Einmal einfach - Michael Krüger - E-Book

Einmal einfach E-Book

Michael Krüger

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Beschreibung

„Ich beginne ein neues Notizbuch / für Fragen, die keine Antwort brauchen. / Wie lange hält sich der Schnee / auf den Zweigen des Vogelbeerstrauchs?“

„Einmal einfach“ heißt Hinreise – ohne Rückfahrkarte. Nicht zurück in die neuen Verhältnisse der Entsinnlichung, Speicherung, des Bescheidwissens und der Hetze im Netz. Und wohin geht die Reise? Wieder und noch einmal: in die Natur – als wären ausgerechnet Bäume und Wiesen und weite Himmel das, was man von der Welt im Gedächtnis behalten will.

Ach, wer so reisen könnte, mit offenen Augen: nicht verklärend, nicht mehr naiv und dennoch nicht ohne Rührung. Nicht mit großen Worten, sondern einmal einfach – ohne Ziel.

Michael Krügers neue Gedichte – weit entfernt und ganz nah – sprechen mit vertrauter Stimme. Es sind Wortmeldungen unterwegs, von einer Reise ins Offene.

„Wenn nur das wütende Schluchzen des Windes

nicht wäre, träte die Wahrheit vielleicht ans Licht,

die naive Wahrheit, die dem Gras so ähnlich sieht!“

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Seitenzahl: 60

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Michael Krüger

Einmal einfach

Gedichte

Suhrkamp Verlag

Inhalt

I.

Nachtrag zur Poetik

Nikolassee, Februar 2015

Berlin, Stadt der Kindheit

Wie es nie mehr sein wird

Meine Großmutter

Grunewald

Wissenschaftskolleg

Wiko 2

Rätsel

Europa

Neu-Schnee

Morsche Bäume

Die Kiefer und der Bergahorn

Kindliche Übungen

Der Nußbaum, die Zeit

Das Grab

Eine andere Geschichtsschreibung

Alltag

8. Mai 2013

Auf dem Land

März 2014, unterm Apfelbaum

2015

Herbst 2015

Spaziergang im Mai, 2016

Le Monde, Januar 2017

Im Englischen Garten, Januar 2017

Im Winter

Zur Lage

II.

Einmal einfach

Herbst am Bodensee

Hotelzimmer in Hannover

Nächtliche Szene

Zbigniew Herberts Stuhl

Wegrand

Cluj/Belvedere

Vor Wien und in Wien

Im Süden, am Meer

Traum vom 27. September, Modena

Opfern

3. Oktober 2015

Hotel Villa Politi, Syrakus

Tiefflug

Schönheit

Pescara, im November

Osterspaziergang

Hotel Kanet

In Skopje, 2015

In Mazedonien

In den Abruzzen

In caso di emergenza

Begrüßung des Freundes

Schaf

Nach dem Fest

Am Wasser

Sonnenblumenkerne

Flug

III.

Vorbilder

Im Park der Musik

Das Buch der Blätter

Das schöne Haus

Andacht

Rhetorik

Ratschlag für Dichterlesungen

Schattenwirtschaft

Schnee

Über Throne und Stühle

Die Rückkehr

Weißdorn

Sonnenblumen und Gedichte

Das Leben ein Traum

Das Böse

Der Streit

Der Mann aus dem Eibiswald

Eklektisch, aber wahr

Haus am Stadtrand

Träumerei

Tägliche Übung

Zutritt verboten

Gute Vorsätze

Der andere Gott

Die Fliege

Wie ich die Nacht verbrachte

Nähe

Träumerei

15. Mai

Nichts, was wir schon kennen

Zur Philosophie

Wahlsonntag

Offene Fenster

Beobachtung

Requiem für einen Wind

Im Wald

Notizbuch

IV. Verpaßte Gelegenheiten

1

2

3

4

5

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I.

»Alle meine Gedichte

sind Gelegenheitsgedichte,

sie sind durch die Wirklichkeit

angeregt und haben darin

Grund und Boden.«

Goethe zu Eckermann

Nachtrag zur Poetik

für Alfred Kolleritsch

1

Gedichte sind mißtrauisch,

sie behalten für sich, was gesagt werden muß.

Sie gehen durch geschlossene Türen

ins Freie und reden mit den Steinen.

Sie führen uns fort.

Wenn wir sie aufhalten wollen, heißt es:

Es gilt das versprochene Wort.

Jeder weiß, daß sie uns wegschreiben

mit wenigen vergeßlichen Zeilen.

Einmal las ich ein Gedicht

über Wolken, das wandernde Volk.

Es goß in Strömen. Und von unten,

wo sich der Teich langsam füllte,

hörte ich das Quengeln der Frösche.

2

Ein Wort aus jedem Monat nehme ich mit

auf meine grand tour ins Warten,

etwa sechshundert Worte, mein ganzes Leben.

Einige kann ich nicht mehr finden,

sie haben sich in Briefen versteckt,

die als nicht zustellbar gelten.

3

In Krakau kürzlich, zur Erinnerung

an Czesław Miłosz, kam das Böse zur Sprache,

wie es sich heute zeigt, im Gedicht oder

in andrer Verkleidung.

Einer aus Gdańsk, vormals Danzig, hatte es gesehn

im Sterben einer Frau, in ihrem Schmerz.

Es war herrliches Wetter in Krakau,

die Tuchlauben quollen über vor Menschen,

und Maria mit dem Lämmchen

gab sich alle Mühe, den Frieden zu wahren.

Das Böse war anwesend, das stand fest,

aber immer, wenn man es greifen wollte,

hatte man den Ärmel der Jacke eines Dichters

am Wickel, also nichts in der Hand.

