18,99 €
Der Wunsch nach einer besseren Welt begleitet die Menschheit seit jeher. In diesem einzigartigen Band versammeln Alida Bremer und Michael Krüger Beiträge von Autoren und Künstlern, die sich unter dem Goethe entlehnten Motto »glückliche Wirkungen« nicht nur vergangenen schöneren Zeiten widmen, sondern auch Visionen einer glücklicheren Zukunft entwerfen oder sogar im Jetzt aufspüren, was eine gute Welt sein mag. Autoren wie Mircea Cartarescu, Stefan Herrtmans, Serhij Zhadan, Cécile Wajsbrot oder Colm Tóibín begegnen dem Thema phantasievoll, ironisch, träumerisch oder realistisch und fangen ein, was uns zwischen Freiheit und Geborgenheit, Solidarität und Hilfsbereitschaft, Herausforderung und Wagnis bewegt. Eine literarische Reise, die zeigt, wie wir den großen Fragen der Gegenwart begegnen können. Die liebevoll gestaltete Anthologie versammelt Beiträge aus den 57 Mitgliedstaaten der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und ist mit einem Vorwort von Außenminister Frank-Walter Steinmeier versehen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Was entdecken wir, wenn wir uns nach unserer Vorstellung einer besseren Welt befragen? Woran knüpfen wir an? Sind es Hoffnung und Zuversicht? Oder melden sich Furcht und die Angst vor dem Unmöglichen? Worin überhaupt liegt Gutes und Schlechtes, das wir verbessern wollen? Die Autoren dieses Bandes begegnen dem Thema phantasievoll, ironisch, träumerisch oder realistisch und fangen ein, was uns zwischen Freiheit und Geborgenheit, Solidarität und Hilfsbereitschaft, Herausforderung und Wagnis bewegt. Ihre Antworten entführen uns in bereits Bekanntes und in noch nie Gesehenes, in Schönes und in Schreckliches. »Glückliche Wirkungen« versammelt mögliche und unmögliche bessere Welten, die so unterschiedlich wie vielstimmig sind, und zeigt, was entstehen kann, wenn wir uns über alle Grenzen hinaus in den Dialog begeben.
Alida Bremer, geboren 1959 in Split, Kroatien, ist Literaturwissenschaftlerin, Autorin, Übersetzerin und Kuratorin bei verschiedenen Literaturfestivals und internationalen Buchmessen.
Michael Krüger, geboren 1943 in Wittgendorf, Sachsen-Anhalt, war langjähriger Verleger der Carl Hanser Literaturverlage. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen.
Glückliche Wirkungen
Eine literarische Reise in bessere Welten
Herausgegeben von Alida Bremer und Michael Krüger
Propyläen
Hinweise zu Schriften und Zeichen im E-Book Damit im E-Book alle Zeichen und Buchstaben richtig anzeigt werden können, empfiehlt es sich, die eingebettete Schriftart zu verwenden. Diese Schriftart nennt sich DejaVu. Einige Reader bieten zudem die Option an, die verlagsspezifischen Einstellungen zu übernehmen. Bei Unklarheiten lesen Sie bitte in der Bedienungsanleitung Ihres jeweiligen Gerätes nach. Zusätzlich wurden einige Zeichen und Buchstaben als Bilddateien eingefügt, da auch die eingebundene Schrift nicht alle Zeichen enthält.
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de
Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.
Hinweise zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.
Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
ISBN 978-3-8437-1546-1
© 2017 © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Lektorat: Tanja Ruzicska
Titelillustration: © Cinta Vidal
Gestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld
E-Book: L42 AG, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Sein Jahrhundert kann man nicht verändern, aber man kann sich dagegen stellen und glückliche Wirkungen vorbereiten.
GrußwortFrank-Walter Steinmeier
AlbanienArian Leka
AndorraAlbert Salvadó
ArmenienTatev Chakhian
AserbaidschanNermin Kamal
BelarusAleś Razanaŭ
BelgienStefan Hertmans
Bosnien und HerzegowinBekim Sejranović
BulgarienGeorgi Gospodinov
DänemarkJens Christian Grøndahl
DeutschlandPeter Schneider
EstlandEeva Park
FinnlandKatja Kettu
FrankreichCécile Wajsbrot
GeorgienAnna Kordsaia-Samadaschwili
GriechenlandChristos Chryssopoulos
IrlandColm Tóibín
IslandEiríkur Örn Norðdahl
ItalienPaolo di Paolo
KanadaHélène Dorion
KasachstanAigul Kemelbayeva
KirgisistanDalmira Tilepbergenova
KroatienIvana Sajko
LettlandInga Gaile
LiechtensteinMeikel Mathias
LitauenEugenijus Ališanka
LuxemburgJean Portante
MaltaAdrian Grima
MazedonienRumena Bužarovska
Moldawien / Republik MoldauLiliana Corobca
MonacoRolf Palm
MongoleiGun G. Ayurzana
MontenegroAndrej Nikolaidis
NiederlandeMargriet de Moor
NorwegenIngvar Ambjørnsen
ÖsterreichKarl-Markus Gauß
PolenStefan Chwin
PortugalAna Marques Gastão
RumänienMircea Cărtărescu
Russland / Russische FöderationViktor Jerofejew
San MarinoPaolo Rondelli
SchwedenAgneta Pleijel
SchweizLukas Bärfuss
SerbienSaša Ilić
SlowakeiPeter Krištúfek
SlowenienGoran Vojnović
SpanienJavier Cercas
TadschikistanAbdughaffor Abdujabborov
Tschechische RepublikJaroslav Rudiš
TürkeiEce Temelkuran
Turkmenistan
UkraineSerhij Zhadan
UngarnTamás Miklós
UsbekistanAzam Abidov
Vatikan / Heiliger StuhlMonsignore Mirosław Wachowski
Vereinigte Staaten von Amerika / USACharles Simic
Vereinigtes Königreich / GroßbritannienJeremy Adler
ZypernEftychia Panayiotou
Anhang
Dank
Die Autoren
Die Herausgeber
Feedback an Verlag
Empfehlungen
Als vor mehr als 40 Jahren in Helsinki die Grundlagen für die heutige Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gelegt wurden, standen sich in Europa zwei hochgerüstete Blöcke in Ost und West feindlich gegenüber. Damals erforderte es Mut und großes Vertrauen in die Macht des Dialogs, an die glückliche Wirkung eines solchen Zusammenschlusses zu glauben.
