9,99 €
Ein CIA-Agent unterwegs im Auftrag der Großmutter Was haben ein zur Nonne gewordenes Nacktmodell, ein Urwaldmagier, eine Großmutter, eine reizvolle Lolita und der Papst gemein? Sie sind Albtraum und Erlösung für CIA-Agent Switters: ein vom Staat bezahlter Anarchist, ein knarretragender Pazifist und ein keuscher Lebemann, den nur zwei Fragen umtreiben: wie man Frauen ins Bett kriegt und wie man die bedrohte Weltordnung rettet. Switters ist ein Held, wie er im Buche steht. Aber nur in diesem! «Der wildeste Schriftsteller der Welt!» (Financial Times)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 872
Veröffentlichungsjahr: 2013
Tom Robbins
Völker dieser Welt, relaxt!
Roman
Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda
Für Rip und Fleet und Capt. Kirk
Ich will Gott, ich will Poesie,
Ich will Gefahren, ich will Freiheit,
Ich will Tugend, ich will die Sünde.
Aldous Huxley
Manchmal nackt
Manchmal verrückt
Mal als Weiser
Mal als Narr
So erscheinen sie auf Erden:
Die freien Menschen.
Hinduistischer Vers
DER NACKTE PAPAGEI sah aus wie eine Kreuzung zwischen menschlichem Fötus und koscherem Hähnchen. Er war so alt, dass er sämtliche Federn verloren hatte, sogar die Stoppelfedern. Seine Haut war mit lauter winzigen Hubbeln übersät. Die blauen Adern darunter sahen aus wie Gummi.
«Krank», murmelte Switters und meinte nicht nur den Papagei, sondern die ganze Szene mitsamt der eingeschrumpelten Alten, die durch die verdunkelte Villa spukte, während der Vogel ihr beharrlich folgte. Seine schrundigen Krallen erzeugten ein trockenes Scharren auf den Terrakottafliesen, wo er um Halt kämpfte, und wenn er in regelmäßigen Abständen das Gleichgewicht verlor und ein paar Zentimeter über den glatten Boden rutschte, krächzte er dermaßen tatterig und schwach, dass man glauben konnte, der Würger von Boston hätte ihm schon zärtlich die Finger um den Hals gelegt.
Jedes Mal wenn der Vogel krächzte, antwortete die Alte mit einem Gackern – ob aus Sympathie oder Missfallen, blieb offen, da sie sich kein einziges Mal zu ihrem ergebenen kleinen Verehrer umwandte, sondern in ihrem sackartigen schwarzen Kleid ziellos von einem alten Holzmöbel zum nächsten wanderte.
Switters heuchelte Bewunderung, insgeheim jedoch fand er das Ganze ziemlich widerwärtig, vor allem, weil Juan Carlos, der im Patio neben ihm stand und ebenfalls durch das Fenster der Witwe spähte, vor Stolz und Genugtuung förmlich platzte.
Switters erschlug die Moskitos, die ihn am ganzen Körper zerstachen, und verfluchte jedes einzelne Haar auf der Hand des Schicksals, das ihn in dieses scheißlebendige Südamerika verschlagen hatte.
DAS RIESIGE INSEKT, angelockt vom Lichtschein, der zwischen den Lamellen nach draußen drang, schlug heftig mit den Flügeln. Während Switters auf die Boys wartete, die sein Gepäck vom Fluss heraufschleppten, beobachtete er einigermaßen fasziniert, wie es gegen den Fensterladen anstürmte. Das hier war kein Schmetterling, so viel stand fest. Es handelte sich um einen riesigen Nachtfalter, und ihn umgab die geheimnisvolle Aura eines Nachtschwärmers.
