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Waldtraut Lewins mitreißendes Lebenswerk über die Geschichte der Juden
Das zweite Buch von Waldtraut Lewins beeindruckendem Lebenswerk erzählt die Geschichte des jüdischen Volkes vom Beginn der Neuzeit bis in die Gegenwart. Wieder begleiten drei Erzählebenen den Leser auf seiner Reise durch die Zeit, und zeigen dabei, was in den gängigen Geschichtsbüchern nur angedeutet oder ganz ausgelassen wird. Und genau das macht den Reiz dieses außergewöhnlichen Buches aus.
Eindringlich erzählt Waldtraut Lewin von bekannten und weniger bekannten, von fiktiven und realen Personen. Von schicksalhaften Begegnungen, der Sehnsucht nach Erlösung, Toleranz und Aufklärung. Von unfassbarem Grauen, aber auch von Widerstand und Hoffnung. Ein wichtiges Buch, das den Leser aufwühlt und nachdenklich zurücklässt.
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Seitenzahl: 747
Auch dies zweite Buch der jüdischen Geschichte rollt ein Stück des großen Welttheaters wie sein Vorgänger von ungewohntem Blickwinkel her auf: Es will – wie in einem Brennpunkt – die Sicht der anderen auf die Juden und die Sicht der Juden auf sich selbst und die anderen darstellen.
Auf der Reise durch die Zeiten werden wir viele Ecken und Abzweigungen näher beleuchten, die in den »normalen« Geschichtsbüchern nur angedeutet oder ganz und gar ausgelassen werden. Das sollte den Reiz dieser Reise ausmachen.
Das Erzählen nun zeigt sich in drei Formen.
Zum einen in einer Nennung und Erläuterung von historischen Fakten, damit wir wissen, auf welchem Streckenabschnitt wir uns gerade befinden. Zum anderen im Zeit-Bericht, in der Ausleuchtung jüdischer Geschichte.
Die dritte Abteilung sind die im Titel angekündigten Geschichten. Sie sind erfunden, sind »Storys«, auch dann, wenn sie sich mit Personen und Ereignissen beschäftigen, die es wirklich gegeben hat.
Um diese drei Formen dem Leser deutlich zu machen, wurden drei unterschiedliche Schrifttypen gewählt.
In dieser Schrift präsentieren sich die Fakten.
In dieser Schrift wird berichtet.
In dieser Schrift wird erzählt.
Am Ende des Bandes befindet sich ein Glossar.
Dies Verzeichnis enthält Angaben über den jüdischen Kalender und die jüdischen Feste sowie eine alphabetisch angeordnete Liste von Begriffen aus dem Judentum, die in den Texten vorkommen. Diese Begriffe sind zwar stets erklärt, aber so gibt es Gelegenheit zum Nachschlagen. Eine Zeittafel mit den wichtigsten Ereignissen schließt sich an.
WIR MÖGEN DAS JAHR 1650 schreiben, als eine seltsame Kunde durch die von Krieg und Tod verwüsteten Städte und Dörfer Schlesiens und Pommerns, durch Brandenburg und Sachsen wandert: Der Ewige Jude ist erschienen! Der Mann des Alten Bundes, bevor unser Herr Jesus die Welt erlöste. Er geht um in Europa. Aus dem Osten ist er gekommen, sein Bündel mit Habseligkeiten auf dem Rücken, den Wanderstab in der Hand.
Jeder gute Christ kennt die Geschichte: Als Jesus die Last seines Kreuzes nach Golgatha schleppte, da wollte er in seiner Erschöpfung Rast machen vor der Tür eines Bürgers von Jerusalem namens Ahasver. Aber der hartherzige Mann verjagte den Erlöser von seiner Schwelle. Da traf ihn der Fluch Des Herrn: Für ihn würde es keine Erlösung geben, sondern im ewigen Ratschluss war ihm bestimmt, ruhelos auf der Erde zu wandeln, unsterblich zu seiner Qual, bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes, wenn ihm der Herr der Welten vielleicht verzeihen wird.