Heute ist der Kalte Krieg seit über 25 Jahren vorbei, nicht zuletzt als Folge des in Helsinki angestoßenen Entspannungsprozesses. Die OSZE ist ein einzigartiges Miteinander von 57 Staaten auf drei Kontinenten, die neben den Ländern Europas auch alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die Mongolei, USA und Kanada versammelt.
Schon 1975 war hierbei der kulturelle Austausch Grundgedanke: Durch gegenseitiges Verstehen sollte Vertrauen entstehen, Barrieren überwunden und eine Annäherung nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch zwischen Gesellschaften und Kulturen möglich werden. Die OSZE förderte schon damals Übersetzungen, Verlagskooperationen oder den Austausch von Kulturschaffenden. Vermutlich war vielen Staatenvertretern zu diesem Zeitpunkt selbst nicht bewusst, welche soziale Kraft Kultur entfalten und wie groß die vertrauensbildende und verbindende Wirkung etwa von Literatur sein kann.
Aus diesem Grund bin ich den Herausgebern dieses Bandes, Alida Bremer und Michael Krüger, sehr dankbar, dass sie an diesen Aspekt der Annäherung zwischen Ost und West erinnern und das Wagnis dieser Anthologie mit Beiträgen aus allen 57 OSZE-Staaten auf sich genommen haben. Sie versammeln hier Länder, deren Literatur den meisten von uns weitestgehend unbekannt ist – ich denke nur an Kirgisistan oder Usbekistan –, und Sprachen, für die es in Deutschland nur wenige Übersetzer gibt, zum Beispiel das Mongolische.
Leitmotiv für die Beiträge der Autorinnen und Autoren war das Thema »Eine bessere Welt«, um deutlich zu machen, dass die Sehnsucht nach einer besseren und vor allem auch friedlicheren Welt eine universelle ist. Die literarische Umsetzung ist so unterschiedlich wie die Kulturen und Traditionen der 57 OSZE- Staaten. In dieser Vielfalt liegt der Gewinn. Wir sollten einander mehr von uns erzählen – von unserer Gegenwart, unserer Vergangenheit, unseren Hoffnungen und unseren Ängsten.
Dieser Gedanke, dass Dialog die Grundlage für Verstehen und Verstehen die Basis für Vertrauen und ein friedliches Zusammenleben ist, stand im Mittelpunkt des deutschen OSZE-Vorsitzes 2016. Gerade in einer Zeit des Missverstehens und der Konfrontation brauchen wir mehr Dialog und Verständigung, nicht nur zwischen Politikern, sondern zwischen Gesellschaften.
Ich bin davon überzeugt, dass wir über Kunst, Musik, Filme oder Literatur mehr voneinander lernen, neue Perspektiven entwickeln und Gemeinsamkeiten entdecken können. So kann Kunst die glücklichen Wirkungen entfalten, die wir in der heutigen Welt so dringend benötigen.
Berlin, im Januar 2017
Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier
Alida Bremer:
A wie Anfang und A wie Albanien. Beginnt unser Kontinent vielleicht dort, wo sich in der Straße von Otranto, vor der albanischen Mittelmeerküste, so viel Geschichte abgespielt hat? Und A wie Anthologie.
Unsere Blütenlese, lateinisch florilegium, griechisch anthologia, versammelt Antworten zu der Frage nach der Vorstellung von einer besseren Welt. Der Blumenstrauß des ehemaligen Priesters und Übersetzers Haxhimihali aus der Erzählung von Arian Leka sollte den Beginn einer neuen, freien Ära in Albanien kennzeichnen – eine schwierige Aufgabe.
Michael Krüger:
Albanien, das ist das Land der Skipetaren. Es ist ein durch die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts besonders heftig gebeuteltes Land. »Wie konnte Gott zulassen, dass wir mit denselben Tränen lachen und trauern?«, fragt sich Haxhimihali. Es ist eine Frage nach der Rolle der Religion, die nach dem Ende der Ideologien noch keine befriedigende Antwort gefunden hat.
