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as Buch ist eine ebenso skurrile wie zarte Geschichte von einem, der auszog, die Welt zu retten und sich dabei fast selbst verlor. Die hässlichste Frau der Welt kann sich vor Verehrern kaum retten. Sie ist eben eine Sensation! Und so kommt es, dass ihr Sohn gleich zwei Väter hat: Einen stolzen Adler und jenen schönen Müllmann, der eigentlich von der Frau gar nichts wissen will und ihr eben den Gefallen tut… Als das wundersame Kind dann aber geboren wird – was ihre Mutter in einen tiefen Schlaf versenkt – streiten sich die beiden absonderlichen Erzeuger um die Vaterschaft. Denn dieser Sohn ist zu Höherem bestimmt, wie es scheint. Er hat nichts mehr und nichts weniger vor, als die Welt von allem Übel zu erlösen. Allerdings verliert er darüber seine Mutter aus den Augen – und so etwas tut nie gut. Der Sohn eilt von Abenteuer zu Abenteuer, und überall, wo er auf Unrecht und Verdrehtheiten stößt, schafft er Ordnung. Jedenfalls meint er das, während er weitereilt, getrieben von Neugier und dem Drang nach Gerechtigkeit. Aber nur etwas zu "stiften" und dann fortzurennen, das reicht nicht aus, wie sich herausstellt. An welchen Ort seiner Taten er auch zurückkommt, immer muss er feststellen, dass sich die Dinge inzwischen zum Schlechten entwickelt haben. Und er kann weder verhindern, dass seine Mutter stirbt und seine Liebe, das kieselsteinerne Fräulein, in seinen Armen ganz und gar erstarrt. Alles scheint aus zu sein für ihn. Aber zum Glück erwachsen ihm mächtige Helfer. All die Schwachen und Betrübten, denen er einst so unvollkommen geholfen hat, verbünden sich für ihn, und gemeinsam sind sie stark. Und da sich außerdem noch seine beiden ungleichen Väter aussöhnen, um ihrem Sohn beizustehen, kann ja die Welt vielleicht doch noch gerettet werden. Wenn man sich auch zunächst eine blutige Nase geholt hat. Aber schließlich wird man aus Erfahrung klug… Die absonderlichen Abenteuer des Sohns, die ihn mit vielen unglaublichen Geschöpfen zusammenführen und in denen die Welt gleichsam durch ein leicht verzerrendes Brennglas betrachtet wird, sollen erstaunen, vergnügen und den Leser dazu anregen, das "Schiefe" in diesen Geschichten in ihrem eigenen Kopf gerade zu rücken. Denn eigentlich kann immer nur der verfremdete Blick uns helfen, den Reiz der Wirklichkeit zu genießen. Nur die Fantasie öffnet den Blick.
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Seitenzahl: 184
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Waldtraut Lewin
Der Sohn des Adlers, des Müllmanns und der hässlichsten Frau der Welt Ein Märchen vom Eis und vom Feuer
ISBN 978-3-86394-314-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1981 bei Verlag Neues Leben, Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Andrea Grosz
© 2012 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Bevor seine Mutter ihn empfing, war sie die hässlichste Frau, die man sich denken kann. Sie war so hässlich, dass sich die Leute auf der Straße bis zu den Knien bogen vor Staunen über ihre Hässlichkeit. Sie hatte eine Haut wie ein Nilpferd, Zähne wie ein Waldeber, Haare, die wie Schilfhalme aussahen, und ihre Augen tränten, und an ihren Händen wuchsen graue Krallen. Aber ihr Herz war wie ein süßer Mandelkern in ihr.
