Griechische Sagen - Waldtraut Lewin - E-Book

Griechische Sagen E-Book

Waldtraut Lewin

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Beschreibung

Troja schläft. Im Schutze der Dunkelheit wird ein hölzernes Ungetüm vor den Mauern der Stadt aufgebaut. Noch ein paar geflüsterte Befehle, dann ist der Spuk zu Ende. Als die Bewohner am nächsten Morgen das riesige Pferd entdecken, ist die Überraschung groß. Bestimmt ist es ein Geschenk der Götter! Feiernd ziehen die Troer das Pferd in ihre Stadt. Doch damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf: In der folgenden Nacht steigen bewaffnete Soldaten aus dem Bauch des Tieres … Das spannende Epos um den Untergang Trojas gehört zu den bekanntesten Geschichten überhaupt – wie auch die Sagen um Jason und das goldene Vlies, Herakles und die Irrfahrten des Odysseus, die in diesem Band vereint sind. Klassische Sagen in neuem Gewand! Diese eBook-Sammlung antiker Sagen vereint die großen Schicksale, Abenteuer und Tragödien der griechischen Helden und Götter.

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INHALT

DIE OLYMPISCHEN GÖTTER UND IHRE VERWANDTEN

Der Olympos

Zeus

Hera

Pallas Athene

Ares

Aphrodite

Hephaistos

Apollon und Artemis

Hermes

Poseidon und die Meeresgötter

Hades

Demeter

Dionysos

Pan und die Götter der Natur

Andere Gottheiten

PROMETHEUS UND SEINE GESCHÖPFE

Die Erschaffung der Menschen

Die Sintflut und das neue Menschengeschlecht

VON GÖTTERN UND MENSCHEN

Wem die Götter zürnen

Tantalos

Niobe

Aktaion

Psyche

Erster Teil

Zweiter Teil

Wen die Götter lieben

Kadmos

Pelops

Daphne

Pygmalion

VON ERFINDERN UND GRÜNDERN

Daidalos und Ikaros

Der eifersüchtige Meister

Aufträge in Kreta

Die Flucht

Daidalos auf Sizilien

Orpheus und Eurydike

Die Macht der Musik

Eurydikes Tod

Der Gang in die Unterwelt

Das Ende des Sängers

Perseus

Der Sohn der Danae

Der Kampf mit Medusa

Die Rettung der Andromeda

Der Einsatz des Medusenhauptes

Die Prophezeiung erfüllt sich

Der Tausch

DIE GROSSEN HEROEN

Die Taten des Herakles

Die Jugend und Kindheit des Herakles

Der Löwe von Kithairon

Die ersten Taten

Die ersten vier Arbeiten

Die Fahrt zur Kolchis, der Stall des Augias, die Stymphaliden und der Kretische Stier

Herakles bei Admetos und die Pferde des Diomedes

Die neunte und zehnte Arbeit

Die Äpfel der Hesperiden

Herakles in der Unterwelt

Im Kampf mit den Göttern und gegen sie

Herakles bei Omphale

Deianira

Das Ende des Heros

Iason und der Argonautenzug

Iason und das Goldene Vlies

Der Bau der Argo und die Ausfahrt

Auf Lemnos

Herakles verlässt die Argo

Weitere Abenteuer unterwegs

Göttinnen greifen ein

Auf der Kolchis

Die Künste der Medeia

Der Raub des Goldenen Vlieses und die Verfolgung

Bei den Phaiaken. Kirke. Die Sirenen, Skylla und Charybdis

Der Mord an Pelias

Medeias Rache

Theseus, Held von Theben

Geburt und Jugend

Unterwegs nach Athen

Die Opfer des Königs Minos

Theseus und Ariadne

Der Minotauros

Das schwarze Segel

König von Athen

Die Amazonen

Phaidra und Hippolytos

Eine zweifelhafte Freundschaft

Die letzten Jahre

Oidipus

Das ausgesetzte Kind

Der Spruch der Pythia und der Mord im Hohlweg

Das Rätsel der Sphinx

Der blinde Seher

Die Enthüllung

Oidipus bestraft sich

Der Hain der Eumeniden

Die Erlösung

Der Krieg um Troja

Der Apfel der Zwietracht

Die Helden der Griechen

Der Beginn des Krieges

Der Streit um Chryseis

Die Einmischung der Götter

Der verhinderte Zweikampf

Die Weigerung des Achilleus

Der Tod des Patroklos

Achilleus trauert um den Freund

Die Schändung Hektors

Achilleus und Priamos

Penthesilea

DIE OLYMPISCHEN GÖTTER UND IHRE VERWANDTEN

Der Olympos

Nach unendlichen und grausamen Kämpfen gegen andere, lange vor ihnen entstandenen Göttergeschlechter, nach Kämpfen mit den Titanen, nach Mord und Totschlag auch untereinander, festigte sich schließlich die Herrschaft jener Götter, die Olympier genannt werden. Denn für die meisten von ihnen wurde als Wohnsitz der Olympos angesehen, ein dreitausend Meter hoher, von ewigem Schnee bedeckter Berg in Thessalien.

Dort lebten die Unsterblichen in wunderbaren Palästen, ernährten sich von Nektar und Ambrosia, trugen ihre Streitigkeiten aus, liebten oder hassten sich gegenseitig und hatten stets einen scharfen Blick auf das irdische Geschehen, denn die Menschen waren der Gegenstand ihrer beständigen Neugier, und nichts taten sie lieber, als sich in das Geschehen der Welt einzumischen.

Einige wenige Götter wohnten nicht auf dem Olymp, so Poseidon, der Gott des Meeres, Hades, der in der Unterwelt regiert, und Gaia, die Mutter Erde.

Der Gott aber, der sich als König des Himmels und der Erde, als absoluter Herrscher durchgesetzt hatte, ist Zeus.

Zeus

Er ist derjenige, der alles überwacht, was am Himmel geschieht. Seine Hand schleudert den Blitz, er sammelt die Wolken und sorgt für das strahlende Blau des Alls. Sein Wort ist Gesetz im Himmel wie auf Erden, die Götter sind seiner Entscheidung ebenso unterworfen wie Fürsten und Könige der Welt. Oft kommt er Bedrängten zu Hilfe, straft unerbittlich, wenn das Gastrecht verletzt wird oder Schutzflehende missachtet werden.

Doch auch der oberste Gott kennt noch eine Instanz über sich: Das ist Moira, das unergründliche Schicksal. Zeus hat eine goldene Waage, auf der er die Geschicke der Menschen abwägt und deren Ausschlag von Moira bestimmt wird. Senkt sich eine Waagschale, so steuert das Schicksal des Betroffenen unaufhaltsam dem Untergang zu, steigt sie, bedeutet das Glück und Gewinn. Gegen diese Entscheidung gibt es keinen Einspruch.

Zeus ist die Verkörperung der Männlichkeit, und so ist es kein Wunder, dass er unzählige Liebesaffären hat, sowohl mit weiblichen Gottheiten als auch mit sterblichen Frauen, denen er sich oft in anderer Gestalt nähert, um sie zu verführen – als Schwan, als Stier, als goldener Regen oder als der Ehemann. Aus diesen Liebschaften sind viele Kinder hervorgegangen, Götter und Halbgötter, von denen wir hören werden.

Zeus achtet eifersüchtig darauf, dass sich niemand in seine Machtbefugnisse einmischt. Die Einzige, die es wagt, sich ihm entgegenzustellen, ist seine Gattin Hera.

Hera

In den ältesten Geschichten war sie seine Schwester, später war davon aber nie mehr die Rede. Ihre Hochzeit mit Zeus auf einem Berggipfel bedeutet so etwas wie ein Frühlingsfest, bei dem der segensreiche Regen die Erde fruchtbar macht. Zeus nähert sich seiner Gemahlin als goldleuchtende Wolke, und ihr Brautlager ist frischer Rasen, aus dem Blumen sprießen, Lotus, Safran und duftende Hyazinthen. Heras heiliger Vogel ist der Pfau, er verkörpert ihre prächtige Schönheit – aber auch ihre Eitelkeit.