Dies ist die Geschichte von Haxhimihali, der, um aus seiner Heimatprovinz herauszukommen, in ein Priesterseminar eintrat. Heute, da er und die meisten seiner Zeitgenossen tot sind, wird er von einigen als faschistischer Priester bezeichnet, andere denken an den Tag, als er aus der Kirchenbibliothek verjagt wurde, aber nur wenige erinnern sich an seine Anthologie. Sie war die erste nach der Diktatur. Wir wussten damals weder, wie wir mit Büchern noch mit Menschen umgehen sollten, die bis dahin für uns weggesperrt waren.
Vielleicht wäre Haxhimihali ohne die atheistische Revolution ein hoher Würdenträger geworden. Vielleicht einer der höchsten. Einer von denen, die Menschen wie du und ich nur aus dem Fernsehen kennen. Damals war er noch jung. Aber sein wahrer Schutzengel war weniger sein Alter, sein Gebet noch sein Glaube, sondern seine Begabung, seine Fremdsprachenkenntnisse. Begabten Menschen zahlte man es anders heim. Sie wurden gequält und ausgenutzt, aber nicht ermordet.
Als er noch das Priestergewand trug, gewährte ihm jemand, der hinter ihm stand, die Möglichkeit, zu lesen und sich dem Übersetzen zu widmen, statt den Geheimnissen der Sünder im Beichtstuhl zu lauschen oder in der Kirche Kerzen anzuzünden.
Dann kam das Jahr 1967 und mit ihm der Atheismus. Ich glaube, den Kommunisten kam die Methode zupass, mit der der Erzengel Adam aus dem Paradies vertrieb. Sie wurde auch gegen Haxhimihali angewandt, als man ihn vor Gericht stellte. Er bekam 18 Jahre. Propaganda gegen die Volksmacht. Anfangs arbeitete er in Bergwerksstollen. Später wurde er Gehilfe in der Gefängnisbibliothek. Nach Feierabend übersetzte er marxistische Schriften für Parteikader und einfache Kommunisten. Da er einen erlesenen Geschmack hatte, gab man ihm auch Belletristik. Bei der Prosa verbesserte er so manchen Absatz. Aber die Poesie war so proletarisch, dass sie keine Änderung zuließ. Er profitierte von der Amnestie, die nach dem Tod von Enver Hoxha erlassen wurde, und als er freikam, gab man ihm Arbeit in seiner Stadt. Totengräber, sagte man ihm auf dem Amt. Du gräbst in der Erde. Hebst Gruben mit der Schaufel aus. Doch er wurde Gärtner im Botanischen Garten, wo Pflanzen, Setzlinge und Blumen unter idealen Bedingungen wuchsen und mit Hybriden experimentiert wurde.
Der ihm das verkündete, wollte nicht erwähnen, dass sein Handwerk mehr mit Blumen als mit dem Umgraben von Erdreich zu tun hatte. Du wirst in der Baracke am Ende des Gartens wohnen und bittest um Erlaubnis, wenn du rausgehen willst, sagte er ihm.
Mit dem Gespür der Menschen, deren Schicksal andere bestimmen, fühlte Haxhimihali Freude, als ihm diese Arbeit aufgetragen wurde. Menschen wie er starben gewöhnlich jung unter der Folter, wurden hingerichtet oder schmachteten noch immer in den Gefängnissen und übersetzten für den Bedarf junger Marxisten in der ganzen Welt.
Sobald er freie Zeit fand, pflückte er mit seinem erlesenen Geschmack Blumen kurz vor dem Verblühen und band sie zu Sträußen. Alles existiert, um zum Strauß zu werden, sagte er sich. Die Blumen erinnern sich an das Licht, das sie aufgenommen haben. Die Menschen erinnern sich an die Bücher, die sie gelesen haben. Florilegium mit Blumen. Sträuße mit Wunden. Florilegium mit den Arten zu foltern und zu töten. Tränen traten ihm in die Augen. Er dachte an Gott. Wie konnte er es zulassen, dass wir mit denselben Tränen lachen und trauern? Dass in den Grabes- und Geburtstagssträußen dieselben Rosen sind? Statt für Zellengenossen hebe ich Gruben für Bäume aus, sagte er sich. Nichts weiter.
In seiner Lage und seinem Alter glaubte er, dass Geschenke, die spät kommen, eine Verlängerung der Strafe sind, und deswegen kann uns niemand sagen, ob es die Blumen des Botanischen Gartens waren, die Haxhimihali den Vers von William Blake vor Augen führten: »To see a Heaven in a Wild Flower«, oder ob es die Tiere in den Käfigen des Zoos nebenan waren, die jener Bibelstelle ein anderes Leuchten verliehen, in der die Ankunft des himmlischen Königs durch die Vision prophezeit wird, dass der Wolf sich beim Lamm aufhält, das Kind mit der Schlange in ihrer Höhle spielt und der Löwe und das Rind gemeinsam goldenes Stroh fressen?
Nur wenn er mit einer Grube fertig war, hob er den Kopf und sagte sich zweifelnd: Du bist noch im Gefängnis. Vergiss das nicht! Irgendwo haben auch die Gärten ein Ende. Sie sind ein Gefängnis im Gefängnis und du bist nur irgendwo an seinem Rand. Sind die Zuchtrosen die Fortsetzung der Wildpflanzen im Gefängnishof? Du hast ihn für keinen Augenblick verlassen. Das ist ein abgekartetes Spiel! Hast du auch gut gearbeitet? Wo? An den Gewächshäusern der hybriden Pflanzen? An den Käfigen der eingesperrten Tiere? Was ist außerhalb des Gartens? Soll ganz Albanien wie dieser Garten aussehen? Wurde ich vielleicht zur Entschädigung für die Leiden und Wunden zu den Blumen versetzt? Soll ich darüber froh sein? Ist das Glück?