Der Ruhm ihrer Hässlichkeit und ihres süßen Herzens ging in großen Wellen von ihr aus und lockte viele Männer an, denn ein so hässliches Weib zu besitzen ist eine große Ehre. Allen, die um sie warben, blieb bei ihrem Anblick fast das Herz stehen vor Beklommenheit und Entsetzen, aber dies Entsetzen wandelte sich alsbald in eine wilde Entschlossenheit, sie zu haben, und es war, als verfüge sie im Winkel ihrer grauen verschwimmenden Augen über mehr Bannkraft als ein großer Magnet, der so stark ist, dass er das Eisen aus den Schiffen zieht, und sie gehen unter.
Da sie keinen der Freier erhörte, aber auch keinen abwies, zog der Schwarm von Liebhabern ständig hinter ihr her wie ein Königsgefolge. Der eine schleppte ihre abgetragene Handtasche, der zweite ihren Sonnenschirm aus roter verschlissener Seide, der dritte ihren Regenschirm aus schwarzer Baumwolle, der vierte eine Standuhr, damit sie stets wisse, welche Stunde geschlagen habe, der fünfte zwei Zimmerlinden in Töpfen aus Majolika, falls sie im Grünen ausruhen wollte.
Der sechste bat sie flehentlich, ein Schleppkleid anzuziehn, damit er ihr die Schleppe tragen dürfe, aber trotz ihrer Güte ließ sie sich nicht dazu bewegen, etwas so Unmodernes wie ein Schleppkleid anzulegen. So musste dieser Freier nutzlos hinter ihr herlaufen und weinte oft, weil er ihr nicht dienen konnte.
Eines Tages im Februar stieg das Thermometer auf golden, ein Taubenpärchen hackte gegen die Fensterscheibe, und die Krokusse im Rasen sprangen mit jenem Geräusch auf, das von Küssen herrührte.
Sie verspürte den heftigen Wunsch, auf der Straße vor einem Café zu sitzen und einen Eisbecher mit Rosenblättern und Pfefferminz zu essen und lief so schnell los, dass ihr fast die Absätze von den Schuhen flogen und die Freier kaum zu folgen vermochten.
Als sie mit ihren sechs Verehrern schließlich in der Sonne saß, standen die Leute im Halbkreis, um sie zu sehen. Touristen machten Fotos von ihr, um sie zu Hause ihren staunenden Kindern zu zeigen, und zwei Naturforscher stritten sich, ob ihre Haare wirklich welke Schilfhalme seien oder nur so wirkten. Mehrmals musste der sechste Freier, glücklich darüber, etwas tun zu können, die Menge bitten, so viel Platz zu lassen, dass die Sonne durchkomme.
Sie rührte in ihrem Eisbecher mit Rosenblättern und Pfefferminz und hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Die Standuhr schlug Mittag und einen Schlag darüber hinaus. Ein großer Schatten fiel auf ihre Hand.
Aufblickend, gewahrte sie einen riesigen Adler mit dunkelbraunem Gefieder, dessen gebogener Schnabel auf sie gerichtet zu sein schien. Ihr Herz klopfte stürmisch. Die Krallen des Vogels waren ihren Fingernägeln verwandt, und die gefühllosen Adleraugen glänzten.
Sie brach überstürzt auf und zahlte mit einer Muschel. Der Adler gab ihr ein Stück das Geleit, man hörte das gewaltige Rauschen seiner Schwingen noch drei Straßenzüge weiter, so dass der Magistrat annahm, der Staudamm sei gebrochen, und Vorkehrungen zur Rettung der Stadt traf.
Unterwegs, in der quirlenden Menge, die sie umgab, traf sie das Orangerot des Müllwagens wie eine Botschaft. Der Müllfahrer trug eine Mütze aus vielerlei Fellen, aber hauptsächlich vom Kaninchen. Die Haut seiner Hände und seines Angesichts war gelb vor Asche, aber als er die Hand hob, sich den Schweiß abzuwischen, entblößte er einen gemeißelten Arm mit Adersträngen. Seine unförmigen Handschuhe hingen ihm müßig an der Hüfte.
