Große Not im kleinen Kaufhaus - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Große Not im kleinen Kaufhaus E-Book

Elisabeth Dreisbach

0,0

Beschreibung

Die beliebte und lebenserfahrene Schriftstellerin lässt uns in diesem Buch an den bunten Schicksalen großer und kleiner Leute teilhaben, die ihren Weg im Laufe einiger Jahrzehnte kreuzten, deren Lust und Leid sie miterlebte und mittrug. Es sind meist schlichte Menschen, die uns begegnen, mit ihren Sorgen, Nöten und Problemen - es könnten auch die unseren sein -, und der Titel der ersten Erzählung »Große Not im Kleinen Kaufhaus« steht gewissermaßen als Thema auch über allen folgenden. Elisabeth Dreifach legt nicht nur den Finger auf wunde Stellen, sie weiß auch von wundersamer Führung und Fügung zu berichten, von Heilung und Hilfe, die denen zuteil wurde, die sich von Gott finden ließen. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 274

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Große Not im kleinen Kaufhaus

Band 14

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-135-0

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Dank

Herzlichen Dank, dass Sie dieses eBook aus dem Folgen Verlag erworben haben.

Haben Sie Anregungen oder finden Sie einen Fehler, dann schreiben Sie uns bitte.

Folgen Verlag, [email protected]

Newsletter

Abonnieren Sie unseren Newsletter und bleiben Sie informiert über:

Neuerscheinungen aus dem Folgen Verlag und anderen christlichen Verlagen

Neuigkeiten zu unseren Autoren

Angebote und mehr

http://www.cebooks.de/newsletter

Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Wie dieses Buch entstand

Große Not im Kleinen Kaufhaus

Selbstgewählte Fesseln

Martina sorgt für Weihnachten

„Unsere Ehe wird geschieden …“

Ev-Marie

Der entgleiste Posaunenengel

Kleines Denkmal

Die Probe

Auf der Schattenseite des Lebens

… und hätte der Liebe nicht

Unsere Empfehlungen

Wie dieses Buch entstand

„… und ich will einfach heiraten!“

Sie machte eine Pause und blickte mich beinahe herausfordernd an, so als warte sie auf eine Entgegnung, die sie zum Widerspruch reizen würde.

Ich antwortete nicht gleich. Mein Blick wurde von dem herbstlich schönen Bild vor meinem Fenster angezogen. In allen Farben und Schattierungen leuchtete es vom Waldrand herüber. Von den weiter zurückliegenden Höhenzügen hoben sich die Konturen einzelner Baumgruppen am Horizont ab. Drüben, nur hundert Meter weiter, weidete eine Herde Schafe. Der alte Schäfer stand, vor sich hinträumend, auf seinen langen Hirtenstab gelehnt und ließ seine Blicke von Zeit zu Zeit über seine Tiere gleiten. Tiefes Schweigen erfüllte die Runde.

Die Stimme meiner Besucherin, die da vor mir saß, riss mich aus meiner Betrachtung, die wohl nur wenige Sekunden gedauert hatte.

„Schließlich hat uns der Schöpfer ja so erschaffen – mit dem zwingenden Zug zum anderen Geschlecht.“ Ihre Stimme bebte vor verhaltener Leidenschaft, als sie fortfuhr. „Ich sehe nicht ein, warum ausgerechnet ich Verzicht leisten soll. Alle meine Geschwister sind verheiratet. Die fragen natürlich nicht danach, wie mir manchmal zumute ist. Die waren froh, dass ich bei den alten Eltern wohnte und sie bis zu ihrem Tod versorgte. Jetzt stehe ich ganz allein da. Und wie man unter einem solch nonnenhaften Dasein und unter solcher Einsamkeit leidet, das begreifen sie nicht.“

Ich blickte sie fragend an. Sie senkte den Blick und nestelte an dem wildledernen Täschchen in ihrem Schoß.

„Halten Sie mich für schlecht, dass ich so rede?“ fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. „Leiden Sie wirklich so unter der Ehelosigkeit? War es nicht auch eine Ihr Dasein bisher erfüllende Aufgabe, für Ihre alten Eltern gelebt zu haben?“

Mit einer resignierenden Handbewegung tat sie die Frage ab. „Gewiss, man hatte ja Verpflichtungen ihnen gegenüber. Aber wenn das alles ist, was ich von meinem Dasein zu erwarten habe – nein, das halte ich nicht aus. Das genügt nicht. Das ist kein Leben. Und –“ Sie besann sich einen Augenblick, ob sie weiterreden solle, dann aber brach es aus ihr hervor: „Ja, ich leide – kein Mensch ahnt, wie sehr. Ich leide seelisch und körperlich, und ich will einfach heiraten. Und weil ich Vertrauen zu Ihnen habe, möchte ich Ihre Ansicht hören:

