Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Autorin hat berühmte und sehr verschiedene italienische Landschaften und Städte besucht. In die Toskana, nach Rom und Sizilien führen die drei Erzählungen dieses Buches, Reisebericht und mitreißendes Erlebnis zugleich. Zahlreich sind die Stationen und die Begegnungen mit den Bewohnern des Landes. Die toskanische Schäferin Cincia, die mit der Besitzerin des alten romantischen Turmes in Fehde liegt, Fortunata, die Tänzerin in Rom, deren Traum vom Aufstieg zur Primaballerina zerbrochen ist, vor allem aber Bradamante, den alten Rittergeschichten entstiegen: sie alle und andere mehr sind lebendig, liebenswürdig in ihrem Temperament und interessant in den Fragen, die sie beschäftigen. Spannende Abenteuer lassen nicht auf sich warten, und Geheimnisse wollen gedeutet sein. INHALT: Der Turm und der Ölbaum Die Geschwister Addio, Bradamante LESEPROBE: Während meine Freundin behaglich schwelgte, kriegte ich kaum einen Bissen herunter. Unser Vorhaben saß mir quer vorm Magen. Meine ehemalige Ritterin dagegen bewies erstaunliche Kaltblütigkeit. Beim Zahlen (sie rechnete die Posten der Preise gewissenhaft nach) sagte sie beiläufig: „Na, und wo ist nun dein Kärtchen?“ Es war eine gute Idee, die Visitenkarte des Dottore mit auf den Teller zu dem Geld zu legen. Der Chef brachte unbewegten Gesichts das Wechselgeld. Seitlich quer über der Rechnung stand: Ab 14 Uhr in Palermo, Katakomben. Bradamante schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Spielen die mit uns Schnitzeljagd? Nun dürfen wir also wieder zurück nach Palermo. He, Alter!“ Mit beflissenem Gesichtsausdruck kam der Wirt an den Tisch. „Du alter Gauner wirst uns sofort sagen, wo der Dottore ist, oder ...“ Bevor ich überhaupt begriff, hatte sie ihren Dolch gezückt und dem Mann an den Hals gesetzt. Der hob langsam die Hände. „Ich weiß von gar nichts“, stammelte er (und erinnerte mich damit an Nina in der Wohnung in Palermo), „halten zu Gnaden, Madonna, ich zahle meine Schutzgebühren, ohne den Herrn zu kennen, der sie kassiert, und tue, was man von mir verlangt, ich bin nur beauftragt, demjenigen, der die Karte bringt, diese Mitteilung zu geben. Ich bin ein kleiner Geschäftsmann, der überleben will und -“ Bradamantes Dolch war immer noch gezückt, aber da betrat eine lärmende, fröhliche Touristengruppe das Restaurant. Erlöst ließ der Wirt die Hände sinken und eilte mit der Speisekarte zu den neuen Gästen. „Du hältst dich an den Falschen“, bemerkte ich leise, während sie ihren Wein austrank.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 197
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Waldtraut Lewin
Addio, Bradamante
Drei Geschichten aus Italien
ISBN 978-3-95655-437-7 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1986 in Der Kinderbuchverlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Andrea Grosz
© 2015 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Eine Geschichte aus der Toskana
Auf dem Lande wohnt man billiger als in der Stadt, hatte man mir gesagt. Außerdem sieht ein Hotel wie das andere aus. Ich aber wollte Dinge sehen und erleben, wie sie nicht jedem Touristen begegnen. Freunde hatten mir die kleine Herberge gleich an der Straße empfohlen, dort sei es preiswert, und man würde freundlich behandelt, als gehöre man zur Familie. Aber es war Wochenende, und wider Erwarten gab es kein freies Bett.
„Das Wetter war so lange schlecht“, sagte der geschäftige Wirt, „nun haben die Leute die ersten schönen Tage zu einem größeren Ausflug genutzt. Von hier aus sind es ja nur zehn Minuten bis zum See, wissen Sie, und vielleicht kann man sogar schon baden.“
Das war für einen Italiener eine kühne Vermutung. Ende Mai geht man hier gemeinhin noch nicht ins Wasser. Ein Bad unter zwanzig Grad wird als Martyrium angesehen, und der Trasimeno-See, von dem der Wirt redete, hatte höchstens achtzehn Grad zu dieser Zeit.
Aber wie dem auch sei, es war kein Zimmer zu haben. „Versuchen Sie es doch im Ort“, sagte der Wirt in Eile.
