Halbschlaf im Froschpyjama - Tom Robbins - E-Book

Halbschlaf im Froschpyjama E-Book

Tom Robbins

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

An der Börse in Seattle stürzen die Kurse ab. Die Börsenmaklerin Gwendolyn Mati befürchtet, mit ihren nicht ganz sauberen Spekulationen baden zu gehen. Sie strapaziert all ihren Grips, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und wird in schicksalhafte Abenteuer verstrickt. «Der ‹Halbschlaf im Froschpyjama› wird Ihnen den Schlaf rauben, mindestens eine Nacht lang.» (NDR)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 618

Veröffentlichungsjahr: 2014

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tom Robbins

Halbschlaf im Froschpyjama

Roman

Aus dem Englischen von Pociao und Walter Hartmann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungZitateZurück aus TimbuktuDen Mond anbellenIm Tempel der PechsträhneSag ihnen, Salvador Dalí schickt dichTräume nur, träume, bis der weiße Zwerg singtTheaterdonnerWo sind die Amphibien?Der Süffel Ihrer MajestätAuf dem TrockenenMeeresfrüchteManche nennen’s WahnsinnNur ein Tag im Leben eines NarrenAnmerkung des Autors
[zur Inhaltsübersicht]

Für Maestro Rudolpho.

Für unseren Mann im Nirwana.

Und für die «Fakultät auf Visite».

[zur Inhaltsübersicht]

Es wurde nachgewiesen, dass manche Amphibien in der Lage sind, Himmelskörper zur Orientierung zu benutzen.

The Encyclopaedia Britannica

 

Ohne Zweifel ist die Welt eine vollkommen imaginäre, aber eng verwandt mit der wirklichen Welt.

Isaac Bashevis Singer

[zur Inhaltsübersicht]

Donnerstagabend 5. April

Zurück aus Timbuktu

•••—

16:00—•••–• Der Tag, an dem der Aktienmarkt aus dem Bett fällt und sich das Genick bricht, ist der schlimmste Tag deines Lebens. Zumindest kommt es dir so vor. Es ist zwar nicht wirklich der schlimmste Tag deines Lebens, aber du hast ganz den Eindruck. Und wenn du diesen Eindruck in Worte fasst, geschieht es mit voller Überzeugung und einem Minimum an rhetorischem Zierrat.

«Das ist der schlimmste Tag meines Lebens», sagst du, lässt eine gesalzene Erdnuss in deinen doppelten Martini plumpsen – an besseren Tagen trinkst du Weißwein – und schaust zu, wie sie nach unten sinkt. Sie trudelt abwärts, träger und graziöser als deine abstürzenden Anlagewerte, und die hübschen kleinen Ginbläschen, die rings an der Nuss haften, stehen im deutlichen Kontrast zu den Klumpen und Kletten und stachligen Dingern, die sich an dein Herz heften.

Ungefähr vier Stunden sind vergangen, seit die Kurse in den Keller fielen, und das erschütterte, bisweilen hysterische Stimmengewirr, das noch am frühen Nachmittag im Bull & Bear herrschte, beginnt einer gedämpfteren Geräuschkulisse raffinierter Überlebensstrategien und zynischer Witzchen zu weichen. Du beteiligst dich weder an den verzweifelt ausgeheckten Schachzügen noch an der falschen Heiterkeit. Du hältst deinen vorzeitig ergrauten Kopf in den Händen und sagst zum zweiten Mal: «Das ist der schlimmste Tag meines Lebens.»

«Ach was, Mädchen», meint Phil Craddock. «Der Markt erholt sich schon wieder.»

«Der Markt erholt sich vielleicht wieder. Aber ich nicht. Ich hab meine Kunden so tief ins kalte Wasser fallen lassen, dass sie zum Atmen Kiemen brauchen.» Du schluckst einen Feuerball aus dem Martiniglas. «Und Posner weiß das auch. Als er nach Börsenschluss in der Lobby an mir vorbeirauschte, fragte er mich, ob ich nicht fände, dass Krankenpflege eine noble Tätigkeit sei.»

«Vielleicht hat er ja sich selbst gemeint.»

Du lachst, auch wenn dir nicht danach zumute ist. «Posner und Bettschüsseln ausleeren? Eher tritt der Papst in einem Porno auf. Nee, Phil, was mir der Alte damit sagen wollte, ist: ‹Stoß deinen Porsche ab, Baby, und stell dich für die Lebensmittelmarken an.› Wenn bis Montag kein Wunder geschieht, bin ich Hundefutter.»

«Bis Montag sind es noch vier Tage.»

«Danke, dass du mich daran erinnerst. Ein freier Tag zusätzlich, um sich die Haare zu raufen. Nun, als Tag für Hinrichtungen ist der Karfreitag ja berühmt.»

«Immer mit der Ruhe, Süße», sagt Phil. «Jetzt wird’s Zeit für den kugelsicheren BH.»

Bei der Anspielung auf ein so intimes Wäschestück wirst du prompt rot. Einen Scherz über Pornos zu machen war völlig okay für dich, weil du noch nie einen gesehen hast; Pornos existieren nicht in deiner Welt. Doch wenn dir ein Mann, selbst einer wie Phil Craddock, in die Augen schaut und von persönlichen, ja privaten und etwas anzüglichen Dingen spricht, dann malt dir deine unvermeidliche Nervosität so dicke Pigmentkleckse auf die olivfarbenen Wangen, dass man einen Martini damit garnieren könnte – in diesem Fall den dritten für heute, lauter doppelte –, und sobald du es zu unterdrücken versuchst, schießt dir das Rot umso heftiger in die Wangen. Dass du dazu neigst, beim geringsten Anlass vor Scham zu erröten, ist eins von etlichen Dingen, die du an deinem Los auf dieser Welt als lästig empfindest, und ein weiteres Beispiel dafür, wie gern dir die Parzen in die Consommé spucken. Ein weiteres ist dein Gesellschafter hier am Tisch.

Phil Craddock handelt mit Sojabohnen und Schweinebäuchen und erweckt – abgesehen von dem locker gebundenen Schlips – den Eindruck, als würde er die auch auf seiner Farm produzieren. Wenn man es recht bedenkt, passt diese Krawatte tatsächlich zu einem Farmer, eine chronisch unmodische Sorte Schlips, wie man sie beim ländlichen Kirchgang trägt, derb und rustikal, und die Spitze hat sich ein bisschen nach oben gebogen. (Nur ein Mensch im Bull & Bear ist schlampiger gekleidet als Phil, und zwar der Mann, den Ann Louise, deine Tischgenossin neben Phil, schon die ganze Zeit anstarrt.) Eigentlich ist Phil ein freundlicher und rücksichtsvoller Mensch, aber das nervt dich erst recht, weil es dich an den nervtötenden Belford Dunn erinnert, deinen angeblichen Boyfriend. Phil und Belford sind sich wirklich sehr ähnlich, bloß dass Belford zehn Jahre jünger ist und man sich natürlich kaum vorstellen könnte, dass Phil seine Wohnung mit einem wiedergeborenen Affen teilt.

Was Ann Louise betrifft, die kennst du nicht näher. Sie hat vor etwa sechs Monaten bei Posner, Lampard, McEvoy & Jacobsen angefangen und kam aus New York, wo sie sich einen Namen als risikofreudige Brokerin machte, Gerüchten zufolge einer hemmungslosen Vorliebe für Analsex frönte und es praktisch mit jedem großen Tier an der Wall Street trieb, darunter ein paar, deren Namen wirklich jeder kennt. Ann Louise ist mittleren Alters, untersetzt, aber nicht unattraktiv, und du hast den Verdacht, dass du einiges von ihr lernen könntest – in geschäftlichen Dingen –, doch Ann Louise ist wer und hat von deiner Anwesenheit ohnehin kaum Notiz genommen, weil sie die letzte halbe Stunde damit zubrachte, auf den Rücken dieses langmähnigen Fremdlings zu starren (das heißt, dir ist er fremd), der da an der Bar Hof zu halten scheint. Du hast nicht den geeigneten Blickwinkel und die nötige Sehschärfe, um ihn dir genauer anzuschauen.

Jedenfalls ist es kein Wunder, dass du dich grämst. Warum musstest du – bei all den Wertpapierhändlern, Managern und Investmentbankern hier im Bull & Bear, mit denen du in diesem kritischen, sogar historischen Moment mental Händchen halten, vor denen du die Jammeroper deiner persönlichen Niederlage aufführen könntest – ausgerechnet bei diesen zwei … Parias am Tisch landen? Es ist nicht fair, wenn auch nicht untypisch, eine mitten auf deine Wunde gepappte Schmähung und, wie du findest, ein weiterer Beleg dafür, dass dies der schlimmste Tag deines Lebens ist.

Schlimmster Tag? Gwendolyn, du vergisst offenbar den Tag – wie lang ist es her, acht Jahre? –, als dir mit gleicher Post von Stanford, Harvard, Yale und der Wharton School of Business der Uni von Pennsylvania die Ablehnung deiner Bewerbung zum Studium zugestellt wurde; alles am gleichen Tag im Briefkasten, bei all deinen Top-Adressen abgeblitzt, du als Angehörige einer ethnischen Minderheit, und das zu einem Zeitpunkt, wo solche Institutionen in ihrem unbeholfenen, konfusen Bestreben, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu kompensieren, und in ihrer fast panischen Eile, als soziologisch korrekt dazustehen, sich schier umbrachten, Leute deines Schlags in ihrer Mitte aufzunehmen.

Dein schlimmster Tag? Es gehört bestimmt mehr dazu als der freie Fall des Aktienmarkts mit dir in den Armen, um den Tag zu überbieten, als deine Mutter ein allerletztes Sonett in ihr lavendelblaues Notizbuch kritzelte und den Kopf in die Backröhre steckte.