Schmetterlinge sind zarte, fragile Wesen, dieser Nachtfalter jedoch war schwer und strotzte vor Kraft. Seine dicken Flügel waren gepudert wie das Gesicht einer alten Diva. Angeblich sind Schmetterlinge flatterhaft, Nachtfalter hingegen Gefangene einer wilden Obsession. Schmetterlinge wirken harmlos, Nachtfalter irgendwie… erotisch. Der Puder des Nachtfalters ist reiner Sex. Das Zucken des Nachtfalters ist das Zucken der Leidenschaft. Switters griff sich an die Kehle, er gab ein leises Stöhnen von sich. Denn plötzlich ging ihm auf, wie sehr der Nachtfalter einer geflügelten Klitoris ähnelt.
Lebendig.
Im gleichen Augenblick vernahm er auf dem Pfad hinter sich ein Ächzen, und dann tauchte Inti aus dem Dschungel auf, mit dem Koffer aus Krokodilleder, den er vorsichtig vor sich hertrug. Kurz darauf erschienen auch die beiden anderen Boys mit dem Rest seines Gepäcks. Es war Zeit, die Unterkunft im Hotel Boquichicos zu begutachten. Mit Grauen dachte er daran, was ihn hinter den geschlossenen Fensterläden und der Tür mit dem doppelten Fliegengitter erwarten mochte, und bedeutete den Boys, ihm zu folgen. «Lasst uns reingehen. Dieses Insekt…» Er nickte in Richtung des riesigen Nachtfalters, dessen rasender Flügelschlag die dampfend grüne Brühe, die am Amazonas so oft die Luft ersetzt, zwar leicht anpustete, doch keineswegs ernsthaft aufrühren konnte. «Dieses Insekt macht mich so…» Switters zögerte, das Wort auszusprechen, obwohl er wusste, dass Inti kaum ein Dutzend Brocken Englisch verstand: «…so libidinös.»
VON EINEM SPÄTEN Frühlingsschauer überrascht, zogen die Nomaden, tropfnass und nahezu beschwingt, in Richtung des Jebel al Qaz-az. In den tiefer gelegenen Gefilden, die sie hinter sich gelassen hatten, war das Gras bereits gelb und verdorrt, bot keine Nahrung mehr für die Herde, sondern bestenfalls für Steppenbrände. Auch konnte es durchaus sein, dass die vor ihnen liegenden Bergpässe noch durch Schneemassen blockiert waren. Doch welche Befürchtungen den Trupp auch plagen mochten, der Regen spülte sie alle fort. In Gebieten wie diesem hat die Hoffnung einen Namen, und der heißt Wasser.
Sogar die Schafe und Ziegen wirkten fröhlich und leichtfüßiger als zuvor, auch wenn hin und wieder ein Tier innehielt, um sich das Wasser aus dem Fell zu schütteln: Dann stand es steifbeinig da und wirkte wie ein eingebildeter Varietéstar. Sein ledrig schwarzes, im Regen schimmerndes Maul war auf fernere Weiden gerichtet; es folgte damit weniger seinen Treibern als einem Wanderinstinkt, der älter ist als die Menschheit.
Switters gehörte zu den vier Männern, die hoch zu Ross die Karawane anführten – mit ihm ritten der Khan, dessen ältester Sohn und ein erfahrener Bergführer. Der Rest marschierte zu Fuß. Seit fast einer Woche waren sie vom Morgengrauen bis zur Dämmerung auf den Beinen gewesen.
Zwei Meilen zuvor, ehe sie den langsamen Anstieg begannen, waren sie an einem großen Garten vorbeigekommen – zweifellos eine Oase: Sie war von einer hohen Lehmmauer umgeben, über der man die obersten Äste von Obstbäumen sah, und der Duft nach Orangenblüten verstärkte noch den ohnehin berauschenden Geruch des Regens. Aus dem Innern der Anlage glaubte Switters das durchdringende, süße Kreischen lachender Mädchen zu hören. Offensichtlich hatten auch mehrere junge Männer es vernommen, denn sie drehten die Köpfe und blickten sehnsüchtig auf das ferne Grundstück zurück.
Die Gruppe zog weiter. Das ist nun mal das, was Nomaden tun. Sie ziehen weiter. Mit ihren Lasten und dem blökenden Vieh.