Ein bisschen enttäuscht begab ich mich dorthin. Um diese Jahreszeit, so zwischen Frühling und Sommer, war es in der Toskana am schönsten, warm, aber nicht zu heiß, und das Grün der Landschaft noch nicht versengt von der glühenden Sonne des Juli und August. Ungefähr auf der „Wade“ des Stiefels Italien befand ich mich, an der Grenze der Provinzen Umbrien und Toskana. Hier gedeihen Wein und Oliven, die braunen Bauernhäuser liegen wie geometrische Figuren an die sanften Hügel geschmiegt, und die Zypressen säumen die Wege zu den Gehöften wie Ausrufezeichen. Es ist eine der schönsten Landschaften Italiens, die jedem etwas bietet: der große Trasimeno-See ist für alle, die gern am Wasser sind, die Ausläufer des Apennin mit dem Monte Amiata für die Freunde der Berge - man kann da sogar Ski laufen! Und wer sich für schöne Städte und Kunstschätze interessiert, für den sind von Florenz bis Assisi so viele da, dass einem der Kopf schwindeln kann.
Weiter oben auf den Hügeln, wo keine Felder mehr sind, beginnt die Macchia, der Buschwald aus Eichen, Weißdorn, Stechpalmen, wilden Rosen, Thymianbüschen und Ginster. Von dorther kam mir mit Glockengeläut eine Schafherde entgegen. Zwei schwarze Hunde umkreisten sie, der Schäfer ging am Schluss. Als sie näher herankamen, sah ich, dass es eine Schäferin war, eine zierliche junge Frau. Sie trug derbe Schuhe, ein buntes Halstuch und einen Schäferstab in der Hand. Aus ihrer Schäfertasche, die ihr an Bändern über der Schulter hing, ragte ein dickes in Leder gebundenes Buch mit Goldschnitt hervor, das sie, als sie meiner ansichtig wurde, tiefer in die Tasche hineinstopfte. Um ihr gebräuntes Gesicht war blondes Haar gescheitelt, geflochten und aufgesteckt, dass es fast wie eine Krone aussah.
Wie auf dem Lande üblich, grüßten wir einander freundlich. Die Schäferin blieb stehen, während ihre Herde rechts und links des Hohlweges das saftige Gras abzuweiden begann, und fragte: „Wollen Sie unser schönes Tal besuchen?“
„Ich wollte“, sagte ich, „aber es scheint, es gibt Probleme mit dem Quartier. Wenn ich im Ort nichts finde ...“
„Sie finden bestimmt etwas“, sagte die Schäferin lebhaft. „Fragen Sie nach einem Haus, das II Molino genannt wird. Es ist oft unbewohnt, weil ich im Sommer meist im Pferch bei meinen Schafen schlafe. Sie können hineingehen, es ist unverschlossen. Sagen Sie der Schwelle ein paar freundliche Worte.“
„Was soll ich tun?“, fragte ich verwirrt.
Die Schäferin errötete. „Das ist nur so ein Sprichwort. Aber ich finde schon, dass man auch zu einem Haus höflich sein sollte.“
„Und ich soll einfach hineingehen?“
„Ja natürlich. Fragen Sie nach Cincias Mühle und machen Sie sich’s bequem.“
Cincia, die Blaumeise, hieß sie also - oder Bachstelze? Jedenfalls ein hübscher Name. Sie gefiel mir überhaupt, wiewohl ich etwas unsicher war, ob es anginge, allein ein fremdes Haus zu betreten.
„Und der Mietpreis? Was soll die Herberge denn kosten?“, erkundigte ich mich.
„Darüber reden wir später“, winkte Cincia ab. Ihre Schafe zogen langsam talwärts. Sie musste ihnen nach. „Bis bald!“
Angenehm beruhigt setzte ich meinen Weg fort. Der Ort lag in einem weiten Tal rechts und links der Chaussee. Ein Flüsschen begleitete den Hauptweg, und soweit das Land flach war, wuchsen Reben und Bohnen, Paprika und Tabak. Auf den Hügeln breiteten sich Terrassenkulturen aus, Ölbaumhaine vor allem.
Von der viel befahrenen Landstraße zweigte ein kleinerer Weg ab, den hatte ich eingeschlagen, sah ich doch einen viereckigen Glockenturm zwischen den Ulmen aufragen und dachte, wo die Kirche ist, muss das Zentrum des Ortes sein. Da kann ich ja nach II Molino, der Mühle, fragen.