Und nun ist er da, aufgetaucht aus der Dunkelheit der Jahrhunderte. Der oder jener hat ihn gesehen. Meist geht er des Nachts einher und weicht scheu den bewohnten Orten aus, schlägt sein Lager am Wegesrand auf, bettet den Kopf auf dem Schnappsack mit seinem Kram, schiebt sich die Pelzmütze ins Gesicht, und noch während er schläft, zucken seine Füße, denn er kann sie nicht stillhalten, weil er wandern muss, immer wandern als Strafe.
Aber es dauert nicht lange, und er legt einen Teil seiner Scheu ab – vielleicht weil er hungrig ist – und nähert sich den Städten.
Und die Menschen sehen nun: Er trägt einen langen Bart, und Schläfenlocken kommen hervor unter dieser seiner riesigen Pelzmütze, die er auf dem Kopf hat, gleich wie warm oder kalt es ist, und einen speckigen Kaftan trägt er, der ihm bis zu den Stiefeln reicht. Manchmal hat er auch statt des Sacks über der Schulter einen Wagen dabei, beladen mit seinem Hab und Gut, und seine Frau, die Madame Jüdin, sitzt darauf, bis zur Nasenspitze verhüllt in ihr Kopftuch, neben sich die Kinder, die mit ängstlichen Augen in die Welt gucken und sich gleich verkriechen, wenn sich jemand nähert, als fürchteten sie, man wolle sie schlagen.
Keuchend und weit vornübergebeugt, hängt er im Geschirr des Wagens, der Ewige Jude, und die ledernen Gurte haben seinen Kaftan dünn gescheuert über den Schultern.
In den wenigen Städten, in denen es um diese Zeit in Mitteleuropa noch Ghettos gibt, kehrt der Ewige Jude bei seinen Glaubensgenossen ein.Verschwindet in den buckligen Häusern des Judenviertels. Aber meist nicht für lange. Dann muss er fort, findet kein Zuhause für immer, nur eine vorübergehende Bleibe.
Es kann auch geschehen, dass der Ewige Jude einmal in einem Gasthof Quartier erhält, er mit den Seinen, aber es hat sich schnell herumgesprochen, dass er in den Nächten nicht ruhig sein kann. Er schreit auf aus seinen Träumen, bis ihn seine Frau wachrüttelt, oder seine Kinder weinen im Schlaf, sodass im ganzen Wirtshaus keine Ruhe einkehrt und alles christliche Volk sich fürchtet und bekreuzigt, wenn es denn zu den Katholischen gehört. Und so schicken die meisten ihn wieder fort, weiter. Immer weiter.
Wenn er auf seinen Wanderungen in so einem Wirtshaus einkehrt, er allein, setzt er sich ängstlich und mit niedergeschlagenen Augen in eine Ecke und bestellt für eine kleine Münze ein warmes Bier, und wenn man ihn aus purer Barmherzigkeit einlädt, an den Tisch zu kommen, so lehnt er das ab und schüttelt den Kopf, meint, es gezieme sich nicht für ihn.
Wenn sie ihn fragen, woher er kommt, so nennt er fremde, unaussprechliche Namen von Orten und deutet mit der Hand vage nach Osten.
Es kann auch geschehen, dass er mit leiser Stimme zu reden beginnt in seiner mühsam zu verstehenden Sprache. Dann erzählt er stockend von schrecklichen Dingen, von brennenden Dörfern und Leichenbergen, von Mord und Totschlag.
Die ihn hören, sind selbst erst solchen Schrecknissen entronnen; die Kriegsfurie hat hier wie überall getobt, und Leichenberge kennt man aus eigener Erfahrung.
Deshalb kann der Ewige Jude auch nirgends bleiben, selbst wenn er mit demütig gezogenem Pelzhut beim Bürgermeister des Ortes um Erlaubnis bittet. Denn arm und ausgeblutet sind sie alle, wie sie da sind – wie sollen sie in ihrer Gemeinde einen weiteren Armen aufnehmen, noch dazu einen, der fremden Glaubens ist?
Hat man vielleicht Mitleid mit ihm? Er hat den Herrn ohne Erbarmen von seiner Schwelle gewiesen! Aber auch wenn da Mitleid wäre – es fehlt an Mehl und Brot und Federn für ein Bett. Das Land ist am Ende.