Die hässlichste Frau der Welt trat auf ihn zu, und während ihr süßes Herz zu leuchten begann, sagte sie: "Ich glaube, ich liebe dich."
Weil der Müllwagen lärmte wie ein Wachhund, musste sie ihre Worte wiederholen.
Der Müllfahrer besah sie von oben nach unten, darauf von unten nach oben, brach in Gelächter aus und wandte sich ab.
Die hässlichste Frau der Welt begann zu weinen. Ihre Tränen flossen wie der Regen, und alle Freier zogen ihre gestickten Taschentücher, sie zu trocknen, aber so ein Tuch war im Nu nass. Nur der sechste Freier hatte zwei Reservetücher, weil er selbst so oft weinen musste.
So zogen sie dem Müllwagen hinterher von Straße zu Straße, erst der Müllmann, dann die hässlichste Frau der Welt und ihre Verehrer, zuletzt die Schaulustigen.
Als das achte Taschentuch vollgeweint war, trat die hässlichste Frau wiederum auf den Müllfahrer zu und wiederholte ihre Worte.
Darauf sagte er: "Olles Monster" und andere Worte und spuckte aus.
Sie fiel in Ohnmacht.
Die Freier trugen sie nach Haus, wobei der, welcher sonst leer ausging, ihren Kopf mit den Schilfhaaren halten durfte und sehr glücklich war.
In ihrem Bett öffnete sie die Augen, die vom Weinen wie Mooskissen waren, blickte einmal in die Runde und versank in einer neuerlichen Ohnmacht.
Drei Ärzte wurden zu ihr gerufen, die sich ebenfalls stracks in ihre Nilpferdhaut und den trüben Schimmer ihres Schilfhaares verliebten. Sie kamen, wenn auch widerstrebend, zu der Erkenntnis, dass nur die Liebe des Müllmanns ihre Krankheit heilen könne, andernfalls müsse sie sterben.
Die sechs Freier steckten die Köpfe zusammen, dass es aussah, als sei es ein Kopf. Dann ergriffen sie ihre Hüte und sagten mit tonloser Stimme, dass sie bereit seien, der hässlichsten Frau die Liebe des Müllmanns zu verschaffen, denn ehe sie stürbe, wollten sie verzichten.
Die Ärzte nickten, zogen ihre Uhren, die an Ketten über den Bäuchen hingen, fühlten der Kranken den Puls und fuhren dann mit Blaulicht davon, um sofort das Telefon abzustellen, sich auf ihre Couch zu legen, eine Schlaftablette zu nehmen und von der hässlichsten Frau der Welt zu träumen.
Die Freier indes luden den Müllmann zum Bier ein. Nach dem fünften Bier fand er die hässlichste Frau auch nicht schlimmer als manche andere, nach dem zehnten hatte er eingesehen, dass es eine große Ehre sei, von ihr geliebt zu werden, und nach dem fünfzehnten erklärte er sich unter gewissen Bedingungen bereit, sich mit ihr auf ein Laken zu legen. Dies ließen sich die Freier schriftlich geben und zogen triumphierend ab.
Auf die Nachricht hin seufzte die hässlichste Frau der Welt tief auf und erhob sich von ihrem Bett. Noch während sie die Füße baumeln ließ, verlangte sie nach einem Butterbrot und einem gekochten Ei.
Die Freier gingen von ihr, halb erleichtert, halb betrübt, so dass sie mit einem Bein im Rinnstein und mit dem anderen auf dem Trottoir dahinhumpelten.