Des Wechsels der Gefängniszellen, Gefängnisse und Internierungslager müde, sprach er im Botanischen Garten nie von seinen Lebensumständen. Er fürchtete, dass ihn jemand hören, belauschen, beneiden und verjagen würde. Aus Angst, noch weiter an den Rand des Gartens abgeschoben zu werden, setzte er sein Wissen und die ihm verbliebene Kraft ein, um die Tatsache zu verbergen, dass er sich dort wohlfühlte. Nicht einmal den Bäumen und den Pflanzen vertraute er das Geheimnis an, dass die Blumenpflege, der Geruch der Zoo-Tiere und die Übersetzungen von Poesie ihm Freude und Frieden verschafften. Bis zum Sturz des Kommunismus lebte er in der Angst, aus diesem hybriden Paradies entführt oder vertrieben zu werden … Haben wir ihn gestürzt? Ist er gestürzt?
Was mit anderen passierte, die aus den Gefängnissen und Internierungslagern freikamen, wissen wir. Die weggehen konnten, gingen. Über die, die geblieben sind, ist man hinweggegangen. Haxhimihali blieb. Die wahren Gründe dafür wurden ihm nie klar. Er ging nicht weg. Er blieb einfach nur da. Als ob er einem Befehl gehorcht hätte. Er erstarrte. Wich zur Seite aus. Das ganze Geschehen kam ihm wie ein Zufall vor. So erschien ihm auch der Tag, an dem an seine Tür geklopft wurde. Die Gesichter kamen ihm bekannt vor. Auch die Stimme, die zu ihm sprach. Aber weil ihm seit langem schien, als erlebte er alles zum zweiten Mal, da ihn die Gruben für die Bäume an die Gruben für Freunde, die Stacheln der Rosen an den Stacheldraht, jedes Gesicht und jede Stimme an einen anderen aus einer zurückgelassenen Welt erinnerten, und da ihm jeder irgendwie bekannt erschien – ob aus der Zelle oder aus der Bibliothek, wo er Bücher an politische Häftlinge auslieh – fragte er nicht, wer die Menschen vor seiner Tür waren. Er war Befehle gewohnt und Aufträge nahm er schweigend an. Schweigend hörte er auch dem Mann zu.
Der Mann sagte in bestem Albanisch, dass er ein Verleger aus dem Ausland sei, der seine Übersetzungen schon lange kenne. Haxhimihali war erstaunt, als er ihm mitteilte, Albanien stelle sich bald mit einem Stand auf der Buchmesse in Frankfurt vor. Zum ersten Mal nicht mehr als eine Diktatur, sondern als ein freies und demokratisches Land. Deswegen möchte ich, dass Sie Ihre Anthologie der albanischen Poesie fertigstellen, die Sie im Gefängnis begonnen haben. Sie haben einen erlesenen Geschmack. Das ist bekannt. Treffen Sie eine Auswahl an Gedichten und übersetzen Sie. Ergänzen Sie die Dichter, die Sie im Gefängnis übersetzt haben, um diejenigen, die damals nicht aufgenommen werden durften. Ihr Name wird nicht mehr verschwiegen, wie es der totalitäre Staat praktizierte, der die Namen der verfolgten Übersetzer nicht angab, sondern er erscheint im Titel. Verstehen Sie? Auf der ersten Seite.
Florilegium, murmelte Haxhimihali vor sich hin, als er wieder allein war. Anthologie, wiederholte er, als er die Barackentür schloss. Dichtersträuße. Im Gefängnis hatte er die Dichter der proletarischen Revolution und des Atheismus nach Norm übersetzt. Die anderen nicht. Er hatte gehört, dass seine Übersetzungen, wenn auch ohne die Nennung seines Namens, einmal in Frankfurt präsentiert wurden. Sie waren der Beweis, dass auch das kleine Albanien gute Schriftsteller hatte und dass der sozialistische Realismus als Schaffensmethode genauso erfolgreich und siegreich wie der Sozialismus war.
Wie soll eine Poesieanthologie in einer Gesellschaft ohne Klassenkampf zusammengestellt werden? Wäre eine solche Anthologie ein Blumenstrauß, wie es die Etymologie definiert? Wäre es nicht besser, wenn die »anderen«, die in den Gefängnissen gefoltert wurden und verschwunden sind, die »nicht aufgenommen werden durften«, erst einmal für sich übersetzt und veröffentlicht würden? Oder waren sie schon zu lange in den Lagern und in ihren Zellen abgesondert gewesen? Wären diejenigen, denen der Strick beim Hängen die Halswirbelsäule brach, einverstanden, zwischen Buchdeckeln mit denen zu sein, die sich nach einer überstandenen Bedrängnis den Krawattenknoten lockerten? Habe ich das Recht, diejenigen, die den Befehl ›Feuer!‹ gaben, mit denen zusammenzufügen, die in ihren Gedichten feurige Worte schrieben? Ist es recht, dass diejenigen, die in der Kuppel des Kommunismus oben saßen und gestürzt wurden, mit denen zusammengestellt werden, die eine Kugel genau an jener Stelle ins Herz bekamen, wo sich die anderen Löcher für vergoldete Orden stachen? Würden sie sich wieder gefesselt fühlen, wenn auch nur mit Buchbinderzwirn in einem dicken Einband? Wie sollte ein zu dieser Anthologie passender Titel gefunden werden? Blüten und Dornen? Orden und Wunden? Ähnelt das Buch mehr einem Internierungslager oder einem Botanischen Garten voller idealer Blumen, unter denen ich lebe? Soll ich die Wahrheit stützen oder schaffe ich doch nur eine Utopie mit den Wörtern: Zusammenleben, Toleranz, Freiheit, Demokratie, unsere Helden und Märtyrer, die auf denselben Plätzen ertönen, wo früher Worte des Hasses dröhnten? Diese Zweifel begleiteten Haxhimihali in seiner Einsamkeit, bis er fertig wurde und die Anthologie einreichte.