Sie ist die Hüterin der Ehe und dringt darauf, dass Ehebruch streng bestraft wird. Freilich hat sie viel Grund zu Kummer, denn ihre eigene eheliche Verbindung ist ständig gefährdet durch die unendlichen Liebesabenteuer ihres Mannes. Da sie selbst das Musterbild der Treue ist, verfolgt sie die Geliebten ihres Gemahls gnadenlos, quält sie oder verwandelt sie in andere Gestalten, und auch deren Nachkommen sind Gegenstand ihrer Rache. Es gelingt ihr allerdings fast nie, die Sprösslinge ihres Mannes umzubringen.

Hera ist zänkisch, und ein Streit zwischen ihr und Zeus hat schon oft ein olympisches Festmahl gestört. Aber der große Frauenkenner versteht es immer wieder, sie zu versöhnen.

Pallas Athene

ist die Tochter des Zeus, und zwar seine alleinige Tochter. Sie ist sein Lieblingskind, denn sie ist in voller Rüstung aus dem Kopf ihres Vaters herausgesprungen, und als das schöne bewaffnete Mädchen zum ersten Mal in den Kreis der Olympier trat, erregte es Furcht und Schrecken.

Pallas Athene ist also eine »Kopfgeburt«, und dementsprechend sind ihre Eigenschaften: Sie ist die Besonnenheit, die Planung, die Übersicht im Kampf, nicht das blinde Dreinschlagen. Sie ist zwar eine Kriegsgöttin, aber sie hilft den Menschen auch beim Handwerk und bei Erfindungen. Sie führt dem Baumeister die Hand oder plant die Konstruktion von Schiffen, sie lehrt die Frauen zu spinnen, zu weben und zu sticken.

Kluger Ratschlag und politische Weisheit sind ihr Gebiet, und in der Stadt Athen, die nach ihr benannt ist, sitzt sie dem Areopag, dem Gericht, als oberste Richterin vor. Ihr Wahrzeichen ist die Eule, der kluge und besonnene Vogel. Daher rührt das Sprichwort »Eulen nach Athen tragen«, wenn man nämlich etwas an einen Ort bringen will, wo es das schon längst gibt.

Mit Männern verkehrt Athene als Gleichberechtigte; von Liebe will sie nichts wissen. Sie ist eine Jungfrau und wird es immer bleiben, und als nahezu der einzigen aller Himmlischen gibt es von ihr keine Abenteuer zu berichten.

Ares

ist ein Sohn von Zeus und Hera. Im Gegensatz zu seiner Schwester verkörpert er die rohe Gewalt, den Kampf um des Kampfes willen. Darum wechselt er im Krieg auch häufig die Parteien: Die Ziele sind ihm gleichgültig, wenn nur genug Blut fließt. Ares ist ein Kraftprotz und mit seiner Klugheit ist es nicht sehr weit her. Aber seine Muskeln können auch auf manche Frauen sehr anziehend wirken, und dazu gehört sogar die Göttin der Liebe selbst, Aphrodite.

Aphrodite

Es heißt, diese Göttin, deren Kraft sich jedes Lebewesen unterordnen muss, ist aus dem Schaum des Meeres geboren. Woher sie wirklich kommt und wer ihre Eltern sind, ist nicht bekannt. Aber wegen ihrer Herkunft stehen die meisten ihrer Tempel in der Nähe des Meeres.

Vor allem wird sie auf der blühenden Insel Kypros (Zypern) verehrt, hier gibt es einen heiligen Hain, in dem Zypressen und Zedern, Mandelbäume und Granatäpfel wachsen – lieblich und erhaben zugleich. Und auch an anderen Stätten wird sie meist in Gärten angebetet; an allen Orten, wo es schön und fruchtbar zugleich ist.

Wenn die Göttin auf ihrem goldenen Wagen daherkommt, vor den Tauben und Sperlinge gespannt sind, so ist es stets ein Triumphzug. Wo sie vorbeigeht, blüht die Natur auf, die wilden Tiere werden zahm und sehnen sich nach Paarung, und in die Herzen der Menschen kehren Heiterkeit und Glück ein.

In ihrem Gefolge zieht ein Schwarm kleiner Liebesgötter daher, Kinder der Nymphen, der schönen weiblichen Wesen, die ihr dienen. Ebenfalls gehören die drei Grazien zu ihrem Hofstaat, die Verkörperung der Anmut und Lieblichkeit. Der Anführer dieser Schar ist Eros, ihr Sohn, den sie von Ares empfangen hat, der ewig kindliche, mutwillige Gott, der mit seinem Pfeil die Herzen der Menschen trifft, damit sie sich ineinander verlieben, gleichgültig, ob sie für die Liebe bereit sind oder nicht. So bringt sein Pfeil manchmal Glück, manchmal auch großes Leid, wenn die Liebe nicht erwidert wird. Deshalb halten ihn manche für blind oder stellen sich vor, dass er seine Augen mit einer Binde verhüllt, wenn er sein Geschoss abschickt.

Die Rose und der Apfel sind Aphrodites Wahrzeichen, und sie besitzt einen Gürtel, der ihr ewige Anmut verleiht. Ihren Schmeicheleien kann niemand widerstehen.

Die Göttin sät nicht nur die Liebe in andere Herzen, sie selbst ist ebenfalls sterblichen und unsterblichen Männern zugeneigt. Sie hat Göttern und Menschen Söhne geboren und sie mit ihren Gaben der Anmut und der Wohlgefälligkeit ausgestattet. Allerdings ist sie nicht nur freundlich. Verachtet jemand ihre Macht oder hält sich gar für schöner als sie, so kann sie unerbittlich strafen.

Obgleich sie so flatterhaft ist – das gehört nun einmal zu ihrem Wesen –, hat Aphrodite auch einen Gatten: Hephaistos.

Hephaistos

Er ist der Gott des Feuers, ein Sohn des obersten Götterpaares, wie Ares. Aber so schön Aphrodite erscheint, so hässlich ist ihr Gemahl. Missgestaltet und hinkend, wie er ist, entsetzte sich seine Mutter Hera so vor ihm, dass sie ihn nicht ansehen wollte, als er geboren war. Aphrodite jedoch kennt solche Vorbehalte nicht. Für sie ist jedes Lebewesen der Liebe wert, und so nahm sie den Feuergott zum Mann.

Es zeigte sich bald, dass der Herr über das Feuer ein Meister der Schmiedekunst war. Er wurde zum Lehrmeister und Patron aller Schmiede und machte sich bei Göttern und Göttinnen beliebt, indem er für sie schöne Waffen oder Schmuckstücke herstellte.

Auf einem hohen Berg in Zypern hatte er den Garten seiner Frau mit einem goldenen Gatterzaun und kupfernen Toren ausgestattet, um ihr seine Liebe und Dankbarkeit zu beweisen – und auch, um sie zu überwachen.

Denn Hephaistos kann furchtbar eifersüchtig sein. Als er zum Beispiel bemerkte, dass die Liebesgöttin ihn mit seinem Bruder Ares betrog, packte ihn ein furchtbarer Zorn.

Mit aller Kunstfertigkeit schmiedete er ein goldenes Netz, so feinmaschig, dass man es kaum sah, und hängte es über Aphrodites Bett auf. Als sie sich nun einmal wieder mit Ares traf, zog Hephaistos das Netz über ihnen zusammen. Das Paar war in der verfänglichsten Situation ertappt, und der wutentbrannte Gatte rief die anderen Olympier herbei, damit sie Zeugen des Ehebruchs werden sollten.

Aber die Unsterblichen, eigene Seitensprünge gewohnt, fanden die ganze Angelegenheit nur komisch. Sie hielten sich die Seiten vor Lachen, und Hephaistos hatte das Nachsehen, denn nun war er für alle als Hahnrei bloßgestellt.

Trotzdem ließ seine Liebe für die goldene Aphrodite niemals nach.