In meinem Geschäft arbeitet ein Mann, der sich für mich interessiert. Aber er ist verheiratet und sieben Jahre jünger als ich. Er würde sich scheiden lassen. Es stört ihn auch nicht, dass ich schon fünfunddreißig Jahre alt bin. Zwar ist er nicht der Typ, den ich mir in meinen Vorstellungen als Mann gewünscht habe – aber soll ich nun noch länger warten? Vielleicht bietet sich mir überhaupt keine Chance mehr. Soll ich auf eine der vielen Heiratsinserate antworten? Schließlich fällt man dann noch einem Schwindler in die Hände. – Meine Geschäftskolleginnen lachen über mich. Ich sei altmodisch und stur, sagen sie. Heutzutage zerbreche man sich über diese Dinge nicht mehr den Kopf. ,Man nehme‘, heiße es nicht nur im Kochbuch, sondern auch auf diesem Gebiet, und es gäbe genug, die dafür Verständnis hätten. – Aber ich weiß nicht – ich brauche einfach einen Menschen, der mir rät.“

Deutlich empfand ich wieder, wie groß die Verantwortung ist, einem Menschen Wegweisung zu geben. – Was wissen wir von dem anderen? Wir hören ihn wohl an, aber wir sehen ihn mit unseren eigenen Augen, die ihn doch meistens aus der Ichbezogenheit beurteilen, abhängig von unseren persönlichen Erlebnissen und Führungen. – Ist unsere vermeintliche Menschenkenntnis nicht auch Stückwerk? Tasten wir nicht vielfach an dem anderen nur herum, ohne fähig zu sein, in die Tiefen seines Seins zu dringen und ihn letztlich zu verstehen? – „Ich brauche einen Menschen, der mir rät.“ Hier wartete man auf Antwort. Hier war beschämendes Vertrauen. Und Vertrauen verpflichtet.

„Eigentlich ist es unnötig, dass ich Ihnen Antwort gebe. Sie erkennen selbst deutlich, dass die Auffassung Ihrer Geschäftskolleginnen nicht richtig ist. Sie sind doch in einem christlichen Hause auf gewachsen.“

„Ich teile längst nicht mehr alle Ansichten meiner Eltern.“

„Aber Sie wussten, dass auch ich Ihnen keinen anderen Rat geben kann als den, der aus meiner christlichen Überzeugung kommt. Gott hat uns Menschen, der Krone der Schöpfung hier auf Erden, den freien Willen gegeben. Wir sollen Herren unseres Gefühlslebens sein und uns nicht von den Trieben versklaven lassen. Schließlich ist es nicht jeder Frau Bestimmung, sich zu verheiraten. Deswegen kann sie doch die in ihr schlummernde Mütterlichkeit betätigen. Es gibt so viele arme heimatlose Kinder …“

Das Mädchen stand auf. Sie straffte sich und warf in Ermangelung eines Spiegels einen Blick in meine Fensterscheibe, nachdem sie ihren gelben Pullover über die Hüften gezogen hatte. Sie hatte eine gute Figur. Ihr kurzgeschnittenes Haar war modisch frisiert. „Sie reden von Kindern“, sagte sie. „Ich will aber vor allem einen Mann, später einmal – aber in den nächsten drei vier Jahren noch nicht – vielleicht auch ein Kind – höchstens zwei. – Ach, ich sehe, Sie können mir auch nicht raten. Schließlich muss jeder wissen, was er seiner Veranlagung entsprechend benötigt.“

Nein, so konnte ich sie nicht gehen lassen. Es gelang mir, sie noch einmal zum Sitzen zu bewegen. Ich sprach Worte zu ihr, wie sie mir meine christliche Erziehung, meine Lebenserfahrung und Überzeugung diktierten. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass allein der Gedanke, eine Ehe zu zerstören, sein Glück auf den Tränen eines anderen Menschen aufzubauen, verwerflich ist; dass ihr das Gebot „du sollst nicht ehebrechen“ doch von Jugend auf bekannt sei und dass niemals Segen auf solchem Tun liegen könne. Dass es gewagt sei, einen sieben Jahre jüngeren Mann zu heiraten, streifte ich nur am Rande, das war in diesem Fall auch nicht das Entscheidende – außerdem wusste ich, dass es gute und harmonische Ehen geben kann, auch wenn die Frau älter als der Mann ist. – Ich bemühte mich, ihr klarzumachen, dass ein unverheirateter Mensch keineswegs ein leeres Leben führen müsse.

„Aber steht nicht auch in der Bibel: ,Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei‘?“

„Ich glaube nicht, dass sich das nur auf die Ehe bezieht. Außerdem gibt es viele, die trotz ihrem Verheiratet- und Beieinandersein mehr als allein sind, weil wohl die körperliche Verbindung, nicht aber Seelengemeinschaft vorhanden ist.“

Greta Borginn sah nicht aus, als stimme sie mir zu.