Switters jedoch ging die kleine Oase nicht aus dem Sinn. Irgendetwas – die geheimnisvollen Mauern, die üppige Vegetation, die unüberhörbare Gegenwart junger Frauen, die sich im Regen vergnügten – hatte sich seiner Vorstellungskraft derart bemächtigt, dass er schließlich seinen Gastgebern erklärte, er wolle zurückkehren und den Ort unter die Lupe nehmen. Man hätte sagen können, dass sie schockiert waren, wäre seine Anwesenheit an und für sich nicht schon so außergewöhnlich gewesen, dass sie gegen weitere Verwirrung teilweise gefeit waren.
Der Khan schüttelte den Kopf, und sein ältester Sohn, der ganz passabel Englisch sprach, wandte ein: «O Sidi, wir dürfen nicht umkehren. Das Vieh…»
Switters, der ganz passabel Arabisch sprach, unterbrach ihn und erklärte, dass er allein umzukehren beabsichtige.
«Aber Sidi», erwiderte der älteste Sohn, rang die Hände und runzelte die Stirn, bis sie wie der aufgerollte Deckel einer Sardinendose aussah. «Das Pferd. Wir haben nur die vier Pferde, wissen Sie. Und wir…»
«Aber nicht doch, mein Freund. Sag deinem Papa, dass ich keineswegs vorhatte, mich mit seinem prächtigen Gaul aus dem Staub zu machen. Soll sein zweitgeborener Sohn ihn besteigen; er hat sich jetzt lange genug die Beine vertreten.»
«Aber Sidi…»
«Ich schwirre in meinem Starship zurück, wenn ihr Jungs so nett wärt, es mir startklar zu machen.»
Der Khan hob die Hand, um die Karawane anzuhalten. Im gleichen Augenblick brach auch der Regen ab. Zwei Stammesangehörige machten Switters’ Rollstuhl los, der hinter seinem Sattel festgeschnallt war, klappten ihn auf und stellten ihn mit angezogener Bremse auf halbwegs ebenen Boden. Dann halfen sie ihm vom Pferd und hoben ihn behutsam in den Sitz. Den Krokokoffer zurrten sie an der Rückenlehne fest, den Computer, das Mobiltelefon und seine maßgeschneiderte 9-mm-Beretta, jedes Teil in eine Plastiktüte eingewickelt, legten sie ihm auf den Schoß.
Sie verabschiedeten sich lange und umständlich voneinander, und dann beobachteten die Nomaden ehrfürchtig staunend mehrere Minuten lang, wie Switters, mühsam hin und her schwankend, doch unablässig singend, den klapprigen, von Hand betriebenen Rollstuhl über das harte Gestein und durch den tückischen Sand einer Landschaft manövrierte, die so schroff wirkte, dass ein bloßer Blick darauf genügt hätte, um einen romantischen Dichter therapiereif oder einen Stadtplaner zum Ginsäufer zu machen.
Langsam verschwand er in der Ödnis.
Und das Lied, das er sang, hörte sich an wie «Send in the Clowns».
DER KARDINAL WIES Switters und seine Truppe an, sich hintereinander aufzustellen. Der Gartenpfad sei schmal, erklärte er, und zudem gehöre es sich nicht, sich Seiner Heiligkeit in einem ungeordneten Haufen zu nähern. Switters sollte die Gruppe anführen. Hätte man nicht beim letzten Sicherheitscheck seine Waffe beschlagnahmt, hätte er darauf bestanden, die Nachhut zu bilden, doch so spielte es keine Rolle.
Wegen seiner «Behinderung» brauche Switters sich nicht verpflichtet zu fühlen, niederzuknien, wenn er den Thron erreichte, sondern dürfe im Rollstuhl sitzen bleiben, hatte der Kardinal ihm großzügig gestattet. Switters fragte sich, ob man trotzdem erwartete, dass er den Ring des Papstes küsste. Wenn sie mich dazu kriegen wollen, müssen sie schon einen Haschischkrümel drunter klemmen oder ihn mit Mösensaft oder red eye-gravy einschmieren, dachte er.