Ich bin mir nicht gewiss, ob seine Anthologie aus Weisheit oder aus mystischer Inspiration, die neue Wahrnehmungstüren öffnet und Seelenfrieden schafft, entstand. Waren es die Blumen des Botanischen Gartens? Oder waren es die Tiere in den Käfigen, die dieselbe Rolle wie eine durch ein Sandkorn ausgelöste Nierenkolik gespielt haben können, von dem William Blake sagt, dass wir darin eine Welt sehen. Man weiß es nicht.
Dass sein Ende nahte, wurde sichtbar, als er achtgab, langsam zu essen, gut zu kauen und ruhig zu schlucken. Er lebte so freudig und friedlich, wie das Herz eines Menschen, wie er einer war, es vertrug. Krankheiten und Tod nahm er als Tausch für ein langes Leben hin. Wenn er konnte, schenkte er ein Lächeln. Manchmal auch eine Umarmung. Er wurde wie Samen beerdigt. Es ist nicht bekannt, wer seine Grube aushob. Er hinterließ eine Notiz, dass an seinem Grab jenes Fragment gelesen werden solle, wo sich der Wolf beim Lamm aufhält, wo Löwe und Rind Stroh fressen und das spielende Kind die Hand ins Nest der Schlange legt. Es waren keine Verwandten von ihm beim Begräbnis. Er hatte keine mehr. Und auch keine Freunde.
Aus dem Albanischen von Zuzana Finger
_________________
1 Der Text wurde für diese Ausgabe leicht gekürzt.
Michael Krüger:
»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; aber es kommt darauf an, sie zu verändern« – diese Bemerkung fand man im Nachlass von Karl Marx, einem deutschen Philosophen, der auch sehr verschieden interpretiert wurde. Aber wo fängt man an? Am besten bei sich selber.
Alida Bremer:
In diesem Zwiegespräch zwischen Mensch und Welt – ich stelle mir vor, dass es auf dem Alt de Comapedrosa, dem höchsten Gipfel der Gebirgskette Coma Pedrosa in Andorra, stattfand – weist die Welt das Verlangen des Menschen nach einer besseren Welt zurück. Und sie scheint guten Grund dafür zu haben.
Ich besah mir die Welt und fand sie unvollkommen. Da sagte ich zu ihr:
»Keine Sorge, ich werde dich verbessern. Ich beseitige alle Mängel und verhelfe dir zu einer Vollkommenheit, wie du sie noch nie erlebt hast. Die Macht dazu hat mir Gott gegeben, als er mich zum König der Schöpfung ernannte, mich mit der höchsten Intelligenz ausstattete und mir zugleich eine Fähigkeit verlieh, die mich über alle anderen Lebewesen erhebt: Vorstellungskraft. Ich werde nichts dulden, das sich meinem Plan entgegensetzt, bis mein vollendetes Werk alle zum Staunen bringt.«
Die Welt schaute mich an und lächelte.
»Und wie willst du das anstellen?«
»Mit Hilfe von Wissenschaft und Technik. Dank der Wissenschaft kann ich alle Geheimnisse ergründen und dank der Technik Materie und Elemente beherrschen. Der Tag wird kommen, an dem meine Kenntnisse so umfassend sind, dass mich nichts mehr aufhalten kann, und dann werde ich meine gesamte Umgebung verändern, alles wird sich meinem Willen fügen, und es wird perfekt sein.«
Die Welt lächelte auch noch, als ich meinen kleinen Vortrag beendet hatte.
»Was sind das denn für Mängel, die du beseitigen möchtest?«
»Eine Menge!« Ihr unverschämtes Grinsen erboste mich. »Unwetter, Stürme, Überschwemmungen, Erdbeben, Wüsten, undurchdringliche Dschungel, wilde Tiere, giftige Pflanzen, Hitze, Kälte … Ich werde die Wüsten in Obstgärten verwandeln, Urwald in fruchtbares Ackerland, Orkane in sanfte Brisen, Giftpflanzen in Gemüse, Hitze und Kälte in eine ideale Temperatur … Weil alles unvollkommen ist!«
Da hörte sie auf zu lächeln und wurde sehr ernst.
