich genötigt, seinen kühnen Sendboten zu verleugnen, und ließ sich zu einem Verzicht bereitfinden. Als die französische Republik damals vor Englands Forderung zurückwich, in Faschoda die Trikolore eingezogen und der Union Jack entfaltet wurde, als Kitcheners Truppen Marchand und seine Leute zu einem Nildampfer geleiteten, damit er die Heimreise antrete, vollzog sich in kleinem Vorgang eine große Wendung in den Verhältnissen der beiden alten Nebenbuhler. Englands entschiedene Politik hatte einen vollständigen Sieg davongetragen, der sich nicht nur örtlich und taktisch festlegen ließ, sondern auch in die Zukunft reichende strategische Ergebnisse zeitigte. Frankreich verzichtete auf die Weiterführung der geschichtlichen Auseinandersetzung mit England, die seine Politik während Jahrhunderten beherrscht hatte und auch im neunzehnten Jahrhundert noch stoßweise in die Erscheinung getreten war (6).
Frankreich schritt auf dieser Bahn weiter, indem es aus Englands Händen einen Vertrag entgegennahm, der im Mittelmeer neue Verhältnisse schuf und der französischen Republik das souveräne Scherifiat Marokko zusprach, wogegen sie auf ihre ägyptischen Ansprüche Verzicht leistete und Englands Vorherrschaft im Pharaonenlande und am Kanal von Suez anerkannte. Noch einmal war die Welt verteilt worden, noch einmal hatten die Westmächte das Schicksal der Randländer des Mittelländischen Meeres von sich aus bestimmt und über Gebiete verfügt, die teils unabhängig waren wie Marokko, teils durch Verträge und Versprechungen vor Einverleibung gesichert erschienen wie Ägypten, von England aber zum Ausgleich der Interessen und zur Gewinnung neuer Freundschaften in den Handel gebracht wurden. Doch lag in der Aufteilung zurückgebliebener Länder und unerschlossener Gebiete ein Stück internationaler Organisation, einer Organisation weltpolitisch wirkender Kräfte, von der Deutschland wiederum ausgeschaltet blieb, während sowohl Italien und Spanien als auch Russland mittelbar daran beteiligt wurden. Deutschland kam zu spät und sah sich fertigen Verhältnissen gegenüber, die nach angelsächsischer Anschauung als solche zu gelten und nach französischer bereits zu untilgbaren Rechten geführt hatten.
Im Augenblick, da das Deutsche Reich sich an diesen neugesteckten Interessensphären stieß und den Versuch machte, die Abgrenzung derselben in Frage zu stellen, musste es bei allen auf Widerstand treffen, die an diesen Verträgen und Auseinandersetzungen beteiligt waren. Diese Erkenntnis ist offenbar in Berlin nicht so weit durchgedrungen, dass man daraus die richtige Schlussfolgerung gezogen hätte. Man glaubte sich nur mit Frankreich auseinandersetzen zu müssen, wenn man die französische Republik verhindern wollte, von Marokko Besitz zu ergreifen. Auch diese politische Gegenhandlung wurde durch Gebärden unterstrichen, die in der Reise Kaiser Wilhelms II. nach Tanger und der Begrüßung des Sultans Abdul Asis ihren stärksten Ausdruck fanden. Gelangte Frankreich in den Besitz Marokkos, so gewann es in der Tat nicht nur einen so großen Zuwachs an Gebiet, dass die Machtverhältnisse in Afrika dadurch verschoben wurden, sondern entzog dem deutschen Wettbewerb auch einen aussichtsreichen Markt. Die französische Wirtschaftspolitik ging ja mehr und mehr auf die Schließung der Türen, während Deutschland, das bei der Verteilung der Erde zu spät gekommen war, immer entschiedener auf offene Türen halten musste, um seinem Handel und seiner Industrie neue Wege zugänglich zu machen.