Bei dieser Vorstellung fiel ihm eine Schauspielerin ein, die er mal gekannt hatte. Man hatte ihr Fetzen von Kalbsleber an die Absätze ihrer hochhackigen Schuhe getackert, um einen abgerichteten Terrier dazu zu bringen, ihr während einer Filmszene auf Schritt und Tritt zu folgen.
Und als er an diesen Terrier dachte, der mit fleischbestückten Stöckelschuhen geködert worden war, fiel ihm der nackte alte Papagei ein, den er vor ein paar Monaten in einem Vorort von Lima hinter seiner Herrin hatte herwatscheln sehen – und für einen kurzen Moment war Switters wieder in Peru. So arbeitet das Gehirn nun mal.
So arbeitet das menschliche Gehirn: Es ist genetisch darauf programmiert, alles in Schubladen abzulegen, doch wenn es nicht ständig streng kontrolliert wird, reiht es wahllos unter fadenscheinigsten Vorwänden und geradeso, als hielte es das für die natürlichste und vergnüglichste Sache der Welt, eine Assoziation an die andere, ohne sich einen Deut um Logik oder Chronologie zu scheren.
Nun sieht es so aus, als habe dieser nüchterne Bericht unbeabsichtigt als partielle Imitation des Bewusstseins begonnen. Vier Ereignisse wurden geschildert, die sich an vier verschiedenen Orten und zu vier unterschiedlichen Zeiten zugetragen hatten und Monate oder gar Jahre auseinander liegen. Obwohl sie eine chronologische Abfolge und ein verbindendes Element aufweisen (Switters) und das Leitmotiv nichts mit jener Art von Bewusstseinsstrom zu tun hat, die Finnegans Wake zum realistischsten und zugleich unleserlichsten Buch macht, das je geschrieben wurde (unleserlich, gerade weil es so realistisch ist), eignet sich das Vorhergehende wahrscheinlich nicht dazu, einen wirkungsvollen Erzählstrang zu entwickeln – nicht mal heutzutage, wo die Welt offenbar Anstalten macht, aus ihrer linearen Trance aufzuwachen und ihr gefährlich restriktives Selbstverständnis als historisches Gefährt abzuschütteln, das unerschütterlich der Einbahnstraße zu seinem vorbestimmten apokalyptischen Ziel folgt.
Deshalb soll sich dieser Bericht nunmehr an einem annehmbaren Ausgangspunkt versammeln (jeder Anfang einer Geschichte ist irgendwie willkürlich, und die jetzt folgende bildet keine Ausnahme), von dem er sich auf eine Art und Weise, die allgemein als linear verstanden wird, vorwärts bewegt, wobei er den ausschweifenden und sprunghaften Einflüssen des natürlichen Bewusstseins widersteht und nur gelegentlich Halt macht, um an den Adjektiven zu schnuppern oder ein paar Arschtritte auszuteilen.
Da dieser neue Ansatz Kapitelüberschriften (die Zeit und Raum bestimmen) überflüssig erscheinen lässt, werden sie von nun an weggelassen.
Hätte das nächste Kapitel eine Überschrift gebraucht, würde sie folgendermaßen lauten:
Seattle
Oktober 1997
ES WAR AN einem dunstbärtigen Samstagmorgen, grau wie ein Ghul und kühl wie Muscheln in Aspik, als Switters im Haus seiner Großmutter aufkreuzte. Auf dem Weg vom Flughafen hatte er einen Abstecher zum Pike Place Market gemacht und einen Strauß goldener Chrysanthemen und einen mittelgroßen Kürbis gekauft. Jetzt musste er all dieses Zeug jonglieren, um mit der freien Hand den Kragen seines Regenmantels hochzuklappen und sich vor den mikroskopisch feinen Nadelstichen des Nieselregens zu schützen. Außerdem hatte er bei einem schrägen Fischer, den er kannte, eine Kapsel Ecstasy erstanden. Auf dem Weg vom Mietwagen zu dem stattlichen Haus schaffte er es, sie einzuwerfen und ohne Hilfe von Flüssigkeit zu schlucken. Sie schmeckte nach Schnappbarsch.