»Du hast vergessen zu erwähnen, dass es auch noch Krieg, Mord und Raub gibt, dass ihr Hunger leidet, obgleich ihr im Überfluss lebt, und meine Bodenschätze plündert, die bald aufgebraucht sein werden, weil ihr drei Welten wie mich bräuchtet, um euren Lebensstil beizubehalten, dass ihr zum Spaß tötet und Gattungen ausrottet, die es seit eh und je gegeben hat, und es euch nicht schert, wenn ihr das Wasser, die Luft und die Erde verschmutzt, als gehörten die drei Elemente ganz allein euch. Wo sind die immensen Regenwälder, die es früher gab? Wo sind die Wildtiere, die dort in perfektem Gleichgewicht lebten? Du sagst, ich sei unvollkommen? Nun, meine Gesetze sind nicht wie deine, sie können nicht übertreten werden und kennen keine Ausnahme; wenn du sie brichst, bekommst du irgendwann die Quittung dafür. Wie kannst du es wagen, dich über sie erheben zu wollen, während dir und deinesgleichen ständig die Angst im Nacken sitzt, ihr unentwegt an die Zukunft denkt, an Krankheiten sterbt, die ihr selbst erfunden habt, und Neid, Hochmut, Völlerei und die Sucht, immer mehr und mehr besitzen zu wollen, euch die Freude am Leben vergällen …? Komm schon, Mann! Bring du dich selbst in Ordnung, und lass mich mit deinem Geschwätz zufrieden. Warum hörst du nicht auf, die Wissenschaft zu vergöttern und die Technik anzubeten, und fängst an, zu fühlen und in Harmonie zu leben?«
Sie grinste spöttisch, wandte sich ab und ging kopfschüttelnd und zungeschnalzend davon.
Und ich stand da. Allein und trübselig. Und nachdem ich eine Weile überlegt hatte, fragte ich mich: Wieso bilde ich mir ein, ich könnte die Welt verbessern, wenn ich nicht einmal imstande bin, mich selbst zu verändern?
Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann
Alida Bremer:
Tatev Chakhian ist eine Meisterin der Ironie. In ihren Gedichten wissen ein Zirkus, der nie kommt, oder Kinder, deren Welt auf dem Kopf steht, viel über die Wirklichkeit eines Landes, in dem es kaum eine Generation gibt, die den Krieg nicht kennt.
Michael Krüger:
Armenien ist »steinig und trocken. Schreib Gedichte, damit das Leben sanfter wird.« Wahrscheinlich ist auch das nur eine Illusion, aber wir alle brauchen Illusionen, um das Leben erträglich zu gestalten.
Auf dem Hauptplatz der Hauptstadt sind die Kinder aus dem Kindergarten geflüchtet, stampfen auf dem Boden auf und fordern einen Zirkus.
Die Bevölkerung fordert in einem offenen Brief an den Präsidenten, einen Zirkus zu bauen, mit ungiftigen Schlangen, Tanzbären und Tigern, die nicht beißen.
Selbstverständlich stoppt der Präsident sogleich alle Waffenkäufe und widmet das gesamte Verteidigungsbudget dem Zirkusbau.
Doch plötzlich beginnt wieder der Krieg, die Bauarbeiten kommen zum Erliegen. Die Massenmedien berichten über die Stadt ohne Zirkus, internationale Beobachter reisen an, schütteln ihre Köpfe und versprechen, sich der Frage anzunehmen.
Es kommen Abgesandte der Nachbarländer, aus entlegeneren Ländern wird angerufen und Mut zugesprochen. Man schickt Schlangen, Bären und Tiger, die traurig in der Sonnenhitze der Stadt umherstreunen, in Erwartung, dass der Krieg bald endet.
Und so fordert jede neue Generation in den ruhigen Zeiten der Waffenruhe gemeinsam mit den Schlangen, den Bären und den Tigern das Recht auf einen Zirkus ein, wenn der Waffenlärm schweigt, wenn nichts nie und nimmer explodiert.
Wenn es um Krieg geht, beginnen alle Filme so: Die Kinder spielen Krieg im Hof, die Väter hängen sich aus dem Fenster und schauen zu, lassen in der Langeweile das Maul offen stehen, verdrehen die Augen und versuchen, im Geheimen Kriegshelden zu werden.
Die Söhne erzählen den Vätern ein falsches Märchen, die Väter trinken Löwenmilch, werden immer kleiner und versuchen ein wenig Krieg zu spielen. Nach dem Ende des einen oder anderen Kriegsfilms rufen die Kinder ihre Väter zurück vom Hof nach Hause.
Dein Land ist steinig und trocken. Schreib Gedichte, damit das Leben sanfter wird. Unser Präsident, der die Literatur angeblich liebt, pflegt nach dem Unterschreiben von Verträgen Verse zu schreiben, über die Einsamkeit, die Traurigkeit und – in verzweifelten Momenten – über seinen Abschied aus dem Amt …
Die Opposition verflucht er stets und wir schreien im Chor. Der Verteidigungsminister sät die Saat des Krieges, um das Herz des erfolglosen Nachbarn zu erweichen, um die Bomben in Stille fallen zu lassen.
Der Präsident der Zentralbank liest Schlagzeilen über die Krise vor, der Journalist schreibt stehend Verse über die letzten Unfälle und jene Selbstmörder, die in ihren Jackentaschen Gedichte stecken haben.