Dein schlimmster Tag? Du bist gerade mal neunundzwanzig. Es wird andere Tage geben, andere Katastrophen. Vielleicht schon in nächster Zukunft. In der Tat könnte sich da bereits in diesem Augenblick etwas zusammenbrauen, etwas, das mit dem wiedergeborenen Affen zu tun hat, wenn nicht gar von ihm selbst ausgelöst wurde.

 

 

16:50 —•••–• Das im stehengebliebenen Herzen von Seattles Finanzviertel gelegene Bear & Bull Restaurant & Lounge ist ein patriarchalisches Etablissement alter Schule mit ornamentalen Zinkdecken, dunkler Holztäfelung und Durchgängen, deren kastanienbraune Samttapete mit Reihen stilisierter goldener Lilienblüten getüpfelt ist, in denen manche Stammgäste nach einigen Cocktails gern mutierte Dollarzeichen erblicken, glänzende, knackige und – wie sie hoffen – prophetische Währungssymbole. Freitagnachmittags ist die Bar des Bear & Bull stets bevölkert von lärmenden «bookies», wie sie sich selber nennen, die am Ende einer stressigen Woche ein bisschen von einem stressigen Job entspannen, doch an diesem «Freitag», der in Wirklichkeit ein Donnerstag ist, hat sich die Zahl der Trinker nahezu verdoppelt – und nichts deutet darauf hin, dass es weniger werden. In der Tat werden viele der Broker im Bull & Bear ausharren, bis man sie um zwei Uhr früh an die Luft setzt. Es geht nicht allein darum, Alkohol auf die Wunden zu gießen, es ist nicht bloß der Unwille, heimzufahren und der Familie ins Auge zu blicken. Es gibt praktische Gründe. Jeder sitzt wie auf heißen Kohlen (oder spitzen Lilien) und wartet auf die Reaktion der Auslandsmärkte. Dann und nur dann wird sich zeigen, ob dieser Sturz wirklich einer in den Keller ist, der tödliche Crash, jene Apokalypse der Finanzwelt, die ein für alle Mal klarmacht, dass «Broker» von «broke», also «pleite», kommt, und die den Vereinigten Staaten von Amerika in der weltökonomischen Rangliste einen Platz zwischen Portugal und der Mongolei bescheren wird.

Aus diesem Grund sind alle Augen auf Tokio gerichtet, wo – bedingt durch sechzehn Stunden Zeitunterschied, internationale Datumsgrenze und Sommerzeit – der Nikkei-Index in diesem Moment gerade dabei ist, Feuer unter dem Wasserkessel seines Morgentees zu machen. Jede Maklerfirma in der City von Seattle hat einen Scout oder zwei im Büro sitzen, die das Telex im Auge behalten, und den ganzen Abend über werden die Späher den letzten Lagebericht in Sachen Nikkei telefonisch ins Bull & Bear melden oder ihn zuweilen gar persönlich überbringen. In Europa ist bereits Karfreitag, dort hatten die Märkte schon lange geschlossen, bevor sich abzeichnete, wie gewaltig in den USA der Misthaufen dampfte, und sie werden auch erst Sonntagnacht, Seattle-Zeit, wieder öffnen.

Als ein Barmann ruft: «Gwen Mati! Telefon für Gwen Mati!», wird es kurz still im Raum. Ob es die erste Meldung von der Front ist? Während du deinen Stuhl zurückschiebst und aufstehst, starren dich die Leute von Merrill Lynch, Prudential Securities und anderen prominenten Firmen gespannt, beinahe eifersüchtig an, ohne dabei zu vergessen, dass du, wenn du wirklich ein Ass wärst, dein eigenes Handy neben dem Martiniglas liegen hättest. Deine Kollegen bei Posner, McEvoy & Jacobsen machen sich keine Illusionen über deine Bedeutsamkeit, aber weil sie deinen Ehrgeiz kennen, halten sie kurz im Gespräch inne und fragen sich im Stillen, ob du womöglich den Scout im Büro bestochen hast, damit er dich statt Posner anruft, wenn er die ersten Notierungen aus Tokio durchgibt.

«Hier!», rufst du und winkst mit beiden Armen. Das Telefon hängt an der Wand am anderen Ende der Bar, und du machst dich auf den Weg dorthin, schlängelst dich behutsam durch den Mob. Sobald du außer Hörweite bist, eine Sache von wenigen Zentimetern, dreht sich Ann Louise zu Phil hin und sagt: «Dieses Girl ist in der Branche erledigt.»

«Wie kommst du darauf? Hast du irgendwas läuten hören?»

«Sagen wir mal, ich hab da so ein untrügliches Gefühl im Hosenboden.» Ann Louise setzt ein laszives Grinsen auf.

Du arbeitest dich voran, nimmst hin und wieder einen Ellbogenstoß an die Brust in Kauf, eine ins Gesicht geblasene Wolke Zigarettenqualm. Trunkenheit nimmt überhand. Gläser schwappen über. Gehen zu Bruch. Bekenntnisse werden ausgetauscht. Kokain – wann hast du in diesem Milieu zum letzten Mal Kokain gesehen? – wird geschnupft. Broker schäkern ungeniert mit ihrer Assistentin, Manager streicheln die Schenkel ihrer Sekretärin. Es ist wie bei einem jähen Kriegsausbruch, wenn alle gesellschaftlichen Regeln vorübergehend außer Kraft gesetzt sind. Als du dich am Tisch vorbeiquetschst, an dem Sol, der Chefanalytiker deiner Firma, sitzt, schenkt er dir ein schwaches, wehmütiges Lächeln und sagt: «Après nous le déluge. Der Spaß ist vorbei, mon amie.» Du tätschelst ihm die Schulter und schiebst dich weiter, doch während du dich dem Telefon näherst, hörst du, wie er hinter dir wiederholt: «Der Spaß ist vorbei.»

Du greifst nach dem Hörer. Es wird keiner aus dem Büro dran sein, keine exklusive Blitzmeldung vom Nikkei-Telex. Vielmehr wird es Q-Jo Huffington sein, deine angeblich beste Freundin, die dich anruft und dir mitteilen will, dass sie im Virginia Inn auf dich wartet. Dass Q-Jo auf dich wartet, ist dir bewusst. Du hattest dich um halb fünf mit ihr in dieser Künstlerkneipe verabredet, unter deren Boheme-Publikum Q-Jo sich wie zu Hause fühlt. Dir gefällt es dort nicht so besonders, weil es dich an deine angeblichen Eltern erinnert und genau die Sorte Kneipe ist, in die sie gegangen wären, was aber immer noch besser ist, als Q-Jo mit ihren 300 peinlichen Pfund Lebendgewicht hier ins Bull & Bear kommen zu lassen. Ihre Ungeduld nervt dich. Erwartet sie allen Ernstes, dass du an einem Tag wie diesem deine Verabredung einhältst? Das würde sie wohl kaum, wenn sie die Nachrichten gehört hätte, doch leider ist die Musik der Sphären das Einzige, dem Q-Jo zu lauschen pflegt.

«Hallo», bellst du so ruppig in den Hörer, wie es deine zuckersüße kleine Schulmädchenstimme zulässt. Die Stimme am anderen Ende gehört Belford Dunn, deinem angeblichen Beau. «Auweia, Schatz», sagt er, «tut mir ja leid, dich an diesem furchtbaren Tag mit so was zu nerven» – Belford hat also die Nachrichten gehört –, «aber André ist weg. Er ist entlaufen!»

Belford ist praktisch am Heulen. Trotzdem löst das bei dir eher Ärger als Mitgefühl aus. Soll er doch selber zusehen, wie er klarkommt! Deine Karriere fährt wie ein geölter Blitz zur Hölle, die komplette amerikanische Wirtschaft geht zum Teufel, und Belford jammert und heult wegen seines entlaufenen Haustiers. Andererseits ist André kein gewöhnliches Haustier. André ist ein Affe mit Vergangenheit.

Und er ist nicht entlaufen, sondern regelrecht ausgebrochen.

«Belford, bitte», hörst du dich flehen. Irgendwie hat der Alkohol dich gerade genug von deiner Stimme distanziert, dass du ihr zuhören kannst, als ob sie vom Tonband käme. Trotzdem bist du nicht vollkommen objektiv. Nichts an dir stört dich so furchtbar wie deine Stimme. Genau so, findest du, würde eine Packung Ferrero-Küsschen klingen, wenn eine Packung Ferrero-Küsschen sprechen könnte. Q-Jo hingegen behauptet, deine Stimme sei deine einzige seligmachende Gnade. Sie ist der Meinung, du bist die einzige ihr bekannte Karrierefrau, die nicht mit zusammengebissenen Zähnen redet. Du erklärst ihr, dass Geschäftsfrauen eine gewisse Schroffheit in der Sprache an den Tag legen müssen, wenn sie mit den Männern mithalten wollen. Und wenn deine Stimme so lebhaft und warm und verletzlich klingt, wie Q-Jo behauptet, dann nur deshalb, weil es dir nie gelang, das zu ändern. Du hast mal angefangen zu rauchen, in der Hoffnung, davon eine tiefere Stimme zu kriegen, aber von den Zigaretten wurde dir immer nur schlecht. Was Q-Jo als sexy empfindet, ist für dich quieksig. Was dir als Kind auch den bedauernswerten Spitznamen «Quieks» einbrachte. Deine Mutter nannte dich stets nur «Gwendolyn», aber bei deinem Vater und allen anderen hieß es immer nur «Quieks»-dies und «Quieks»-das. Du kamst dir wie eine gottverdammte Maus vor.