Apollon und Artemis

sind Zwillingsgeschwister. Ihr Vater ist Zeus. Die Mutter Leto, eine Tochter des frühen Göttergeschlechts der Titanen, wurde von der grausamen Eifersucht der Hera verfolgt. Lange Zeit irrte Leto umher und suchte eine Stelle, wo sie gebären könnte, denn aus Furcht vor Hera verweigerten ihr Länder und Inseln, auf ihnen zu verweilen, ja, sogar die Quellen spendeten ihr keinen kühlen Trank. Schließlich fand sie Zuflucht auf dem Eiland Delos, einer kleinen Insel der Kykladengruppe. Damals war diese Insel steinig und unwirtlich. Dort gebar sie ihre beiden Kinder, und kaum war das Zwillingspaar auf der Welt, war die Insel verwandelt und begann zu grünen und zu blühen.

Delos ist daher das bevorzugte Heiligtum des strahlenden Gottes Apollon. Er ist eine Lichtgestalt, mit der Sonne auf Du und Du, ein Gott der Klarheit und des Überblicks. Nie kämpft er anders als mit seinem unfehlbar treffenden silbernen Bogen. Er befreit die Menschen von Raubtieren und Ungeheuern, kämpft gegen Wölfe und Schlangen. Aber wenn man ihn kränkt, kann dieser Bogen auch Seuchen, Pest und Tod bringen.

Neben dem Bogen ist sein zweites Attribut die Leier, denn Apollon ist der Gott der Musik und der Künste. In seinem Gefolge schreiten die neun Musen im Reigen, Göttinnen, denen jeweils eine Form der Kunst oder der Wissenschaft zugeordnet ist wie Tanz, Dichtung, Sternkunde oder Geschichtsschreibung.

Nach Zeus ist Apollon der am meisten verehrte Gott der Griechen. Das Zentrum seines Kults ist Delphi in Mittelgriechenland, wo sich nach Ansicht der Griechen der Nabel der Welt befindet. Apollon kennt die Zukunft, und durch den Mund seiner Priesterin, der Pythia, wird sie den Menschen verkündet. Diese Seherin, die durch Dämpfe aus einem Erdspalt oder durch berauschende Kräuter, die man auf einem Dreifuß verbrannte, in Ekstase versetzt wird, lallt meist unverständliche Worte, die ihre Priester dann zu Orakelsprüchen machen; oft sind diese Voraussagen doppeldeutig und führten die Menschen in die Irre.

Artemis, Apollons Zwillingsschwester, ist die Göttin der Wälder, der Jagd und des Mondes. Ihre zarte Jungfräulichkeit und ihre Scheu sind Sinnbilder der unberührten Natur. Sie wohnt nicht in Gärten, sondern fühlt sich wohl auf schattigen und windigen Berggipfeln oder inmitten undurchdringlicher Wälder. Ihren heiligen Hain darf kein Mensch betreten.

Artemis’ größtes Vergnügen ist die Jagd. Mit den Nymphen, den Jungfrauen, die sie begleiten, durchstreift sie ruhelos Hain und Flur. Sie ist aber auch eine liebevolle Pflegerin eines jeden Wildes, und in ihrem Heiligtum leben Wolf und Hirsch friedlich nebeneinander.

Sterbliche, die die Unnahbarkeit der Göttin in irgendeiner Weise verletzen oder sich an ihrer Keuschheit vergehen wollen, werden von ihr freilich auf die grausamste Weise verfolgt: von ihren Hunden zerrissen, in Wildtiere verwandelt oder mit einem sicheren Pfeilschuss getötet.

Mit ihrem Bruder Apollon verbindet sie innige Zuneigung, oft sind die Geschwister gemeinsam mit Pfeil und Bogen unterwegs, und wenn es darum geht, ihre Mutter Leto zu verteidigen oder zu schützen, vereinen sie sich und senden beide todbringende Pfeile.

Hermes

ist ebenfalls ein Sohn des Zeus. Seine Mutter ist die scheue Bergnymphe Maja, eine Tochter des Atlas, der das Himmelsgewölbe trägt. Maja lebte in einer Höhle am Berg Kyllene in Arkadien. Nachts, wenn Hera schlief, machte sich der Göttervater auf und besuchte die Schöne. Dort in der Höhle gebar Maja dann auch ihren kleinen Sohn, der von Anfang an eine bemerkenswerte Frühreife an den Tag legte.

Schon am ersten Tag seines Lebens kletterte er aus der Wiege und verließ die Höhle. Er fand eine Schildkröte, und aus ihrem Panzer, den er mit Schilfrohren als Saiten bespannte, bastelte er sich ein Instrument, ähnlich einer Harfe, auf dem er, ein Neugeborener, bereits perfekt spielte und dazu sang.

Doch damit des Ungewöhnlichen nicht genug: Gegen Abend hatte der kleine Tunichtgut Hunger auf Fleisch bekommen. Er machte sich auf und fand die Herden der Götter, und sofort stahl er dem Apollon fünfzig Rinder, trieb sie fort und briet sich zwei zum Abendessen. Danach legte er sich wieder in seine Wiege und tat, als sei nichts geschehen.

Natürlich bemerkte Apollon den Diebstahl, doch Hermes leugnete so geschickt, dass Zeus selbst den Streit schlichten und dem gewitzten Kind befehlen musste, die Herde herauszugeben. Daraufhin begann Hermes auf seiner »Harfe« zu spielen, und als Apollon die bezaubernde Musik hörte, tauschte er bereitwillig all seine Kühe gegen das Instrument ein. Seither waren Apollon, der Gott des hohen Geistes, und Hermes, der Gott des praktischen Verstandes, die besten Freunde.

Hermes ist schlau, witzig, umtriebig und gewandt. Seine Schnelligkeit kann niemand überbieten und er ist ständig unterwegs. Als er erwachsen wurde, machte ihn Zeus zum Götterboten, verlieh ihm als Zeichen seiner Würde einen Stab und schuf ihm geflügelte Sandalen. In manchem Streit dient er als Vermittler, und bei Zeus’ Liebesabenteuern ist er sein treuer Helfer und Komplize.

Hermes ist den Menschen wohlgesinnt. Weil er selbst so gern auf Reisen ist, wurde er zum Wegbegleiter der Menschen, zum Schutzpatron derer, die nicht zu Hause sind, und darüber hinaus geleitet er als Führer der Seelen die Verstorbenen bis zur Schwelle des Totenreiches.

Es liegt nahe, dass Hermes der Schutzpatron der Kaufleute ist – und der Diebe! Er hatte sich ja früh genug in diesem Metier geübt. Er kann klar und überzeugend reden – und wunderbar lügen! Ausgestattet mit diesen Eigenschaften sowie mit seinem Witz und seiner Anmut, hat er unzählige Liebesaffären wie sein Vater Zeus.

Poseidon und die Meeresgötter

Poseidon, einer der Brüder des Zeus, gehört zu den ältesten und mächtigsten Göttern überhaupt. Er ist nicht nur der Gott des Meeres, sondern der Beherrscher jeglichen Wassers, süßen und salzigen. Wie sein Element ist Poseidon von aufbrausender Natur, und oft gerät er mit anderen Göttern in Streit, meistens wegen der Vorherrschaft über bestimmte Gebiete, von denen er meint, dass sie eigentlich dem »Wasser« gehören sollten.

Poseidon zeigt sich selten auf dem Olympos, die meiste Zeit verbringt er mit seiner Gattin Amphitrite, einer Titanentochter, in einem Unterwasserpalast.

Das Zeichen seiner Herrschaft ist der Dreizack. Mit ihm regiert er das Meer, peitscht es zu wilden Wogen auf oder beruhigt die Stürme und schafft den Seeleuten gute Fahrt.

Poseidon ist unberechenbar, er kann sehr grausam sein, aber auch großzügig Gaben verleihen. Er kommt im Wasser auf einem von Pferden gezogenen Wagen daher, denn der Herr der Wogen ist auch der Gott der Pferde.