Ich fuhr fort: „Keines Menschen Dasein braucht unausgefüllt zu sein, und der Unverheiratete hat ebenfalls seinen Lebensauftrag.“

„So reden Sie, weil Sie Ihr Leben lang Aufgaben zu erfüllen hatten, die Ihnen lagen. Sie mussten nie in einer Fabrik stehen im ohrenbetäubenden Getöse und Lärm der Maschinen, umgeben von Mitarbeitern, die sie anwidern, denen nichts heilig ist und die in jeder Frau ein Weibstück sehen. Wäre ich schlecht, hätte ich mich längst mit einem von ihnen eingelassen, leicht genug machen sie es einem. Aber dazu bin ich mir doch zu schade. – Ich will heiraten, will einen Mann haben, der zu mir gehört und der bei mir bleibt. Wenn wir dann Kinder haben, soll mir's recht sein, wenn nicht, ist das weiter auch nicht schlimm, denn mit Kindern kommen die Sorgen ins Haus und man hat keine Zeit mehr für sich selbst und seine Wünsche.“

Eine Weile war Schweigen zwischen uns beiden. Dann sagte ich zu ihr: „Ich vermag Ihnen keinen anderen Rat zu geben als den: Fragen Sie in allen Entscheidungen Ihres Lebens nach dem Willen Gottes. Seine Gebote haben noch heute Gültigkeit. Sich ihnen zu widersetzen, rächt sich. – Dass Sie sich verheiraten möchten, ist natürlich und verständlich. Dass Sie dabei an einen Mann denken, der einer anderen Frau sein Ja gegeben hat, ist Sünde. Wenn Sie daran glauben, dass jedes Menschen Weg von Gott vorgeplant ist, wird Ihr Herz stille werden, im Wissen darum, dass der für Sie bestimmte Mann eines Tages Ihren Weg kreuzt oder aber, dass Ihr Leben einen andern Auftrag hat.“

Sie war enttäuscht. Ich sah es ihr an. Hatte sie wirklich erwartet, von mir etwas anderes zu hören?

„Ein Leben, wie ich es jetzt führe, ist auf die Dauer unerträglich.“ Mit diesen Worten verließ sie mich.

Noch lange beschäftigten mich ihre Worte. Wie viele Menschen waren mir im Laufe der Jahre begegnet, die unzufrieden mit ihrem Dasein waren, die es wie Greta Borginn unerträglich nannten, weil ihre persönlichen Wünsche nicht in Erfüllung gegangen waren oder sie eines Tages durch allerlei Geschehnisse vor den Trümmern ihres Glücks standen! – Und andere hatte ich kennengelernt, die Ruhe und Zufriedenheit ausstrahlten, obgleich auch sie von Verzicht und Entsagung in ihrem Leben zu berichten wussten. – Ich will von einigen erzählen. Irgendwann und irgendwo bin ich ihnen begegnet, wenn sie auch andere Namen trugen und an anderen Orten lebten. Sie alle haben uns etwas zu sagen: die Ev-Marie und der Posaunenengel; Horst, dessen leidvolle Sehnsucht weder erkannt noch beantwortet wurde; Martina, das kleine Mädchen, das die Freude hineintrug in die graue Eintönigkeit des Armenhauses, und Frieder Zöllner, der am Weihnachtstag im Gefängnis geboren wurde; die müde gewordene Schwester Ilsegret und die Bewohner des Dorfes, in dem das Kleine Kaufhaus stand. Sie alle sind Menschen, in deren Herzen sich eine Sehnsucht regte. Wo sie erkannten, dass die tiefste und verborgenste Sehnsucht nichts anderes ist als Heimweh nach Gott, da wurden sie still und lernten zu den Führungen ihres Lebens „ja“ sagen, auch wenn die Aufgabe ihrer eigenen Wünsche von ihnen gefordert wurde.

Menschen wie du und ich; die etwas wussten vom Sehnen, Suchen und Finden, oder die ihr Dasein unerträglich und unausgefüllt empfanden, weil sie es sich anders vorgestellt hatten – von ihnen will ich erzählen.

Große Not im Kleinen Kaufhaus

„Ein Verbrecher ist er!“

„Im Zuchthaus endet er!“

„Kein Wunder“ – Frau Schmätzke dämpfte ihre Stimme und blickte witternd um sich – „bei so einer Mutter!“

„Und wer weiß, was der Vater für einer gewesen ist!? – Aber mich geht's ja nichts an.“

„Jeder kehre vor seiner eigenen Türe!“

Die Köpfe flogen herum. Empört und herausfordernd blitzten die Augen Marion an, die es gewagt hatte, sich in ihr Gespräch zu mischen.

„Was kümmert es dich?“ Hannes Plumkern maß sie von oben bis unten. „Wir haben dich nicht um deine Meinung gefragt.“

Marion blieb mit ihrem Milchkarren stehen. Ruhig und gelassen antwortete sie: „Das stimmt. Aber wenn ihr so laut und deutlich über jemand herzieht, dass man es über die ganze Straße hören kann, müsst ihr es euch gefallen lassen, dass ein anderer ebenfalls seine Meinung sagt. Und außerdem kann keiner von euch für seine eigenen Kinder garantieren.“

„Was willst denn du wissen?“ Die Lindenhöferin zischte Marion gehässig an. „Einen Mann haste nicht gekriegt, und selbst, wenn du noch einen aufgabeln könntest – Kinder würdest du doch keine mehr bekommen. Also red nicht von Sachen, die du doch nicht verstehst!“