Im Mauerschatten wird der Kälte und dem Hunger ein Akrostichon gewidmet: »Wenn das Leben sehr schwer wird, dann sei leicht, um leicht zu leben« und, ganz wichtig: »Wenn Du nicht weißt, wie über Völkermord, die Heimat und den Feind geredet werden soll, schreib einfach und unbedingt ein Gedicht, um die Geschichte aus den Büchern besser zu verdauen«.
Man muss nicht weiter davon reden, dass das Land einfach steinig ist, unwirtlich, gerade gut für Kühe, doch erzähle deinen Toten auf dem Weg, dass die Erde leicht sein möge.
Aus dem Armenischen von Herbert Maurer
Alida Bremer:
Nermin Kamal verbindet – ähnlich wie andere Autoren dieser Anthologie – die Hoffnung auf eine bessere Welt mit dem Thema Bildung. Ein sehr bemerkenswerter Gedanke! So einfach und einleuchtend – und dennoch so schwer zu verwirklichen. Aber Nermin Kamal fügt hinzu, dass die Vernunft allein nicht ausreicht und dass es noch einer anderen Sache bedarf.
Michael Krüger:
»Unsere geschichtliche Entwicklung war nicht umsonst, im Vergleich mit der Vergangenheit leben wir in einer besseren Welt.« Wie lange muss oder wird es noch dauern, bis wir solche Sätze nicht mit Trotz, sondern mit Glück erfüllt sagen können?
Zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion war ich – Schülerin der 1. Klasse, ein bebrilltes Mädchen – unterwegs von der Schule nach Hause. Im Schulhof sah ich einen Klassenkameraden, der mit anderen Kindern Fußball spielte. Ich wollte ihn wissen lassen, dass ich ihn gesehen hatte. Dafür hätte ich ihn einfach mit dem Namen rufen können. Aber ich nahm stattdessen einen klaren Eiszapfen, der vom Dach gefallen war, und schleuderte ihn in seine Richtung. Ohne dass ich es gewollt hätte, traf er den Unglücklichen am Kopf und verletzte ihn schwer. Die Kinder scharten sich um ihn. Der Schuldirektor, ein Geschichtslehrer, kam zu mir, die an der Seite stand und das alles wie einen Film verfolgte, und sagte nur einen Satz: »Was soll das, wir gehen ins 21. Jahrhundert, und ihr schlagt einander die Köpfe ein!«
Unser Geschichtslehrer war in einer utopischen »Es bleibt wenig bis zum 21. Jahrhundert«-Stimmung. Menschen, die die Geschichte chronologisch lesen, fällt es schwer, in der heutigen Welt zu leben, lässt doch das Wissen über die dreitausendjährige Entwicklung früherer Generationen die Erwartungen an den heutigen Menschen steigen. Es erschüttert sie, mit ansehen zu müssen, dass die Menschen sich – wie in anderen Jahrhunderten der Geschichtsbücher – wie Wölfe zerfleischen, es der Geschichte nachmachen.
In der Tat, auch heute wird das Leben von Millionen in Armut, Krieg, Ungerechtigkeit, Bildungslosigkeit vertan. Aber unsere geschichtliche Entwicklung war nicht umsonst, im Vergleich mit der Vergangenheit leben wir in einer besseren Welt. Erstens haben wir es geschafft, in einigen Teilen der Welt kleine, menschenwürdige Umstände herauszubilden. Zweitens, unsere Worte, Begriffe und Werte haben sich entwickelt. Wir haben Werte erreicht wie Freiheit statt Sklaverei, Recht statt Sünde, Dialog statt Gebot, Hilfeleistung statt Ausnutzung, Zusammenarbeit statt Besatzung, Solidarität statt Zwietracht, Meinungsverschiedenheit statt Meinungseinheit, Sicherheit statt Blutvergießen, Umweltinteressen anstelle von Interessen eines Staates. Wir haben Wörter wie Sexismus, Rassismus und so weiter, um Übel wie Geschlechts-, Rassen- und ethnische Diskriminierungen zu bezeichnen, die die Menschheit nicht wenig Leid gekostet haben.
Unsere Gedanken und Wörter entwickeln sich fort, noch vor uns, und im geistigen Umfeld dieser Begriffe bewegen wir uns auf eine bessere Welt zu.
Die Welt hat viele Probleme. Um diesen Problemen zu begegnen, ist es wichtig, sich nicht in einem System mit senkrechten Strukturen zu fühlen, sondern in etwas Waagrechtem; die Welt zu einem besseren Ort zu machen ist keine Aufgabe, die von oben gestellt und von uns ausgeführt werden kann, es ist die Sache eines jeden von uns.
Genauso wie die Menschen Bildung und intellektuelle Entwicklung nötig haben, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, brauchen sie dafür auch emotionale Entwicklung. Vernunft und Sensibilität, die Reise des Kopfes zum Herzen und die des Herzens zum Kopf können die Welt zu einem besseren Ort machen.
Arme Menschen füttern nur die Tiere, von denen sie direkt profitieren können, sie wollen einer hungrige Katze, die an ihre Tür kommt, nichts zu fressen geben, weil sie denken, »Dieses Futter kann ich dem Huhn geben und morgen ein Ei bekommen, das ich essen kann«. Das ist eine durch Armut bedingte Denkweise. Eine Denkweise, die die Distanz zwischen Mund, Brot und Unterhaltung überwunden hat, ist nicht arm. Geistiger Reichtum zwingt den europäischen Menschen, daran zu denken, nicht nur sich selbst und seinen Kontinent, sondern die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Auch mein Geschichtslehrer lebt jetzt in einem westeuropäischen Land. Ist er auf seiner Suche nach dem 21. Jahrhundert dorthin gelangt, oder sucht er noch immer?!