Als Frankreich seine Ausdehnungspolitik auf Marokko erstreckte, sah es sich dem Deutschen Reiche zum ersten Mal außerhalb Europas feindlich gegenüber. Bismarck hatte nie daran gedacht, Frankreich von exotischen Unternehmungen abzuhalten oder ihm bei solchen in den Arm zu fallen, ja sich stets bemüht, es hierdurch in der Ferne zu binden und von alten Erinnerungen und Eroberungen abzulenken. Zwar hatte sich die weltwirtschaftliche Entwicklung so gestaltet, dass Deutschland die Verteilung der letzten Märkte und Gebiete unter seine imperialistischen Nebenbuhler nicht mehr ohne Einspruch gestatten, geschweige denn fördern konnte, aber es war gefährlich und zeugte von geringem Verständnis, wenn die deutsche Staatskunst glaubte, es in der Marokkofrage nur mit Frankreich zu tun zu haben. Zum mindesten bedurfte es hierzu einer starken und zuverlässigen Rückendeckung, denn trat England neben Frankreich, so erwuchs aus einem marokkanischen Konflikt und einer deutsch-französischen Auseinandersetzung alsbald die Gefahr eines Zusammenstoßes Deutschlands mit den Westmächten, und da Frankreich mit Russland verbündet war, auch mit diesem. Nur eine Verständigung mit Russland oder mit England konnte einen Krieg verhindern, in dem Deutschland sich überwältigender Übermacht gegenüber gesehen hätte. Aber auch zu Russland führte keine Brücke.
Eduard VII. hatte Frankreich mit zarten Fäden an das britische Interesse geknüpft und durch Frankreich Russland gebunden. Er selbst aber besaß noch freie Hand, die fest zu ergreifen niemand recht gelingen wollte. Die zarten Fäden, die diese seine Hand gesponnen hatte, sind durch die marokkanische Politik Deutschlands nicht zerrissen worden, sondern wuchsen sich dadurch zu festen Strängen aus, die von England nur noch mit großer Mühe, von Frankreich überhaupt nicht mehr gelöst werden konnten.
So musste sich Deutschland bequemen, zu einer europäischen Konferenz zu gehen, um seine politische Stellung in der Marokkofrage zu wahren. Als diese am 7. Januar 1906 zu Algeciras zusammentrat, sah sich Deutschland nicht nur Frankreich gegenüber, sondern auch genötigt, die Frankreich unterstützende Politik Englands und Russlands zu bekämpfen. Da Italien sich im Bann seiner Mittelmeerinteressen im Hintergrund hielt und Österreich-Ungarns Beistand nicht genügte, dem Standpunkt Deutschlands Anerkennung zu verschaffen, endete die Konferenz mit einem vieldeutigen Kompromiss. Frankreich schied als die in Marokko bevorrechtete europäische Macht von Algeciras, wo nur noch Spanien eine Sonderstellung zugebilligt und die Offenhaltung des marokkanischen Marktes ausgesprochen wurde. Der Sultan von Marokko galt zwar auch ferner als unabhängig, aber der friedlichen Durchdringung des Maurenreiches durch die Franzosen stand fürder nichts mehr im Wege.
Deutschland musste sich damit begnügen, ein europäisches Papier erstritten zu haben, dessen Auslegung dehnbar war und dessen Vorteile nicht ihm zugutekamen, sondern Frankreich einen, wenn auch beschränkten, Rechtstitel gaben. Schon damals waren die Fäden, die Eduard VII. mit Grey und Delcasse gesponnen hatte, stärker als sie schienen. In ihren Schwingungen drückte sich fortan die Erhöhung der Weltspannung am deutlichsten aus, zu der die Ententepolitik des englischen Königs seit dem Jahre 1902 geführt hat.
England war Freundschaften und Bündnisse eingegangen, ohne sich dadurch in seiner eigenen Bewegungsfreiheit wesentlich einschränken zu lassen. Das Bündnis mit Japan stellte den fernen Osten sicher und band Russland in der Mandschurei, das Einvernehmen mit Russland führte zu einer Abgrenzung der vorderasiatischen Einflusssphären, wie sie für England nicht günstiger gedacht sein konnte, und das herzliche Einvernehmen mit Frankreich gab den Suezkanal und Ägypten samt dem Sudan vollständig in britische Hand. Portugal lag seit altersher in einem Schutzverhältnis zu England gebunden, und Italien stand infolge seiner offenen, langgestreckten Küsten unter dem Einfluss britischer Wünsche, der sich in der britischen Seeherrschaft verkörperte.
König Eduard hatte seinem Land das Schiedsrichteramt und damit die Vorherrschaft Europas durch seine neue Methode — Abschluss von einseitig bindenden Freundschaften — kampflos gesichert.
Das Einvernehmen Englands und Frankreichs brachte auch eine Durchsicht der Beziehungen Englands und Frankreichs zu Belgien mit sich. Die Generalstäbe Deutschlands, Englands und Frankreichs wussten, dass das Maasbecken seit Jahrhunderten das Schlachtfeld Europas gewesen war. Dieses Los war auch dem belgischen Staat aufgespart, der im Jahre 1830 aus der alten Barrierenpolitik der Großmächte hervorgegangen und folgerichtig als neutralisierter Pufferstaat Dasein gewonnen hatte.