Er drückte auf die Klingel. Kurz darauf krächzte die Stimme seiner Großmutter aus der Sprechanlage. «Wer ist da? Was wollen Sie? Ich hoffe, es ist was Ernstes!» Die Frau weigerte sich partout, ein Dienstmädchen einzustellen, obwohl sie dreiundachtzig Jahre auf dem Buckel hatte und über das entsprechende Kleingeld verfügte.
«Ich bin’s, Switters.»
«Wer?»
«Switters. Dein Lieblingsenkel. Nun mach schon auf, Maestra.»
«Holla! Lieblingsenkel – du träumst wohl, was? Hast du mir was mitgebracht?»
«Und ob!»
Er hörte das Schnarren des Türöffners, und dann sprang die Tür auf. «Ich komme. Mach dich auf was gefasst, Maestra.»
«Holla!»
Als Switters noch kein Jahr alt war, hatte sich seine Großmutter vor seinem Hochstuhl aufgebaut, die Hände in die damals noch verführerischen Hüften gestemmt und erklärt: «Du brabbelst schon wie ein verdammter DJ. Bald wirst du mir auch einen Namen verpassen, aber eins möchte ich jetzt schon klarstellen. Wag es bloß nicht, mich mit einem degenerierten Ausdruck wie Großmama, Omi oder so was zu beleidigen, hast du kapiert? Und wenn du je Nannie, Nana oder Nonna, Mumu, Omama oder Mimi zu mir sagst, schlage ich dir deine süßen Milchzähnchen aus. Ich weiß, dass ihr Zwerge instinktiv dazu neigt, Geräusche zu produzieren, die mit M beginnen und von weichen Vokalen gefolgt werden, wenn ihr auf mütterliche Reize reagiert. Wenn du mich also unbedingt mit derlei Unfug in Verbindung bringen musst, dann nenn mich ‹maestra›. Maestra. Verstanden? Das ist die weibliche Form für das italienische Wort ‹Maestro› oder ‹Lehrer›. Keine Ahnung, ob du jemals was von Belang von mir lernen wirst, und du kannst Gift darauf nehmen, dass ich niemandem auf der Welt was beibringen will, aber wenigstens hat Maestra was Würdevolles an sich. Versuch mal, das nachzusprechen.»
Nachdem etwas mehr als ein Jahr verstrichen und der kleine Bengel schon zwei war, marschierte er eines Tages zu seiner Großmutter, durchbohrte sie mit seinen damals schon hypnotisch grünen Augen, stemmte die Hände in die Hüften und krähte: «Nenn mich Switters.» Maestra hatte ihn eine Zeit lang angesehen, sich darüber gewundert, warum er sich plötzlich mit seinem nicht gerade erlauchten Nachnamen identifizierte, und schließlich genickt. «In Ordnung», sagte sie. «Das ist nur fair.»
Seine Mutter hatte ihn weiterhin «kleiner Mops» gerufen. Aber nicht lange.
Maestra kam ihm nicht in der Eingangshalle entgegen, also wanderte Switters auf der Suche nach ihr durch das Erdgeschoss. Fast ein Jahr war vergangen, seit er das letzte Mal hier gewesen war, aber alles war noch genau so, wie er es in Erinnerung hatte: schlicht, elegant und makellos sauber (Maestra hatte eine professionelle Putzkolonne angeheuert, die zweimal in der Woche kam, und die Mahlzeiten bestellte sie entweder bei einem Chinesen oder beim Pizza-Service). Ihr Haus war das krasse Gegenteil der Absteigen, in denen ihre Nachkommen – und deren Nachkommen – oft gehaust hatten. Maestra hatte gut für sich gesorgt. Über dem Kamin im Wohnzimmer hing ein Ölgemälde von Henri Matisse, der blaue Akt einer üppigen Frau, die mit verrenkten Gliedern auf einem bunt gemusterten Haremssofa lag. Switters war ziemlich sicher, dass es echt war.