Die Söhne, die er mit Nymphen oder Menschenfrauen gezeugt hat, sind, im Gegensatz zu den Heldengestalten der Söhne des Zeus, oft Ungeheuer – wie der einäugige Riese Polyphemos, der in den Abenteuern des Helden Odysseus eine Rolle spielen wird.

Das Meer ist außerdem von einer Reihe anderer niederer Gottheiten bevölkert. Die freundlichen Nereiden, die spielenden Wellen, Töchter des Seetitanen Nereus, vergnügen sich gern mit den Tritonen, Götter halb in Menschen- und halb in Fischgestalt, die auf einem Muschelhorn die Ankunft Poseidons verkünden. Eine der Nereiden ist Thetis, die sich mit einem Sterblichen vermählt und von ihm einen berühmten Helden empfängt, den Achilleus, der in Geschichten um die Stadt Troja eine große Rolle spielen wird.

Gefahren, die den Seefahrern drohen, werden verkörpert durch die Sirenen, deren verführerischer Gesang die Schiffer in den Tod zieht, und die beiden Ungeheuer Skylla und Charybdis, Letztere ein Meeresstrudel von unwiderstehlicher Gewalt.

Dem Schiffsvolk freundlich gesinnt sind die Brüder Kastor und Polydeukes, die Dioskuren oder Zwillingssterne, die auf dem Meer Verirrten Beistand leisten, indem sie ihnen die Richtung weisen und sie so vor der Zerstörungswut Poseidons retten.

Hades

Hades, der zweite Bruder des Zeus, ist der Beherrscher der Unterwelt, die ihm zufiel, als der Göttervater Luft und Erdreich und Poseidon das Wasser erhielt.

Dort in der Unterwelt haust er abgesondert von der Welt der Götter und der Sterblichen. Er regiert über die Toten. In sein Reich, das oft einfach nach ihm Hades genannt wird, dringt kein Sonnenstrahl, und er selbst trägt oft einen Helm, der ihn unsichtbar macht.

Dunkle Klüfte und Höhlen, tiefe Seen und geheimnisvolle Erdspalten sind die Eingänge, durch die man zur Unterwelt gelangen kann.

Hades herrscht nicht nur über die Toten; ihm gehören auch alle Schätze, die im Erdinnern schlummern, alles Erz, alle Edelsteine, alles Gold. Darum wird er auch Pluton, der Reiche, genannt.

Wenn jemand gestorben ist, geleitet Hermes die Seele des Verstorbenen im schwindenden Licht zunächst zum Fluss Acheron. Charon, der Fährmann über dieses Gewässer, lässt niemanden in sein Boot, der nicht nach den alten überlieferten Riten bestattet worden ist und einen Obolus, eine kleine Münze als Fährgeld, unter der Zunge mitbringt. Der eigentliche Eingang zum Totenreich wird von einem dreiköpfigen Hund namens Kerberos bewacht.

Ein zweiter Fluss, Styx, grenzt dann unerbittlich das Reich des Zwielichts von dem der ewigen Finsternis ab.

Nach einigen Überlieferungen leben die Seelen dort für immer in freudlosem Dunkel.

Es gibt aber auch andere Geschichten. Sie erzählen davon, dass es im Totenreich ein Gericht gibt, das die Taten der Menschen auf Erden beurteilt. Diejenigen, die sich helden- und ehrenhaft benommen haben, gelangen auf die Inseln oder zu den Gefilden der Glückseligen. Andere aber, die sich frevelhaft gegen Menschen und Götter aufgeführt haben, sind zu ewigen Qualen verurteilt. Dort unten wälzt Sisyphos ständig einen Felsblock ächzend einen Hang hinauf. Wenn er oben angekommen ist, rollt ihm der Stein weg und er muss erneut anfangen. Und Ixion, der die oberste Göttin Hera frevlerisch zur Geliebten begehrte, ist auf Zeus’ Befehl an ein brennendes Rad geschmiedet.

Demeter

Die Schwester der drei Ur-Götter Zeus, Poseidon und Hades ist die alte Göttin der Fruchtbarkeit. Ihr Interesse gilt nicht dem Olymp – dort hält sie sich nur sehr selten auf –, sondern der Erde. Sie sorgt für das Gedeihen der Feldfrüchte und lehrt die Menschen den Anbau von Getreide, deshalb ist ihr auch jedes Stück Brot heilig.

Demeter hat eine Tochter, Persephone. Eines Tages erblickte der Herr der Unterwelt das Mädchen und verliebte sich in sie. Er bat seinen Bruder Zeus, ihm Persephone zur Frau zu geben. Der König des Olymp war wohlwollend, aber er wandte ein, dass Demeter nicht einverstanden sein würde, ihr Kind im sonnenlosen Inneren der Erde zu wissen. Er schlug Hades deshalb unter der Hand eine Entführung vor. Angetan mit seinem unsichtbar machenden Helm, näherte sich der Gott der Unterwelt dem Mädchen, als sie mit ihren Freundinnen auf einer blühenden Wiese spielte, und riss sie mit sich ins ewige Dunkel.

Als Demeter nach ihrer Tochter fragte, wusste niemand zu sagen, wohin sie verschwunden war. Klagend und jammernd irrte die Göttin nun über die Erde und suchte nach ihrem Kind. Überall verdorrten die Ernten und das fruchtbare Land lag brach.

Schließlich verriet ihr Helios, der alles sehende Sonnengott, wer ihre Tochter geraubt hatte. Er versuchte, sie davon zu überzeugen, dass Hades als Herrscher über ein Drittel des Universums kein unwürdiger Gatte für Persephone war, aber davon wollte Demeter nichts wissen. Sie war untröstlich und zog sich in eine Höhle zurück.

Die Erde begann, sich in eine Wüste zu verwandeln.

Zeus, der einsah, dass sein Rat unvorhergesehene Folgen für Götter und Menschen hatte, versuchte, seinen Bruder zur Rückgabe des Mädchens zu veranlassen, aber es war zu spät. Persephone hatte vom Granatapfel gekostet, den Hades ihr gereicht hatte – durch einen Liebeszauber war sie nun der Unterwelt und ihrem Herrscher verfallen.

Schließlich bestimmte Zeus, dass Persephone den größten Teil des Jahres, die Zeit des Blühens und Reifens, bei ihrer Mutter verbringen sollte, den Winter über aber in der Unterwelt bei ihrem Gatten wohnen durfte.

So kehrte die Fruchtbarkeit auf die Erde zurück.

Dionysos

Dieser Gott, ebenfalls ein Sohn des Zeus, ist von einer sterblichen Mutter geboren worden, die ihn freilich nie zu Gesicht bekam. Die Königstochter Semele war Zeus’ Geliebte, und die eifersüchtige Hera verleitete die junge Schöne arglistig, sie solle von Zeus fordern, dass er sich ihr in seiner göttlichen Gestalt zeige. Im Zucken der Blitze des Gottes verbrannte Semele zu Asche, doch Zeus rettete seinen ungeborenen Sohn und pflanzte ihn sich selbst in den Schenkel ein, um ihn zu nähren und zum richtigen Zeitpunkt zur Welt zu bringen. Dann vertraute er den Kleinen dem Götterboten Hermes an und ließ ihn ins sagenhafte Land Nysa bringen, wo er von Nymphen zärtlich umhegt und aufgezogen wurde; sein guter alter Lehrer war ein Silenos, ein Waldgott.

Dionysos’ großes Geschenk an Götter und Menschen ist der Wein. Er pflanzte die ersten Rebstöcke, erfand die Kelter und berauschte alsbald sein ganzes Waldgefolge mit dem neuen Getränk. Dann trat er aus seiner Waldeinsamkeit heraus, begleitet von Silenos und den bocksfüßigen Satyrn, halbwilden, stets lüsternen Naturgöttern, und den Mänaden, entfesselten Mädchen und Frauen, die seinem Lockruf in rasendem Rausch folgen.

So brausen sie nun über die Erde dahin wie ein Sturmwind, und Dionysos schwingt seinen Stab, den Thyrsosstab, der mit Weinranken und Efeu umwickelt ist und an dessen Spitze sich ein Pinienzapfen befindet.