Aus dem Aserbaidschanischen von Tinay Mushdiyeva
Michael Krüger:
Aleś Razanaŭ fängt wie sein großer deutscher Kollege Georg Christoph Lichtenberg die ganze Welt in wenigen Zeilen ein: »Um wissen zu können, wohin du gehen sollst, musst du wissen, wo du bist.« Dieser Satz gilt auch für die, die schon über das Ziel hinausgeschossen sind.
Alida Bremer:
In diesen Aphorismen werden Gegensätze aufgespürt und die eigentümliche Dialektik untersucht, die sie verbindet. Niederlage kann zum Sieg werden, Glück und Unglück verhalten sich zueinander wie Innen und Außen. Wer durch die »Summe der Unmöglichkeiten« geht, erfährt ein ganz besonderes Zeitmaß: Die Vergangenheit ist unwandelbar, die Gegenwart ist immer im Wandel begriffen, und die Zukunft ist »frei von Unwandelbarkeit und Wandel.«
Eine Idee ist eine Nachricht: Sie war schon am Ziel und ist zum Anfang zurückgekehrt, um nun die Tat mitzunehmen auf Pfaden, die sie alleine kennt.
*
Vergangene Ereignisse sind nicht dazu da, nachgeahmt oder kopiert zu werden (wozu auch, sie sind ja schon da?!), sondern dazu, sichtbar zu machen, dass es sie gibt und Errungenschaften möglich sind.
*
Das Ungute entspringt dem Halbherzigen: Wo ich nicht ausreichend gut bin, bin ich auch nicht verständig genug.
Vergeblich ist die Mühe, seine Fehler und Vergehen zu entschuldigen, selbst, sich für sie zu rechtfertigen, ist vergebens.
Lass los, fang an, werde neu, und alles, was dir eigen war, wird abfallen und alles Verworrene sich lösen.
*
Potential ist innere Souveränität: Wenn sie erhalten bleibt, teilt der Sieg den Sinn mit ihr, wenn nicht, verliert auch der Sieg seinen Sinn.
*
In jeder Niederlage lässt der Mensch einen Teil von sich, einen Teil, mit dem er seinem Wesen nach verbunden ist und den er nicht einfach so veräußern kann.
Aber eine Niederlage, in der er gänzlich von sich lassen kann, ist ein Sieg.
*
Die Vergangenheit ist belegt: In ihr ist nichts zu verändern oder abzuwandeln;
die Gegenwart ist beschäftigt und nimmt noch Gestalt an: In ihr ist alles im Wandel, in Bewegung, im Kampf um den Platz an der Sonne;
allein die Zukunft ist stets frei – von der Unwandelbarkeit und vom Wandel.
*
Ein Zuwenig an Kraft ist eine Last, ein Zuviel belastet.
Das eine verlangt nach einer Stütze, das andere nach Widerstand, und die Kraft verlangt nach Gleichgewicht.
*
Schöpferische Menschen stehen immer in Opposition zum System, aber in einer speziellen Opposition, nicht um 180, sondern um 90 Grad.
Es ist die Opposition der Vertikale zur Horizontalen, und sie ist auf ihre Art grundsätzlicher und radikaler als voneinander geschiedene, einander gegenüberstehende politische Ordinaten.
*
Das Glück ist sehend und blind: Es sieht die Erscheinung, sieht aber nicht, was sie verhüllt.
Auch das Unglück ist sehend und blind, nur umgekehrt: Es sieht nicht die Erscheinung an sich, sieht aber das, was sie verhüllt.
*
Das Streben ist ein in die Zeit gelegtes Tun. Wie Baron Münchhausen sich an den Haaren aus dem Sumpf gezogen hat, kann sich der Mensch am Streben, wenn es weiß, wohin es strebt, aus seinen Verhältnissen ziehen.
Streben heißt, sich sein Erbe erwerben im Kommenden.
*
Alle Wege, wie sie auch heißen mögen, führen bis zu einer Grenze. Sie sind Hinführungen, zum Gipfel gibt es keinen Weg.
Der Gipfel ist im Menschen selbst und er kann ihn nur selbst ersteigen. Aber der Aufstieg findet keinen Abschluss, denn mit ihm steigt auch der Gipfel auf.
*
Wo sich die Anstrengung sammelt, sammelt sich das Hemmnis, aber wo sich das Hemmnis sammelt, sammelt sich auch der Ausweg.
*
Eine einzelne Unmöglichkeit ist nur eine Unmöglichkeit.
Aber die Summe der Unmöglichkeiten lässt einen neuen Stand der Dinge zu Tage treten: die Möglichkeiten.
*
Wir lernen aus Fehlern? Mag sein. Aber nicht Fehler lehren die Wahrheit, sondern die Wahrheit selbst.
*
Um die Erscheinungen von Nahem betrachten zu können, rüsten wir uns mit Vergrößerungsgläsern aus.
Aber je mehr wir aufrüsten, desto ferner rückt uns die Nähe und desto größerer Vergrößerungsgläser bedürfen wir.
*
Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.