Als ich näher kam, stellte sich aber heraus, dass der Turm gar nicht zur Kirche gehörte. Die Kirche war ein Kirchlein, nicht größer als ein Haus, und lag im Schatten dessen, was ich für den Campanile gehalten hatte. Dies aber war ein mächtiger Wehrturm, gebaut aus fahlgelben Bruchsteinen, zinnengekrönt. Ob vor ein paar Hundert Jahren hier ein trutziger Großgrundbesitzer ein Bollwerk gegen rivalisierende Adlige errichtet hatte, ob es ein Zufluchtsort der Bevölkerung in Zeiten der Gefahr gewesen war? Ich stand vor dem imposanten Bau. Die schwere Tür aus Eichenholz trug schwarze Eisenbeschläge und war mit einem gewaltigen Schloss versehen, die Fenster, blank geputzt, befanden sich sehr weit oben
Ich schrak zusammen, als jemand mich ansprach. Und jetzt sah ich, dass eine dürre alte Frau im Garten arbeitete. Wie es in Italien auf dem Lande Sitte ist, war sie schwarz gekleidet, ihr Gesicht durch ein Kopftuch, das sie tief in die Stirn gezogen hatte, kaum erkennbar. „Wollen Sie den Turm besteigen, Signora?“, fragte sie mit einschmeichelnder Stimme.
„Ja, sehr gern, wenn es möglich ist“, gab ich überrascht zurück. Sicherlich war die alte Frau so etwas wie eine Hausmeisterin oder ein Kustos.
„Er gehört nämlich mir, ist mein bescheidener Wohnsitz“, sagte sie, und ich hörte es mit Staunen. Sie ging mir voran mit gebeugtem Rücken, die Sichel in der Hand und öffnete die eisenbeschlagene Tür. Im Halbdunkel führte eine vielfach gewundene Steintreppe nach oben. Wir stiegen sie empor.
Während ich sehr bald nach Luft schnappte und meine Beine wie Blei wurden, lief die alte Frau rüstig hinauf. Ihre Füße in den schwarzen Wollstrümpfen und den ausgetretenen Pantoffeln tanzten vor mir her, dass mir fast schwindlig wurde. Endlich gelangten wir an eine Tür, ebenso massiv wie die untere.
„Hier sind meine bescheidenen Räume“, sagte die alte Frau, die kein bisschen außer Atem war.
Ich musste zugeben, dass „bescheiden“ noch eine Übertreibung war. Ausgesprochen ärmlich war die muffige, altmodische Küche mit dem Wachstuch auf dem Tisch und den an den Wänden gestapelten Vorratskisten. Ein Herd, dessen Abzugsrohr durch eines der kleinen Fenster führte, stand in der Ecke. Durch die angelehnte Tür sah man ein dürftiges Eisenbett mit einer Wolldecke neben einem schäbigen Spind. An der Wand hing ein schwarzes Kreuz, mit ein paar Papierblumen dekoriert.
Ich trat an eine der Fensterluken, um hinauszusehen, aber es gab keine Aussicht. Vor den Fenstern wiegten sich die Wipfel der Bäume. Ich hatte geglaubt, wir seien schon viel höher gestiegen. Schon wollte ich mich bei der alten Frau bedanken, da hatte sie bereits eine kleinere Tür an einer weiteren Treppe geöffnet.
„Kommen Sie, Signora, kommen Sie nur“, sagte sie einladend. „Oben haben Sie eine wundervolle Aussicht über das ganze Tal hin. Es wird einer Dame, wie Sie es sind, gefallen.“
Eigentlich hatte ich von der Treppensteigerei genug, aber ich kam gar nicht zum Protestieren, sie winkte mir mit dem Finger, und ehe ich etwas sagen konnte, erklomm sie schon die nächste Wendeltreppe. Unhöflich wollte ich nicht sein, mir tat die Alte auch leid, und es rührte mich, dass sie sich meinetwegen Mühe machte. Also folgte ich den flinken schwarzbestrumpften Beinen.
So viele Stufen! Ich hätte schwören mögen, dass dieser Turm so hoch wie der Berliner Fernsehturm war. Ächzend und keuchend zog ich mich das letzte Dutzend Stufen hinauf. Von dem Rundherum war mir schwindlig.