Und so zieht der Ewige Jude seines Weges. Und wenn er auch die Gestalt wechselt und nicht mehr in Kaftan und Pelzmütze daherkommt, sondern im schwarzen Rock und Käppchen, den Bauchladen vor sich hertragend, und auf den Dörfern Kram verkauft oder Kessel flickt – er bleibt doch der Ewige Jude.
Und er ist verflucht. So sagen die Christen.
Europäisches Völkerschlachten
Dreißig Jahre lang hat man sich in Mitteleuropa gegenseitig abgeschlachtet.
Grund für dieses unter dem Namen Dreißigjähriger Krieg bekannte Morden sind vordergründig die Religionsstreitigkeiten zwischen Protestanten und Katholiken, hervorgegangen aus der Reformation Martin Luthers, der die Kirche reinigen wollte und sie stattdessen spaltete. Natürlich nutzen die Landesherren die Glaubenskonflikte hemmungslos für ihren Vorteil. Ihr Ziel ist, Macht, Land und Einfluss zu erstreiten, und in diesem Kampf geht die eine Seite genauso brutal und barbarisch vor wie die andere. Alle Widersprüche Europas bündeln und kreuzen sich in diesem Feld und alle seit Langem schwelenden Rivalitäten zwischen den Großen brechen aus.
Leidtragende ist die Bevölkerung der gequälten, gebrandschatzten und ausgeplünderten Landstriche, in die Freund wie Feind gleichermaßen verheerend einfallen.
Marodierende Söldnerbanden, die keinem Heerführer mehr gehorchen und ihren Unterhalt mit Folter und Feuersbrunst erpressen, drangsalieren Bauern und Städter zusätzlich.
Kriegsschauplatz ist überall.
Das verwahrloste und ausgelaugte Territorium wird von Seuchen heimgesucht. Und die seelische Verunsicherung der Menschen, die jeden geistigen und emotionalen Halt verloren haben, äußert sich in grausigen Hexenprozessen, begünstigt durch die Frauenfeindlichkeit der christlichen Religion, weil man an Frauen, als dem schwächsten Glied der Gesellschaft, all seine aufgestauten Ängste und Verzweiflungen ungestraft abreagieren kann. Unzählige landen auf eben dem Holzstoß, auf dem in vergangenen Epochen vor allem Ketzer und Juden ihr Ende fanden.
Als man sich schließlich 1648 auf einen Frieden einigt, dann vor allem deshalb, weil die materiellen Reserven einfach erschöpft sind. Die Länder sind ausgeblutet.
Das Abkommen des Westfälischen Friedens gibt dem Kontinent eine neue Grundlage und den Ländern neue Grenzen. Doch wie auch immer: Die Einzigen, die ihren Schnitt machen, sind die Fürsten Europas. Denn die Übereinkunft »Religionsfrieden« beinhaltet, dass jeder Landesherr für den Glauben seiner Untertanen zuständig ist – was ihn vor allem in den protestantischen Ländern auch zur obersten geistlichen Autorität macht. Das Haus Habsburg, also die zentrale Position des Kaisers, wird zugunsten der Landesherren geschwächt – und natürlich versucht jeder, ein möglichst großes Stück aus dem territorialen Ganzen zu erhalten.
Einer der Gewinner in diesem Ringen ist Schweden, das die absolute Vorherrschaft über den Ostseeraum erringt – zum Nachteil Polens, das, obwohl nicht unmittelbarer Mitstreiter in diesem Krieg, geschwächt aus den Konflikten hervorgeht; das Großreich Polen-Litauen lebt in ständigen Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn Schweden, Russland und der Türkei.
Wir haben es in Band eins dieses Buches dargestellt: Polen war bis dahin ein Eldorado für jüdische Einwanderer.
Bereits im Jahr 1264 hat König Boleslaw der Fromme das »Statut von Kalisz« herausgegeben, das den Juden weit über das sonst in Europa gewohnte Maß hinaus Schutz garantiert. Juden haben die Möglichkeit, als Handwerker zu arbeiten, haben eine Selbstverwaltung und übernehmen zudem wichtige Verwaltungsaufgaben für den polnischen Adel, sowohl im Land selbst als auch in der von Polen eroberten und an das osmanische Reich angrenzenden Ukraine.