«Bitte, Belford …» Du stellst klar, dass du, obwohl die Börse seit ein Uhr geschlossen ist, obwohl der jähe Fall des Index um 900 Punkte deine Karriere vermutlich zu einem einzigen Risk-Limit werden lässt, obwohl du hier in einem vornehmen Salon hockst und Gin säufst, technisch gesehen trotz allem immer noch im Dienst bist. Du bist es deinen Kunden ebenso schuldig wie dir selbst – denn auch dein Privatkonto hat ziemlich schwer bluten müssen –, unter diesen Umständen am Ball zu bleiben, bis sich zeigen wird, ob die unchristlichen Japse, bei denen der Feiertag der Kreuzigung unseres Herrn ein stinknormaler Arbeitstag ist, uns auf den Grund des Ozeans folgen oder nicht. Weil du jedoch in Anbetracht von Belfords Misere nicht unsensibel erscheinen willst, bietest du ihm trotz deiner Verpflichtungen und Nöte einen Deal an. Nämlich: Wenn André bis zur Abendessenszeit nicht wieder aufgetaucht ist – und du gehst davon aus, dass er nicht auf sein Rosinenbrot und sein Bananeneis am Stiel verzichten wird –, dann wirst du dich an der Suche beteiligen. Außerdem wirst du Q-Jo mitbringen, damit sie nötigenfalls ihre bemerkenswerten telepathischen Kräfte einsetzt, um den Aufenthaltsort des Affen zu ergründen.

Überschwänglich bedankt sich der erleichterte Belford. So überschwänglich, dass es dich nervt. «Unterdessen», sagst du in auf größtmögliche Wirksamkeit bedachtem Ton, «kannst du schon mal die Nachbarschaft abklappern. Und melde es lieber der Polizei.»

«Tja, das mach ich dann wohl besser mal», stimmt er niedergeschlagen zu. «Ich glaube nicht, dass André … einen Rückfall kriegt oder so was. Aber ich bin wohl moralisch verpflichtet, es zu melden.»

Du willst gerade auflegen – bei Ausdrücken wie ‹moralisch verpflichtet› kriegst du zu viel –, als er sagt: «Als du davon sprachst, dass du auf ‹Neuigkeiten aus Japan› wartest, dachte ich erst, du meinst Dr. Yamaguchi.»

«Wen?»

«Du weißt schon. Dr. Yamaguchi. Dessen Ankunft man heute Abend hier in Seattle erwartet.»

«Ach so, dieser Krebstyp. Was hat der damit zu tun?»

«Nun», sagt Belford, «weil er aus Japan kommt. Und gute Neuigkeiten bringt. Was sich positiv auf die Kurse auswirken könnte.»

Du gibst deinen tiefsten Stoßseufzer zum Besten und legst auf. Weil du gerade in der Nähe bist, gehst du aufs Damenklo und pinkelst so heftig, wie du kannst, lässt einen Strahl ans Porzellan pladdern, der ein kleineres Tier von den Beinen geholt oder einem Zyklopen die Optik ruiniert hätte. Dann kämpfst du dich wieder zurück durchs Gedränge. Auf dem Weg an der Bar entlang stehst du plötzlich direkt hinter dem Mann, den Ann Louise schon die ganze Zeit über anstarrt: ein großer, schlanker Typ mit sonnengebleichtem, strähnigem Haar, das ihm bis halb über die abgewetzte Lederjacke herabhängt. Er trägt enge, ausgefranste Jeans, und du registrierst einen Goldring am linken Ohrläppchen und irgendeine Tätowierung auf dem Handrücken. Es ist ein Unding, dass ein Kerl in so ungebührlichem Aufzug an der Bar des Bull & Bear steht, und von daher umso unbegreiflicher, dass im Laufe des Nachmittags andere, akzeptabler gekleidete Leute, Leute aus der Branche (sogar Posner!) stehen blieben, um mit ihm zu plaudern. Momentan ist er von einigen Brokern umringt, die ihn vollquatschen, und du denkst: In den Achtzigern hätte es das nicht gegeben. So was ist bloß am schlimmsten Tag meines Lebens möglich.

Als der Fremde, einer jähen Eingebung folgend, herumfährt und dich dreckig angrinst, entfährt dir ungewollt ein spitzer kleiner Jauler, und du fährst zusammen wie eine reife Tomate, die das Gartentor quietschen hört. Kein Wunder, dass du perplex bist. Das Grinsen, das sich über die hagere Ebene seiner stoppeligen Visage zieht, ist so fies wie der Schnitt einer messerscharfen Papierkante, und seine Augen sind rot unterlaufen wie wundgelegene Stellen, sondieren wie stochernde Kleiderbügel. Du spürst diesen Blick bis in die Gebärmutter. Ehe du dich weiterschieben kannst, legt er dir einen knochigen Finger aufs Handgelenk und nickt zu Sol, dem Finanzanalytiker, hin. «Jetzt fängt der Spaß erst an», flüstert er vertraulich, und sein fieses Grinsen weitet sich wie der Riss in einem Taucheranzug.

Wieder an deinem Tisch angelangt, lässt du dich mit übertriebener Hilflosigkeit auf deinen Stuhl gleiten und sackst in dich zusammen. «Meine Güte!», rufst du laut. «Wer ist dieser Widerling?»

«Na, das ist Larry Diamond», sagt Phil.

Und Ann Louise setzt hinzu, als würde das alles erklären: «Der kommt gerade aus Timbuktu.»

 

 

17:15 —•••–• Weil dich nach deinem dritten Martini ein leichtes Unwohlsein überkommt, beschließt du, dir etwas zu essen zu bestellen. Du hast dich seit Jahren größtenteils von grünen Salaten ernährt, die aus exotischen Pflanzen mit strengem Geschmack und unaussprechlichen Namen (versuch mal, «Rucola» oder «Radicchio» zu sagen nach einem harten Tag im Ring) zubereitet und mit Essigsorten besprenkelt werden, die mehr kosten als ein anständiger Schampus. Heute jedoch sind alle Regeln außer Kraft, und dein flacher Bauch schreit nach tierischem Eiweiß. Da das Bull & Bear eine traditionelle Fleisch-und-Kartoffel-Küche pflegt, ist es durchaus in der Lage, deinen Wunsch nach geschnetzeltem Beefsteak mit glacierten Zwiebeln und gedünstetem Spargel zu erfüllen.

Während die Kellnerin dein Besteck zurechtlegt, dir den Brotkorb und das Butterschälchen hinstellt, rückt Phil mit einigen Fakten über den abstoßenden Kerl namens Larry Diamond heraus. Es hat den Anschein, als sei dieser Diamond mal ein Ass gewesen, so ziemlich der heißeste Broker an der pazifischen Nordwestküste, doch er warf seine Pfeile ein bisschen sorglos, was ihn beim letzten Crash, dem von ’87, seinen Job und sämtliche Anlagewerte kostete.

«Selbst in New York haben wir von dem gehört», wirft Ann Louise ein. «Für ’n Kaff wie das hier machte der enorme Umsätze. Aber im Grunde war das ein Provisionsschneider. Und wer nur immerzu am Telefon hockt und die Kunden keilt, ist irgendwann weg vom Fenster.» Wobei sie dir einen beziehungsreichen Blick zuwirft. Dir bleibt nichts übrig, als zu erbleichen.

«Yep», sagt Phil und fährt sich mit den klobigen Bauernfingern durchs weiße Haar. «Der alte Larry neigte dazu, sich die Finger nach Dollars wund zu wählen. Möchte mal wissen, was der heute so treibt.»

«Er kommt gerade aus Timbuktu.»

«Ja, Ann Louise, das erwähntest du bereits. Aber wieso?», fragst du. «Was treibt einen aus der Branche dorthin?»

Es ist Phil, der die Frage beantwortet. «Vielleicht weiß er was, das wir nicht wissen.»

«Über Timbuktu?»

«Hey, schon mal was von globalen Märkten gehört?»

«Aber Timbuktu? Ich meine, das liegt doch für allgemeine Begriffe am Ende der Welt.»

«Nun, anderswo ist schon alles erschlossen. Thailand. Argentinien. Jetzt die Türkei und Vietnam. Vielleicht ist Timbuktu die Chance.»

«Wie sehen denn dort die ökonomischen Grundlagen aus?», fragt Ann Louise. «Ich glaub ja nicht, dass es da was zu holen gibt.»

Und du sagst: «Mr. Diamond sieht mir nicht so aus wie einer, der auf Geschäfte an Auslandsmärkten scharf ist. Eher wie ein Biker, wie ein … wie so ein wilder … Rockmusiker oder so was.» Gib dir keine Mühe, das Wort Musiker geht dir nicht über die Lippen, ohne dass dir dabei dein Vater einfällt – aber das ist eine andere Geschichte.

Auf Ann Louises Gesicht erscheint ein mildes Lächeln. Sie ist gerade im Begriff, etwas zu erwidern, als eine lärmende Aufgeregtheit durchs Lokal brandet. Die Leute werden unruhig, sie drehen sich erst in die eine Richtung, dann in die andere, so als würde gleich ein berühmter Hollywoodstar nackt zur Tür hereinkommen, und keiner wüsste, durch welche. Doch lässt der Ausdruck auf manchen Gesichtern eher vermuten, dass sie einen bewaffneten Terroristen erwarten anstelle einer Berühmtheit. Offenbar macht ein Gerücht im Raum die Runde, läuft Amok, greift den Leuten von hinten zwischen die Beine, beißt ihnen in die Waden. Das Stimmengewirr schwillt an, verebbt dann in einem Smorzando, pellt weg wie eine Schallstrumpfhose, als ein älterer Herr, ein Senior Vice President vom Merrill Lynch, unsicher auf einen Tisch steigt und krächzend mit seiner heiseren alten Stimme verkündet, dass der Nikkei-Index mit deutlich gefallenen Kursen eröffnete, allerdings nicht so niedrig wie von vielen befürchtet, und dass er Anzeichen der Stabilisierung zeigt.