Die Aufrichtung der Unabhängigkeit und Neutralität Belgiens, die nach jahrhundertelangen Kämpfen um den Besitz Flanderns in den Jahren 1830 und 1839 von den Großmächten festgesetzt und verbrieft worden war, hatte vornehmlich den Zweck, das europäische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Die Neutralität Belgiens ist also nicht um Belgiens willen, sondern im Interesse der Großmächte, vor allem Englands, ausgesprochen worden. In dem Londoner Protokoll, das am 20. Dezember 1830 aufgesetzt wurde, heißt es nach de Clercs Sammlung französischer Verträge (Band IV, Paris 1865) ausdrücklich: "Die Konferenz werde sich mit neuen Abmachungen beschäftigen, die am besten geeignet seien, die künftige Unabhängigkeit Belgiens mit den Verträgen, den Interessen und der Sicherung der anderen Staaten und die Aufrechterhaltung des europäischen Gleichgewichtes in Übereinstimmung zu bringen."
Diese Neutralisierung lag zunächst und zumeist im Interesse Englands. Als Napoleon auf St. Helena saß, sprach er das hellsehende Wort: "C’est pour Anvers que je suis ici." Da England im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr Festlandsmacht genug war, Seeflandern, Calais und Dünkirchen selbst besetzt zu halten, um sein Inselreich mit vorgeschobenen Bollwerken jenseits des Kanals zu umgeben, hat es in einer Neutralisierung Belgiens das Mittel gesehen, das flandrische Glacis gegenüber Frankreich zu sichern. Diese Sicherung war notwendig, solange Frankreich seine alteingewurzelte Politik aufrechterhielt und in einem Gegensatz zu England beharrte. Als Deutschlands Aufstieg die Verhältnisse änderte und England und Frankreich im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts eine enge Verbindung eingingen, war Englands Festlandsglacis Belgien nicht mehr gegen Süden, sondern gegen Osten gewendet. Frankreich hatte schon im Kriege von 1870/71 aus der Neutralität Belgiens Nutzen gezogen und sich darein mit Preußen-Deutschland geteilt. England hat damals die Achtung der belgischen Neutralität im eigenen Interesse gefordert und von beiden kriegführenden Parteien zugesichert erhalten. Dass beide dazu ohne weiteres willig waren, lag in den strategischen Verhältnissen begründet, die sich einerseits in der geringen Bereitschaft Frankreichs zum Bewegungskrieg und in seinem Aufmarsch im elsass-lothringischen Vorgelände und andererseits in der Zusammenfassung der deutschen Streitkräfte zwischen der Saar und dem Oberrhein ausdrückten. Damals erfüllte Belgien seine Rolle zum Vorteil der drei benachbarten Unterzeichner seiner Neutralität zum letzten Mal. Nach der Aufrichtung des Deutschen Reiches und dessen zunehmender Industrialisierung, die sich besonders an der ausgesetzten Rheinflanke zwischen Ruhr und Wupper geltend machte, war die Bedeutung Belgiens als Pufferstaat zwar nicht gemindert, die Aufrechterhaltung seiner Neutralität aber beträchtlich erschwert worden. Solange England, Frankreich und Deutschland drei Mächte 'darstellten, die ihre Interessen im Streitfall gegenseitig abwogen und nicht zwei gegen eine standen, trat dies weniger hervor, im Augenblick aber, da Frankreich und England ihre Interessen verbanden, wuchs der Druck auf Belgiens Nord- und Westflanke so stark, dass Deutschland ihn durch den Pufferstaat hindurch spürte. Traf das Deutsche Reich daraufhin Gegenmaßnahmen, so geriet Belgien unter doppelseitige Pressung, die im Falle eines Konflikts der großen Mächtegruppen zur tödlichen Gefahr werden konnte.