Die Nacht brach mit Schneefällen herein. Als die hässlichste Frau das Fenster öffnete, landete der große dunkelbraune Adler direkt auf dem Sims, wetzte den Schnabel am Holz und sah sie mit seinen gefühllosen Augen an. Dann begann er in ihr zu sprechen: "Ich, Beherrscher der Vögel und König der Luft, habe dich erkoren. Wenn du mir deine Zustimmung gibst, entführe ich dich augenblicklich auf meinen Horst, der liegt hundert Meilen weit über den Wolken. Dort ist es sehr kalt von der Höhe und sehr heiß von der Sonnennähe, und die Luft da ist rein wie der Schnee. Wenn sich die Wolken verziehen, was sie dreimal im Jahr tun, kannst du die ganze Welt überblicken und wirst dich wundern, wie klein sie von dort oben erscheint. Außerdem schenke ich dir Zaubermächte und langes Leben."
"Ach", entgegnete sie, "das ist ja recht schön, aber ich liebe den Müllmann."
"Das werden wir schon noch sehen, wen du liebst", sagte der Adler. "Dreimal werde ich von dir gehen, wenn du mich wegschickst, aber nach dem dritten Mal komme ich nicht wieder."
"So schicke ich dich jetzt das erste Mal weg", sagte sie.
Der Adler breitete seine Schwingen, auf denen der Schnee lastete wie Mehl auf einem Brot, brachte die Bäume des Gartens zum Rauschen und Beugen und flog ohne ein weiteres Wort davon.
Die hässlichste Frau schloss das Fenster und ging zu Bett.
Am nächsten Morgen erinnerte sich der Müllmann jedoch an nichts und schwor bei der Hydraulik seines Wagens, niemandem etwas versprochen zu haben. Die Freier rangen die Hände, die hässlichste Frau fiel erneut in Ohnmacht, und der wortbrüchige Abfallkutscher begab sich pfeifend an seine Arbeit.
Es währte aber kaum drei Stunden, da schickte er ein Telegramm auf rosa Papier, bei dessen Anblick sich die hässlichste Frau sogleich erholte, denn ihr süßes Mandelkernherz wusste, was darin stand, noch ehe sie es erbrochen hatte.
Tatsächlich war der Müllmann zu neuen Verhandlungen bereit. In der Kneipe erzählte er den Freiern nach dem fünften Bier, dass die Hydraulik seines Wagens aus rätselhaften Gründen versagt habe, so dass alle Mülltonnen der Stadt unentleert am Wegrand stehen blieben und ihr Inhalt überquoll wie Baumwolle aus einer gesprungenen Schote. Nach dem zehnten Bier gestand er im Flüsterton, ein großes Biest von Vogel habe ihn umkreist und mit dem Luftzug seiner Flügelschläge den Unrat aufgewühlt, auch habe er Angst gehabt, das Tier wolle nach ihm hacken. Nach dem fünfzehnten Bier gab er einem schnell hinzugezogenen Notar zu Protokoll, die hässlichste Frau der Welt vor dem nächsten Neumond auf seiner Müllkippe empfangen zu wollen, aber nur in Anwesenheit der Freier und nur ein einziges Mal.
Gemeinsam mit den Freiern zog er vor das Haus der Frau und pfiff auf den Fingern, und auf diesen Pfiff hin erschien sie sogleich am Fenster, als habe man sie an einer Schnur gezogen.
Der Müllmann besah sie eine Weile schweigend, dann sagte er: "Ich habe zwar fünfzehn Biere getrunken, aber so viel sehe ich doch noch, dass das eine ungewöhnlich hässliche Krücke ist."
"Sie ist die hässlichste Frau der Welt!", riefen die Freier, und der Müllmann erwiderte: "Na gut, von mir aus. Wollen's hinter uns bringen. Ich erwarte sie morgen zwischen Sonnenuntergang und Mondaufgang auf der Müllkippe, dort zwischen den Autowracks und den Knochen."
Nun begannen die Verehrer eifrig im Hundertjährigen Kalender zu studieren, wann wohl Sonnenuntergang und Mondaufgang sein würden. Sie legten die Zeit genau fest und beauftragten den Küster der städtischen Kirche, zu diesem Zeitpunkt, damit man wisse, woran man sei, die Glocken zu läuten, und zwar fünf Minuten vorher, dabei und fünf Minuten hinterher. Bei einem Astrologen erkundigten sie sich nach den Konstellationen der Stunde, aber dieser erkannte nur Gewölk und unordentliche Planetenflirts, unmögliche Ereignisse am Himmel, und gab kopfschüttelnd auf.