Über das Gesicht der Vierzigjährigen huschte eine Röte. Aber sie bezwang sich. „Du magst recht haben, Mina, dass ich in vielem, was du erlebt hast, nicht mitreden kann. Aber ich finde es nicht richtig, dass alles auf dem Jungen herumhackt. Was kann er dafür, dass er bis jetzt noch keine rechte Heimat hatte, dass man nicht weiß, wer sein Vater ist, und dass er noch nie Mutterliebe kennengelernt hat. Es kann gut sein, dass er im Zuchthaus endet. Es ist sicher, dass er erblich belastet ist; aber es könnte die Möglichkeit bestehen, dass er einmal anklagend vor unserem ganzen Dorf steht und uns zur Rechenschaft zieht: ,Was habt ihr getan, um mir zu helfen? Ihr habt mit Steinen des Vorwurfs und der Anklage auf mich geworfen, ihr habt mir eine Verbrecherlaufbahn prophezeit; aber niemand von euch hat sich meiner angenommen!‘ – Ja, so könnte es einmal sein!“

Ein paar derjenigen, die sich bisher lebhaft am Gespräch beteiligt hatten, zogen wortlos ab. Vielleicht empfanden sie, wie Recht Marion hatte. Die anderen aber begehrten auf.

„Verschone uns mit frommen Redensarten! Wenn wir die hören wollten, würden wir zur Kirche gehen.“

„Nicht einmal der Pfarrer hat den elenden Halunken zurechtgebracht. Was sollen denn wir bei so einem ausrichten? – Komm, hör bloß auf!“ Marion bückte sich und nahm die Deichsel des Wagens wieder auf. Wortlos ging sie weiter. Es war zwecklos, noch ein weiteres Wort zu verlieren. Ihre Meinung hatte sie gesagt. Was sie nun daraus machten, das war ihre Sache.

Die „Molke“ war nicht nur der Ort, wo man am Abend die Milch abzuliefern hatte, sondern auch der Treffpunkt der Jugend und all derer, die sich für die Dorfneuigkeiten interessierten und sie, mit einem Kommentar versehen, weitertrugen. Alle Sensationen wurden durchgehechelt, und alte Geschehnisse, über die endlich einmal Gras hätte wachsen können, wieder aufgegriffen. – Ja, die „Molke“! Dort standen, besonders in den Monaten der frühen Abende, auch die schäkernden Liebespärchen und ebenso die halbwüchsigen Burschen, wenn sie einen neuen Streich ausheckten.

Heute sprach man aber nicht nur an der „Molke“, sondern in jedem Haus von der Verhaftung des noch nicht ganz achtzehnjährigen Peter Liepke. – Na, der konnte mit einer ordentlichen Strafe rechnen, wenn er auch noch unter das Jugendgesetz fiel. Ein Brandstifter und Dieb! – Wer wusste überhaupt, was der sonst noch alles auf dem Kerbholz hatte? Hoffentlich wurde die Sache auch ordnungsgemäß untersucht und gründlichst erforscht! Sonst konnte kein Mensch im Dorf auch nur eine Nacht mehr ruhig schlafen! Und hoffentlich kam dieser jugendliche Verbrecher einem strammen Richter in die Hände, nicht einem, der auf seltsame Ideen verfiel – etwa dem Jungen auf trug, in einem Altersheim sich um die Greise zu kümmern oder im Krankenhaus in seiner Freizeit mitzuhelfen oder ähnliches – was ja überhaupt keine Strafen waren. Man hatte in den letzten Jahren manchmal derartiges in der Zeitung gelesen. Als ob jemals ein Verbrecher durch solchen Unsinn gebessert worden wäre! – Die Prügelstrafe sollte für solche Burschen wieder eingeführt werden, und ein paar Jahre Einzelzelle bei Wasser und Brot müssten sie erhalten. – Da käme einer schon eher zur Besinnung! –

Marion Lambert saß auf der Eckbank am Tisch ihrer Wohnstube. Sie war allein. Das Haus hatte sie bereits geschlossen. Oft vergaß sie es sonst. Aber in dem abgelegenen Dorf hatte man bis jetzt ohne Unruhe auch bei nicht verschlossener Türe schlafen können. Nachdem in letzter Zeit allerdings so manches vorgekommen war, wurden die Bewohner der kleinen Ortschaft misstrauisch. Wenn sogar in ihrer eigenen Mitte ein Verbrecher sein Unwesen trieb!

Aber daran dachte Marion nicht. Heute Abend war das Schließen der Türe mehr eine Geste der Abwehr, der Absonderung gewesen. Ich will, nein, ich muss allein sein. Eure Gerüchtemacherei, eure Sensationsgier macht mich krank. Ihr lechzt geradezu danach, eine spannende Kriminalgeschichte zu erleben, wie sie jetzt so oft auf der Leinwand des dörflichen Kinos gezeigt wird. Ihr entrüstet euch über die Tat des herumgestoßenen Jungen und hofft im Stillen bloß darauf, durch ihn weitere Sensationen zu erleben. – Ob wohl unter den Frauen des Dorfes nur eine einzige war, die dem armen Kerl ein wenig mütterliche Gefühle entgegenbrachte?

Marion stützte den Kopf in die Hand und blickte sinnend vor sich nieder, blätternd im Buche der Erinnerung.