Wieder eine Tür - und nun war ich wie geblendet. Eine Fülle von Licht strömte in den Raum! Das war ein hübsches Zimmer, wirklich! Hier konnte man sich wohlfühlen: der Fußboden aus glänzend gebohnerten Ziegelsteinen, die Wände weiß getüncht, schöne hölzerne Borde, das Bett bedeckt mit weißem Lammfell. Schließlich trat ich ans Fenster. Nein, das war doch nicht möglich! Wir waren ja fast zu den Sternen emporgestiegen! Man sah das schöne Tal und die Kränze der Berge ringsum. Bis zum Monte Amiata konnte man schauen. Gar nicht weit entfernt lag wie ein smaragdgrünes Ei der Trasimeno-See. Fern ragten die Türme der Städte. Mir kam es vor, als habe ich mich über das Land erhoben wie ein Falke und schwebe nun über den Weinbergen und Ölbaumpflanzungen. Ich beugte mich etwas vor. Mir wurde schwindlig, als ich in die Tiefe sah. Es war alles ganz unwahrscheinlich.
„Signora“, sagte ich zu der Alten, „das ist wahrhaftig ein wunderbarer Rundblick. Ich kann Ihnen gar nicht genug danken!“ Ich beugte mich noch einmal vor. Da unten floss der Meleto aus dem Gebirge. Um diese Jahreszeit führte er noch reichlich Wasser. Keine zweihundert Meter vom Turm entfernt bildete er einen Kessel. Wasser verstäubte im Sonnenglanz. Es stürzte in einen offenbar tiefen Trichter, der von dichten Bäumen umstanden war. Zwischen hohen Ulmen und Eichen schimmerte das Dach eines Hauses. „Ist das II Molino?“, fragte ich.
„Ja, das ist II Molino“, erwiderte die Alte, und der süße Ton war auf einmal aus ihrer Stimme geschwunden.
Ich sah sie an. Unter dem Kopftuch glänzten nun stechend-scharfe, schwarze Augen, und das dunkelbraune Gesicht erschien spitz und knochig.
„Was wissen Sie denn von der Mühle, meine Dame?“
„Ich habe die Schäferin getroffen“, sagte ich, „und sie hat mir Quartier angeboten.“
Die Alte stieß die Luft mit einem zischenden Laut aus und schlug das Kreuz. „Um des Himmels willen, Signora! Wissen Sie, warum diese Mühle unbewohnt ist? Es ist dort nicht geheuer. Der Geist des verstorbenen Besitzers geht um und erschreckt nachts die Leute. Niemand kann da ruhig schlafen.“
Ich musste in mich hineinlächeln. Ländlicher Aberglaube! dachte ich. Aber ich wollte die alte Frau nicht verletzen und bemerkte nur: „Aber die Schäferin wohnt doch da.“
Meine Begleiterin kniff die Lippen noch schmaler. „Cincia. Ja, der ist nichts heilig, die ist selbst ...“, sie unterbrach sich und warf mir einen schrägen Blick zu. Offenbar hatte sie das Gefühl, etwas Unpassendes gesagt zu haben. Dann begann sie erneut. „Signora, sehen Sie sich hier um! Gibt es etwas Schöneres als diesen Blick ins Land? Die Toskana und ganz Umbrien liegen Ihnen zu Füßen. Sonne und Mond scheinen Ihnen. Sie wohnen in einem alten, berühmten Gemäuer! Gefällt Ihnen das Zimmer nicht? Sie werden es bei mir gut haben. Ich werde für Sie kochen und backen, wenn Sie wollen. Ich koche gut. Sie haben täglich frische Eier - meine Hühner legen fleißig. Haben Sie eine Ahnung, wie kalt und feucht und dunkel es unten in der Mühle ist? Und das ewige Gerausche des Wassers - vom Spuk ganz zu schweigen.“ Sie sah mich auffordernd an. Ihre Augen glänzten.
Ich muss gestehen, dass mir der Gedanke, in dem alten Wehrturm zu hausen, sehr gut gefiel. Andererseits: diese Treppen! Und schließlich hatte ich mit der Schäferin ausgemacht, bei ihr zu wohnen ... Ich lächelte. „Es ist sehr freundlich von Ihnen. Und der Turm ist wirklich interessant. Aber ...“
Sie ließ mich nicht ausreden. „Haben Sie mit Cincia schon einen Preis ausgemacht? Nein? Nun, dann sind Sie nicht gebunden. Ich, Signora, ich bin eine arme alte Frau. Und ich könnte von dem Geld ...“, sie sah vor sich hin und drehte den Zipfel ihrer Schürze in der Hand.