Der sechste Freier aber, der sie ja besonders liebte, ging auf einen Markt und kaufte einen Teppich aus Seide und Wolle, doppelt gewirkt, mit mancherlei Blumen und Tieren, und sechs Laternen von Horn und ein Duftwasser aus Reicharabien.
Die hässlichste Frau der Welt indes saß den ganzen Tag und legte die Hände in den Schoß, betrachtete die Krallen an ihren schuppigen Fingern und vergoss ein paar Tränen.
Als sie aus dem Haus trat, um zur Müllhalde zu gehen, begann ein sanfter Regen. Die Freier standen aufgereiht vorm Haus und weinten. In den Händen trugen sie die bereits entzündeten Laternen. "O weh", sagte sie, "jetzt habt ihr nur Laternen und keinen meiner Schirme." Aber da erbebte die Luft, und der Adler kreiste über ihr, und mit seinen mächtigen Schwingen fing er die Regentropfen auf.
Sowie sie die letzten Häuser der Stadt hinter sich hatten, war der Himmel so grau, dass man weder Sonne noch Mond erkennen konnte, und es regnete stärker. "Nun haben wir die Standuhr vergessen", sagte sie, "und wissen nicht, ob wir pünktlich sein werden." Da begannen die Glocken zu läuten.
Als sie die Müllhalde betraten, sagte sie: "Was für ein trübseliger und vergessener Ort ist das doch! Ach, hätten wir meine Zimmerlinden, so könnte ich im Grünen sein!" Da breitete der sechste Freier den Teppich aus, versprengte das Duftwasser, das sogleich den Kampf aufnahm mit den stinkenden Wolken der Müllkippe, und lud sie kniend ein, Platz zu nehmen.
Kaum waren sie mit all diesen Vorbereitungen fertig, da erschien der Müllmann und roch nach Schnaps. Er nahm seine Kaninchenfellmütze ab und enthüllte sein lockiges Haar, auf dem keinerlei Staub haftete, und als er die hässlichste Frau der Welt so sitzen sah, inmitten von Düften, auf einem Teppich aus Seide und Wolle, doppelt gewirkt, flankiert von den sechs Freiern und den sechs Laternen und den Taschentüchern, und zu ihren Häupten der Adler, brach er in Gelächter aus. Gleichzeitig aber stieg eine Wärme, die auch eine Kälte sein konnte, aus der Mitte seines Leibes auf bis in die Wurzeln seines Lockenhaares, seine Fingerspitzen wurden elektrisch und sprühten Funken, seine Zähne schmerzten, und er sagte: "Verdammt, was ist denn nun los?" Und wie von einem Strudel erfasst, wurde er zu der hässlichsten Frau der Welt hingezogen, das machte ihr süßes Herz. Und er legte sich zu ihr auf den Teppich, während die Freier die Laternen hielten und abgewandten Gesichts weinten und der Adler unbeweglich über ihnen schwebte. Währenddessen läuteten die Glocken.
Als die Glocken zum dritten Mal läuteten, sagte der Müllmann: "Nun muss ich fortgehen und den Müll in einer anderen Stadt fahren, denn ich kann hier nicht mehr sein. Ich würde immer den Teppich hier sehen und die Düfte riechen und diesen gottverfluchten Vogel über mir spüren, und ich könnte sie nie vergessen, die hässlichste Frau der Welt. Ich will sie aber vergessen." Er bedeckte sich mit der Mütze aus Kaninchenfell und lief davon, ohne zu grüßen.