Nun war es schon zwanzig Jahre her, dass sie in der Kreisstadt im Säuglingsheim als Kinder- und Wochenpflegerin ausgebildet wurde. Gleich nach ihrem Examen hatte sie für einige Jahre in der Entbindungsabteilung Anstellung genommen. Was war ihr dort alles begegnet! Unbeschreiblich das Glück und die Freude, wenn man einer jungen Frau zum ersten Mal ihr Kind in die Arme legte! Übergroß der Dank der Eltern, wenn es ein gesundes, wohlgestaltetes Kind war! Abgrundtief aber auch Schuld und Leid, vor denen man oft fassungslos stand! Junge Mütter, die ein, zwei, drei uneheliche Kinder hatten, deren Väter sie nicht angeben konnten, die keine Möglichkeit besaßen, ihren Kindern eine Heimat zu bieten, und es kaltblütig hinnahmen, dass diese Kinder dem Staat zur Last fielen, von einem Kinderheim ins andere kamen und nie Elternliebe kennenlernten. Frech und herausfordernd blickten vierzehn-, fünfzehnjährige Mütter Ärzten und Schwestern ins Gesicht und erzählten sich gegenseitig in Schamlosigkeit ihre Erlebnisse. Unter diesen unverheirateten Müttern gab es natürlich auch Ausnahmen, die die Verantwortung für ihr Kind fühlten und über ihrem Mutterwerden ernster und reifer wurden.

Eines Tages war Guste Liepke gekommen. Mit keinem Blick, geschweige durch ein Wort, hatte sie kundgetan, dass sie Schwester Marion kannte. Unnahbar und verschlossen war sie geblieben bis zuletzt. Im Dorf hatte es viel gehässiges Gerede gegeben, als man merkte, dass sie ein Kind erwartete. Da niemand trotz aller Vermutungen mit Sicherheit wusste, wer der Vater dieses Kindes war, scheute man sich nicht, sie zur Dime zu stempeln. Bitter und menschenscheu zog Guste sich von allen zurück, in jedem Dorfbewohner einen Feind sehend. Ihre Eltern, einfache, ordentliche Leute, verstanden die Tochter nicht mehr, zumal sie ihnen früher eigentlich nie Kummer bereitet hatte. Einige Wochen vor der Geburt ihres Kindes verschwand sie aus dem Dorf. Niemand wusste, wohin sie sich gewandt hatte. Auch die Eltern behaupteten, nichts von ihrem Aufenthaltsort zu wissen.

So kam sie in das Entbindungsheim. Sie war im gleichen Alter wie Marion. Zusammen hatten sie die Schule besucht. Guste aber blieb völlig unzugänglich, als die Kindheitsgespielin sich ihr zu nähern versuchte.

Über Marion wurde im Dorf zwar nicht weniger gesprochen als über Guste, wenn auch in anderer Art. „Was braucht die einen Beruf zu erlernen? Die will wohl was Besseres sein als unsere Töchter? Die Arbeit im Stall und auf dem Acker ist ihr wohl nicht sauber genug? Vielleicht gehört sie auch zu einer Sekte und will sich durch gute Werke den Himmel verdienen. Warum ist sie dann nicht gleich Nonne geworden?“ Alle, die es wagten, außerhalb der dörflichen Gepflogenheiten ein Ziel zu verfolgen, wurden als Sonderlinge betrachtet und gehörten in schweigendem Einverständnis nicht mehr in die Dorfgemeinschaft. Das war vor zwanzig Jahren noch so gewesen. Im Laufe der Zeit war man etwas aufgeschlossener geworden. Der Krieg und seine Folgen hatten manches geändert. Aber Marion wurde auch heute, wo sie doch bereits wieder etliche Jahre im Dorf lebte, noch als Außenseiterin angesehen und fand nur schwer Anschluss.

Als Guste vor achtzehn Jahren zur Geburt ihres Kindes in die Klinik kam, empfand Marion tiefes Mitgefühl. Aber als man nach der schweren Geburt der Mutter ihr Kind zeigte, wandte diese sich ab und winkte mit der Hand, man solle es wegbringen, sie wollte es nicht sehen. Es waren viele Mütter durch das Haus gegangen, verheiratete und alleinstehende; aber solche Stellungnahme dem eigenen Kind gegenüber hatte kaum eine von ihnen gezeigt. „Ich will es nicht sehen, ich will es nicht haben, macht mit ihm, was ihr wollt! Wäre es nur bei der Geburt gestorben.“ Es war, als ließe ihre Haltung dem unerwünschten Kind gegenüber den Brunnen der mütterlichen Nahrung versiegen. Sie hatte ihm nichts zu bieten. Das ging so weit, dass Guste auf die Frage, wie es heißen solle, mit den Achseln zuckte. „Es ist mir gleich, nennt es, wie ihr wollt.“ Man ließ ihre Mutter rufen, vielleicht, dass diese etwas bei ihr ausrichtete. Guste weigerte sich, sie zu empfangen. Was musste das Mädchen durchgemacht haben, dass sich über sein einstmals so frohes Gemüt solch unnatürliche Starre gelegt hatte!

