16,99 €
„Ich beginne ein neues Notizbuch / für Fragen, die keine Antwort brauchen. / Wie lange hält sich der Schnee / auf den Zweigen des Vogelbeerstrauchs?“
„Einmal einfach“ heißt Hinreise – ohne Rückfahrkarte. Nicht zurück in die neuen Verhältnisse der Entsinnlichung, Speicherung, des Bescheidwissens und der Hetze im Netz. Und wohin geht die Reise? Wieder und noch einmal: in die Natur – als wären ausgerechnet Bäume und Wiesen und weite Himmel das, was man von der Welt im Gedächtnis behalten will.
Ach, wer so reisen könnte, mit offenen Augen: nicht verklärend, nicht mehr naiv und dennoch nicht ohne Rührung. Nicht mit großen Worten, sondern einmal einfach – ohne Ziel.
Michael Krügers neue Gedichte – weit entfernt und ganz nah – sprechen mit vertrauter Stimme. Es sind Wortmeldungen unterwegs, von einer Reise ins Offene.
„Wenn nur das wütende Schluchzen des Windes
nicht wäre, träte die Wahrheit vielleicht ans Licht,
die naive Wahrheit, die dem Gras so ähnlich sieht!“Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 60
Michael Krüger
Einmal einfach
Gedichte
Suhrkamp Verlag
I.
Nachtrag zur Poetik
Nikolassee, Februar 2015
Berlin, Stadt der Kindheit
Wie es nie mehr sein wird
Meine Großmutter
Grunewald
Wissenschaftskolleg
Wiko 2
Rätsel
Europa
Neu-Schnee
Morsche Bäume
Die Kiefer und der Bergahorn
Kindliche Übungen
Der Nußbaum, die Zeit
Das Grab
Eine andere Geschichtsschreibung
Alltag
8. Mai 2013
Auf dem Land
März 2014, unterm Apfelbaum
2015
Herbst 2015
Spaziergang im Mai, 2016
Le Monde, Januar 2017
Im Englischen Garten, Januar 2017
Im Winter
Zur Lage
II.
Einmal einfach
Herbst am Bodensee
Hotelzimmer in Hannover
Nächtliche Szene
Zbigniew Herberts Stuhl
Wegrand
Cluj/Belvedere
Vor Wien und in Wien
Im Süden, am Meer
Traum vom 27. September, Modena
Opfern
3. Oktober 2015
Hotel Villa Politi, Syrakus
Tiefflug
Schönheit
Pescara, im November
Osterspaziergang
Hotel Kanet
In Skopje, 2015
In Mazedonien
In den Abruzzen
In caso di emergenza
Begrüßung des Freundes
Schaf
Nach dem Fest
Am Wasser
Sonnenblumenkerne
Flug
III.
Vorbilder
Im Park der Musik
Das Buch der Blätter
Das schöne Haus
Andacht
Rhetorik
Ratschlag für Dichterlesungen
Schattenwirtschaft
Schnee
Über Throne und Stühle
Die Rückkehr
Weißdorn
Sonnenblumen und Gedichte
Das Leben ein Traum
Das Böse
Der Streit
Der Mann aus dem Eibiswald
Eklektisch, aber wahr
Haus am Stadtrand
Träumerei
Tägliche Übung
Zutritt verboten
Gute Vorsätze
Der andere Gott
Die Fliege
Wie ich die Nacht verbrachte
Nähe
Träumerei
15. Mai
Nichts, was wir schon kennen
Zur Philosophie
Wahlsonntag
Offene Fenster
Beobachtung
Requiem für einen Wind
Im Wald
Notizbuch
IV. Verpaßte Gelegenheiten
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
»Alle meine Gedichte
sind Gelegenheitsgedichte,
sie sind durch die Wirklichkeit
angeregt und haben darin
Grund und Boden.«
Goethe zu Eckermann
für Alfred Kolleritsch
Gedichte sind mißtrauisch,
sie behalten für sich, was gesagt werden muß.
Sie gehen durch geschlossene Türen
ins Freie und reden mit den Steinen.
Sie führen uns fort.
Wenn wir sie aufhalten wollen, heißt es:
Es gilt das versprochene Wort.
Jeder weiß, daß sie uns wegschreiben
mit wenigen vergeßlichen Zeilen.
Einmal las ich ein Gedicht
über Wolken, das wandernde Volk.
Es goß in Strömen. Und von unten,
wo sich der Teich langsam füllte,
hörte ich das Quengeln der Frösche.
Ein Wort aus jedem Monat nehme ich mit
auf meine grand tour ins Warten,
etwa sechshundert Worte, mein ganzes Leben.
Einige kann ich nicht mehr finden,
sie haben sich in Briefen versteckt,
die als nicht zustellbar gelten.
In Krakau kürzlich, zur Erinnerung
an Czesław Miłosz, kam das Böse zur Sprache,
wie es sich heute zeigt, im Gedicht oder
in andrer Verkleidung.
Einer aus Gdańsk, vormals Danzig, hatte es gesehn
im Sterben einer Frau, in ihrem Schmerz.
Es war herrliches Wetter in Krakau,
die Tuchlauben quollen über vor Menschen,
und Maria mit dem Lämmchen
gab sich alle Mühe, den Frieden zu wahren.
Das Böse war anwesend, das stand fest,
aber immer, wenn man es greifen wollte,
hatte man den Ärmel der Jacke eines Dichters
am Wickel, also nichts in der Hand.