Dionysos ist ein mächtiger Gott. Er kann alle menschlichen Sorgen auflösen oder vergessen machen und rettet diejenigen aus körperlicher und geistiger Not, die sich ihm anvertrauen. Aber denen, die sich gegen ihn wehren, zwingt er seine Macht auf und bestraft sie mit Raserei und Irrsinn.

In wilden, ausgelassenen Festen wird er verehrt, und wer sich zu seinen Dienern zählt, der muss sich aus allen anderen Bindungen lösen; Familie und Vaterland werden ihm gleichgültig, wenn er »voll des Gottes« ist. Gesang und Tanz ruft der Schöne hervor, und Eros und Aphrodite sind seine Verbündeten.

Aus den Wechselgesängen, mit denen Sterbliche den Gott priesen, ging schließlich die Bühnenkunst hervor, deswegen ist Dionysos auch der Gott des Theaters.

Pan und die Götter der Natur

Pan ist der Gott der Schafhirten. Es heißt, dass er ein Sohn des Hermes ist, aber andere Überlieferungen berichten, Hermes habe das Kind nur gefunden, denn seine Mutter (wer auch immer sie war) habe beim Anblick ihres neugeborenen Sohnes so einen furchtbaren Schreck bekommen, dass sie wegrannte. Das Kind hatte nämlich Bockshörner und Ziegenfüße. Hermes jedoch adoptierte den Kleinen, brachte ihn stolz auf den Olymp und zeigte ihn den anderen Göttern, die ihn lustig fanden und ihren Spaß mit ihm trieben.

Pan lebt im Bergland, und zusammen mit den ebenfalls bocksfüßigen Satyrn und den Nymphen tanzt und singt er und spielt eine Flöte, die Syrinx oder Pansflöte, die er selbst erfunden hat, indem er Schilfrohre unterschiedlicher Länge aneinanderband. Genau wie die Satyrn ist er immer zu einem Liebesabenteuer bereit und nimmt auf die jungfräuliche Scheu der Nymphen keine Rücksicht, sondern fällt einfach lüstern über sie her.

Die gespenstische Stille der heißen Mittagsstunde gehört ihm; da wagt kein Hirte, die Ruhe des Gottes zu stören, denn er kann, aufgeschreckt aus süßen Träumen, Mensch und Tier durch seinen durchdringenden Schrei in »panischen« Schrecken versetzen. Da kann es dann geschehen, dass die Herden auseinanderstieben und blindlings in einen Abgrund rennen.

Mit diesem gewaltigen Schrei, der die Gegner fast lähmt, soll er auch den Göttern in mancherlei Schlachten beigestanden und deren Feinde in die »Panik« getrieben haben.

Wo Pan sich herumtreibt, sind auch immer Nymphen und Satyrn da.

Überall, wo die Natur unberührt und geheimnisvoll ist, leben die Nymphen, schöne und scheue Naturwesen, göttliche Mädchen, deren Stimmen im Murmeln der Quellen, im Flüstern des Laubs und im Plätschern des Wasserfalls zu vernehmen sind. Die Griechen kennen drei Arten von Nymphen: die Najaden, die im Wasser leben, die Dryaden, die in Bäumen heimisch sind und mit ihrer Pflanze zugleich entstehen und untergehen, und die Oreaden oder Bergnymphen, zu denen das Echo gehört.

Meist lassen sie sich vor den Menschen nicht sehen, folgen entweder der Artemis auf die Jagd oder tanzen mit Pan über die Hügel und Täler. Wenn sie sich aber einmal in einen Sterblichen verlieben, dann verlangen sie von ihm unbedingte Treue und strafen unerbittlich, wenn sich der Geliebte von ihnen abkehrt.

Im Gegensatz zu ihnen sind die Satyrn halb tierische, arglistige, lüsterne Gesellen mit Bockshörnern, Schwänzen und stumpfen Nasen, die lärmend durch die Wälder toben. Den Menschen sind sie nicht sonderlich wohlgesinnt. Sie erschrecken gern die Wanderer, überfallen Herden und verfolgen zudringlich alle Frauen, derer sie habhaft werden können.

Silene (ein Silenos zog den Dionysos auf!) gehören auch zu den Satyrn, nur haben sie Pferdeohren und Pferdeschwänze und sind meist dickbäuchig und alt, was ihrer Lust auf Frauen keinen Abbruch tut.

Andere Gottheiten

Obgleich das Geschwisterpaar Apollon und Artemis stellvertretend für Tag und Nacht, für Klarheit und Helligkeit und für Dunkelheit und Kühle steht, gibt es noch weitere Gottheiten, die bestimmte Naturphänomene verkörpern. Das sind Helios, der Sonnengott, seine Schwestern Eos, die Morgenröte, und Selene, die Mondfrau.

Helios wird morgens von Eos angekündigt und begleitet. Er fährt in einem vierspännigen Wagen tagsüber durch das Himmelsgewölbe. Nachts kehrt er von Westen, in einer goldenen Schale schwimmend, übers Meer nach Osten zurück. Auch Helios hat viele Liebesabenteuer und einige Kinder, darunter die Zauberin Kirke, und er hütet eifersüchtig seine Rinderherde. Wer es wagt, sich an ihr zu vergreifen, wird von ihm grausam bestraft.

Die Mondfrau Selene ist im Gegensatz zu Artemis durchaus keine keusche Jungfrau. Sie hat von vielen Göttern Kinder, soll sich sogar dem Pan für ein Schaffell hingegeben haben. Auch einen irdischen Geliebten gibt es, den Endymion, der sich allerdings von ihr etwas ziemlich Unüberlegtes wünschte: Er wollte ewig schlafen, um nicht zu altern! Leider war es mit der Liebe damit vorbei.

In späterer Zeit geriet Selene im Bewusstsein der Menschen etwas in Vergessenheit. Sie wurde ersetzt durch Artemis oder – wenn es um die dunklen Seiten des Mondgestirns geht – durch die grausige Hekate. Ähnlich wie Eris, die Göttin der Zwietracht, steht sie für das Böse und Abgründige. Hekate wird manchmal mit drei Köpfen dargestellt, man verehrt sie an Kreuzwegen mit Opfergaben, höllische Hunde begleiten sie mit heiserem Gebell, wenn sie fackelschwingend erscheint, und sie fordert blutige Opfer. Ihr gefällt es, wenn Tiere bei lebendigem Leib zerstückelt oder Kinder geschlachtet werden. Sie ist die Beschützerin aller Zauberinnen und wird angerufen, wenn eine unheilvolle und schädliche Beschwörung vollbracht werden soll.

Ebenfalls zu den abgründigen Mächten gehören die drei Erinnyen.

Das sind furchtbar aussehende Frauenwesen, die Schuldige verfolgen und quälen – gleichzeitige Verkörperung des schlechten Gewissens der Verbrecher und der Vergeltung für Taten, die menschliches Recht nicht ahndet. Aber selbst wenn ein öffentliches Gericht ein Urteil verhängt – oft genügt ihnen die Strafe nicht und sie wollen den Verbrecher in alle Ewigkeit verfolgen. Vor allem bei Zwisten in der Familie treten sie auf den Plan. Wird jemandem von einem Familienmitglied Unrecht zugefügt, kennen sie kein Erbarmen.

Unnachsichtig verfolgen sie Kinder, die ihren Eltern etwas angetan haben. Das schlimmste aller Vergehen ist für sie der Muttermord. Solchen Tätern bleiben sie Tag und Nacht auf den Fersen und treiben sie in den Wahnsinn.

Die Menschen fürchten diese Rachegöttinnen über alles. Um sie zu besänftigen, gaben sie ihnen sozusagen einen »Kosenamen«. Man nennt die furchtbaren Wesen, deren wahren Namen man nicht in den Mund nehmen möchte, gern die Eumeniden, das heißt: die Wohlmeinenden.

In der Nähe von Athen hat man ihnen einen heiligen Hain errichtet.