Als Guste das Haus verließ, blieb der kleine Peter im Säuglingsheim. Seine Mutter ging, ohne ihm ein gutes Wort zu schenken, ohne sich auch nur einmal über sein Bettchen gebeugt zu haben. Im heimatlichen Dorf war Guste seither nicht mehr gewesen. Einige Male hatte man sie in der Stadt gesehen, herausfordernd gekleidet, laut und zügellos in ihrem Benehmen, begleitet von zweifelhaften Mädchen, deren Beruf stadtbekannt war. Sollte sie eine der Ihren geworden sein? Wie war eine solche Veränderung nur möglich, nachdem sie einmal zu den anständigsten Mädchen des Dorfes gehört hatte?

Peter verbrachte seine Kindheit in verschiedenen Kinder- und Fürsorgeheimen. Man versuchte es mit einigen Pflegestellen, hoffend, dass der familiäre Einfluss ihm gut tun werde. Er lief davon, trieb sich auf der Straße herum und beteiligte sich an vielen Untaten. Nachdem der Großvater gestorben und der kleine Hof nun allein in den Händen der inzwischen alt gewordenen Witwe lag, ließ man den dreizehnjährigen Enkel kommen. Peter betrat damals zum ersten Mal heimatlichen Boden. Aber zu Hause fühlte er sich auch dort nicht. Eine seltsame Unruhe erfüllte den Jungen. Viel Schuld daran, dass er nicht heimisch wurde, hatte das Dorf. Roh und herzlos erzählten die Eltern ihren Kindern seiner Mutter Geschichte. So fühlte er sich bald geächtet – wie vor Jahren seine Mutter. Obgleich er sie nicht kannte, empfand er damals zum ersten Mal etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl ihr gegenüber, wenn es auch aus dem Hass und der Verachtung den Dörflern gegenüber entsprang.

In der Schule war Peter untauglich, obgleich der Lehrer behauptete, er besäße Fähigkeiten, er sei nur maßlos faul und gleichgültig. Im Konfirmandenunterricht saß er entweder spöttisch grinsend oder völlig geistesabwesend da. Niemand wusste, was in ihm vorging.

Freunde besaß er keine. Seit einiger Zeit lungerte er jedoch mit einigen Halbwüchsigen herum, die nicht den besten Ruf hatten. Nachdem er aus der Schule entlassen war, hatte die Großmutter etwas mehr Hilfe an ihm. Manchmal schien es sogar, er gewinne Freude an der Landwirtschaft. Niemand aber war im Dorf, der ihm etwas Gutes zutraute, keiner bemühte sich, ihm zurechtzuhelfen. Er blieb der Geächtete.

Im letzten halben Jahr war zweimal an verschiedenen Stellen Feuer ausgebrochen. Es bestand kein Zweifel: Brandstiftung. Wenngleich auch in beiden Fällen weder Menschen noch Vieh umgekommen waren, so entstand doch großer Schaden. Im zweiten Fall aber waren, während sich alle Dorfbewohner bemühten, das Feuer in der brennenden Scheune zu löschen, aus einer Kommodenschublade im Wohnhaus 700 Mark verschwunden. Es traten etliche Zeugen auf, die Peter gesehen hatten, als er ins Haus ging. Andere behaupteten, ihn am gleichen Tage beobachtet zu haben, wie er sich bei der Scheune eine Zigarette anzündete. Gerüchte schossen empor wie Pilze nach dem Regen. Ehe Peter flüchten konnte, wurde er von der Polizei abgeführt.

Nun saß Marion Lambert in ihrem Haus hinter dem Tisch auf der Eckbank und kam nicht los von dem Gedanken: Hättest du nicht mehr für diesen Jungen tun müssen? Bist du nicht genau wie die anderen alle an ihm schuldig geworden? Was bedeutet es schon, dass du ihn ein paarmal an der „Molke“ angesprochen hast, dass du seine alte Großmutter dann und wann besucht und bei der Gelegenheit dich bemüht hast, auch mit dem Jungen in ein Gespräch zu kommen? Almosen hast du ihm gereicht, nichts als Almosen. – Ach, hätte sie jetzt einen Menschen gehabt, mit dem sie diese Frage hätte besprechen können! Aber war sie nicht ebenfalls im Dorf eine Fremde geworden?