Die Freier öffneten die Kappen der Laternen, und Regen und Tränen löschten die Flammen darinnen aus. Darauf nahmen auch sie Abschied von der hässlichsten Frau, der sie nur hatten dienen dürfen, aber nicht sie lieben. Und sie zogen ein jeder in seine Heimat und blieben Junggesellen bis an ihr Lebensende, gingen nur in schwarzen Anzügen aus und entzündeten einmal im Jahr, am Tag des Müllmanns, eine Laterne zum Angedenken an ihre selbstlose Hingabe.
Der Adler aber geleitete die Frau nach Haus. Nur der Teppich und die Düfte blieben zurück, bis neuer Müll darüber geschüttet wurde.
Als die hässlichste Frau der Welt ihr Haus betreten wollte, zögerte sie, wandte sich halb über die Schulter zurück und fragte den Adler: "Was willst du noch?"
Der Adler sagte: "Du bist schwanger, und dein Kind ist von mir."
Sie erwiderte: "Ich bin schwanger, wenn du meinst, und das Kind ist von dem Müllmann."
"Gleichviel", entgegnete der Adler, "abgesehen davon, dass du es nicht verstehst. Du bist schwanger und meine erwählte Braut. Komm mit mir über die Wolken, damit ich dich hüte."
Sie sah ihn an und sprach: "Du bist ein wundervoller Vogel, aber ich schicke dich fort."
"Nun komme ich noch einmal, dann nie wieder." Und er streckte den Hals vor, rüttelte seine Flügel, dass der Regen von ihnen floss wie von den Felsenklippen des Wasserfalls im Stadtpark, und stieg glänzend auf in die Nacht.
"Nun bin ich allein", sagte die hässlichste Frau der Welt zu sich selber. Sie zog sich die Kleider vom Leibe und legte sich nackt zu Bett, frierend und müde.
Als sie in der Nacht erwachte, fühlte sie, wie die Haut ihres Bauches, sonst grau und rissig, sich plötzlich samtweich und glatt anfühlte. Mit einem Lachen schlief sie wieder ein.
Im ersten Monat ihrer Schwangerschaft wurde ihr Bauch so schön wie ein Gefäß aus Elfenbein, das einem warm und kühl zugleich in der Hand liegt. Ihr Nabel duftete wie eine Honigwabe, und die sanften Adern dicht unter der Haut pulsierten wie kleine Flüsse. Oft meinte sie, ein geheimes Leuchten unter ihrem Rock wahrzunehmen, als wenn eine Lampe im Innern eines Berges brennt.
Sie wusch sich mit klarem Wasser, trank Tee von Zitronenblüten und aß Zuckerbrot mit Kardamom und das Fleisch zarter Meerestiere. Die Tage wurden länger, und es regnete weiterhin viel.
Im dritten Monat hatte sich die Glätte der Haut auf ihren ganzen Körper ausgebreitet, gleich einem wuchernden Moosteppich. Sie konnte zusehen, wie die Krallen ihrer Fingernägel herauswuchsen. Nachdem sie sie abgeschnitten hatte, war der Nagel so rosig und schön gewölbt wie ein Blumenblatt.
Ihre Haare begannen sich beim Kämmen um den Kamm zu ringeln wie dunkle Schlänglein und umgaben ihren Kopf wie ein Nest.
Am Tage, als sich das Kind zum ersten Mal in ihrem Leib regte und sanft mit den Zehen des linken Fußes gegen ihr Zwerchfell stieß, so dass sie herzlich lachen musste, hörten ihre Augen für immer auf zu tränen und nahmen die Farbe von Seewasser an und die Form von Venusmuscheln.
Nach alldem wunderte es sie nicht, als sie eines Morgens erwachte und die Eberzähne aus ihrem Gesicht verschwunden waren. Vorm Spiegel fand sie sich als die vollendete Lieblichkeit, schnürte ihre Kleider mit Bändern zurück, den schönen Bauch der Welt zu zeigen, und ging viel aus.