Er fand sie in der Bibliothek vor dem Computer. Die Bibliothek war zum großen Teil mit elektronischen Geräten voll gestopft, es mussten doppelt so viele sein wie bei seinem letzten Besuch. Ihre umfangreiche Sammlung von klassischen Werken war nun in Zweier- und Dreierreihen an einem Ende des Raumes geparkt, während am anderen Ende die beiden Computer, eine Batterie von Modems, Druckern und Telefonen, ein Fernsehgerät mit riesigem Bildschirm und zwei eingestöpselten schwarzen Boxen, ein Faxgerät und ein Helm mit integrierter Brille untergebracht waren, den Switters für eine Vorrichtung zum Anschauen virtueller Realitäten hielt.
«Maestra! So früh am Morgen beim Surfen?»
«Am frühen Morgen gibt es wenigstens keine Staus auf dem Datenhighway. Bist du allein?»
«Na klar. Meinst du, ich würde mich trauen, jemand mitzubringen?»
Sie klickte sich offline und drehte sich zu ihm um. «Tja, weißt du, ich hab da zufällig eine E-Mail von dir abgefangen, in der du der kleinen Suzy versprichst, sie zum großen O zu bringen.» Ihr liebevoller Blick erstarrte zu eisiger Kälte.
Switters’ Gesicht lief so glühend rot an, dass er es als Bierreklame hätte vermieten können. Es war einer der seltenen Augenblicke in seinem Leben, da es ihm die Sprache verschlug.
«Was hast du denn damit gemeint, hä? Zum großen Opa? So einen gibt es hier doch gar nicht.» Sie lächelte spöttisch und eine Spur boshaft. «Immerhin hast du bislang wenigstens den Anstand gehabt, mich nicht als Oma zu bezeichnen.»
«Oh, äh», stammelte Switters. «Suzy? Suzy ist in Sacramento, wie zum Teufel kannst du ihre E-Mails abfangen?»
«Holla! Nichts leichter als das, ein Kinderspiel. Gerade du müsstest doch wissen, wie das geht.» Ihr Lächeln wurde ein kleines bisschen sanfter. «Na schön, Switters. Komm her. Gib mir einen Schmatz auf meine runzlige Wange. Ich freue mich, dass du da bist. Mir ist zwar nicht ganz geheuer dabei, aber ich freue mich trotzdem. Hmm. Mein Junge. Also, was hast du mir mitgebracht? Na großartig, du weißt ja, was ich mir aus Blumen mache. Und was für ein feiner Kürbis. Ja. Ein echtes Prachtstück.» Sie machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung über seine Mitbringsel.
Doch dann fischte er aus der Jackentasche ein rosa- und karamellfarbenes Armband aus Bakelit. «Das hab ich in einem Trödelladen in Paris ausgegraben. Der Typ hat hoch und heilig geschworen, dass es Josephine Baker gehörte.»
«Tja, aber jetzt gehört es mir!» Maestra war verrückt nach Armbändern und trug gelegentlich bis zu zehn verschiedene an jedem ihrer hageren Ärmchen. «Das ist sehr lieb von dir, Switters, wirklich aufmerksam.» Sie hielt inne, streifte das Armband übers Handgelenk zu den übrigen Klunkern an ihrem Arm und bewunderte es. «Aber glaub bloß nicht, dass du damit aus dem Schneider bist, mein Junge. Ich muss dir wohl kaum sagen, was für ein elender Schlingel du bist.»
«Ach, sag es trotzdem. Ich kann’s gar nicht oft genug hören. Es beflügelt mich.»