Letzteres, ihre dienstwillige Bereitschaft für die oberen Kreise, trägt den Juden allerdings die Missgunst der Landbevölkerung und den Hass der besetzten Ukraine ein.
Die Ukraine ist – noch – eine Kolonie des polnischen Staates. Aber seit dieser Staat mehr und mehr an Kraft verliert, begehrt man auf und wendet sich vor allem gegen die Günstlinge der polnischen Herren, die Juden!
So endet nach rund vierhundert Jahren hier ein bis dahin zumeist friedvolles Miteinander von Juden und Nichtjuden auf die entsetzlichste Weise.
Wie haben in Band eins gesehen, dass sich seit Langem ein Potenzial an Unmut bei der Bevölkerung aufgebaut hatte: Reiche Juden, die mit ihrem Geschäft den nichtjüdischen Geschäften den Rang abliefen, Pächter großer Ländereien, die nicht gerade zimperlich mit »ihren« Bauern umsprangen, die rigorosen Steuereintreiber, die im Auftrag des polnischen Adels der armen ukrainischen Landbevölkerung den letzten Zloty aus der Tasche zogen ...
Soziale Spannungen bringen Hass hervor. Einen Hass, der sich dann gegen das ganze Volk der Juden richtet.
Die Massaker – Hintergrund der Legende vom Ewigen Juden
Man hat ihm in Kiew ein Denkmal gesetzt und im Jahr 1954 sogar eine Stadt nach ihm benannt: Bogdan Chmielnicki, der Befreier der Ukraine.
In keiner der patriotischen Lobeshymnen, die bis zum heutigen Tag auf ihn gesungen werden, erwähnt man, dass er einer der brutalsten Massenmörder war, den die Geschichte hervorgebracht hat.
Chmielnicki ist Hetman, also Anführer, der ukrainischen Kosaken – das ist eine selbstständige Gemeinschaft freier Reiterverbände, die seit dem 15. Jahrhundert in den Gebieten Südrusslands und der Ukraine in stark befestigten Wehrdörfern siedelt und später ihren Platz in der russischen Armee findet.
Im Jahr 1648 entfesselt besagter Chmielnicki einen Aufstand gegen die polnische Fremdherrschaft. Ihm und seinen Reitern schließen sich sehr bald die Bauern an. Das Aufbegehren richtet sich gegen die Polen – aber gegen den gut gerüsteten polnischen Hochadel kann man kaum an. So halten sich die Rebellen an den Sachwaltern der Adligen schadlos – den Juden. Und aus der Befreiungsbewegung wird ein blutiges Schlachtfest.
Die grausamen Massaker wurden unter dem Namen Pogrome bekannt, ein Begriff, der aus dem Russischen stammt und »zerstören, demolieren« bedeutet.
Was sich an Entsetzlichem zunächst in der Ukraine, dann aber auch in Podolien, der südwestlichen Ukraine, und dann nordöstlich Moldawiens, in Weißrussland und später in Litauen abspielt, ist unvorstellbar. Denn die Kosaken sind nicht aufzuhalten. Sie ziehen weiter. Überall, wo sie auftauchen, wird gefoltert und gemordet. In einem Blutrausch ohnegleichen nehmen die unterdrückten Bauern, angeführt von den Reiterscharen, Rache an denen, die sie als Verantwortliche für ihr Elend ansehen.
Die russisch-orthodoxe Kirche, der die Landbevölkerung im Gegensatz zum westeuropäisch ausgerichteten katholischen Adel anhängt, schürt noch das Feuer.
Rabbi Nathan Hanover gehört zu den wenigen Überlebenden, denen es gelingt, vor den Ausschreitungen zu fliehen. In seinem Buch »Abgrund der Verzweiflung« beschreibt er die Gräuel, die er erlebt hat, schreibt sich das Entsetzen von der Seele.