Es gibt vereinzelte Hurrarufe, es gibt zaghaften Applaus. Dann ergehen sich alle sofort in Spekulationen. Dein Essen wird serviert, und deine Backenzähne wollen gerade zaghaft die erste Gabel voll Fleisch zermahlen, aber die Kiefermuskeln verkrampfen sich, als du von einem Nachbartisch die Bemerkung hörst: «Soll ich dir mal verraten, wieso der Nikkei das verkraftet? Ich glaube, das hat mit Dr. Yamaguchi zu tun.»

 

 

18:10 —•••–• Bis du mit deinem Essen fertig bist, sind zwei neue Meldungen aus Tokio eingetroffen. Der ersten zufolge fällt der japanische Index wie aus dem Fenster gepisst. Die Nachricht vom Absturz wird im Bull & Bear mit Ernüchterung, wenn nicht mit ungeschminktem Fatalismus aufgenommen. Der zweite Bericht über einen erneuten Anstieg des Nikkei wird, je nach individuellem Temperament, entweder mit Optimismus oder Zweifel registriert.

Weil du nicht weißt, wie du darauf reagieren sollst, bestellst du ein Glas Portwein, bloß damit du ein bisschen Zucker im Tank hast, und rückst deinen Stuhl zurecht, um gemeinsam mit Ann Louise diesen Larry Diamond zu mustern. «So ergeht es also Brokern, wenn sie gefeuert werden?», fragst du. «Werd ich etwa in ein paar Jahren ebenso als Penner enden?»

Es ist eine rhetorische Frage, doch Phil geht darauf ein. «Larry, das war schon ein Genie», sagt er leise. Ann Louise nickt, schaut dich an und grinst.

Also entschuldigt mal, sagst du in Gedanken. Aber das «Genie» betrachtest du jetzt etwas vorsichtiger. Was sollte das heißen, als er sagte, jetzt finge der Spaß erst an? Und wo wir schon dabei sind, was meinte Sol damit, als er sagte, der Spaß sei vorbei? Soweit es dich betrifft, war es mit dem richtigen Spaß schon in den Achtzigern vorbei. Vor deiner Zeit. In jenen Tagen konnte jemand in deiner Position noch den großen Reibach machen. Das Geld lag auf der Straße. Du hast davon gelesen, hast während deiner ganzen College-Zeit davon geträumt. Wie bezeichnend für dein Schicksal, dass gerade dann, als du endlich in der Position warst, dir die goldenen Eier in die Pfanne zu hauen, die Gans reif für eine Hysterektomie war. Es scheint, als hätte die Talfahrt von Amerikas Wirtschaft just an dem Tag begonnen, als du deine Maklerzulassung bekamst. Na ja, die Talfahrt muss ja irgendwann zu Ende sein, und dann geht’s wieder bergauf, oder? Nee, du erinnerst dich dumpf, irgendwo gehört zu haben, da solle man lieber nicht drauf bauen. In dem Fall hast du nicht die geringste Chance. Und schon gar nicht als Filipina. Ach je, Gwen, das bringt dich jetzt auch nicht weiter. Wenn du dich weigerst, die Zugehörigkeit zu deiner Rasse zu akzeptieren, wie kannst du ihr dann dein Missgeschick in die Schuhe schieben?

Ziemlich angeschickert sinnierst du über den schlechten Stern, unter dem du – das steht für dich fest – geboren bist. Obwohl dir Selbstmitleid im Allgemeinen auf den Geist geht, verpasst du dir eine große Veterinärspritze voll davon, bis du merkst, dass Larry Diamond seinen Platz an der Bar verlassen hat und auf deinen Tisch zugeschlurft kommt. Wie ekelhaft, denkst du. Er läuft sogar wie ein Penner.

«Wie geht’s, Larry?», fragt ihn Phil.

«Mr. Diamond, nehme ich an», sprudelt Ann Louise hervor. Plötzlich glüht sie wie die Spitze ihres Zigarillos.

Mr. Diamond schenkt keinem der beiden Beachtung. Eine Weile steht er einfach bloß da, scharrt mit den Füßen und wirkt dabei so locker wie der Kragen am Hals der Ewigkeit. Dann sagt er zu dir: «Ich wette, wir haben was gemeinsam.»

«Oh, das möchte ich bezweifeln», erwiderst du. «Ich hab meinen Job noch. Noch.»

Sein Grinsen wirkt beängstigend, weil es zugleich aggressiv und großmütig, feindselig und bewundernd ist. Seine roten Augen, die spanischen Erdnüssen ähneln, tanzen dämonisch, als sie dich von Kopf bis Fuß mustern.

«Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu fachsimpeln», sagt er. Dann, noch immer grinsend, nickt er zu der Stelle hin, wo vorhin dein Teller stand. «Ich hatte auch Spargel», gesteht er. «Wussten Sie, dass unser Urin in den nächsten fünf Stunden genau den gleichen Geruch haben wird?»

 

 

18:30 —•••–• Wenigstens ist das Wetter erträglich. Die Winterregen von Seattle – die gewöhnlich den Herbstregen hart auf den pilzbefallenen, brombeersaftversauten, von gewaltigen Stockflecken gezeichneten Fersen folgen – hatten sich in der letzten Woche erschöpft, und mit jedem Tag, der ins Land geht, erscheint der Himmel nun leichter und höher, als hätte er sich von seiner Vertäuung gelöst und würde von der Erde forttreiben: die Umkehrung des Symptoms, wenn einer meint, ihm fällt der Himmel auf den Kopf. Es heißt, beim Crash von ’29 sei der Himmel schwarz gewesen von Exmillionären, die sich aus den Fenstern stürzten, aber wenn du heute Abend hinaufschaust, landet nicht mal der Knopf eines Brooks-Brothers-Anzuges auf deinem hübschen Gesicht.

Ja, Gwendolyn, du bist hübsch, eine Tatsache, die dir in regelmäßigen Zeitabständen zu schaffen macht, weil es zu Situationen führen kann wie jener, die dich zur überstürzten Flucht aus dem Bull & Bear veranlasste. Natürlich hast du nie zuvor einen derart ekelhaften Bewunderer wie Larry Diamond angelockt. Nach seiner perversen Bemerkung, die Ann Louise und Phil erstaunlich amüsant fanden, griffst du nach deiner Handtasche, erhobst dich mit hochrotem Kopf und all der Würde, die du aufbringen konntest, um in Richtung Damenklo davonzustolzieren. Er trat dir in den Weg. Vielleicht wollte er sich ja entschuldigen, aber du gabst ihm keine Chance. «Aus dem Weg, Bozo», sagtest du zu ihm.

Natürlich hattest du die Absicht, ihm das eiskalt hinzuwerfen, und mit gutem Grund. Andererseits, wie viel Eiseskälte kann in einer Stimme mitschwingen, die dazu gemacht scheint, kleine Drosseln auszubrüten? Trotzdem reagierte Diamond, als ob du ihm gleichzeitig eine Ohrfeige verpasst und den Schlüssel zur Schatzkammer überreicht hättest. Sein Grinsen ging schneller bankrott als ein Rasensprenger-Reparaturdienst in Bangladesch, und der Blick seiner diabolisch glitzernden Augen wurde plötzlich nüchtern, misstrauisch und forschend. «Bozo wie der Stamm», fragte er leise, «oder Bozo wie der Clown?»

Darauf wusstest du keine Antwort. Aus irgendeinem Grund jagte er dir damit mehr Angst ein als zuvor in der Rolle des Lustmolchs. Du standest da wie betäubt, bis er dich hart an den Schultern packte und sein stoppeliges Gesicht dicht an deins heranschob. Seiner Erscheinung nach hattest du erwartet, dass er stinken würde, doch als du nach Luft schnapptest und unfreiwillig sein Aroma einsogst, entdecktest du, dass er metallisch und zuckrig roch, beinahe wie eine Dose Frucht-Cocktail. Beruhigte dich das? Keineswegs. Er schüttelte dich sanft. «Bozo wie der Stamm oder Bozo wie der Clown?»

«Clown», stießest du hervor, darauf gefasst, dass er dir die Beleidigung mit physischer Gewalt heimzahlen würde. Doch er ließ dich mit einem enttäuschten kleinen Lächeln auf der Stelle los und trat zur Seite, um dich vorbeizulassen. Mit weichen Knien gingst du an ihm vorbei zum Ausgang und zur Tür hinaus auf die Straße. Wo du jetzt stehst und dir die milde Aprilbrise ins Haar und in den Rock fahren lässt, während du zuschaust, wie der Himmel davontreibt bis weit hinter die Sterne.

 

 

18:40 —•••–• Klugerweise ziehst du es vor, lieber nicht mit dem Auto zu fahren. Für den Porsche sind noch 30 Mille abzustottern, und bei deiner momentanen Pechsträhne kannst du davon ausgehen, dass du ihn gegen irgendwas Solides rammst – und dir zu allem Überfluss eine Vorladung wegen Trunkenheit am Steuer einhandelst. Zum Virginia Inn ist es nicht weit zu laufen, doch nach einer näheren Begutachtung deiner Umgebung beschließt du, dass per pedes ebenfalls nicht in Frage kommt.

Die Innenstadt von Seattle gleicht mittlerweile immer mehr den Slums von Kalkutta, so dicht bevölkert ist sie von Bettlern, Vagabunden, Strichern, Durchgedrehten, Straßensängern, Ganoven, Schnapsleichen, Süchtigen, körperlich und geistig Behinderten. Nun, wo der Regen vorbei ist, sind sie wieder aus Türeingängen, Unterführungen, Abbruchhäusern, Abzugskanälen und brach liegenden Grundstücken in die vornehmsten Straßen der Stadt gewankt, gekrochen und gehumpelt. Dort verhökern sie ihre Waren, spielen Akkordeon und bitten, per Zuruf oder schweigsamem Pappdeckelschild, um Gaben, Gaben, Gaben.