Belgien war erst seit achtzig Jahren zu einem selbständigen Herrschaftsgebiet geworden und hatte in dieser kurzen Spanne Zeit ein Weltwirtschaftsvolk erzeugt. Das Land hatte sich indes mit seiner reichen wirtschaftlichen Entwicklung nicht beschieden. Das ist ihm zum Verhängnis geworden und hat es aus seiner neutralen Stellung gedrängt, die in der Staatsauffassung ohnehin schwach verankert war, da wohl der Staat, nicht aber der Staatsbürger sich daran gebunden hielt. Als Belgien aus den Landen König Leopolds den Kongostaat im Umfang von 2252780 Quadratkilometern mit etwa 19 Millionen Einwohnern erwarb, ging es zur Machtpolitik über. Es gab die bescheidene stumme Rolle auf und wurde zur handelnden Person aus der Weltbühne, begab sich also in einen inneren Widerspruch mit der ewigen Neutralität, die einen Verzicht auf Machtzuwachs in sich schließt und von Belgien selbst umso eifersüchtiger gehütet werden musste, je brüchiger das europäische Gleichgewicht wurde. Die Übernahme des Kongostaates aus der eopoldischen Erbschaft machte Belgien dann dem modernen Imperialismus, der sich als Streben nach überseeischer Geltung bezeichnen lässt, vollends zinspflichtig. Fortan gingen die Interessen Belgiens mit denen Englands und Frankreichs eng zusammen, wollte Belgien sich nicht in Afrika einem um erträglichen Flankendruck aussetzen. Es hat diesen genug zu spüren bekommen, bis sein Einschwenken auf der ganzen Linie die britischen Anklagen über belgische Eingeborenenpolitik am Kongo verstummen ließ. Zwei geschichtliche Daten kennzeichnen diese Entwicklung. Am 9. Juni 1904 hat Grey im Unterhaus die "Kongogräuel" gebrandmarkt, am 29. Mai 1913 setzte er die Anerkennung der Annexion des Kongostaates durch Belgien im Parlament Durch und lehnte die Wiedererörterung der Eingeborenenpolitik ab. Belgien hatte die politische Unterstützung der Westmächte gefunden, nachdem König Albert sich für eine menschenwürdigere Behandlung der Kongolesen verbürgt hatte. Übrigens war die Einverleibung des Kongostaates in Belgien durch die Garantiemächte der belgischen Unabhängigkeit ohne Vorbehalt anerkannt worden, da sie das Interessengleichgewicht, das im Vertrag von 1839 hergestellt war, durch die Umwandlung der Leopoldischen Gründung in eine belgische Kolonie nicht bedroht sahen. Gleichwohl war die belgische Neutralität an sich dadurch gemindert worden, eine Tatsache, die erst zu Gewicht gelangt ist, als es für Belgien längst zu spät war, aus das — überdies bezahlte — Danaergeschenk König Leopolds zu verzichten. Dieses "Zu spät" erfährt durch die Einkreisungspolitik König Eduards die richtige Beleuchtung. Da tauchten plötzlich die Schlagschatten einer drohenden Gefahr am belgischen Horizont aus, der bereits durch die einstige Hinneigung des führenden wallonischen Volksteils zu Frankreich verschaltet worden war (7).
Der europäische Friede war durch die Einkreisungspolitik des gekrönten englischen Staatsmannes unmittelbar bedroht, wenn irgendeine der Ententemächte eine zwischen ihr oder einer ihr nahestehenden kleinen Macht und einem Angehörigen des Dreibundes entbrennende Streitfrage vor das europäische Gericht brachte. Geschah dies, und wurden alsdann die beiden großen Heerlager unter die Waffen gerufen, so war Belgien in erster Linie gefährdet. In zweiter Linie standen Holland und die Schweiz vor der Gefahr, den Krieg über ihre Grenzen hereinbrechen zu sehen. Die Diplomatie Belgiens hat die Belgien drohende Gefahr richtig erkannt, und die Gesandten, die das neutrale demokratische Königreich in den Mittelpunkten des Weltgeschehens unterhielt, haben diese Entwicklung in ihrer: Berichten an die Brüsseler Regierung treffend gekennzeichnet und es an Warnungen nicht fehlen lassen. Also hing für Belgien fortan alles von der Einschätzung ab, die man irr Brüssel den europäischen Kräfteverhältnissen angedeihen ließ, wenn man nicht bereit war, unbedingte Neutralität zu bewahren, nirgends Anlehnung zu suchen und selbst unverbindliche Erörterungen über Kriegsmöglichkeiten mit den Vertretern der Großmächte zu vermeiden. Diese Einschätzung, ob falsch oder richtig, schrieb dann der Regierung ihr Verhalten vor.
Belgien war von alters her nicht in der Lage, eine unbedingte Neutralität zu üben, und auf der anderen Seite in besonderem Maße von einer Abirrung der Gefühle bedroht, weil dem Land die geschichtlichen Grundlagen und eine selbsterkämpfte Machtstellung mangelten. Diese Einsicht ist bezeichnenderweise zuerst in England laut geworden. Das Kabinett von St. James hat bereits im Jahre 1789 in Unterhandlungen, die zwischen ihm und der Krone Preußen geführt wurden, zu verstehen gegeben, dass eine Emanzipation Belgiens nicht im britischen Interesse läge, da ein unabhängiges Belgien in Abhängigkeit von seinem mächtigen Nachbarn Frankreich geraten werde (9).