» Einige wurden bei lebendigem Leib gehäutet und ihr Fleisch wurde den Hunden zum Fraß vorgeworfen; anderen wurden Hände und Füße abgehackt und ihr Körper auf die Straße geworfen, damit sie von den Wagen zermalmt, von den Pferden zerstampft werden konnten; wieder andere zwängte man mit dem Kopf nach unten in den Kaminabzug und entzündete dann ein Feuer, sodass sie elend ersticken mussten.
Kinder schlachtete man auf dem Schoße ihrer Mütter, andere zerriss man wie Fische in Stücke. Schwangeren Frauen wurde der Leib aufgeschnitten und die Frucht herausgerissen und man zerschlug sie in ihrer Gegenwart. Einigen ritzte man den Leib auf und nähte ihnen eine lebendige Katze ein und ließ sie so am Leben, indem man sie wieder zunähte, und die Hände schnitt man ihnen ab, damit sie die Katze nicht herausziehen konnten; Frauen und Jungfrauen wurden so lange genotzüchtigt, bis sie elend verbluteten, Ersteren geschah das im Beisein ihrer Männer. Kinder spießte man, briet sie am Feuer und brachte sie den Müttern, die davon essen mussten. Auf diese Weise verfuhren sie an allen Orten, wohin sie kamen.«
Immer an anderen Stätten, aber nie abbrechend, rast der Mord, rast das unvorstellbare Grauen durch die jüdischen Gemeinden der Ukraine, aber auch des polnischen Stammlandes. Fast ein Jahrzehnt dauern die bestialischen Verfolgungen. Die Zahl der Opfer wird auf einhunderttausend geschätzt.
So strömt nun ein Teil der Überlebenden, Enkel und Nachfahren jener, die einst in die polnischen Landstriche gekommen waren, um hier Ruhe und Sicherheit vor den Nachstellungen der Kirche und ihrer inquisitorischen Blutgerichte zu finden, wieder zurück in die Länder des europäischen Westens, aus denen ihre Ahnen einst geflohen waren.
»Der Ewige Jude«, angeblich ruhelos und ständig auf der Wanderschaft - er ist eine nichtjüdische Erfindung. Und diejenigen, die sich mit Scheu oder Verachtung dieses Bilds bedienten, um damit das Nicht-Sesshafte, das Unstete der Israeliten zu kennzeichnen, übersahen dabei, dass sie selbst es waren, die »den Juden« ruhelos machten ...
Armut, Geist – und Lebensfreude
Wer sich nicht aufmacht von den Überlebenden, zurück nach Westeuropa, geht ins dünn besiedelte bäuerliche Umland der Städte.
»Winzige Inseln in einem Ozean von Andersgläubigen« nennt ein Autor die Siedlungen, die nun entstehen und die wir unter dem jiddischen Begriff »Schtetl«, das Städtchen, kennen. Man rückt eng zusammen.
Das, was sich in diesen Zeiten der Not da herausbildet – wenn auch nicht permanent, so doch immer wieder auch hier bedroht von der Außenwelt, immer wieder heimgesucht von jenen, die Juden für Freiwild halten –, wird allen Unbilden zum Trotz eine erstaunliche Lebensdauer entwickeln. (Das Schtetl verschwindet erst dreihundert Jahre später, im Zweiten Weltkrieg, mit der Naziinvasion in Polen ...) Man richtet sich also ein in drangvoller Enge und in Armut. Ein Zustand, der nahezu konstant bleiben wird im Lauf der Zeit.
Im Jahr 1822, also gute 150 Jahre nach den Pogromen, schreibt der Dichter Heinrich Heine, als er Polen bereist:
»Das Äußere des polnischen Juden ist schrecklich, dennoch wurde der Ekel bald verdrängt vom Mitleid, nachdem ich den Zustand dieser Menschen näher betrachtete und die schweinestallartigen Löcher sah, wo sie wohnen, mauscheln, beten – und elend sind.« –
Im Schtetl ist alles jüdisch. Es gibt eine Synagoge, eine Mikwe (das rituelle Tauchbad), einen Friedhof und selbstverständlich Studierstube und Schule. Die Häuser der Gemeinden sind aus Holz, winzig, dicht aneinandergedrückt. Frömmigkeit und Rituale beherrschen den Alltag.