Manche dieser abgewrackten Gestalten wirken bedrohlich, andere eher mitleiderregend. Wie etwa die Familie, die im Halbkreis vor einem Käseladen sitzt: Schnorrer-Papa, Schnorrer-Mama, Schnorrer-Junior und Schnorrer-Baby, in Lumpen drapiert und mit glitzernden Rotzschlieren behängt, hocken sie am Boden, verwittert und krätzig, dennoch hoffnungsvoll; sie warten auf den guten Samariter (von der Kirche oder den Behörden entsandt), der, wie sie unerschütterlich glauben, früher oder später aufkreuzen, ihnen die gefurchte Stirn abwischen und einen Farbfernseher kaufen wird. Es spricht für dich, Gwendolyn, dass du ein kurz aufflackerndes Mitgefühl hegst. Im Wesentlichen jedoch ist es Bestürzung, was du empfindest. «Was ist mit diesen Leuten los?», fragst du dich. «Wie konnten sie nur so tief sinken? Wo sind ihre adretten Häuschen, wo ihre niedlichen Farmen? Wo, ach wo ist das ganze Geld bloß hin?»

Das Geld. Das herrliche Geld. Q-Jo behauptet, es sei dein Streben nach materiellem Wohlstand, was dir die 23 grauen Haare einbrachte (sie hat sie gezählt), die in deinem schwarzen Filipinaschopf sprießen – du aber weißt, das stimmt nicht: Die hast du dem Waliser Blut des mütterlichen Zweigs deiner Familie zu verdanken. Jedenfalls kannst du bei dir keine Raffzahnmentalität entdecken, keine vulgäre Gier. Vielmehr ist es ein biologischer Trieb. Wirklich. Du gehst auf die dreißig zu und hörst, wie die Uhr tickt. Nur willst du kein Baby, sondern Cash. Du sehnst dich danach, mit Kohle schwanger zu gehen, die klimpernden Silberdollars auszuspucken wie ein Spielautomat.

Leider wird das Geld immer knapper. Es macht sich rar, es verschwindet aus Amerika, so fix es die kleinen grünen Stummelbeinchen tragen. Aus Amerika, das es so ins Herz geschlossen hat! Die Faulen und die Doofen hat es längst im Stich gelassen – und nun, Gwen, lässt es dich sitzen. Es macht dich todunglücklich, und du willst verdammt sein, wenn du diesem Schnorrer-Baby den 5-Dollar-Schein gibst, den du halb betrunken, halb schuldbewusst aus deiner Börse gefischt hast. Aber hallo! Schließlich bist du selber knapp bei Kasse. Oder nicht? Immerhin brauchen sich die Leutchen hier keine Sorgen um die Abzahlung eines Porsche und die Hypothek auf eine Eigentumswohnung zu machen.

Bevor du den Taxistand an der Ecke erreichst, trennst du dich dennoch von deinem Fünfer. Du gibst ihn einem alten Knacker, dessen Bart wie eine Handvoll äußerst ungesunder Asbestwolle im Wind flattert. Der Gentleman hat ein Schild um den Hals. Auf dem steht in grotesk hingemalten Lettern: MEIN RUIN HAT VIELE GRÜNDE. Damit kannst du dich identifizieren.

 

 

18:50 —•••–• Dein Taxifahrer trägt sein Haar nach jamaikanischer Art, hat unzählige produktive Stunden darauf verschwendet, es zu kämmen und einzudrehen, bis sein Kopf aussieht wie von langen wolligen Würmern befallen. Und schlimmer noch: Er riecht wie dein Dad. Will heißen, er stinkt nach frisch verbranntem Marihuana. O Gott! Warum immer du? Was hast du bloß an dir, das solche Leute anzieht? Na ja, wenn man schon so unklug ist, sich mit Q-Jo Huffington zu verabreden, dann passt es durchaus, dass man sich von einem Freak zu dieser Verabredung kutschieren lässt.

Du erwägst kurz, dem Fahrer zu sagen, dass er dich gleich zu Belford Dunn bringen soll, aber dann fällt dir rechtzeitig ein, dass nur der Gin deinen Hormonhaushalt so anheizt und an dieser nervenden Triebhaftigkeit schuld ist. Es gab mal ein Jahr, wo du ein ziemliches Pensum an Scotch zu dir nahmst in der Hoffnung, es werde dir zu einer wunderschön tiefen Whiskeystimme verhelfen. Leider musstest du entdecken, dass hochprozentige Drinks bei dir zu sexueller Erregung führen, also bist du wieder auf Weißwein umgestiegen, was sonst. Lieber eine quieksige Stimme als geil. «Herr Chauffeur!»

«Ja, Schwestah?»

«Ach, vergessen Sie’s.» Wie dem auch sei, Belford wäre ohnehin nur mit dem Aufstöbern und Heimholen des rückfällig gewordenen Primaten beschäftigt.

Der Fahrer, der trotz karibischen Akzents ein besseres Englisch spricht als der durchschnittliche amerikanische Verbindungsstudent, beginnt, dir vom Rastafarikult zu erzählen. Lediglich aus Höflichkeit fragst du, wie zum Teufel es kommt, dass Haile Selassie, ein neuzeitlicher, aber ziemlich toter äthiopischer Kaiser, von den Rastas als Hohepriester und oberster Heiliger verehrt wird? Worauf er dir erklärt, dass irgendwann mal – er glaubt, es war in den Fünfzigern – Jamaika von einer schrecklichen Dürre heimgesucht wurde. Die Leute wussten schon gar nicht mehr, wie ein Regentropfen aussieht. Da kam Selassie nach Jamaika geflogen, zu einem Staatsbesuch. Im gleichen Augenblick, als die Maschine aufsetzte, gab es einen unerwarteten Wolkenbruch. Und es hörte keine Sekunde auf zu regnen, solange Haile Selassie im Lande weilte. Drei Tage lang goss es in Strömen. Als sein Flugzeug wieder abhob, hörte es auf. «Und das is’ der Grund, Schwestah.»

Du kannst nur den Kopf schütteln. Meine Güte!, denkst du. Dem Kerl verregnet es den Urlaub, und die machen ’ne Religion draus! Wieder schüttelst du den Kopf. Die 23 grauen Haare wippen mit.

In der Tat, Gwendolyn, es ist schon eine seltsame Welt. Und sie wird mit jeder Minute seltsamer.

[zur Inhaltsübersicht]

Donnerstagnacht5. April

Den Mond anbellen

•••—

21:00 —•••–• Nun ist es Nacht. Nicht mehr Abend, sondern richtig Nacht wie in «so schwarz wie», wenn auch nicht ganz «mitten in». Dem Abend hängt ja gewöhnlich der Nachmittag an den Jackenschößen, ihm haften noch ein paar richtige Spritzer Tageslicht wie Flusen am Revers, die Nacht jedoch ist einsam, wahrt Distanz, ist kompromisslos, radikal. Die sicheren Grenzen des Tages, zur Abendzeit noch schwach erkennbar, sind ausgelöscht vom harten Radiergummi der Nacht, getrübt von ihrem Schleier aus Tintenfischspritzern, Pyjamasoße und dem blauen Honig, den die Motten absondern. Ist die Nacht eine Maske, oder ist der Tag nur eine spröde Verkleidung der Nacht? Die meisten von uns sind in der Nacht geboren, und bei Nacht werden die meisten sterben. Nachts, wenn im Radio der Krankenschwester Tangomusik spielt und das Rattengift sein heißes Lied hinter der Kellertür singt. Nachts, wenn die lange Schlange auf Nahrungssuche geht, wenn die schwarze Limousine durch die Vergnügungsviertel rollt, das flackernde Neon sein «Endlich frei» in einem Dutzend vergessener Sprachen buchstabiert und die übrig gebliebenen Figuren aus deiner Kindheit verstohlen hinter den mondtrunkenen Ästen der Fichte umhergeistern.

Es ist die Nacht des angeblich schlimmsten Tages in deinem Leben. Hat sich irgendwas gebessert? Nicht wirklich. Während der amerikanische Adler wie ein geköpftes Huhn durch die Börsenmärkte des Orients flattert und die Händler mit einem Schauer von Blutperlen in Panik versetzt, hältst du kleinmädchenhaft die Luft an, drückst ihm die Daumen – und schaust zu, wie Q-Jo Huffington Schweinekoteletts in sich hineinschlingt, als wären die bald ebenso rar wie die Dollars.

Du sitzt in einer gepolsterten Plastiknische im Dog House, einem weniger feinen Restaurant mit dem Slogan «Wir schließen nie», eine Aussage, deren Wahrheitsgehalt sich in der müden Pantomime der Serviererinnen spiegelt, von denen manche hier schon seit der Eröffnung des Restaurants anno 1934 rund um die Uhr zu bedienen scheinen. Die Gäste des Dog House sind größtenteils ältere Malocher, obwohl es in den schrägen Stunden nach Mitternacht von radikaleren Elementen der Jugendkultur infiltriert wird, von Punks und Grungetten, Metalheads, Trashern und Ninjaboys, und von den Highschool-Kids aus Hunts Point, Mercer Island und ähnlich feudalen Vororten, die es auf der Suche nach Nervenkitzel in diese Slumgegend zieht. Die schlachterprobten Serviererinnen wissen, wie man die aufmüpfigen Kids in Schach hält; trotzdem bist du erleichtert, dass es noch relativ früh am Abend ist und dass es sich bei den Gästen zwar um Angehörige der Unterschicht handelt, aber wenigstens nicht um Randalierer. Was keineswegs heißt, dass du es deswegen weniger nervend findest, hier zu sitzen.