Sie tat mir leid. Bestimmt brauchte sie Geld. Trotzdem zögerte ich. „Ich muss ja aber durch Ihre Wohnung gehen, und diese Treppen sind sehr anstrengend, Signora.“
„Donnola“, unterbrach sie mich, „ich heiße Donnola. Und wenn Sie mich Donna Donnola nennen wollen, es ist zwar etwas altmodisch, aber ich bin es von Jugend an so gewohnt. Was die Treppen angeht, Sie werden merken, schon beim zweiten Hinaufsteigen ist es kein Problem mehr - und es ist gut für die Gesundheit. Und ich, ich schlafe ja in der Kammer. Sie stören mich gar nicht.“
Sie sah mich erwartungsvoll an - ich konnte nicht nein sagen. „Also gut“, sagte ich und warf noch einen Blick in die Runde. „Dann werde ich mein Gepäck holen, das steht noch in der Osteria. Sind Sie zu Haus, wenn ich komme?“
„Ich bin immer zu Haus“, sagte sie beflissen. „Ich werde auf Sie warten.“
„Ich denke auch“, erwiderte ich, „das ist ein guter Platz zum Schreiben.“
„Schreiben?“, sagte sie, und mir schien, dass etwas Lauerndes in ihren Blick kam, „an wen wollen Sie denn schreiben?“
„Keine Briefe“, sagte ich lächelnd. „Es ist mein Beruf, verstehn Sie. Schreiben ist mein Beruf.“
„Sie werden über dies Tal hier schreiben?“
„Ja“, entgegnete ich. „Ich werde vielleicht auch über dies Tal schreiben.“
Sie sah mich an. Und wieder kam mir ihr Blick lauernd vor. Aber dann dachte ich: Was bildest du dir bloß ein? Sie wundert sich, das ist alles. Sie nickte, und wir stiegen hinunter ... Tatsächlich, mir erschien die Treppe schon weniger hoch und weniger mühsam zu erklimmen.
Als ich mit meinem Koffer kam, war Donna Donnola dann doch nicht da. Es wurde bereits dämmrig, und in dem kleinen Kirchlein bimmelte das Glöckchen. Sie wird zur Messe gegangen sein, wie es alte Frauen tun, dachte ich und stellte das Gepäck vor der Tür ab. Ins Glockenläuten mischte sich ein anderer Klang. Die Schafe kamen heim. Ich beschloss, einen Besuch bei der Schäferin zu machen und für ihr Anerbieten zu danken.
Die Schafe waren schon im überdachten Pferch. Freundlich umschwänzelten mich die beiden schwarzen Hunde. Cincia kam mir entgegen. Auf dem Arm trug sie ein junges Lämmchen, dessen Mutter ihr folgte. „Willkommen!“, rief sie und streckte mir die freie Hand entgegen. „Ich werde Sie gleich zum Molino hinunterbegleiten!“
Als ich ihr sagte, dass ich nun doch ein anderes Quartier genommen hatte, verdüsterte sich ihr Gesicht, und sie zog die Brauen zusammen. „Nun sagen Sie bloß, im Turm bei Donnola!“, rief sie ahnungsvoll. Ich nickte. Langsam setzte sie das Lämmchen zu Boden, das auf zittrigen Beinen zu seiner Mutter lief. „Das hätte ich bedenken sollen“, sagte sie ernst und sah vor sich hin, „und Sie warnen. Donnola ist nämlich eine Hexe.“
Ich sah sie verblüfft an und lachte los.
„Was denn, glauben Sie nicht an Hexerei?“, fragte sie mich, offenbar neugierig darauf, so ein komisches Exemplar des menschlichen Geschlechts kennenzulernen. „Und das in der Toskana? Na, Sie werden sich umgucken!“
Ich zuckte die Achseln. Ehrlich gesagt fand ich, dass sie ein bisschen dick auftrug, nur, weil ihr die alte Frau im Turm die Verdienstmöglichkeit weggeschnappt hatte.