Man kleidet sich nach strengen Regeln – Kaftan, Hut oder Mütze für die Männer und Jungen, darunter das Scheitelkäppchen (Kippa oder Jermulke genannt), Stiefel, wenn man denn das Geld dafür hat.Tallit und Tefillin sind natürlich allgegenwärtig in der »Schul«, der Jeschiwa. (Hierbei handelt es sich um rituelle Kleidungsstücke. Der Tallit ist ein mit vier Quasten versehener Mantel, den ein frommer Jude zum Gebet anlegt. Die Tefillin sind Lederriemen, versehen mit einer Kapsel, in der sich Bibelverse befinden. Der Beter wickelt sich die Riemen um den linken Arm und um den Kopf, »bewaffnet« sich mit den Worten der Tora, des heiligen Buchs der Juden. – (Begriffe wie diese werden auch im Glossar erklärt.)
Die Frauen tragen lange Röcke und hochgeschlossene Kleider. Viele Verheiratete haben sich das Haar geschoren (wie im Islam gilt auch bei strenggläubigen Juden das weibliche Haar als Attribut der Verführung) und benutzen Perücken, wenn sie es sich leisten können, ansonsten Kopftücher.
Das Schtetl wimmelt von Handwerkern. Als Bauer zu leben, ist von der Obrigkeit verboten, man muss also zur eigenen Versorgung Handwerk treiben – und handeln. Eine Vielzahl von Schneidern und Flickschustern bevölkert die engen Gassen; man arbeitet im Wohnraum, oder, falls es das Wetter erlaubt, auch vor der Tür. Ein Schmied, ein Bäcker sind stets vor Ort.
Ein Schächter, also ein Metzger, der befähigt ist, rituell zu schlachten, wird eher über Land ziehen, von Schtetl zu Schtetl, denn wann gibt es unter diesen ärmlichen Bedingungen schon etwas zu schlachten? Auch andere ziehen umher, mit dem Bauchladen, mit dem zweirädrigen Karren, vor dem ein klappriges Pferdchen oder ein Esel eingespannt sind, und bieten den christlichen Bauern der Umgebung die Erzeugnisse des Schtetl feil. Einige Handwerker sind ebenfalls unterwegs und verdingen sich bei den Bauern und dem Adel, wenn es gilt, preiswert ein Pferd zu beschlagen oder ein neues Kleid für die Dame des Hauses anzufertigen.
Der größte Teil der männlichen Bevölkerung allerdings sitzt tagaus, tagein in der Studierstube und beschäftigt sich mit Tora und Talmud. In jeder Familie gibt es mindestens einen »Gelehrten«, denn es ist ehrenvoll, einem Mitglied des Hauses das Studium der heiligen Schriften zu ermöglichen.Auch wenn die Mittel noch so schmal sind – wenigstens ein männliches Familienmitglied besucht die Talmudschule, disputiert mit anderen Frommen scharfsinnig Fragen des Glaubens und der praktischen Anwendung der Gebote.
Man spricht Jiddisch im Alltag und liest Hebräisch in der Synagoge.
In diesem kleinen Kreis ist die Familie das Universum und die Hausfrau dessen Kern.
Nicht nur, dass sie den Haushalt besorgt und streng darauf achtet, dass alle religiösen Vorschriften befolgt werden – sehr häufig ist sie auch noch Krämerin, Hausiererin oder Marktfrau, damit es denn zum Leben reicht.
Denn je mehr Kinder eine Familie hat, desto mehr erscheint sie als vom Herrn gesegnet – und umso größer ist die Armut. Natürlich gehen die Jungen in die Jeschiwa, und auch die Mädchen werden unterrichtet - diese allerdings weniger gründlich; die Mädchen haben der Mutter im Haus zur Hand zu gehen ...
Was Heine über seinen Besuch von 1822 schreibt, klingt furchtbar, zugegeben. Aber natürlich war das Schtetl nicht nur ein Sumpf des Elends. Es war ein Hort der Frömmigkeit, ein »in Lumpen gehülltes Königreich des Geistes«.