Der Götterhimmel der Griechen wird Pantheon genannt, und er ist so randvoll mit bunten Gestalten erfüllt, dass unmöglich alle beschrieben werden können. Oft sind sie auch, ähnlich wie die Mondfrau Selene und der Sonnengott Helios, die Verkörperung von Phänomenen aus der Natur. So gibt es Aiolos, den Gott der Winde, oder Thanatos, der für den Tod oder das Sterben steht, wie der Sensenmann in der späteren Überlieferung.

Aber die wichtigsten haben hier vielleicht ihren Platz einnehmen können.

PROMETHEUS UND SEINE GESCHÖPFE

Die Erschaffung der Menschen

Prometheus ist kein olympischer Gott, sondern gehört den Titanen an, dem alten Göttergeschlecht, das im Kampf den Olympiern weichen musste. Dennoch stritt er auf der Seite der neuen Götter gegen seine eigenen Verwandten und durfte nun ebenfalls auf dem Olympos wohnen.

Solche Überläufer sind zwar zunächst einmal sehr willkommen, weil sie aus der genauen Kenntnis ihrer früheren Freunde und jetzigen Feinde besonders gut wissen, wie man sie bekämpfen kann – aber wenn der Sieg errungen ist, betrachtet man sie häufig mit Misstrauen. Einmal Verräter, immer Verräter! So auch im Fall Prometheus.

Der Titan war ein lebhafter und erfindungsreicher Geist, und es heißt, dass er irgendwann anfing, aus Lehm Geschöpfe zu formen, die er Menschen nannte. Die Götter zeigten lebhaftes Interesse an den Arbeiten des Prometheus, und Athene beteiligte sich sogar daran, indem sie ihnen Sachverstand und Kunstfertigkeiten verlieh.

Prometheus begann nun, die neuen Wesen zu unterrichten. Er lehrte sie, den Auf- und Niedergang der Gestirne zu beobachten, erfand für sie die Zahl und die Schrift, brachte ihnen bei, wie man Tiere zähmt, wie man den Ochsen ins Joch spannt und das Ross unter den Sattel zwingt. Er zeigte ihnen die Kräuter und Pflanzen, mit deren Hilfe man Krankheiten heilen konnte, und wies sie in die Kunst des Wahrsagens und der Traumdeutung ein.

Zeus selbst aber waren diese Wesen unheimlich. Er verlangte von den neuen Geschöpfen Demut, Verehrung, Unterwerfung und vor allem Opfergaben.

Das Leben der ersten Menschen war armselig, und oft litten sie Hunger, weil die Spenden, die von den Göttern verlangt wurden, ihre letzten Vorräte aufzehrten. Da verfiel Prometheus auf eine List, wie er seinen Geschöpfen zu einem besseren Dasein verhelfen könne. Er überredete Zeus, jeweils nicht das ganze Opfertier als Gabe für die Götter zu verlangen, sondern nur einen Teil.

»Nun gut«, sagte der Herr des Olympos, »ich bin einverstanden. Aber welchen Teil des Tieres sollen nun die Götter erhalten und welchen die Menschen?«

Der Titan bereitete daraufhin zwei unterschiedliche Portionen vor: Die eine bestand aus den besten Teilen des Fleisches. Die umhüllte er mit einer struppigen Ochsenhaut. Knochen und Innereien aber bettete er in einladend üppiges Fett. Zeus ließ sich tatsächlich täuschen und wählte die schlechtere Portion. Die war von nun an sein Anteil an einem Tier, das geopfert wurde.

Zeus ließ sich zunächst nichts anmerken, aber er verzieh dem Prometheus diesen Trick nicht und grollte ihm insgeheim.

Seitdem aber ging es den Menschen besser, denn ihnen blieb mehr Essen übrig.

Zu ihrem Glück fehlte ihnen aber immer noch etwas sehr Wichtiges: das Feuer. Denn das Feuer war den Göttern vorbehalten, und sie wachten mit Eifer darüber, dass dieses Gebot eingehalten wurde.

Prometheus sah voller Besorgnis, dass seine Geschöpfe ohne das Feuer immer noch elend dran waren. Sie konnten kein Essen kochen und sich nicht wärmen, und die Schmiedekunst oder den Schiffsbau auszuüben, bei dem man ja Holzspanten überm Feuer biegen muss, war ihnen unmöglich. So wagte der Titan, das Feuer für sie zu stehlen. Umsichtig dachte er sich eine Möglichkeit aus. Er nahm einen hohlen Stängel des Riesenfenchels, begab sich ans Firmament und wartete auf Helios, den Sonnengott. Er näherte sich dem vorbeifahrenden Sonnenwagen und setzte den Stängel so in einen schwelenden Brand. Damit eilte er zu den Menschen hinab und bald loderte der erste Holzstoß auf der Erde.

Prometheus hatte angenommen, dass ihm auch diesmal seine List durchgehen würde. Aber er hatte sich getäuscht.

Wutentbrannt sah Zeus, dass er schon wieder hintergangen worden war. Für ihn war das Maß nun voll. Er beschloss, den Übeltäter für seine Unverschämtheit zu bestrafen. Er ließ Prometheus von seinen beiden Dienern Kratos und Bia – das bedeutet: Zwang und Gewalt – packen und ins Kaukasus-Gebirge schleppen.

Dann befahl er dem Schmied Hephaistos, den Titanen über einem schauerlichen Abgrund mit Ketten an eine Felswand zu schmieden.

Ungern befolgte der Gott den Befehl seines Vaters, denn er war mit Prometheus befreundet; beide vereinte die Liebe zur Kunstfertigkeit und zu schöpferischen Tätigkeiten. Seufzend sagte er beim Abschied: »Zeus hat befohlen, dass du bis in alle Ewigkeit an dieser Klippe hängen sollst, und glaube nicht, dass du ihn mit Jammern und Klagen erweichen kannst, denn sein Herz ist gegen dich verhärtet, und er ist grausam.«

Prometheus aber sagte: »Es reut mich nicht, dass ich meine Geschöpfe mit allem ausgestattet habe, was zivilisiertem Verhalten dient. Und wenn das Schicksal, die Moira, es will, so werde ich dereinst auch von diesem Felsen befreit werden, denn das Schicksal steht noch über dem Spruch des Zeus.«

Der oberste Gott hörte diese Worte und sein Hass gegen den Unbeugsamen wuchs noch. Er begnügte sich nicht mit dem, was er Prometheus angetan hatte, sondern dachte sich eine weitere Marter aus. Um den Gefesselten noch mehr zu quälen, schickte er einen Adler, der ihm Tag für Tag die Leber heraushackte, die in jeder Nacht wieder nachwuchs.

Daraufhin überlegte Zeus, wie er den Menschen, den Geschöpfen des Prometheus, schaden könnte. Er fürchtete die Weisheit und das Wissen, das ihr Schöpfer ihnen gegeben hatte, fürchtete, dass sie sich ihm eines Tages nicht mehr bedingungslos unterordnen würden, wie er es von ihnen forderte.

Wieder musste Hephaistos herhalten. Zeus befahl ihm, eine künstliche Frau zu erschaffen, die an Schönheit alle anderen Frauen übertraf.

Sie hieß Pandora, die von allen Beschenkte, weil alle Götter mithelfen mussten, sie mit besonderen Gaben wie Schönheit, Anmut, süßer Rede und freundlichem Wesen auszustatten. Zeus aber übergab ihr eine verschlossene Büchse und befahl dann Hermes, das reizende Geschöpf auf die Erde zu führen.

Nun hatte Prometheus einen Bruder, der Epimetheus hieß und bei den Menschen lebte. Er war arglos und unüberlegt in seinem Tun; Prometheus hatte ihn oftmals ermahnt, keine Geschenke von den Göttern anzunehmen. Aber als Epimetheus die wunderschöne Frau erblickte, vergaß er alle Warnungen seines Bruders und nahm Pandora zur Frau.