Sie schien meine Gedanken lesen zu können. „Ach, Sie denken wohl, wegen der paar Lire, die ich - na, wissen Sie! Ich könnte das Geld zwar gut gebrauchen, aber es geht nicht nur darum. Nein, nein, rückgängig machen können Sie’s nicht. Ach, und vielleicht wird auch alles gar nicht so schlimm.“
„Ich verstehe kein Wort“, sagte ich.
Cincia winkte ab. „Wissen Sie was? Kommen Sie wenigstens auf einen Sprung zur Mühle runter. Gucken Sie sich’s an und trinken Sie ein Glas Wein mit mir.“
Sie sah wieder so freundlich und sympathisch aus, dass ich zustimmte. Das war es ja schließlich, was ich wünschte - mit den Leuten zu reden und ihr Leben kennenzulernen.
Cincia schloss den Pferch und rief ihre Hunde. Neben mir ging sie den Pfad hinunter, wie es schien, in Gedanken versunken. Sie seufzte und hob den Kopf: „Ich sehe ein, dass es für Sie schwer zu verstehen ist. Sie sind, wie man so sagt, ein aufgeklärter Kopf, nennen alle diese Dinge Aberglauben und hirnverbranntes Zeug. Ich will Sie nicht erschrecken, aber es gibt wirklich wunderbare Dinge, Dinge, von denen man sich vielleicht da oben im Norden, wo Sie herkommen, nichts träumen lässt.“
Da musste ich ihr nun zustimmen. „O ja, ich weiß“, erwiderte ich. „Die gibt es wohl. In meinem Beruf begegne ich ihnen häufiger als vielleicht andere Leute. Sie springen mich sozusagen an, diese wunderbaren Dinge, ob ich will oder nicht.“
„Was ist das für ein Beruf?“, fragte Cincia neugierig. „Geisterseher vielleicht oder Prophet?“
„So was Ähnliches“, gab ich lachend zurück und erklärte es ihr.
Sie sah mich an, erstaunt und erfreut. „Oh, das finde ich aber gut. Und werden Sie auch über unsere Gegend etwas schreiben?“
Mir fiel ein, dass mich Donnola das gleiche gefragt hatte, und gleicherweise gab ich zurück: „Das kann durchaus sein. Es kommt natürlich darauf an“, setzte ich hinzu, „ob mich etwas wirklich bewegt.“
Inzwischen waren wir im Talgrund angekommen. Der Wasserfall des Meleto rauschte laut und klangvoll und füllte den kleinen Kessel mit melodischem Gesumm. Die großen Bäume warfen tiefe Schatten. Das alte hölzerne Mühlrad stand still, um das Mühlenhaus herum blühten blaue Schwertlilien, jene Blumen, die als das Wahrzeichen der Toskana angesehen werden.
Wir durchschritten den Bach auf ein paar Steinen, um zum Molino zu gelangen. Die Hunde, von des Tages Arbeit erhitzt, warfen sich ins Wasser und kamen halb schwimmend, halb watend gleichzeitig mit uns ans Ufer, schüttelten sich und übersprühten uns mit einem Tropfenregen. Die Schäferin ging auf das Haus zu, hob die Hände wie einen Trichter vor den Mund und murmelte ein paar unverständliche Worte. Mit leisem Knarren öffnete sich die Tür des Hauses.
Zuerst begriff ich nicht. Vielleicht war jemand in der Mühle, der uns auf ihre Anweisung hin die Tür aufgemacht hatte. Doch als sie leicht errötend bemerkte: „Das meinte ich, als ich sagte: ‚Sprechen Sie ein paar freundliche Worte zum Haus‘“, da begriff ich, dass sie die Tür „aufgeredet“ hatte. Eine leichte Gänsehaut bekam ich trotz meiner deklarierten Furchtlosigkeit im Umgang mit den wunderbaren Dingen dennoch. Ich ließ mir aber nichts anmerken. „Ist es eine bestimmte Formel, die man zu sagen hat?“, erkundigte ich mich.
„Nein“, entgegnete sie lebhaft, „überhaupt nicht. Ein paar freundliche Worte genügen.“
Die Hunde hatten sich als erste durch die Tür gedrängelt, und da sie überhaupt nicht aussahen wie Geisterwesen, vermutete ich, dass drinnen nichts Bedrohliches sein könne, und folgte ihnen mutig an Cincias Seite.