«Du bist ein gottverdammter Schlingel, Switters. Ein Schuft, ein Tunichtgut, ein Perversling… Mach nicht so ein selbstgefälliges Gesicht. Das mit Suzy ist gar nicht komisch. Es stinkt zum Himmel. Außerdem ist es kriminell. Du warst schon immer ein verantwortungsloser…»
«Halt, halt, nun mach aber mal halblang. Das geht zu weit. Ich bin ein engagierter, mit Orden ausgezeichneter Staatsdiener, von oben bis unten durchleuchtet und für allerhöchste Sicherheitsstufen freigegeben. Alles andere als ein verantwortungsloser Schlappschwanz.»
«Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Wie soll ich nachts auch nur ein Auge zutun, wenn ich weiß, dass Typen wie du den Hühnerstall bewachen? Es ist ein Wunder, dass du noch nicht aus deinem Job geflogen bist.»
«Ich bin schon zehn Jahre dabei.»
«Mir ist schleierhaft, wie sie dich überhaupt anheuern konnten.»
«Das habe ich meinem entschlossenen Kinn und einer Aura tragischer Noblesse zu verdanken.»
«Eher deinen akademischen Leistungen, würde ich sagen.» In ihrer Stimme schwang ein nicht zu unterdrückender Anflug von Stolz mit. «Der Dekan in Berkeley hat mir selbst gesagt, so einen wie dich hätten sie noch nie gehabt, vor allem in Kybernetik und Sprachen…»
«Ganz zu schweigen von moderner Poesie. Ich hab neun Stunden moderne Poesie belegt.»
«Das hat er vergessen zu erwähnen. Und dieser Rugby-Spieler, der dunkelhäutige Engländer, hat behauptet, du seist der einzige Amerikaner, den er je trainiert hat, der das Spiel tatsächlich verstanden hätte.»
«Ach was, Nigel wollte sich nur bei dir einschmeicheln. Er war total verrückt nach dir. Du hattest es ihm ganz schön angetan.»
«Holla! Erzähl keinen Unsinn! Ich war schon damals Grufti. Rugby ist ein barbarisches Spiel. Schlimmer als American Football, also gib endlich zu, dass du ein Ass darin warst.»
«Das sind die Gene, Maestra. Alles Fähigkeiten, die ich von dir geerbt habe.»
«Holla!» Die alte Dame blühte unwillkürlich auf. «Du warst ganz schön gerissen, in bestimmten Bereichen, trotzdem ist es mir ein Rätsel, dass sie ausgerechnet dich genommen haben, trotz deiner Eskapaden als Student und deiner nicht vorhandenen Moralvorstellungen.»
«Ich stehe im Dienst der Regierung, Maestra, da spielt Moral keine Rolle.»
«Da hast du leider Recht. Und welche Gaunerei hat die Regierung jetzt wieder für dich ausgeheckt? Was führst du im Schilde? Was machst du in Seattle? Und wie lange bleibst du bei mir, bevor du wieder losziehst?»
«Bis zur rosenfingrigen Morgenröte.»
«Morgen früh? Nein!»
«Ich fliege bei Tagesanbruch nach Südamerika – aber nicht für lange. Eigentlich hätte ich einen Monat Urlaub, aber mein Chef bestand darauf, dass ich ihn so lange verschiebe, bis ich aus Lima zurück bin. Es geht ganz schnell. Wahrscheinlich bleibe ich bloß über Nacht.»
Er beobachtete, wie sie hinter der Brille die Augen zusammenkniff.
«Und wen sollst du um die Ecke bringen?»
«Drecksarbeit mache ich nicht. Du siehst viel zu viel fern. Die Firma hat da unten einen viel versprechenden jungen Burschen angeheuert, einen Einheimischen. Bei Vertragsabschluss hat er einen brandneuen Honda geschenkt bekommen, und jetzt will er einen Rückzieher machen.»
«Und du sollst ihn ohne großes Aufsehen aus dem Verkehr ziehen, was?»
«Sei nicht albern. Ich soll ihn hofieren, ihm um den Bart gehen, damit er bei der Stange bleibt.»
«Wieso gerade du?»