Ein Jahrhundert später hatten die Verhältnisse dieses Problem vom britischen Gesichtspunkt aus umgewertet. Da Frankreich sich an England gebunden hatte und ein zu England in Gegensatz geratenes mächtiges Deutschland entstanden war, hatte eine allfällige Anlehnung Belgiens an Frankreich für England nichts Schreckhaftes mehr.
Von 1909 an war ein souveränes Belgien dank seiner Abhängigkeit von der Politik der Westmächte eine bestimmte Größe in der englisch-französischen Rechnung. Belgiens Bedeutung für die Neuordnung der englisch-französischen Politik wuchs noch, als das Land sich eine militärische Rüstung angelegen sein ließ, die unter den gegebenen Verhältnissen als eine Frontstellung gegen Osten erscheinen musste. Niemand hat die Gefahren, die gerade für Belgien aus der englisch-französisch-russischen Ententepolitik erwuchsen, deutlicher erkannt als die belgische Diplomatie, die sich der Gefahren wohl bewusstwurde, in die ihr Land durch die europäische Politik des Dreiverbandes geraten war. Der belgische Gesandte in Berlin, Baron Greindl, hat das am 27. Januar 1908 in dem schlagenden Briefsatz ausgedrückt: "La politique dirigée par le roi Edouard VII sous le prétexte de garantir l’Europe du péril allemand imaginaire a créé un danger français trop réel et qui nous menace en première ligne."
Die Marokkokrise verstärkte die Reibungen der europäischen Mächtegruppen. Das Mittelmeerproblem hatte alle Randländer ergriffen und die Interessen der europäischen Mächte an diesem ältesten Kulturbecken Europas aufs Neue zur Erörterung gestellt. Italien suchte sich aus denDreibund zu lösen, der ihm weder volle Sicherheit noch berückende Vorteile zu bieten schien. Die Bestrebungen der Irredenta erfuhren fortgesetzte Pflege, und die Beherrschung der Adria wurde zur Forderung des Tages. Diese Bestrebungen schossen in Frucht, als die englisch-französische Politik die Verteilung der nordafrikanischen Küste trotz des deutschen Widerspruchs planmäßig durchgeführt hatte und Russlands Rückkehr zur alten Orientpolitik keinem Widerstand des befreundeten England und Frankreich mehr begegnete.
Russland, das sich durch Japan um seine Ausbreitung in Ostasien betrogen wusste, wandte sich wieder dem nahen Orient zu und sammelte hier seine Energien und Ideale, um endlich den ungehinderten Ausgang aus dem Schwarzen Meer und somit den Weg zur freien See zu finden, den ihm Englands Verbündeter im fernen Osten verlegt hatte. Kaum war der Friede von Portsmouth geschlossen, der zwischen Russland und Japan einen tragfähigen Friedenszustand schuf, so legte die russische Politik das Steuer um und schiffte nach der Überwindung der Revolution entschlossen westwärts. Ate russische Ideale wurden wieder neu, die Politik des Zarentums begann sich noch einmal im Feuer der panslawistischen Idee zu läutern, um alle inneren Schwierigkeiten durch Ablenkung der nationalen Energien nach außen zu bannen. Geschah dies in der Richtung auf Konstantinopel, und zwar zunächst durch Stärkung der Balkanstaaten, so musste Russland auf Osterreich-Ungarn stoßen, das dem Nationalitätenprinzip als Staatsgrundsatz weder an der Südgrenze gegen Italien noch gegen Serbien oder Rumänien Raum gönnen konnte, ohne sich selbst aufzugeben.
Russland rechnete mit den abirrenden Gefühlen und Tendenzen der dort im österreichisch-ungarischen Staatenverband lebenden und der Monarchie kulturell und politisch mehr oder weniger angeschlossenen Serben, Rumänen und Italiener, die von den Wiener und Pester Negierungen nicht immer glücklich gelenkt worden waren.