Als dir Q-Jo das Dog House als Restaurant ihrer Wahl nannte, hieltest du es erst für einen Witz, ein albernes Wortspiel, angeregt von dem Umstand, dass so viele Leute im Virginia Inn bellten. Jawohl, bellten! Da waren sie nun, die Dichter, Maler, Musiker und Filmemacher von Seattle, alles Leute, die man wohl als kultiviert und anspruchsvoll eingeschätzt hätte; aber debattierten sie über Gödel, Escher, Bach, warfen sie ein sonderlich erhellendes Licht auf den Börsenkrach, brachten ihn mit McLuhans Technologie-Theorie oder dem «Fall des Hauses Usher» in Zusammenhang? Vielleicht taten sie es. Es ließ sich schwerlich jede einzelne Nuance der vielen Gespräche in der Kneipe verfolgen, nicht zuletzt deswegen, weil die Aufnahmen afroamerikanischer Bluessänger mit solcher Lautstärke liefen, dass die alten Neger ihre selbstgebaute Gitarre hätten fallen lassen und, sich die Ohren zuhaltend, in den Wald geflüchtet wären. Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass möglicherweise an jedem x-beliebigen Tisch ein intellektueller Disput von erfrischender Qualität im Gange war. Du weißt nur eins: dass du nie die Worte «Dow Jones», «Deutsche Mark» oder «Michel Foucault» über jemandes Lippen kommen hörtest – dafür aber eine Unmenge Gebell.

Sobald eine bebrillte, durch seine scharlachrote Baskenmütze als hip ausgewiesene Galerieschwuchtel einen kleinen Beller losließ, fielen sogleich etliche reihum ein. Dann, und das war das Merkwürdigste an der ganzen Sache, strahlten sie allesamt gedankenverloren vor sich hin, als seien sie entzückt, ohne freilich im Entferntesten zu begreifen, was sie denn nun so entzückte. Meine Güte! War das irgendeine neue Mode? Als du dich bei Q-Jo danach erkundigtest, zuckte sie die Achseln, meinte: «Oh, Dr. Yamaguchi», und schlug das Dog House vor.

Natürlich hast du ständig darauf gewartet, dass sich dir die verborgenen Zusammenhänge erschließen. Mit der Zeit würden sie das auch, ganz synchronistisch. Aber im Augenblick waren erst mal Schweinekoteletts angesagt.

 

«Gwendolyn, du gedankenlose bürgerliche Schlampe hast einfach ohne mich gegessen. Und jetzt wirst du gefälligst warten und zusehen, wie der große Hund sein Fressen vertilgt.»

Fürwahr ein Anblick. Q-Jo taucht in den Teller Schweinekoteletts ein wie ein Killerwal, der in einen Lachsschwarm vorstößt; geschmeidig, aber tödlich beißt sie erst aus einem Kotelett ein Stück heraus, dann aus dem nächsten, knöpft sie sich nacheinander vor und lässt sie halb zerfleischt liegen, unfähig, ihr zu entkommen; umkreist sie dann von neuem und gibt ihnen den Rest, vertilgt eins nach dem andern, inklusive der speckigen Schwarten, und lutscht am Ende auch noch den allerletzten Tropfen Bratensaft von den Knochen, bis die Reste so sauber und weiß glänzen wie die Spielmarken eines chinesischen Brettspiels.

Und als du den Tisch verlässt und telefonieren gehst, bestellt sie sich eine zweite Portion.

Eine Badezimmerwaage, deren Mechanik in der Lage wäre, es mit Q-Jo Huffingtons Körpergewicht aufzunehmen, gibt es nicht. Bei ihr schwenkt die Nadel sofort ans äußerste Ende der Skala; sie müsste auf eine Industriewaage umsteigen, um festzustellen, wie weit ihr Gewicht die von den Schranken der Mechanik und öffentlichen Anstandsregeln gesetzte 300-Pfund-Grenze tatsächlich überschreitet. Was ihren Cholesterinspiegel angeht, so hat er noch keinen vierstelligen Wert erreicht, ist jedoch auf dem besten Weg dahin. Überdies raucht sie in ruinösem Ausmaß Zigaretten, die sie sich selber aus schwarzem, kratzigem, finster aussehendem indonesischem Grobschnitt dreht; sie pafft sie nacheinander weg, dass dir schwindlig wird und du dich fragst, inwiefern ihre Lungen – abgesehen von der Größe – sich eigentlich noch von den Teerseen des Mesozoikums unterscheiden.

Man würde annehmen, dass eine sensible und hellwache Frau wie Q-Jo, eine Frau, deren präkognitive Fähigkeiten so überzeugend wirken, dass sie aus einer so skeptischen Skeptikerin wie dir eine Gläubige machten; man würde annehmen, dass so eine Frau – eine professionelle Tarotleserin, verdammt noch mal – ein besonderes Interesse in puncto Ernährung und Gesundheit an den Tag legt. Das tut sie auch, solange es um die Gesundheit anderer geht. Sie leugnet jedoch, dass hier Altruismus oder Heuchelei im Spiel ist. Es stimmt, sie ist ein Mensch, der viel gibt, und Essen ist eine Methode, sich einiges davon zurückzuholen, das Verlorene wieder einzuspeisen; doch es steckt mehr dahinter. «Ich rauche und esse, damit ich nicht wegfliege», erklärt sie, womit sie ein mentales Wegfliegen meint, obwohl du dabei ihren massigen Leib wie einen Goodyear-Zeppelin über der Stadt schweben siehst. «Wenn du dich so viel auf der Astralebene bewegst wie ich, dann brauchst du entsprechend Nahrung und Tabak, damit du wieder in deinen Körper zurückkommst. Für mich sind das Mittel zum Andocken.» Außerdem sind sie ein Schutz. Anscheinend ist Q-Jo ein emotionaler Schwamm, eine wandelnde telepathische Antenne, die, auch wenn sie ein Kotelett nach dem andern verdrückt, alle Mühe hat, die unterschwelligen Botschaften anderer Gäste im Dog House von ihrem Empfangsschirm abzublocken. Die Fettleibigkeit verleiht ihr eine gewisse Isolierung, eine Art Schutzmantel, mit dem sie ihre Feinnervigkeit reduziert. Eingemummelt in ein Sanktuarium aus Fett, fühlt sich ihre Psyche nicht ganz so nackt.

Rein privat hast du Q-Jos körperliche Dimensionen immer anziehend gefunden. Vom Tag an, als ihr euch kennenlerntet, hast du den starken Drang gespürt – und rigoros unterdrückt –, ihr auf den breiten, parfümierten Schoß zu hüpfen, dich an die Buddhas ihrer Brüste zu schmiegen und in ihren Affenbrotarmen zu wiegen. Doch während auch andere Leute von ihr fasziniert sind, von ihren violetten Turbanen, ihren bunten Kaftanen, ihren funkensprühenden Augen und tiefen Grübchen, ihrem Nikolausgelächter, der Patschuli-Ausdünstung, der Zigarettenspitze aus Ebenholz und den Ringen, deren Steine den Umfang eines Kropfes haben, ist es dir dennoch peinlich, dich mit ihr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Gott behüte, dass deine Arbeitgeber oder Kunden je spitzkriegen, dass diese aus allen Nähten platzende Irre sich als deine Gefährtin betrachtet. Es demütigt dich ohne Unterlass, dass es die Parzen für angebracht hielten, dich mit so einer Freundin auszustatten. Sobald du in deine neue Eigentumswohnung umgezogen bist – sofern durch ein Wunder der Absturz der Aktienkurse diese Pläne nicht zunichtemacht –, hast du vor, dich nicht mehr so oft mit ihr zu treffen, obwohl weniger bei Q-Jo immer noch eine ganze Menge bedeutet.

 

 

21:10 —•••–• «Und, was gibt’s Neues?», will Q-Jo wissen, als du zum Tisch und deiner frisch gefüllten Kaffeetasse zurückkehrst.

«Von André oder vom Aktienmarkt?»

Sie starrt dich ungläubig an. «André natürlich. Die Aktienkurse gehn mir glatt am Arsch vorbei.»

«Vielleicht doch nicht so ganz. Wenn sich dieser Kollaps so tödlich auswirkt, wie es der Fall sein könnte, dann wird es gravierende Auswirkungen auf das Leben jedes Einzelnen in diesem Lande haben.»

«Hua!», wiehert sie und leckt sich einen angetrockneten Kartoffelbreifleck von der Oberlippe. «Es wird den Leuten die Petersilie verhageln, die sie sich verhageln lassen. Wir anderen werden wunderbar damit klarkommen.»

«Ach ja? Wie wunderbar kommen die Leute damit klar, wenn ihre Kapitalanlagen futsch sind, wenn ihre Pensionskasse Pleite macht, wenn die staatlichen Förderprogramme austrocknen, Fabriken und Banken ihnen die Tür vor der Nase zuknallen und sie keinen Job mehr finden? Du hast doch selber ’ne Hypothek laufen, oder?»

«Die kommen genauso klar wie schon immer. Bevor es so was gab wie Banken und Hypotheken, Fabriken und Jobs. Bevor sie sich auf dieses verlogene Melodram einließen.»

«Welches Melodram?»

«Das, worauf du dein Leben aufbaust. Jetzt trink mal deinen Kaffee. Ich will, dass du nüchtern bist wie ein Amtsrichter, wenn wir hier zur Tür rausgehen.»

«Meine Güte, Q-Jo! Du bist ja so was von … naiv. Du lebst in deiner eigenen kleinen Welt …»

«So klein ist die gar nicht.»