Irgendwann versucht jeder Dichter,
ein Gedicht über Wasser zu schreiben,
über Wasser oder das Wasser,
eigenhändig.
Nicht wie die großen Maler,
die für jede Welle einen anderen Pinsel
und für den eilenden Bach einen Schüler hatten
und für das Meer einen Meisterschüler,
der die Welle malen konnte, wenn sie bricht,
sonst nichts. Man mußte den Hunger
des Meeres spüren, seine Unersättlichkeit.
Wir haben es schwerer.
Manche haben es bei der Anrufung belassen,
andere den Rhythmus der Wellen belauscht.
Auch das ruhige Wasser, das uns zeigt,
war und ist ein Motiv des Erschreckens.
Einer behauptete in einem großen Gedicht,
Wasser habe keine Erinnerung und keine Geschichte,
er hätte ihm länger zuhören sollen.
Einer sitzt auf den Treppenstufen von St. Anna,
sein Yoghurtbecher halb gefüllt mit Kupfer.
Er hat die Hosenbeine hochgezogen,
damit seine Wunden freiliegen oder das,
was einmal seine Beine waren.
Er sei unsterblich, mit diesen Worten
bettelt er um Geld, andre sterben meinen Tod.
Die jungen Leute im Café gegenüber
haben keine Lust auf Offenbarung.
Sie wissen nicht, was ihnen blüht.
Ich beginne ein neues Notizbuch
für Fragen, die keine Antworten brauchen.
Wie lange hält sich der Schnee
auf den Zweigen des Vogelbeerstrauchs?
Gestern ging ich im Traum
auf einer Rolltreppe in die falsche Richtung,
ich wollte die Rückgabezentrale aufsuchen,
mein Verfallsdatum war abgelaufen.
Woher kommt meine unerträgliche Sanftmut?
Und, wie schon in den letzten Jahren,
warum hat der Stein nicht eine Stimme?
Die Wolken rasen, als liefe ein Ultimatum ab,
und die Zweige, in denen der Wind sich verirrt,
schlagen verzweifelt die Luft.
Aus den Schulen der Stille
mit ihren hochgebildeten Fenstern
fällt kaum noch Licht auf den Weg.
Wissen ist nicht mehr schön,
es ergreift uns nicht mehr.
Ach, ihr weitblickenden Wolken!
Irgendwo spielen noch Kinder,
man hört ihr begeistertes Rufen.
Und plötzlich trudelt ein Ball
mir vor die Füße, und ein Kind befiehlt:
Spiel mit!
Auf den verschlafenen Wegen ging ich
hinunter zum See, um der Post zu entkommen.
Seit Tagen redet der Briefträger mit mir
von den Letzten Dingen: dem Duft
der Weidenkätzchen nach dem Regen,
der Wahrheitstreue unserer Erinnerungen
und daß man um Himmels willen Gott
nicht immer wieder mit der Vernunft
quälen sollte. Unterm Redeschwall
streckt er mir Todesanzeigen zu,
schwarzrandige Briefe, mit Rilkes Versen
vom Hiersein bedruckt oder mit Benn.
Es ist vollbracht,
unsere Generation nimmt Abschied.
Welche Verse von uns werden es
in die Große Anthologie schaffen?
Der See lag vor mir wie schmelzendes Wachs,
ruhig und träge und ohne Tiefe,
wie ein kindlicher Traum des Glücks.
Ich soll hier aufgewachsen sein,
zwischen unserer Kirche und dem Kleist-Grab,
zwei Gottesorte für unsere höheren Ziele.
Auf der Rehwiese weideten Schafe,
aber wie sollten wir mit dem Hirten sprechen,
der nur die Sprache der Lämmer verstand?
You are leaving the American Sector.
Keiner von uns wußte,
wie der Hase läuft und wohin.
Hier, an den warmen Sommertagen,
haben wir davon geträumt, der Welt
brüderlich in die Speichen zu greifen.
Über uns eine große und eine kleine Wolke,
Mutter und Kind, mehr brauchte nicht sein.
Das Grab meiner Eltern ist schon im Angebot,
so schnell hat sich das Rad gedreht.
Am Ende der Straße, da
wo sie einen Knick macht,
damit man nicht sieht,
ob sie weitergeht,
steht ein alter Hund,
der offenbar nicht weiß,
wie er nach Hause kommt.
Mir geht es ähnlich.
Ich war mir ganz sicher,
daß ich hier einmal gelebt habe.
Im Haus gegenüber
wurde damals eine Bombe entschärft.
Eine junge Frau bringt triumphierend
ihren Müll zur Tonne,
als enthielte er ihr ganzes Leben.
Weg damit. Sie mustert mich lange,
kommt aber zu anderen Schlüssen.
Aus einem offenen Fenster
dringt das Weinen eines Kindes.
Es muß dieses Haus gewesen sein.
Noch einmal will ich den Wiesenkümmel
riechen, in Essigwasser getaucht;
die geschuppten Wolken über Kayna sehen;
den Fliegen zuhören,
die ihre Totenlieder singen an der Fensterscheibe;
die Schatten beobachten, die ums Haus schleichen,
um das Buch des Lebens einzudunkeln;
das helle Licht spüren, die Augen Gottes.
Dort, wo ich kleinlaut war, wenn die Sonne unterging,
rot wie ein Hahnenkamm.
Was hast du gesagt? Nichts. Ich habe nur etwas