Von diesen Völkern waren die ungarländischen Rumänen russischem Einfluss und Einwirkungen von außen am meisten entzogen, da das Königreich Rumänien bei Deutschland und Osterreich-Ungarn Anlehnung gesucht hatte, am seine Stellung gegenüber Russland zu stärken und seine Ostgrenze zu sichern, über die der Weg in die Walachei, die Dobrudscha und nach Konstantinopel führte. König Carol I. hatte schon im Jahre 1883 mit dem Kaiser und König von Osterreich-Ungarn einen Geheimvertrag abgeschlossen, der einem Bündnis gleichkam und auch auf Deutschland und Italien überging. Das Papier entbehrte allerdings der Deckung durch die rumänischen Minister und war nur ein dynastisches Abkommen, das keinen Wert besaß, wenn der rumänische König nicht die Kraft hatte, seine Berater und sein Volk darauf zu verpflichten und dabei festzuhalten. Immerhin ist dieser Vertrag ein Ausdruck gegenseitigen Vertrauens gewesen und hat die Richtlinien ausgezeichnet, nach denen die rumänische Politik handelte, bis auch der Pufferstaat des Ostens in den Strudel der Entwicklung gerissen und infolge einer neuen Einschätzung der Stärkeverhältnisse der beiden großen Mächtegruppen zu einer Frontänderung veranlasst wurde.
Am gefährlichsten für Osterreich-Ungarns Zusammenhalt als mitteleuropäisches Machtgebilde war die Werbekraft, die von dem herben, zukunftsgläubigen Serbentum ausging. Da die Reichsgrenze gegen Serbien als eine verschiebbare erschien, weil Bosnien und die Herzegowina von der Monarchie nur beseht waren und lediglich verwaltet wurden, so schöpfte die großserbische Politik daraus die volle Berechtigung, die Angliederung dieser Landschaften an das Königreich Serbien ungescheut zu betreiben. Zugleich verstärkte Serbien, von Russland über die Wirkung des russischen Einflusses belehrt, seine Werbungen in Mazedonien, wo Bulgarien und Griechenland schon als Anwärter tätig waren und eine von umstürzlerischen Bestrebungen zerrissene, in Nationalitäten zerfallende Bevölkerung in ständiger Unruhe lebte.
In Mazedonien kreuzten sich die Interessen sämtlicher Balkanmächte in verhängnisvoller Weise. Die mazedonischen Wirren bildeten eine ständige Gefahr und Verlockung für die Anrainer und ihre Hintermänner, nicht zuletzt bedrohten sie in ihren Wirkungen den Bestand der Türkei, deren Auflösung nahegerückt schien, wenn die Lawine ins Rollen kam.
Als England sich Russland immer mehr näherte und die Balkanvölker die Abstumpfung des englisch-russischen Gegensatzes gewahr wurden, wuchs die Gefahr gewaltsamer Vorgänge auf der Balkanhalbinsel. Die englischrussische Annäherung gedieh am 19. Juli 1908 zu einer Zusammenkunft König Eduards mit dem Zaren, die auf der Reede von Reval stattfand und einen Gedankenaustausch über die Balkaninteressen der beiden Mächte zutage förderte. Offenbar hatte England sogar sein Verhältnis zur Türkei einer Durchsicht unterzogen, um seine Einkreisungspolitik zum Siege zu führen. Die Missherrschaft des Sultans Abd ul Hamid erleichterte England diese Schwenkung und legte Russland und den christlichen Balkanvölkern eine neue Aufteilung des ottomanischen Reiches nahe.
Da erhoben sich im Sommer 1908 die liberalisierenden Jungtürken und stürzten das absolutistische Regiment des Sultans Abd ul Hamid. Eine neue Orientkrisis zog herauf. Unter dem Zwange der Umstände entschloss sich Osterreich-Ungarn, zu handeln, ehe seine Stellung am Balkan von anderer Seite zur Erörterung gestellt wurde. Es verkündete die Einverleibung der ihm durch den Berliner Kongress zur Besetzung überwiesenen Landschaften Bosnien und Herzegowina. Wien stellte also einer von innen heraus wirkenden Entwicklung eine äußerliche Tatsache entgegen, ohne sich mit den Signatarmächten des Berliner Kongresses ins Einvernehmen zu setzen und ohne den zwischen dem Kaiser und König und dem türkischen Sultan abgeschlossenen Vertrag auf rechtlichem Wege zu beseitigen. Es fühlte sich in einer Zwangsläge und handelte danach. Dieser Schritt brachte nicht nur den Balkan, sondern auch die Großmächte in Bewegung. War die von dem Minister Aehrenthal vorgenommene Staatshandlung bestimmt, Klarheit über den Umfang und die Ziele der großserbischen Propaganda zu erlangen und festzustellen, in welchem Maße sich Russland dafür einsetzen würde, so konnte Österreich diesen Zweck als vollkommen erreicht bezeichnen. Laut klang Serbiens Einspruch, deutlich klirrte Russlands Schwert. Bald wurde offenbar, wie stark Serbien sich bereits fühlte und wie greifbar deutlich Russland ihm die Hand führte.