Kaum aber war sie in seiner Wohnung angekommen, da öffnete sie den Deckel der Büchse, die Zeus ihr gegeben hatte, und ihr entströmten alle Plagen und Mühen, die nur denkbar waren. Nur die Hoffnung ließ sie nicht heraus, sondern schloss, wie Zeus es ihr befohlen hatte, den Deckel vorher wieder. Seitdem werden die Menschen von Beschwerden und Krankheiten geplagt, sie machen sich Sorgen um nichtige Dinge, verfallen in Schwermut oder gar in Wahnsinn und laufen dem Reichtum und der eitlen Ruhmsucht hinterher.

Prometheus aber musste dreißigtausend Jahre die grausame Marter im Kaukasus erleiden. Aber schließlich wurde er doch erlöst. Der Held und Halbgott Herakles kam auf einer seiner Fahrten an der Felswand vorbei und sah, wie der Adler sich an der Leber des Titanen zu schaffen machte. Empört über diese Quälerei, spannte er seinen mächtigen Bogen und erschoss das Tier.

Dann löste er die Ketten und führte Prometheus mit sich fort. Damit Zeus aber nicht Lügen gestraft würde, musste der Titan einen Ring mit einem kleinen Felsbrocken jener Wand, an der er gehangen hatte, mit sich führen. So konnte der Göttervater behaupten, Prometheus sei noch immer am Kaukasus angeschmiedet.

Die Sintflut und das neue Menschengeschlecht

Zeus besah sich das Treiben der Menschen und fand schließlich, dass sie abgrundtief schlecht seien. Betrug und Verrat, Niedertracht und alle Arten von Gemeinheiten regierten die Welt. Das versetzte den Gott in furchtbaren Zorn – wobei er geflissentlich übersah, dass er ja Schlechtigkeit und Bosheit selbst in die Büchse der Pandora hatte einpflanzen lassen und die Schuld eigentlich bei ihm lag.

Er berief die Götter zur Ratsversammlung und teilte ihnen seinen Entschluss mit, die Menschheit zu vernichten. Die Frage war nur, auf welche Weise das geschehen sollte. Eigentlich hatte er vorgehabt, seine Blitze über die ganze Erde zu verstreuen, um mit ihnen alles Menschliche auszulöschen. Aber die anderen Olympier meinten, das wäre zu gefährlich. Dabei könnte ja vielleicht der ganze Äther in Flammen aufgehen.

Der Meeresgott Poseidon sagte: »Lieber Bruder, ist es nicht angebrachter, wenn wir das Land einfach überschwemmen? Ich habe ja Wasser genug und die Winde können Regenfluten herbeiholen. So werden wir die Menschen alle ersäufen.«

Dieser Vorschlag fand allgemeine Zustimmung.

Sofort stürzte sich der Feuchtigkeit bringende Südwind mit triefenden Schwingen aus seiner Höhle, griff ans Himmelsgewölbe und begann, die Wolken auszupressen. Regenströme stürzten auf die Erde herab und vernichteten die junge Saat. Poseidon befahl den Flüssen, über die Ufer zu treten, und durchstach mit seinem Dreizack Wälle und Dämme, und die Meeresfluten stiegen und stiegen.

Bald waren Land und Meer nicht mehr zu unterscheiden. Die Menschen versuchten, sich zu retten, indem sie auf die Berggipfel kletterten, aber auch die waren bald von Wassermassen umspült.

Ein einziger Berg im Lande Phokis trotzte den Fluten. Er hieß Parnassos.

Es gab einen Sohn des Prometheus, Deukalion, dem hatte sein Vater die Kunst beigebracht, Schiffe zu bauen. Mit einem selbst gezimmerten Schiff gelang es ihm und seiner Frau Pyrrha, sich zu diesem Berg zu retten.

Deukalion und seine Frau galten als die rechtschaffensten und untadeligsten Menschen überhaupt.

Als Zeus nun vom Himmel herabschaute und sah, dass gerade dieses Paar die Sintflut überlebt hatte, da begriff er, dass das allmächtige Schicksal es so gewollt hatte. Er bat Poseidon, die Wasser zu besänftigen, sperrte den Südwind ein und ließ den Nordwind die Erde trocknen. Das Land tauchte wieder aus Schlamm, Dunst und Nebel auf.

Deukalion blickte vom Parnassos über die verwüstete Erde und sagte zu seiner Frau: »Ich glaube, wir sind das letzte Menschenpaar auf der Welt. Ach, hätte mein Vater mich doch gelehrt, Menschen aus Lehm zu erschaffen und ihnen Leben einzuhauchen, wie er selbst es konnte! Aber er ist weit fort und gefesselt. Wir müssen versuchen, Zeus gnädig zu stimmen, etwas anderes bleibt uns nicht übrig.«

Und sie stiegen hinab und warfen sich beide vor einem halb zerstörten Altar des Zeus nieder. »Vater des Alls«, baten sie, »hab Erbarmen! Hilf uns, die versunkene Welt wieder zum Leben zu erwecken! Wie können wir die Erde wieder bevölkern?«

Zeus und die anderen Götter fanden es inzwischen langweilig ohne das Menschengeschlecht. Seine Verehrung und seine Opfergaben fehlten ihnen, und es fehlte ihnen, sich in ihr Leben einzumischen und ein bisschen mit ihnen zu spielen. Der Göttervater vermisste inzwischen auch seine Abenteuer mit sterblichen Frauen. Also hatten die Olympier nichts dagegen, die Menschheit neu zu beleben.

Allerdings war Zeus nicht bereit, auf direktem Weg Rat und Hilfe zu geben. Er verpackte seinen Rat in ein Rätsel und wartete gespannt, ob das Paar es lösen konnte. Unter Donner und Blitz ließ er sich vernehmen: »Verschleiert euer Haupt und werft die Gebeine eurer Mutter hinter euch!«

Verwirrt verließ das Paar den Altar, vor dem es gebetet hatte.

Pyrrha schüttelte den Kopf und sagte: »Wie könnte ich so einen Frevel begehen und mit den Gebeinen meiner Mutter herumwerfen?«

Der kluge Deukalion allerdings überlegte hin und her und suchte nach einem verborgenen Sinn in dem Götterspruch.

»Ich glaube nicht, dass uns die Götter zu einer Übeltat auffordern wollen. Ich hoffe, mein Scharfsinn trügt mich nicht: Ich denke, mit unserer Mutter ist die Erde gemeint, und ihre Gebeine sind die Steine, und die sollen wir hinter uns werfen!«

Also taten sie, wie ihnen geheißen worden war, bedeckten ihre Häupter und begannen dann, Steine hinter sich zu werfen.

Deukalion behielt recht. Aus den Steinen, die er warf, wurden Männer, und aus denen, die Pyrrha warf, Frauen, und so bevölkerte sich die Erde langsam wieder.

Aber den Ursprung aus der Erde und dem Gestein kann das Menschengeschlecht seitdem nicht verleugnen. Es ist hart im Nehmen, imstande, viel Mühsal auszuhalten, und wird für alle Zeiten dem Boden verhaftet bleiben, in den es nach dem Tode zurückkehrt.

VON GÖTTERN UND MENSCHEN

Wem die Götter zürnen

Nicht nur Prometheus musste lange Qualen erdulden. Unzählige Geschichten erzählen davon, wie grausam und unerbittlich die Olympier sich rächen, wenn sie von Sterblichen beleidigt werden.

Einerseits ist ihre Neugier auf die Menschen groß und immer wieder mischen sie sich in ihre Angelegenheiten ein. Aber sobald die Sterblichen, durch ihren Umgang mit Zeus und seinem Gefolge verwöhnt, selbst wie Götter sein möchten, trifft sie deren unerbittliche Rache.

Einige der vielen Geschichten sollen hier erzählt werden.

Tantalos

Von Tantalos heißt es, dass er ein Sohn des Zeus und einer Sterblichen war, also eigentlich ein Halbgott. Er herrschte in Lydien als König und war berühmt wegen seines Reichtums, seiner Freigebigkeit und seiner Klugheit.