4

Irgendwann versucht jeder Dichter,

ein Gedicht über Wasser zu schreiben,

über Wasser oder das Wasser,

eigenhändig.

Nicht wie die großen Maler,

die für jede Welle einen anderen Pinsel

und für den eilenden Bach einen Schüler hatten

und für das Meer einen Meisterschüler,

der die Welle malen konnte, wenn sie bricht,

sonst nichts. Man mußte den Hunger

des Meeres spüren, seine Unersättlichkeit.

Wir haben es schwerer.

Manche haben es bei der Anrufung belassen,

andere den Rhythmus der Wellen belauscht.

Auch das ruhige Wasser, das uns zeigt,

war und ist ein Motiv des Erschreckens.

Einer behauptete in einem großen Gedicht,

Wasser habe keine Erinnerung und keine Geschichte,

er hätte ihm länger zuhören sollen.

5 Theologische Fragen

Einer sitzt auf den Treppenstufen von St. Anna,

sein Yoghurtbecher halb gefüllt mit Kupfer.

Er hat die Hosenbeine hochgezogen,

damit seine Wunden freiliegen oder das,

was einmal seine Beine waren.

Er sei unsterblich, mit diesen Worten

bettelt er um Geld, andre sterben meinen Tod.

Die jungen Leute im Café gegenüber

haben keine Lust auf Offenbarung.

Sie wissen nicht, was ihnen blüht.

6 Erster Januar, gute Vorsätze

Ich beginne ein neues Notizbuch

für Fragen, die keine Antworten brauchen.

Wie lange hält sich der Schnee

auf den Zweigen des Vogelbeerstrauchs?

Gestern ging ich im Traum

auf einer Rolltreppe in die falsche Richtung,

ich wollte die Rückgabezentrale aufsuchen,

mein Verfallsdatum war abgelaufen.

Woher kommt meine unerträgliche Sanftmut?

Und, wie schon in den letzten Jahren,

warum hat der Stein nicht eine Stimme?

7

Die Wolken rasen, als liefe ein Ultimatum ab,

und die Zweige, in denen der Wind sich verirrt,

schlagen verzweifelt die Luft.

Aus den Schulen der Stille

mit ihren hochgebildeten Fenstern

fällt kaum noch Licht auf den Weg.

Wissen ist nicht mehr schön,

es ergreift uns nicht mehr.

Ach, ihr weitblickenden Wolken!

Irgendwo spielen noch Kinder,

man hört ihr begeistertes Rufen.

Und plötzlich trudelt ein Ball

mir vor die Füße, und ein Kind befiehlt:

Spiel mit!

8

Auf den verschlafenen Wegen ging ich

hinunter zum See, um der Post zu entkommen.

Seit Tagen redet der Briefträger mit mir

von den Letzten Dingen: dem Duft

der Weidenkätzchen nach dem Regen,

der Wahrheitstreue unserer Erinnerungen

und daß man um Himmels willen Gott

nicht immer wieder mit der Vernunft

quälen sollte. Unterm Redeschwall

streckt er mir Todesanzeigen zu,

schwarzrandige Briefe, mit Rilkes Versen

vom Hiersein bedruckt oder mit Benn.

Es ist vollbracht,

unsere Generation nimmt Abschied.

Welche Verse von uns werden es

in die Große Anthologie schaffen?

Der See lag vor mir wie schmelzendes Wachs,

ruhig und träge und ohne Tiefe,

wie ein kindlicher Traum des Glücks.

Nikolassee, Februar 2015

Ich soll hier aufgewachsen sein,

zwischen unserer Kirche und dem Kleist-Grab,

zwei Gottesorte für unsere höheren Ziele.

Auf der Rehwiese weideten Schafe,

aber wie sollten wir mit dem Hirten sprechen,

der nur die Sprache der Lämmer verstand?

You are leaving the American Sector.

Keiner von uns wußte,

wie der Hase läuft und wohin.

Hier, an den warmen Sommertagen,

haben wir davon geträumt, der Welt

brüderlich in die Speichen zu greifen.

Über uns eine große und eine kleine Wolke,

Mutter und Kind, mehr brauchte nicht sein.

Das Grab meiner Eltern ist schon im Angebot,

so schnell hat sich das Rad gedreht.

Berlin, Stadt der Kindheit

Am Ende der Straße, da

wo sie einen Knick macht,

damit man nicht sieht,

ob sie weitergeht,

steht ein alter Hund,

der offenbar nicht weiß,

wie er nach Hause kommt.

Mir geht es ähnlich.

Ich war mir ganz sicher,

daß ich hier einmal gelebt habe.

Im Haus gegenüber

wurde damals eine Bombe entschärft.

Eine junge Frau bringt triumphierend

ihren Müll zur Tonne,

als enthielte er ihr ganzes Leben.

Weg damit. Sie mustert mich lange,

kommt aber zu anderen Schlüssen.

Aus einem offenen Fenster

dringt das Weinen eines Kindes.

Es muß dieses Haus gewesen sein.

Wie es nie mehr sein wird

Noch einmal will ich den Wiesenkümmel

riechen, in Essigwasser getaucht;

die geschuppten Wolken über Kayna sehen;

den Fliegen zuhören,

die ihre Totenlieder singen an der Fensterscheibe;

die Schatten beobachten, die ums Haus schleichen,

um das Buch des Lebens einzudunkeln;

das helle Licht spüren, die Augen Gottes.

Dort, wo ich kleinlaut war, wenn die Sonne unterging,

rot wie ein Hahnenkamm.

Was hast du gesagt? Nichts. Ich habe nur etwas