Der europäische Krieg, der um Marokko und die in diesem Handel verborgen liegenden Probleme noch nicht entbrannt war, drohte sich jetzt an der Orientfrage zu entzünden. Fürst Ferdinand von Bulgarien ersah die Gunst der Stunde und schüttelte die Souveränität des Sultans ab, der Berliner Vertrag flog in alle Winde. Auch in diesem Falle lag der Grund der Erregung tiefer, handelte es sich um die allgemeine politische Entwicklung,nicht um den Vorfall an sich. Die europäische Gegenwirkung auf den Schritt Osterreich-Ungarns war so stark, weil durch die endgültige Einverleibung der beiden Landschaften in die Donaumonarchie die Erwartungen und Möglichkeiten des großserbischen Zukunftsstaates gedämpft wurden, Russland sich in seiner politischen Interessensphäre verletzt, in seinen Hoffnungen und Entwürfen bedroht fühlte und das alternde Osterreich-Ungarn plötzlich als selbständig handelnde Macht in Erscheinung trat und die beweglichen Balkangrenzen von sich aus fest umsteckte.
Russlands Zustimmung zu der Einverleibung war angeblich von dem Minister des Äußern Iswolski unter bestimmten Bedingungen in Aussicht gestellt worden, von denen die Forderung, dass den russischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch den Bosporus und die Dardanellen geöffnet werde, am lautesten sprach. Es sind aber Zweifel erlaubt, ob das Petersburger Kabinett an die Durchsetzung dieser Forderung geglaubt hat, die ja nicht durch eine einseitige Absprache Iswolskis mit Aehrenthal geregelt werden konnte. Tatsächlich hat Russland den Schritt der Donaumonarchie als Bedrohung der von dem Zaren beanspruchten Beschützerrolle auf dem Balkan angesehen und danach gehandelt.
Englands Einspruch gegen die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina verschärfte die Lage. Dazu bot die diplomatische Schürzung des Knotens reichliche Gelegenheit. Das britische Kabinett wies darauf hin, dass die staatsrechtlichen Beziehungen, welche die von Österreich-Ungarn besetzten und verwalteten Länder mit der Donaumonarchie verknüpften, durch die Berliner Kongressakte festgestellt seien und dass eine Änderung der Genehmigung der Signatarmächte bedürfe. Dieser Anschauung schloss sich Iswolski alsbald rasch gefasst an. Obwohl sich Frankreich zurückhielt, da es durch Sorgen und Hoffnungen im eigenen Hause abgelenkt war und den Freunden und Verbündeten die Führung der Angelegenheit getrost überlassen konnte, drohte eine allgemeine europäische Entladung, zum mindesten aber eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Österreich. Ungarn aus der einen und Serbien und Russland auf der anderen Seite. Die Wiener Diplomaste versuchte die brüchige Grundlage ihrer Politik zu verstärken, indem sie sich gegenüber dem Einspruch Englands nicht grundsätzlich ablehnend verhielt. Wien machte jedoch die von England und Russland geforderte Gesamtentscheidung Europas von Einzelverständigungen mit den Großmächten abhängig. Dieser Schachzug wurde durch das Übereinkommen ergänzt, das am 18. Januar 1909 zwischen dem Ballplatz und der Hohen Pforte geschlossen wurde. Danach verzichtete Osterreich-Ungarn auf sein Besetzungsrecht im Sandschak Nowibasar und erstattete diese Landschaft dem Sultan zurück, während die Pforte die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina in die Donaumonarchie anerkannte. Österreich gab damit die Türe, die nach Mazedonien und Saloniki führte, preis.
Der diplomatische Vorteil, den es durch diesen sachlichen Verzicht errang, lag auf der Hand. Englands Einspruch musste an Schärfe und Bestimmtheit verlieren, nachdem die Türkei sich befriedigt erklärt hatten England verzichtete auf die Führung des Gegenspiels, war indes geneigt, Russlands Einspruch als den des Nächstbeteiligten zu stützen und der Regierung des Zaren den Rücken zu stärken. Zu diesem Sinne war besonders der britische Vertreter, Botschaftsrat Artur Nicolson, in Petersburg tätig. Russland scheute zwar ein allzu schroffes Auftreten, blieb aber auf seinem Standpunkt stehen und erschwerte dadurch Österreich-Ungarns Lage beträchtlich. Russlands Haltung ermutigte Serbien, seine Sache weiter mit Leidenschaft zu verfechten. Feierlich legte die serbische Volksvertretung gegen die Einverleibung Bosniens in die Donaumonarchie Verwahrung ein, während zugleich die Rekruten unter die Fahnen gerufen wurden. Griffen Russland und Serbien wirklich zu den Waffen, so sah sich Österreich-Ungarn mit dem Verderben bedroht, wenn es allein blieb. Aber auch eine diplomatische Niederlage, nur durch Bedrohung herbeigeführt, musste das große Donaureich schwer gefährden, seinen inneren Bestand schädigen und seine Bündnisfähigkeit herabsehen. In der Erkenntnis dieser Sachlage griff Deutschland als Österreich-Ungarns Verbündeter mit Entschiedenheit in den Streitfall ein.