Kein Menschenschwarm begleitete sie mehr. Höchstens von Zeit zu Zeit sagte ein Einheimischer zu einem Fremden: "Sieh einmal, das war einst die hässlichste Frau der Welt, eine der größten Attraktionen dieser Stadt. Nun ist sie eine hübsche Person wie alle anderen, und schwanger dazu. Schade."
Aber das rührte sie nicht. Nachts spürte sie manchmal, wie ein weicher Sog ihr Herz aus Mandelkern in den Leib zu ziehen schien. Sie wusste dann, dass ihr Kind von ihr zehrte, und ertrug lächelnd den seltsamen Schmerz.
Einmal, während sie leise vor sich hin sang, antwortete ihr in ihrem Innern ein feines Stimmchen, nicht lauter als das Zirpen einer Grille. Sie glaubte sich verhört zu haben, lauschte und sang noch einmal. Wieder kam die Antwort, und das Stimmchen wiederholte die Melodie so rein, als täte es dergleichen seit der Zeit, in der die Dämmerung noch jung war. Später, im achten Monat der Schwangerschaft, sang es oft allein wundersame Weisen vor sich hin, die es aus dem Urquell des Lebens mitgebracht hatte, und die ehemals hässlichste Frau der Welt dachte dann, dass so vielleicht die Harmonie der Sterne klinge und hörte zu, ohne zu atmen.
Im neunten Monat zeigten sich keinerlei Anzeichen einer bevorstehenden Geburt, und die Ärzte schoben die Brillen auf die Stirn und blätterten in ihren dicken, in blaue Pappe eingebundenen Büchern. Der Leib der schönen Hässlichen wölbte sich wie ein Berg in der Landschaft, sie konnte unter ihrer Last kaum mehr laufen, und ihr Herz schwand dahin.
Die Zeit verging. Bei Anbruch des neuen Jahres zuckten die Ärzte die Schultern und wandten sich bekannteren Dingen wie Milzbrand, Pest und Ohrenkrebs zu. Reichliche Schneefälle überschütteten die Straßen, und das Kind der Frau wuchs und sang in den Nächten. Sie konnte inzwischen ihr Haus nicht mehr verlassen, weil sie nicht durch die Tür passte, aber manche, die sie am Fenster erblickten, meinten, sie sei überirdisch schön und auf bestem Wege, auf andere Art berühmt zu werden.
Als ein Jahr herum war, seit sie den Müllmann das erste Mal gesehen hatte, kamen die weisen Frauen zu ihr, ohne dass man sie geladen hätte. Sie befühlten ihren Bauch, streichelten ihn von Nord nach Süd und von Süd nach Nord, legten das Ohr daran und hielten Eisenpendel an Goldketten oder Ringe an roten Bändern darüber, aber auch sie wussten keinen Rat, soviel sie auch die grauen Köpfe zusammensteckten und ratschlagten.
Bald konnte sie auch ihr Zimmer nicht mehr verlassen und lag da auf einem Berg von Flocken, Watte und Fellkissen, und die Bürger der Stadt umsorgten sie und brachten ihr Essen und Trinken. Es schien ihr, als würde der ständig wachsende Bauch sie erdrücken, und wenn sie den Schlägen ihres Herzens lauschte, hörte sie die kaum noch, denn es war schon ganz aufgezehrt und nur noch so dünn wie eine Fischblase. Trotzdem lachte sie oft und sang in den Nächten Duett mit ihrem Kind, die zweite Stimme zu den Weisen, die es ertönen ließ.
Eines Nachts im fünfzehnten Monat ihrer Schwangerschaft, rauschte es am Fenster, und ohne hinzublicken, wusste sie, dass der Adler auf dem Sims saß.
"Ich bin froh, dich zu sehen", begrüßte sie ihn, und er, seine gefühllosen Augen fest auf sie gerichtet, erwiderte: "Glaubst du nun, dass es mein Sohn ist?"