Und – kaum glaublich – der Lebensfreude. Wer einmal Klezmermusik gehört hat, wird verstehen, was gemeint ist.
Natürlich hat auch das Schtetl seine soziale Rangordnung und die Musikanten finden hier ihren Platz ganz unten. Sie stehen auf einer Stufe mit Lastenträgern, Totengräbern und Bettlern. Umso höherer Wertschätzung erfreut sich ihre volkstümliche Musik. Sie spielen zu jeder Hochzeit, zu jedem Fest auf.
Laute Instrumente wie Trompete oder Pauke verwenden sie nicht; die Klezmerkapelle setzt auf »zarte« Instrumente. Und die Spieler mussten mobil sein, denn sie gehen vor Hochzeitszügen oder Festumgängen her. Violine und Klarinette waren dafür ideal, aber auch ein Kontrabass war noch zu transportieren, und das Zymbal (Hackbrett) ist ebenfalls tragbar.
Klezmermusik ist weltliche Musik, doch hat sie ihren Ursprung im Liturgischen, also im Gottesdienst. Der Chasan, der Synagogensänger, ist das Vorbild für den besonderen Klang dieser Kapellen. Klezmermusik kann lachen und schluchzen, sie ist immer, auch wenn sie nur instrumental gespielt wird, eine Anlehnung an die menschliche Stimme, ans Gesangliche.
So entstehen Volkslieder, in denen Wehmut und ausgelassene Fröhlichkeit sich die Waage halten. Gesungen wird natürlich in Jiddisch, der »Mammeloschn«, der Muttersprache der Menschen im Schtetl. Das Jiddische ist eine aus mitteldeutschen Dialekten hervorgegangene, mit hebräischen und slawischen Brocken versetzte Sprache, die von den Ostjuden, auch Aschkenasim genannt, gesprochen wird – diese Menschen waren aus Deutschland nach Polen ausgewandert. Geschrieben wird es übrigens mit hebräischen Lettern (siehe auch Glossar).
Als Beispiel sei hier ein bekanntes jiddisches Wiegenlied zitiert – im Original und in der Übersetzung, aus der man leicht erkennen kann, wie nah verwandt diese Sprache bis heute dem Deutschen ist.
Für uns heute wird die versunkene Welt des Schtetl vor allem lebendig erhalten durch jene Dichter, die im 19. Jahrhundert mit Stolz an ihrer jiddischen Muttersprache festhielten und sie mit hoher Perfektion gebrauchten, wie Leib Perez oder Isaak Singer, die ihre Geschichten zwar in ihrer Gegenwart ansiedeln, aus denen aber der alte Geist weht. Noch bekannter dürfte ScholemAleichem sein, dessen Buch »Tewje, der Milchmann« die Vorlage abgab zu dem Musical »Anatevka«.
Sehnsucht nach Erlösung
Selbst wenn die Juden in der Mitte des 17. Jahrhunderts, zwar weiterhin unterdrückt und an den Rand gedrängt, nicht ständigen Verfolgungen und Massakern ausgesetzt sind: Verstreut rund um die Windrose von Amsterdam bis Venedig, von Marokko bis Krakau, wohnt im jüdischen Volk weiterhin die glühende Sehnsucht, die Diaspora, die Zerstreuung überall in derWelt, zu beenden, heimzukehren nach Erez Israel, in das Land, aus dem es vor fast zweitausend Jahren vertrieben wurde – und geführt von seinem Erlöser, dem Messias. Im Jahr 1665 nun erreicht eine Flut von Sendschreiben aus Gaza in Palästina, einem Ort, an dem noch immer viele Israeliten leben, die jüdischen Gemeinden in aller Welt.
Der Inhalt: Der Tag der Erlösung aus der Diaspora steht unmittelbar bevor, denn der Messias ist erschienen! Am 18. Juni des kommenden Jahres wird er sein Volk ins Gelobte Land führen!