Am 29. März 1909 hielt Fürst Bülow im Reichstag eine Rede, die keinen Zweifel ließ, dass Deutschland gesonnen war, die Folgerungen aus dem Bündnisvertrag mit Österreich-Ungarn in vollem Umfange zu ziehen und im Falle der Not mit dem Schwert neben seinen Genossen zu treten. Es fiel das Wort von der "Nibelungentreue" (10). Da König Eduard sich vorläufig von dem nicht allzu günstig stehenden Spiele schied, Frankreich in Marokko stark gebunden war und sich durch den am 9. Februar 1909 geschlossenen deutsch-französischen Marokkovertrag die Früchte von Algeciras gesichert hatte, wurde durch diese kraftvolle Erklärung die Entfesselung des europäischen Krieges hintangehalten, obwohl Iswolski noch einen letzten Versuch machte, die bosnische Angelegenheit vor einen europäischen Gerichtshof zu bringen. Dieser Versuch ist bemerkenswert, weil er von der Auffassung ausging, dass es sich immer noch um eine europäische Angelegenheit handelte, damit die Gefahr eines europäischen Krieges aufs Neue an die Wand malte und ein warnendes Beispiel für die Zukunft aufstellte.
Als der Vorschlag Iswolskis zu Wien und Pest auf entschiedenen Widerstand stieß und der russische Minister kein Bedenken trug, seine Forderung durch militärische Vorbereitungen zu unterstützen, entschloss sich Deutschland, den glimmenden Funken mit eisernem Schuh auszutreten, ehe der Brand das europäische Friedensgebäude ergriff. Unter ernstem Hinweis auf die Gefahr der Stunde und die Hand aufs Schwert gestützt, legte die deutsche Regierung einen Vermittlungsvorschlag vor: Österreich-Ungarn sollte sämtliche Großmächte um ihre Zustimmung zur Einverleibung ersuchen und die Mächte ihre Zustimmung durch diplomatische Noten erteilen. Hinter diesem formellen Vorschlag stand — wenn er verworfen wurde — das Schreckbild des europäischen Krieges, denn im äußersten Falle konnte Russland das zu Schutz und Trutz verbündete Frankreich mitreißen. Frankreich, das auf unbedingte Hilfe des englischen Freundes für einen solchen Waffengang noch nicht zählen konnte und die eigene Rüstung nicht stark genug wusste, riet Russland unter dem Druck der Umstände selbst zur Annahme des Vorschlags, die auch am 26. März erfolgte. Auf Österreich Ungarns Wunsch wurde Serbien zur Bekräftigung der friedlichen Erledigung eine Verzichterklärung vorgelegt, die nach Gutheißung durch die Großmächte folgenden Wortlaut enthielt:
"Serbien anerkennt, dass es durch die in Bosnien geschaffene Tatsache in seinen Rechten nicht berührt werde und dass es sich demgemäß den Entschließungen anpassen wird, welche die Mächte in Bezug auf Artikel 25 des Balkanvertrages treffen werden. Indem Serbien den Ratschlägen der Großmächte Folge leistet, verpflichtet es sich, die Haltung des Pro testes und des Widerstandes, die es hinsichtlich der Annexion seit vergangenen Oktober eingenommen hat, aufzugeben, und verpflichtet sich ferner, die Richtung seiner gegenwärtigen Politik gegenüber Österreich-Ungarn zu ändern und künftighin mit diesem letzteren auf dem Fuße freundnachbarlicher Beziehungen zu leben."
Am 30. März 1909 begaben sich die Gesandten der sechs Großmächte aus dem englischen Gesandtschaftshotel in Belgrad in den Konak des Ministers des Äußeren und verlangten die Anerkennung dieser Formel.
Für den Vertreter Russlands ein schwerer Gang, für Serbien ein noch bedrückenderer Empfang. Und doch barg dieses Erscheinen Europas vor dem serbischen Minister für das serbische Volk auch eine große Genugtuung.