Zeus war sehr stolz auf diesen Sohn. Er erlaubte ihm nicht nur, bei den Gastmählern der Götter auf dem Olympos dabei zu sein, sondern er gestattete Tantalos sogar, an ihren Beratungen teilzunehmen und ihre Beschlüsse über das Schicksal der Welt zu erfahren.

Aber Tantalos konnte mit dem Vertrauen der Götter nicht umgehen. Bald fing er an auszuprobieren, was er sich alles erlauben konnte.

Er verriet den Menschen die Geheimnisse des Olympos. Einerseits konnten sie sich so vor Schäden wie Flutwellen oder Dürren im Voraus schützen. Aber er plauderte auch aus, wie sich die Götter untereinander aufführten (nämlich genauso zänkisch, rechthaberisch und eitel wie die Menschen), sodass man mit der Zeit den Respekt vor den höheren Wesen verlor.

Tantalos stahl auch Nektar und Ambrosia, Trank und Speise der Götter, und brachte sie mit auf die Erde. Wahrscheinlich kam er sich wie ein zweiter Prometheus vor, obwohl ihn das Schicksal des großen Titanen eigentlich hätte warnen müssen.

Einmal versteckte Tantalos einen von Hephaistos geschmiedeten goldenen Hund, der aus dem Zeustempel in Kreta gestohlen worden war. Tantalos hatte ihn von dem Dieb selbst erhalten, bestritt das jedoch mit einem Eid vor den Göttern.

All das hatte er ungestraft getan. Immer war ihm von Zeus Verzeihung gewährt worden. Doch diese Nachgiebigkeit brachte Tantalos dazu, die Götter zu verachten. Sie waren launisch und handelten oft töricht, von ihren Gefühlen getrieben. Waren sie überhaupt allwissend? Das wollte er herausbekommen und sann sich dazu einen Plan aus, der davon zeugte, dass der ständige Umgang mit den Unsterblichen seinen Sinn für Gut und Böse ausgeschaltet hatte und dass er nicht mehr ganz bei Sinnen war.

Er ließ nämlich seinen eigenen Sohn Pelops schlachten und setzte ihn zerstückelt bei einem Festessen den Göttern vor. Wenn sie es merken, so überlegte er, werden sie ihn retten und wieder zum Leben erwecken. Und wenn sie es nicht merken, werde ich es ihnen sagen und über sie lachen. Und dann müssen sie ihn auch wieder lebendig machen.

Sie merkten es sofort. Und nun war es vorbei mit ihrer Duldsamkeit. Sie ließen sich nicht zum Gespött machen. Natürlich belebten sie den Knaben wieder, indem sie die Stücke in einen Kessel warfen und ihn dank ihrer Zauberkraft heil wieder herausholten. Aber Tantalos wurde in die Unterwelt gestoßen und die erfinderischen Götter hatten sich für ihn eine immerwährende Qual ausgedacht.

Er stand bis zum Hals in einem Teich. Aber niemals gelang es ihm, mit den Lippen den Wasserspiegel zu erreichen und seinen brennenden Durst zu löschen. Sobald er sich herunterbeugte, wich das Wasser zurück, immer eine Handbreit vor seinem ausgedörrten Mund.

Er litt auch entsetzlichen Hunger. Rings um den Teich wuchsen üppige Obstbäume und ließen ihre Zweige dicht über seinem Haupt herabhängen. Da gab es Äpfel und Birnen, grünlich schimmernde Feigen, dunkel glühende Granatäpfel, aber immer wenn er mit der Hand hinauflangte, entschwanden die Zweige in unerreichbare Höhen.

Zu alledem hing über ihm an der Felswand ein loser Gesteinsbrocken, der jeden Augenblick herunterfallen und ihn zerschmettern konnte.

So wurde dem Tantalos eine dreifache Qual beschieden für alle Ewigkeit: Durst, Hunger und Todesangst.

Niobe

Sie war eine Tochter des Tantalos, und eigentlich hätte man annehmen müssen, dass ihr das Schicksal ihres Vaters eine Lehre war, sich nicht übermütig gegen die Götter aufzuführen.

Niobe war eine glückliche Frau und eine glückliche Königin. Sie kam aus Lydien, war mit König Amphion von Theben verheiratet und von den Göttern gesegnet, denn sie hatte vierzehn wunderschöne Kinder, sieben Jungen und sieben Mädchen.

Eines Tages hatten sich die Frauen von Theben versammelt, um der Leto zu huldigen, der Mutter des Apollon und der Artemis. Sie versammelten sich um den Altar der Göttin, das Haar mit Lorbeer bekränzt, und brachten Gebete und Weihrauchopfer dar.

Da trat Niobe zu ihnen. Sie erschien inmitten ihres Gefolges, gekleidet in ein golddurchwirktes Gewand, ein Diadem auf dem Haupte, und unterbrach die Opferzeremonie, indem sie voller Hochmut sagte: »Was ihr da tut, ist Wahnsinn! Warum huldigt ihr einer Gottheit, die einst als Bettlerin von Ort zu Ort geirrt ist, weil keine Insel und kein Hain sie aufnehmen wollten, und die schließlich auf Delos gerade einmal zwei Kinder in die Welt gesetzt hat?! Seht mich an! Verdiene ich eure Verehrung nicht viel eher als Leto? Mein Großvater ist Zeus, also stamme auch ich von Göttern ab, mein Vater hat als einziger Sterblicher an der Tafel der Olympier gesessen, und in meinem Palast habe ich unendliche Schätze. Vor allem aber sind meine vierzehn Kinder mein ganzer Stolz – wie könnte sich da Leto mit mir messen? Nehmt die Lorbeerkränze vom Kopf und verschwendet keinen Weihrauch weiter an diese armselige Frau!«

Still und betreten beendeten die Thebanerinnen die Zeremonie und gingen nach Haus, wo sie im Stillen die Göttermutter um Vergebung baten.

Leto aber sah voll Zorn und Entsetzen, wie ihr die Anbetung verweigert wurde. Sie eilte zu ihren Zwillingen auf den Berg Kynthos auf Delos und klagte: »Eure Mutter, die keiner Göttin weicht außer Hera, wird in Theben von einer Sterblichen beschimpft und herabgesetzt, und ihr beide, die ihr mein Stolz und mein Ruhm seid, werdet verlacht, weil sie eine größere Kinderschar hat als ich!«

Apollon und Artemis verloren keine Worte. Sie tauschten nur einen Blick, und schon schulterten sie ihre unfehlbaren Bögen, hüllten sich in eine dichte Wolke und schwebten herab nach Theben, den Schimpf ihrer Mutter zu rächen.

Vor den Toren der Stadt befand sich ein großes Feld, auf dem die Jugend sich in Wettkämpfen und Spielen vergnügte. Dort waren die sieben Söhne der Niobe gerade dabei, ihre Kräfte zu messen. Einige tummelten sich auf ihren Pferden, andere wieder übten sich im Ringkampf.

Plötzlich war ein seltsames Sirren von irgendwoher zu vernehmen – und schon stürzte der erste von Niobes Söhnen seitwärts vom Pferd: Der Pfeil des göttlichen Schützen Apollon hatte ihn getroffen. Sein Bruder, der ebenfalls beritten war, hatte das Rasseln des Köchers in der Luft gehört. Er ahnte Unheil und versuchte, in gestrecktem Galopp zu entkommen. Vergeblich. Auch ihn durchbohrte der Pfeil und er besprengte die Erde mit seinem Blut.

Zwei andere waren gerade beim Ringen. Brust an Brust, die Arme miteinander verschlungen, versuchten sie, einer den anderen vom Kampfplatz zu drängen. Wieder sirrte der schreckliche Bogen und der Pfeil durchdrang sie beide zugleich.

Auch die nächsten zwei tötete der erzürnte Gott.

Der Jüngste, ein Knabe mit langen Locken, der das alles mit angesehen hatte, sank in die Knie und breitete die Arme aus: »All ihr Götter, wer ihr auch sein mögt, verschont mich!«, rief er mit heller kindlicher Stimme.