«… und denkst, alle andern könnten das auch. Na ja, auch wenn es dir schnurz ist – ein Typ im Büro hat mir gerade erzählt, dass sie in Tokio ganz schön am Rotieren sind, momentan. Der Index sackt in den Keller, steigt wieder hoch bis unter die Decke, fällt in den Keller, steigt. Jedes Mal, wenn der Nikkei absackt, erholen sich die Pharmawerte und ziehen ihn aus dem Loch. Wie der heute Abend schließt, weiß kein Mensch.» Du bist sichtlich erregt.

«Gwen, Baby, tu mir den Gefallen und bitte die Serviererin, uns drei Walnussschalen und eine Trockenerbse zu bringen. Ich weiß ’n lustiges Spiel für uns zwei.»

«Hör mal, es geht schließlich um meine Zukunft!»

«Jaja.» Q-Jo gibt einen Seufzer von sich, der so gewaltig und duftgeschwängert ist wie eine Schiffsladung Katzenminze. «Das erzählst du mir schon den ganzen Abend. Du verwechselst ‹Zukunft› mit ‹Karriere› und ‹Karriere› mit diesem Roulettekessel, den du jeden Tag in Drehung versetzt. Der Crash ist vermutlich das Beste, was dir je passieren konnte.»

«Das erzählst du mir schon den ganzen Abend. Und ich kann’s nicht mehr hören. Wenn du mir nicht die Karten legen willst, dann vergiss es.»

«Ich bin beim Essen», sagt Q-Jo. Ein Statement, das sich unmöglich widerlegen lässt.

 

 

21:15 —•••–• Q-Jo knabbert. Du brütest stumm vor dich hin. Was bildet die sich eigentlich ein, deinen Beruf zu geißeln? Sie, eine Wahrsagerin, eine Stufe besser als eine dubiose Zigeunerin, die hinter der verstaubten Scheibe einer alten Ladenfassade praktiziert. Dann gibt es da noch ihren anderen Job, einen, den keiner auf der Welt macht außer Q-Jo Huffington, ein Job, der so daneben ist, dass er nicht mal einen Namen hat. Wie sollte man das auch nennen? Retrospektiver Reiseveranstalter? Stellvertretendes Opfer tödlicher Langeweile? Allerunterste Einkommensgrenze jedenfalls, wie man es auch drehen und wenden mag. Trotzdem behauptet sie, dass du Geschäfte mit Illusionen machst. So ein Quatsch! Ihre schrulligen, wirren, bizarren Machinationen sind im wahrsten und bedauerlichsten Wortsinn immateriell, während du auf festem Boden träumst, sauber und rein: die süßen, unstillbaren Sehnsüchte einer jungen Braut. Mit einem kleinen Rüschenschürzchen, jodelnd vor Erdbeeren, die du eigenhändig aufgestickt hast, kniest du vor der Ofentür der Welt und wirfst einen nervösen, doch hoffnungsfrohen Blick auf das Geld-Soufflé. In Q-Jos Version dieser Szene bist du ein hinterm Vorhang lauernder Vampir.

«Nun», sagt sie und unterbricht dein Schmollen, «hast du Belford erreicht?»

«Ja. An seinem Autotelefon. Er kutschiert immer noch am Queen Anne Hill herum und sucht nach André. Ist ziemlich sauer, dass wir ihm nicht dabei helfen. Ich hatte ihm unsere Unterstützung zugesagt.»

«Bin gleich so weit», sagt sie. Sie wischt die letzten Reste des saftigen Schweinefleischs von ihren vollen roten Lippen. «Ich bestell mir nur noch schnell ’ne Portion von dem Tapioka-Pudding, den sie hier machen. So was Altmodisches wie Tapioka-Pudding findet man heute kaum noch auf einer Speisekarte.»

«Belford ist außer sich. So aus dem Häuschen hab ich ihn noch nie erlebt. Normalerweise ist er die Ruhe selbst.» Du schweigst. Überlegst. «Natürlich hoffe ich, dass er André findet, aber weißt du, es könnte sich durchaus positiv auf ihn auswirken, wenn er diesen Affen los wäre.»

«Oh, da bin ich anderer Meinung. Die ungeschminkte Wahrheit ist, dass dieser Affe das einzig Interessante an Belford ist. Ohne André ist der so fad wie ’ne Tasse Spülwasser oder ’n Stück nasse Pappe.» Sie schweigt. Überlegt. «Das heißt, soweit ich das beurteilen kann. Wie er im Bett ist, weiß ich nicht. Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass manche Männer den Hauptteil ihrer Persönlichkeit zwischen den Beinen verbergen.» Sie schenkt dir ein Grinsen, in das du ein Wörterbuch schieben könntest.

«Oder was meinst du?»

Meine Güte, Gwen! Dein Gesicht läuft so rot an, dass du sehen kannst, wie es sich auf Q-Jos Besteck spiegelt. Das Sittendezernat könnte dich als Detektor anheuern. Du stotterst los, willst irritiert etwas entgegnen, aber Gott sei Dank erscheint eine Serviererin mit Bienenkorbfrisur, um die Bestellung von Q-Jos Nachtisch aufzunehmen. Du entschuldigst dich, machst dich auf den Weg zur Toilette und kommst unterwegs an der Eismaschine vorbei, am Milchspender und einer Vitrine, in der proletarisch bescheidene Puddingschalen und Jell-O mit stillem Groll im Schatten opulenter Kuchenstücke vor sich hin wackeln. Wenn das ein Konfektmodell bevorstehender Klassenkämpfe sein soll, dann ist es kein Geheimnis, wo deine Sympathien hegen. Du nickst kaum wahrnehmbar einem ausnehmend patrizischen Stück Kokosmeringe zu.

Die Toilette ist ein Schock für deine Sinneswahrnehmung, nicht etwa, weil sie versifft wäre, sondern weil man ihr gerade mit unzähligen Eimern Gelb einen Anstrich verpasst hat, der an einen gelbsüchtigen Kanarienvogel erinnert. Du blinzelst in die gnadenlose Helligkeit, rümpfst die Nase über den Parfümautomaten – 50 Cents für einen Spritzer Evening in Paris –, erinnerst dich mit jäher Zuneigung an die zurückhaltende Eleganz im Damenklo des Bull & Bear und begibst dich, mit einem Mal wieder stocknüchtern, in eine der beiden schreiend gelben Kabinen, hebst den Rock, ziehst dein Höschen runter, reibst heftig den Sitz mit einer Handvoll Klopapier ab und setzt dich hin. Obwohl sich die Cocktail Lounge am anderen Ende des Restaurants befindet, hörst du Dick Dickerson an der Orgel so gut, als käme es aus den Rohrleitungen. Dick präsentiert eine Version von «Lazy River», und ein paar der Gäste singen mit. Dein Vater hat immer «Lazy River» gehört (natürlich eine Jazz-Version) und dazu auf seinen Bongos getrommelt – diesen verfluchten Dingern, die dich jeglicher Aussicht auf eine normale Kindheit beraubten.

Halb verträumt und halb genervt sitzt du da, bis dein Körper in einer milden Schreckreaktion zusammenzuckt. Die olfaktorischen Rückstände von schalem Zigarettenqualm, billigem Parfüm, Wandfarbe auf Ölbasis und Fichtennadel-Deodorant übertrumpfend, mit einer goldenen Spur die Kloluft durchdringend, macht sich der Geruch deines eigenen Harns bemerkbar, ein Duft, den dein kürzlicher Spargelverzehr ums Hundertfache verstärkt. Und im gleichen Augenblick, als dein Hirn den Geruch identifiziert, denkt es an Larry Diamond. Genau wie der perverse Bastard es dir prophezeite! Du ekelst dich vor dir selber. Du bist wütend auf diesen Kerl. Und, wie du entdeckst, als du dir die Schamlippen abwischst, erkennbar und völlig unerklärlicherweise erregt.

 

 

21:25 —•••–• Du stürmst an der Kuchenvitrine vorbei, wo das Jell-O mittlerweile alarmierend nach Karrieresprung aussieht, und triffst auf die an der Zigarettentheke stehende Q-Jo. Sie kaut auf einem Zahnstocher und begleicht die Rechnung.

«Belford Dunn ist der netteste und anständigste Mann, den ich kenne, sein Sexleben geht niemanden was an, und nebenbei bemerkt: Du hast ja nicht mal einen Freund!» Du sprichst mit zusammengebissenen Zähnen, hast deine kleinen Hände praktisch zu Fäusten geballt.

«Holla, holla. Moment mal. Reg dich ab, Lady. Kein Grund, gleich kratzbürstig zu werden. Belford ist ein Schatz. Die ganze gottverdammte Stadt weiß, dass Belford ein Schatz ist. Sollten die Geistesgegenwärtigen ihn je wegen tödlicher Langeweile anklagen, werd ich unter Eid beschwören, dass er doppelt so nett ist wie fad. Zufrieden?»

Deine Bereitschaft, diese halbherzige Lobpreisung aufs schärfste zu missbilligen, wird gedämpft durch die Verlegenheit, die du bei der Art und Weise empfindest, wie die Kassiererin euch zwei betrachtet. Du steuerst gereizt auf die Tür zu, und Q-Jo sagt: «Gut. Und jetzt mal los. Sehen wir zu, dass wir den jungen Mann wieder mit seinem rotärschigen Affen vereinen.» Sie legt eine fleischige, schweißfeuchte Pfote auf deine Schulter.

«Ich schlage vor, wir beginnen damit, dass wir die Juweliergeschäfte abklappern.»