Der Messias – jene mystische Gestalt, in der sich die Sehnsucht nach Erlösung der Juden in aller Welt verkörpert, aus allen ihren Nöten ... Zu der Zeit, als Israel noch ein Volk unter den Völkern der Antike war, erhoffte man von ihm die Befreiung von jeglicher Fremdherrschaft, den Syrern, den Römern ... Nach dem Verlust des Landes dann war es die Heimkehr nach Jerusalem, das Ende von Verfolgung und Diskriminierung, was man von ihm erwartete – und den ewigen Weltfrieden.
Und nun soll dieser Ersehnte gekommen sein!
Eine unglaubliche Massenhysterie bricht aus. Die jüdischen Gemeinden, ob sie nun Aschkenasen sind oder Sepharden (siehe Glossar), ob sie Jiddisch sprechen oder das dem Spanischen verwandte Ladino, geraten in einen Freudentaumel.
In den Lebenserinnerungen einer jüdischen Händlerin aus Hamburg, einer Frau, die uns gleich noch näher beschäftigen wird – Glückel von Hameln -, steht über das Jahr 1666:
»Einige haben nebbich all das Ihrige verkauft, Haus und Hof, und haben gehofft, dass sie jeden Tag sollen erlöst werden. Mein Schwiegervater hat zu Hameln gewohnt und also dort seine Wohnung aufgegeben und seinen Hof und seine Möbel. Und hat hierher nach Hamburg zwei große Fässer mit allerhand Leinenzeug geschickt. Und darin ist gewesen allerhand Essensspeis, wie Erbsen, Bohnen, Dörrfleisch und sonst anderes, alles, was sich so aufbewahren lässt. Denn der gute Mann hat gedacht, man wird einfach von Hamburg nach dem heiligen Land fahren.«
Und an anderer Stelle:
»Die meisten Briefe (Sendschreiben) haben die Sephardim bekommen. Dann sind sie allezeit mit ihnen ins Bethaus gegangen und haben sie dort gelesen und Deutsche (aschkenasische Juden) jung und alt sind auch in ihre Synagoge gegangen mit Pauken und Tanz und haben mit Freude die Briefe gelesen. «
Den nüchternen Verstand dieser Schreiberin haben sich die meisten Menschen nicht bewahrt. Es trennen sich Hoch und Niedrig, Töricht und Gescheit von ihrem Hab und Gut, verschenken es zumeist. Einige, so heißt es, laufen sogar nackt durch die Straßen, denn es steht geschrieben, dass aller Besitz eitel ist und man alles ablegen muss, um dem Gesalbten des Herrn gegenüberzutreten ...
Wie ist ein derartiger kollektiver Wahnsinn zu erklären – und wer hat ihn ausgelöst?
Jene Männer, die verantwortlich sind für diese absurden Geschehnisse, haben gleichsam nur den Deckel abgehoben von einem Topf, in dem es brodelte.
Die jahrhundertealte Not der traumatisierten »jüdischen Seele« ist verantwortlich für diesen Ausbruch verzweifelter und grotesker Hoffnung auf Veränderung. All die Leiden und Demütigungen vieler Jahre müssen doch irgendeinen Sinn haben! Im Heilsplan des Weltenschöpfers kann doch unmöglich verzeichnet sein, dass sein erwähltes Volk durch die Tiefe des Leids geht, ohne irgendwann erlöst zu werden!
Die Pogrome in Osteuropa vor nicht einmal zwanzig Jahren sind nicht vergessen und sie sind für viele ein Fanal. Schlimmer kann es nicht kommen! Bis hierher und nicht weiter!
Und so saugt man die Nachricht der kommenden Rettung aus dem Elend so gierig auf wie ein trockener Schwamm das Wasser. Die Erfüllung des Wunsches, der zu Pessach am Ende des Sederabends ausgesprochen wird: Nächstes Jahr in Jerusalem! – sie scheint nun in greifbare Nähe gerückt.
Verwirrter Geist oder Visionär
Wie ist es zu diesem Wahnwitz gekommen?
Zwei Männer von sehr unterschiedlichem Charakter sind die Auslöser der Euphorie. Sie heißen Sabbatai Zwi, der sich als der »erschienene Messias« versteht, und Nathan Aschkenasi, sein Prophet.
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