"Ach", sagte sie und presste die Hände auf ihre Brüste, "ich weiß gar nichts. Ich weiß nur, dass ich Schmerzen verspüre."
"Von nun an", sagte der Adler, "wirst du sieben Wochen in den Wehen liegen, und niemand kann dir helfen als ich allein. Denn ich bin gekommen, mein Kind zu holen zu dem Horst hoch über den Wolken."
"Was aber", sagte sie, "wenn ich nicht bereit bin, es dir zu geben?"
"Dann werde ich dich ohne Hilfe lassen", sprach der Adler und erhob sich so hoch, dass seine scharfen Augen das Fenster gerade noch erkennen konnten.
Die Frau aber begann sich in Schmerzen zu krümmen. Sieben Wochen lang schrie sie, dass sie in der Stadt alle Fensterritzen und Türspalten mit Werg zustopften und sich Wachs in die Ohren gossen, und sieben Wochen kreiste der Adler über dem Haus. Dann ließ er sich im Fenster nieder und fragte: "Soll ich dir nun helfen, und du gibst mir das Kind?" Und sie erwiderte: "Ja, hilf mir. Aber das Kind gebe ich dir nicht."
Da erbarmte sich der Adler ihrer und sprach: "Deine Standhaftigkeit hat mich bezwungen. Behalte denn dein Kind, es wird selber wissen, wann es dich verlässt." Und er holte mit dem Schnabel unter seinem linken Fittich ein Körnchen Eis hervor und legte es ihr in die rechte Hand, und unter seinem rechten Fittich einen Funken lebendiger Glut, und legte ihn ihr in die linke Hand, und Eis und Feuer stiegen von den Händen der Frau auf wie Fontänen, und der Schmerz wich.
"Sei gesegnet, Adler", sagte sie da und lächelte, "ich werde wohl sterben. Verlass mich nun."
"Vielleicht wirst du sterben, vielleicht auch nicht", entgegnete der Adler. "Das liegt bei deinem Kinde. Ich aber verlasse dich zum dritten Mal und kehre nie wieder, denn die Welt ist klein und das Haus des Himmels hoch und weit." Seine furchtbaren Krallen zitterten vor Pein, die leblosen Augen erglommen, er verlor drei Schwanzfedern und stieg auf, so steil wie eine Mondrakete.
Aus dem Bauch der Frau aber schlüpfte leicht und schmerzlos das Kind, stand auf zwei Beinen, schüttelte sich, lachte und sagte: "Guten Tag, Mutter, ich bin da. Ein bisschen Zeit habe ich gebraucht, aber dafür habe ich auch vielerlei gleich dort drinnen abgemacht, so dass ich fertig bin wie ein junges Gazellchen, das sogleich der Herde folgt, und sehr neugierig. Was gibt's auf der Welt?"
"O lieber Sohn, Kind des Müllmanns und des Adlers", flüsterte die Frau, "zunächst einmal sterbe ich."
"Das wirst du nicht tun, Mutter", sagte der Sohn, "das wäre die größte Dummheit, die du begehen kannst."
"Aber mein Herz ist aufgebraucht", entgegnete sie. "Es ist so dünn, dass man es zwischen Daumen und Zeigefinger zerreiben kann."
"Es wird neu wachsen", rief der Sohn und vollführte einen Luftsprung, der ihn fast bis zur Decke trug. "Es schmeckt so süß, dein Herz, wie könnte es vergehen! Durch das Eiskorn und den Funken des Adlers habe ich Zauberkraft bekommen, die muss nur noch erstarken. Dann werde ich dich retten. Vermagst du das Sterben nicht noch eine Weile aufzuhalten?"
"Ich kann es versuchen", erwiderte sie. "Aber beeil dich, Sohn, beeil dich! Vergeude nicht deine Gaben, auch wenn du noch so stark bist. Schenke erst, wenn du liebst!"