Es schien mir, als sei es im Haus heller als draußen unter den schattigen Bäumen. Ein sanfter milchiger Lichtschimmer schien über dem weiß getünchten Flur zu liegen, dessen Fußboden aus den gleichen gebohnerten Ziegeln bestand wie Donnolas Turmzimmer. Auch hier gab es Möbel aus dunklem Holz und Schaffelle auf Bänken und Liegen.
Nebenan bellten die Hunde aufgeregt. „Ich habe ihnen hundertmal verboten ...“, rief die Schäferin aufgeregt. „Murrina! Tirsi! Kommt hierher!“
Ich war Cincia gefolgt und hätte fast aufgeschrien. Die Hunde, die sich langsam zurückzogen, knurrten noch immer. Ihr Nackenfell war gesträubt. In dem Raum aber, einer großen Küche mit verrußtem Kamin, ringelte sich zischend und mit drohend erhobenem Haupte eine große schwarze Schlange.
Cincia gab ihren Hunden noch einmal einen scharfen Befehl. Dann ging sie an ihnen vorbei auf das züngelnde Tier zu, während sie leise und freundlich auf es einsprach - ihre Worte waren mir genau so wenig verständlich wie vorhin an der Schwelle. Sie ergriff ein hölzernes Schüsselchen, das an der Erde stand, goss aus einem Krug Milch hinein und setzte es vor der Schlange nieder. Das Ungetüm schien sie anzusehen und begann von der Milch zu trinken. Cincia kauerte davor, drehte den Kopf zu mir und sah mich mit begütigendem Lächeln an. „Sie hatte Durst“, flüsterte sie. In dem seltsamen, ungewissen Licht, das in diesem Hause herrschte, schien es mir, als ginge von ihrer blonden Haarkrone ein Schein aus.
Ich stand zwischen den schwarzen Hunden auf der Schwelle, und mir war, als sträubten sich meine Haare genauso wie das Fell der Tiere. Die Schlange aber trank sich satt und verschwand lautlos in einem Spalt des Mauerwerks.
„Nur herein“, sagte die Schäferin, stellte die Schale beiseite und hielt ein Streichholz an die im Kamin bereitliegenden Scheite, „ich hoffe, Sie haben keine Angst wie etwa meine beiden Dummerchen hier?“ Sie strich den Hunden übers Fell. „Das ist die Hausschlange, eine Königin unter den ihren, alt wie diese Mühle. Solange sie kommt, sagen die Alten, ruht Segen auf einem Ort. Sie hat übrigens noch nie jemandem etwas zuleide getan.“
„Wäre sie auch hier gewesen, wenn ich allein gekommen wäre?“, erkundigte ich mich.
„Kaum“, entgegnete sie und stellte eine der typischen Chiantiflaschen auf den Tisch, grünbauchig, mit Stroh umflochten. „Sie kennt die Schritte der Herrin, meine Schritte.“ Zwei Becher wurden mit hellem Rotwein gefüllt. „Das ist der Wein dieser Hügel“, sagte Cincia und hob ihren Becher mir entgegen. „Sei willkommen im Tal, und möge alles zum Guten geraten!“ Sie duzte mich nun, und auch mir war, als würden wir uns schon lange kennen. Wir tranken uns zu, das Feuer warf Flackerlichter über unsere Hände und das Fell der Hunde, die sich zu unseren Füßen hingelegt hatten. Einerseits bedauerte ich nun, Quartier im Turm genommen zu haben, andererseits war mir die Schlange doch recht unheimlich gewesen. Und im Turm hatte ich die herrliche Aussicht. Außerdem war ich neugierig. Was steckte eigentlich hinter der Feindschaft der beiden?
„Sag Donnola nicht, dass du bei mir warst, es ist besser“, bemerkte Cincia. „Ach, und ich würde ihr auch nicht verraten, was für einen Beruf du hast.“
Ich verschwieg, dass sie das nun bereits wusste. „Wolltest du mir nicht von Dingen erzählen, die mich erschrecken könnten?“
Sie sah mich prüfend an, dann winkte sie ab. „Vielleicht muss es nicht sein.“
Sie winkte mir nach, als ich über die Steine des Baches Meleto balancierte.
Im Mühlental und unten im Haus war es mir vorgekommen, als wäre die Nacht schon hereingebrochen. Nun merkte ich, es war gerade erst Abend. Eine Fledermaus löste sich aus den Baumschatten und strich lautlos an mir vorbei. Der Turm stand wie ein dunkler Riese vor dem schwach rötlichen Abendhimmel.