 

 

21:45 —•••–• Unweit der Kuppe des Queen Anne Hill fährt Q-Jo an den Straßenrand und bugsiert ihren Geo Storm (die Tatsache, dass so viele dicke Leute winzig kleine Autos fahren, könnte es wert sein, dass sich ihr mal ein Verhaltensforscher widmet) dicht an die hintere Stoßstange von Belfords großem Lincoln, wie ein ambitionierter Cockerspaniel, der den Östrogenspiegel einer Dobermannhündin erschnuppert. Als sie die Scheinwerfer ausschaltet, erkennst du die Silhouette – den kantig wirkenden Schädel, die breiten Schultern – des Mannes, den du (du hast es dir geschworen!) bis zum 4. Juli (Unabhängigkeitstag!) aus deinem Leben verabschiedet haben wirst und dessen Ehre, wenn nicht gar Elan du dennoch gerade leidenschaftlich, wenn auch unpassenderweise verteidigt hast. Diese Ambivalenz entgeht dir keineswegs. Im Grunde geht sie dir auf den Geist. Und es könnte noch schlimmer kommen. Dieser Mann wird nun jeden Moment seinen Mund auf deinen drücken und dir die Lippen zerknautschen; für wie lange, hängt davon ab, in welchem Maße ihn Andrés Verschwinden ablenkt. In welchem Ausmaß wirst du dies als angenehm empfinden? Eingedenk der unleugbaren Tatsache, dass du, obsoleter Freund hin, Börsenkrach und schlimmster Tag deines Lebens her, geradezu überfließt vor Lust.

Q-Jo macht ihre Wagentür auf und beginnt, sich aus dem Kleinwagen zu befreien wie ein Discount-Houdini, der sich aus einer Golftasche herauszuwinden versucht. Belford öffnet die Tür seines Lincoln, gleitet heraus und eilt herbei, um Q-Jo behilflich zu sein. Du sitzt da. Du musterst ihn. Du bist gespannt.

Belford Dunn war früher Forstwirt. Was man in vergangenen, farbenfrohen Zeiten Holzfäller nannte. Er wohnte in der Nähe seines Geburtsortes auf der Olympic-Halbinsel und bestritt seinen Lebensunterhalt mit dem Fällen von Zedern und Fichten. Eines Tages las er das handgeschriebene Menetekel an der Sägewerkwand. «Die Holzbranche ist ein sterbender Wirtschaftszweig.»

Gleich daneben war eine Wand, auf der stand: «Eine Baumfarm ist kein Wald.» Belford machte sich seinen Reim darauf und kam zu dem Schluss, dass es bei dem Tempo, in dem die Amerikaner ihr Holz an die Japaner verscherbeln, nur eine Frage der Zeit ist, bis es bei uns keinen Wald mehr gibt, und dass der «Aufforstung», die auf den abgeholzten Flächen betrieben wurde, jeglicher Reiz fehlte, Wildheit und Schönheit, Fährnis und Formenreichtum, und dass sie weder Neugier noch Ehrfurcht weckte, jene uralte elementare Ehrfurcht, wie sie unerforschtes Terrain, jener unbekannte Ort, über den höchstens der Mond, der Pilz, die Eule, der Hirsch und ähnliche Botschafter unserer Psyche Bescheid wissen, seit ewigen Zeiten im Menschen weckt.

Als Belford sein Bündel packte und Port Angeles verließ, überraschte dies seine Eltern, die ihren Sohn immer so eingeschätzt hatten, wie er in seinem Schulabschlusszeugnis beschrieben wurde: «Liebenswert, aber durchschnittlich.» (Vielleicht, Gwen, schätzt du ihn nun genauso ein.) So liebenswert er auch gewesen sein mochte, war er indes ein unverheirateter Mann von 33 Jahren und hatte kaum Gewissensbisse, sich von seinen weniger weitblickenden und am Ende dann über den Verlust von Holzfällerjobs jammernden Kumpels zu trennen. Er versuchte, ihnen die Lage klarzumachen, doch ihre Vorstellungskraft reichte nicht über die nächste Kneipe, die Motorhaube eines Pick-up oder die Bedienungsarmatur eines Videorecorders hinaus.

Also adios, amigos …

Nachdem er sich in Seattle im YMCA einquartiert hatte, belegte Belford Kurse für Immobilienmakler. Er erwarb eine Maklerlizenz, fand einen Job und verkaufte innerhalb von 18 Monaten so viele Immobilien, sowohl Privat- als auch Geschäftshäuser, wie es nur eine Handvoll Makler am Puget Sound schafften. Er erwies sich als geborener Verkäufer, vor allem deshalb, weil er die Leute mochte und die Leute ihn mochten. Sie vertrauten ihm. Belfords Hirn kaute sein Heu so gemächlich wie eine Muhkuh hinter der breiten, offenherzigen Fassade dessen, was man gemeinhin ein «ehrliches Gesicht» nennt. Und er war ehrlich. Von seinem dünnen, hellbraunen Haar bis zu den blank gewienerten Schuhen. Er war in der lutherischen Kirche aktiv, aus einer echten Frömmigkeit heraus, nicht als Masche, um Kontakte zu knüpfen – die knüpfte er ohnehin reichlich. Und Geld verdiente er ebenfalls reichlich. Und nach zehn Jahren macht er immer noch, was du, Gwen, den großen Reibach nennst. Aber das meiste davon spendet er der Kirche oder Wohlfahrtsorganisationen. Und was deiner Meinung nach noch beunruhigender ist: Er hat vor, im September seinen Job an den Nagel zu hängen, um dann eventuell zum Sozialarbeiter umzuschulen. Meine Güte! Gar nicht mal so verkehrt, vermutest du, weil Amerika, falls es wirklich keiner schafft, die an einem Dinosaurierknochen erstickende Wirtschaft in den Heimlich-Handgriff zu nehmen, mehr Bedarf an Sozialarbeitern haben wird als an Immobilienmaklern. Aber wer soll die bezahlen? Und wie hoch?

Es war Belford Dunn, der dir dein Apartment verkauft hat. Damals war es sein Apartment, doch weil er es zu schick fand, zog er ein paar Blocks weiter in ein kleineres und schlichteres Domizil. Seine Vorstellung von «schick» deckt sich kaum mit deiner. Das Gebäude, kein sehr hohes, Baujahr 1930, ist solide, und jede Wohneinheit hat bleigefasste Fenster, freiliegende Tragebalken, geflieste Kamine und Böden aus schwedischem Holz, kurz, es hat jede Menge altmodischen Charme, aber niemand könnte behaupten, dass es eine schicke Adresse wäre. Wie denn auch? Q-Jo Huffington wohnt hier. Vor einigen Monaten hast du deine Wohnung zum Verkauf angeboten und den Kaufvertrag für eine reizende Eigentumswohnung mit Meerblick in einem piekfeinen Hochhaus in der Innenstadt unterschrieben. Adieu, marginale Nachbarn, hallo, Concierge! Der Deal soll nächste Woche besiegelt werden.

Aber es könnte sein, dass du nächste Woche den Morgenkaffee in der Schlange vorm Arbeitsamt trinkst – genauso wie der Börsenkollege, mit dem du in Verhandlungen über den Verkauf deiner jetzigen Wohnung stehst. Schlimmer hätte das Timing dieses Crashs wirklich nicht sein können. Wenn du bloß daran denkst, musst du dich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle laut loszufluchen und mit den Füßchen zu stampfen.

Wie dem auch sei, anfangs schien Belford ein guter Fang. Noch heute bist du nicht bereit zuzugeben, dass persönlicher Wohlstand und emotionale Stabilität ein inadäquater Ersatz für savoir-vivre wären. Oder dass einem unerschütterliche Anständigkeit auf den Keks gehen kann. Was du allerdings zugibst: Hättest du geahnt, dass du den Rest deines Lebens mit einem Sozialarbeiter verbringen musst, hättest du dir gleich die Kugel gegeben. Vielleicht wirst du das ohnehin tun. Deine Mutter hat es getan.

Draußen auf dem Gehsteig patscht Q-Jo deinem Belford auf die hingestreckte Hand. «Hey, du großer, extravaganter, beschwingter Tausendsassa!» Er weiß, dass sie ihn veräppelt, so dumm ist er nicht, doch er setzt ein gutmütiges Lächeln auf. Ein Lächeln, das ein Girl mit nach Hause nehmen könnte zu Mom, wenn sie eine hätte; ein Lächeln, das ein Mädchen streicheln könnte wie ein Pony, schlürfen könnte wie Limonade, trällern wie eine Popmelodie; ein Lächeln, mit dem sich ein Girl in einer dunklen Gasse sicher fühlen würde. Nicht dass Belford je auf die Idee käme, dich in eine dunkle Gasse zu führen. Abgesehen von diversen Camping-Trips und Angelausflügen, die du ermüdend, schmutzig und öde fandest, ist Belford nie irgendwo mit dir hingefahren. Belford hält nichts vom romantischen Kurzurlaub, von Entspannung in luxuriösem Ambiente, dem spontanen Weekend in Palm Springs. Vor drei Jahren, kurz nachdem ihr euch kennenlerntet, fuhr er nach Europa. Er fand, das müsste er sich mal ansehen. Offen gesagt ärgerte es dich, dass er dich nicht einlud – in der Hoffnung, er würde dich bitten, ihn zu begleiten, hast du früher mit ihm geschlafen, als du’s normalerweise getan hättest –, doch leider war es eine Pauschalreise. Alles schon fest gebucht. Lange geschmollt hast du nicht. Es wird ihm Glanz verleihen, hast du dich getröstet. Er wird gebildeter sein, nachdem er Rom und London gesehen hat. Du hättest nie damit gerechnet, dass er den ganzen Monat in Saint-Tropez hängenbleiben und eisern um das Sorgerecht für einen Affen streiten würde, den in ganz Frankreich niemand mit der Kohlenzange anfassen wollte.

 

 

22:00 —•••–•