Einmal ins Grübeln gekommen, eilten Marions Gedanken weiter. Während ihrer Ausbildungszeit war sie an den freien Tagen regelmäßig nach Hause gekommen. Sie hing an ihrem Heimatdorf. Schön war es, mit ihrem Bruder weite Wanderungen über die Heide zu machen, die im Frühling im Brautschmuck ungezählter weißblühender Schlehenbüsche stand. Unvergleichlich schön war es aber auch im Sommer, wenn Tausende von Heckenrosen blühten und die Heide kräftigen Thymiangeruch ausströmte. Der Höhepunkt aber war, wenn im Spätsommer und Herbst die Strahlenaugen der Silberdisteln aufgeschlagen waren. Schön war die Heimat, wunderschön! Manches Mal begleitete sie Herbert Faust, der Sohn des Bürgermeisters, ein Freund ihres Bruders, bei den Wanderungen. Sie waren miteinander zur Schule gegangen. Eine Zeitlang hatte es ausgesehen, als bahne sich zwischen Herbert und Marion etwas an. Sie sah ihn nicht ungern, den fröhlichen, allzeit zu Späßen aufgelegten Jungen. Als er aber deutlicher um sie warb, zögerte sie dennoch. Irgendein Warnungssignal schien in ihr aufgezogen. Hatte sie sich den Mann, dem sie ihr ganzes Leben lang zugetan sein wollte, nicht ernster vorgestellt? War bei Herbert nicht beim Älterwerden ein zunehmender Hang zur Oberflächlichkeit zu beobachten? Seine Schmeichelei, dass sie die einzige im Dorf sei, die über mehr als durchschnittliche Intelligenz verfüge, machte wenig Eindruck auf sie. Es kam die Zeit, in der sie sich völlig von ihm zurückzog und lieber auf die Wanderungen mit ihrem Bruder verzichtete, als mit Herbert zusammen zu sein. Einen bestimmten Grund hätte sie nicht angeben können. Aber ein deutliches Abwehrgefühl in ihr hieß sie, Abstand von ihm zu nehmen.

Dann war sie ganz in ihrem pflegerischen Beruf aufgegangen. Am liebsten hätte sie noch das Hebammenexamen gemacht. Aber davon wollten die Eltern zunächst nichts wissen. Nach ihrer Ansicht sollte sie sich mit einem Landwirt verheiraten, und es schien ihnen genug, dass sie überhaupt einen Beruf erlernt hatte und damit jahrelang dem Elternhaus fern gewesen war. Nur ihr Onkel, Mutters Bruder, ein stiller, besinnlicher Mensch, ein Schäfer, unterstützte sie. „Lasst das Mädel lernen, so viel es mag. An seinen Kenntnissen trägt keiner schwer, wenn er sie in der rechten Weise anwendet.“ Beinahe waren die Eltern bereit, ihre Einwilligung zu geben, dass Marion sich auch noch als Hebamme ausbilden ließ. Da kam der Krieg. Der einzige Sohn musste an die Front, und nun wurde Marion zu Hause benötigt. Es fiel ihr schwer, sich von ihrem Beruf zu trennen; aber sie erkannte die Notwendigkeit, den Eltern auf ihrem Hof beizustehen.

Nach Kriegsende kam die Nachricht vom Tode des Bruders. Bei den letzten Kämpfen war er gefallen. Nun wusste Marion, welches ihr Weg war. Mit leiser Wehmut packte sie die Schwesterntracht weg. Sie würde sie nicht mehr brauchen. Schade, wie sehr hatte sie ihren Beruf geliebt! Aber danach durfte sie nicht fragen. Jetzt wurde sie zu Hause gebraucht. – Die Mutter starb nach wenigen Jahren, und kurze Zeit später verunglückte der Vater tödlich beim Holzfällen im Walde. Null hatte Marion allein den Hof zu versorgen. Wohl stand der Onkel ihr so viel wie möglich mit Rat und Tat zur Seite; aber er war Schäfer und nicht Landwirt und mit den Jahren so schweigsam geworden, dass er nur das Allernötigste sprach. Marion empfand sein Dasein jedoch als Trost und wusste, er würde sie nicht im Stich lassen, wenn sie ihn brauchte.

So war Marion Lambert vierzig Jahre alt geworden. Etliche von ihren Äckern hatte sie verpachtet. Sie war nicht gewillt, sinnlos draufloszuarbeiten, nur um ihren Besitz zu vergrößern. Das Erbe der Eltern wollte sie treu verwalten; aber neben ihrer Pflichterfüllung hatte sie auch noch andere Interessen. Vor allem war sie eine bewusste Christin, über deren Leben die Forderung des unbedingten Gehorsams Gott gegenüber stand. Sie füllte ihren Platz in der Gemeinde aus, besuchte die Kranken im Dorfe, versuchte, ihr bekannte Not nach besten Kräften zu lindern und gehörte vor allem zu den regsten Helferinnen im Kindergottesdienst. Hier sah sie eine wichtige Aufgabe. Man kann nicht sorgsam genug mit Kinderseelen umgehen, sagte sie sich. Was hier getan wird, ist nie vergebens. – Sie nahm aber auch freudig teil an ausgesuchten kulturellen Veranstaltungen, wie sie in der nicht weit entfernten Kreisstadt geboten wurden. Nach wie vor las sie in freien Stunden gern und freute sich an dem Inhalt ihres Bücherschrankes, in dem immer wieder ein neues, wertvolles Buch seinen Platz fand.