Während ich mich ihm näherte, dachte ich über Cincia nach. Woher mochte ihre Gegnerschaft zu Donnola rühren? Der Turm - ja, was war das nun für ein Turm? Eine nur friedliche Behausung war er gewiss nicht. Ich beschloss, die alte Frau zu fragen.
Mein Gepäck war ins Haus geschafft worden, und der Aufstieg erschien mir jetzt bei Weitem nicht so beschwerlich wie beim ersten Mal. In der Küche hantierte Donnola an ihrem ärmlichen Herd und fragte gleich, ob sie mir etwas zu essen machen solle, aber ich lehnte ab. Alles schien mir ein bisschen staubig - ich weiß, man soll sich auf Reisen nicht allzu heikel zeigen, doch in dem halbdunklen Licht der trüben Lampe kam es mir vor, als habe die alte Frau ihre paar angeschlagenen Tassen längere Zeit nicht abgewaschen.
„Aber das Frühstück, nicht wahr, Signora, das Frühstück darf ich Ihnen bringen?“, fragte sie schmeichlerisch.
Ich wollte sie nicht kränken und sagte ja. Jetzt aber sei ich müde und wolle zu Bett.
Sie warf mir einen Seitenblick zu: „Viel spazieren gegangen?“, erkundigte sie sich. Ich dachte an Cincias Warnung - oder war es eine Bitte gewesen? - und nickte. „Was ich Sie noch fragen wollte, Donna Donnola“, sagte ich, „was ist das eigentlich für ein Turm, in dem ich hier wohne?“
„Ein sehr alter Turm“, sagte sie eifrig. „Alles echt historisch. Zwölftes Jahrhundert.“
„Wozu hat er gedient? War er da, um ins Land zu schauen, ob Feinde kämen? Haben sich die Landleute darin verwahrt oder gehörte er einem Adelsgeschlecht?“
Donnola klapperte mit den Tassen. „Darüber weiß ich nichts, rein gar nichts weiß ich, Signora. Das ist alles vergessen.“
„Nun, dann will ich jemanden hier im Dorf fragen“, entgegnete ich.
„Das brauchen Sie nicht“, bemerkte sie unerwartet scharf, fuhr aber gleich im Honigton fort: „Kein Mensch hier weiß mehr irgendetwas. Wir leben in den Tag hinein und freuen uns über jeden Fremden, der vorbeikommt und die alten Dinge betrachtet. Gute Nacht, Signora, gute Nacht.“ Es sah fast aus, als wolle sie einen Knicks machen.
Der zweite Teil der Treppe wurde mir wieder recht zur Qual. Ich versuchte die Stufen zu zählen, aber ständig kam ich durcheinander. Irgendwo schwankte eine trübe Glühlampe, als wehe ein heimlicher Wind, und warf sonderbare Reflexe über die ausgetretenen Stufen. Ich war außer Atem, als ich endlich an der Tür meines Zimmers angelangt war. Aber nun erwartete mich eine angenehme Überraschung. Im Raum herrschte das gedämpfte Licht einer schönen, bunt bespannten Hängelampe. Meine Sachen waren nicht nur hochgetragen, sondern auch so sauber in den Schrank verstaut worden, als habe eine gelernte Kammerzofe sich ans Werk gemacht. Das weiß bezogene Bett war einladend aufgeschlagen, und auf einem Tischchen daneben standen eine Karaffe mit Wasser und ein Krug mit Wein. An alles war gedacht, bis auf eins: Es gab nicht die Andeutung eines Arbeitsplatzes, keine Möglichkeit, sich hinzusetzen und das Schreibzeug auszubreiten.
Ich löschte das Licht und trat von einem Fenster zum anderen. Das Land lag im Schein der südlichen Sterne, die so viel größer und glänzender sind als unsere im Norden. Unten, tief unten flimmerten Lichter, aber wie unbedeutend kamen sie mir vor, verglichen mit den Feuern des Himmels. Dunkel hob sich die Silhouette der fernen Berge und Hügel vom Horizont ab. Nur an einer Stelle schien eine sanfte Helligkeit die Nacht gleichsam zu entfärben. Ich beugte mich vor und sah hinaus. Das Helle musste vom Molino ausgehen - genau dort lag die geheimnisvolle Mühle mit der Schlange, und ich erinnerte mich des Besuchs am Kessel des Meleto jetzt, als wäre es ein Traum gewesen, freundlich und fremdartig zugleich.