Ihr Leben war weit mehr ausgefüllt als das der meisten Bewohner ihres Dorfes. Zur schwersten Arbeit stellte sie des Öfteren einen älteren Mann an, der mit der Flüchtlingswoge am Kriegsende mit seiner Familie ins Dorf gekommen war. Aber die Augenblicke mehrten sich in letzter Zeit, in denen sie sich nach dem eigentlichen Sinn und nach der Aufgabe ihres Lebens fragte. Zweimal hatte sie Gelegenheit gehabt, sich zu verheiraten; jedoch waren es beide Male Männer gewesen, die es in erster Linie auf ihren Besitz abgesehen hatten. Nein, lieber blieb sie ledig. – Mit Herbert Faust kam sie selten zusammen – höchstens, wenn sie im „Kleinen Kaufhaus“ Besorgungen machte. „Kleines Kaufhaus“ – so hieß das einzige Geschäft am Ort, wo es neben Lebensmitteln, Geschirr und Eisenwaren auch Kleider und Wäsche zu kaufen gab. „Gemischtwarenhandlung“ hatte früher über der Eingangstür gestanden. Als Herbert aber während eines Urlaubs die junge Witwe heiratete, deren Mann vorher das Geschäft geführt hatte, war der altmodische Name bald überpinselt worden. Jetzt konnte man es in leuchtenden Buchstaben schon von weitem lesen: „Kleines Kaufhaus“.

Herbert Faust war also Kaufmann geworden. Obgleich er verschiedene Liebeleien gehabt hatte, war er in den Krieg gezogen, ohne verheiratet zu sein. Niemand hatte mit der Möglichkeit gerechnet, dass er die wenig ansehnliche Witwe Miller heiraten würde. Niemand glaubte auch heute, dass es eine glückliche Ehe war, die er führte. Aber ein gutgehendes Geschäft hatte er übernommen und, man musste es ihm lassen, es mit der Zeit erstaunlich vergrößert. Seine Frau hatte aus erster Ehe einen vierjährigen Sohn mitgebracht. Dazu war dann noch eine Tochter geboren worden. An diesem Kind hing er sehr. –

Marion erhob sich energisch. Es war zwecklos, bei den Bildern der Vergangenheit stehenzubleiben. Sie nahm ein Buch aus dem Bücherschrank, um den Tag mit anderen Gedanken zu beschließen. Aber es war seltsam: zwischen den Zeilen des Buches schien immer wieder das Gesicht des verhafteten Jungen sie anzublicken. Seine langen, ungepflegten Haare hingen ihm wirr in die Stirne. Aus seinen Augen sprachen Angst und Misstrauen …

Marion vermochte heute Abend keinen anderen Gedanken zu fassen. Was konnte sie für Peter tun?

Herbert Faust stand voller Sorge vor dem Bett seiner vierzehnjährigen Tochter. Seit Tagen lag das Mädchen apathisch in ihren Kissen, verweigerte die Nahrung, weinte immer wieder still vor sich hin, klagte aber über keine Schmerzen. Der herbeigerufene Arzt beruhigte die Eltern. „Es sind leichte Störungen, bedingt durch die Entwicklungsjahre. Das wird vergehen.“ Er gab einige Verhaltungsmaßregeln und ging wieder.

Nun meinte der Vater durch liebevolles Fragen der Ursache auf die Spur zu kommen.

„Sag mir doch, was dir fehlt, Charlotte. Hast du denn wirklich keine Schmerzen? – Warum isst du nichts? – Möchtest du etwas Besonderes haben? Sag es mir doch! Du sollst alles bekommen, was du willst. Nur werde wieder mein fröhliches Mädel.“ Aber das Kind schüttelte nur weinend den Kopf. Der Vater konnte ihr versprechen, was er wollte, nichts schien sie zu locken.

„Ich weiß nicht, was das mit Charlotte werden soll. Sie wird uns doch nicht schwermütig werden?“

„Ach was, schwermütig – ein vierzehnjähriges Kind! Sie soll sich ein bisschen zusammennehmen!“ Frau Faust war herber Natur. Ihr Mann machte viel zu viel Wesens um die Erkrankung der Tochter. Ihrer Meinung nach musste Charlotte viel energischer angefasst werden. Aber der Vater verzärtelte das Mädchen geradezu, während er an ihrem Sohn dauernd etwas auszusetzen hatte. Sie hatte jedoch nicht Zeit, dem allem allzu lang nachzusinnen. Sie musste im Geschäft stehen, auf die beiden Verkäuferinnen aufpassen und selbst Kunden bedienen, damit Geld ins Haus kam. Ihr Mann hatte den Kopf immer voll Neuerungen und wollte am liebsten ein ganz modernes Geschäft haben. Aber das kostete alles eine Unmenge Geld. Und Geld wollte verdient sein. –

Es war nach Mitternacht. Im „Kleinen Kaufhaus“ war längst alles zur Ruhe gegangen. Plötzlich öffnete sich die Türe zum Zimmer des achtzehnjährigen Sohnes. Er schien nicht fest geschlafen zu haben; denn er schreckte sofort hoch, richtete sich in seinem Bett auf und fragte flüsternd, aber in heftiger Erregung: „Was willst du denn schon wieder? Ich habe dir doch gesagt, dass du mich mit diesem Unsinn verschonen sollst. Nun kommst du schon die dritte Nacht.“

Charlotte, barfuß im langen, weißen Nachtgewand, war an sein Bett getreten. Bittend hob sie die Hände. „Heini, melde dich selbst! Sage, wie alles gekommen ist! Lieber nimm die Strafe auf dich!“