«Weiß ich auch nicht, vielleicht weil wir was gemeinsam haben. Er hat seinen Abschluss summa cum laude an der University of Miami gemacht. Informatik und Sprachen.»
«Keine moderne Poesie?», stichelte sie.
«Nicht, dass ich wüsste, Maestra. Aber ich wette, er kann die eine oder andere Zeile von Howl aufsagen.»
«Und was machst du im Urlaub? Darf ich mit einem weiteren Überfall rechnen?»
«Und ob. Und mit einem neuen Armband auch. Sobald ich zurück bin. Ich hatte gehofft, dass ich für eine oder zwei Wochen deine Hütte am Snoqualmie Pass in Beschlag nehmen kann. Ich habe dieses Jahr schon viel zu viel Betonstaub geschluckt. Böses Juju steigt von den Bürgersteigen in den Städten auf. Ich müsste mal wieder ein Schwätzchen mit einem Bach halten, Sternenlicht atmen, mich mit ein paar Bäumen anfreunden. Und danach will ich vielleicht kurz nach Sacramento und die Familie beglücken.»
«Suzy eingeschlossen?»
«Uh, äh, hm. Suzy ist wahrscheinlich auch da. Ich glaube, sie hat Schule.»
«Na klar hat sie Schule, sie ist ein Teenager!»
Maestra schwieg und sagte so lange nichts, dass Switters schon meinte, sie sei eingenickt, wie es bei alten Leuten gelegentlich vorkommt. Entweder das oder sie war ernsthaft sauer. Er räusperte sich. Dann räusperte er sich erneut, diesmal etwas lauter.
«Südamerika», sagte sie plötzlich.
«Ja.»
«Wie schön.»
«Ganz und gar nicht. Südamerika hat wenig zu bieten für einen Draufgänger wie mich.»
«Kann ich mir denken. Todesschwadronen, Elend, Korruption und Umweltzerstörung.»
«Hm, ja, das ist eine Seite.» Er kratzte sich, als juckte ihn schon der bloße Gedanke an Südamerika. «Aber vor allem ist es scheißlebendig.»
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, verkniff sich aber die Frage, was er mit «scheißlebendig» meinte. Stattdessen wollte sie nur wissen, in welches Land genau er reiste.
«Peru.»
«Peru. Ja. Hab ich mir gedacht. Lima, Peru.»
Es folgte weiteres langes Schweigen, diesmal jedoch konnte er sehen, dass sie nicht in ein geriatrisches Ozonloch gefallen war. Ihre Augen verengten sich und leuchteten gleichzeitig auf, bis sie wie die Öffnung aussahen, durch die Tabascotröpfchen in die Welt treten. Es fehlte nicht viel, und man hätte das zing, zing, zing eines synaptischen Bogenschützen gehört.
«Jemine», murmelte er schließlich und schüttelte den Kopf. «Wenn J.Robert Oppenheimer seine Birne derart angestrengt hätte, wäre vielleicht Videopoker und nicht die Atombombe dabei rausgekommen.»
Maestra lächelte zynisch. «Beweis mir, dass Ritterlichkeit in dieser Stadt noch was heißt.» Mit klappernden Armbändern streckte sie ihm beide Ärmchen entgegen. «Bitte entschuldige mich einen Augenblick.»
Switters erschrak, als ihm aufging, wie leicht und zerbrechlich sie geworden war. Im Vergleich zum beachtlichen Volumen ihrer geistigen Kräfte und ihrer Stimme war der Körper nur eine leere Hülle. Doch kaum hatte er ihr geholfen aufzustehen, verließ sie ziemlich eilig das Zimmer, ohne sich groß auf den kräftigen Gehstock aus Mahagoni zu stützen, den sie scheinbar lediglich als Dekoration bei sich führte. Er hörte, wie sie ihn am Treppengeländer entlangrattern ließ, als sie die Stufen emporstieg.
Switters warf seinen Regenmantel (unter dem er einen grauen irischen Tweedanzug und ein knallrotes T-Shirt trug) über ein Modem und schlenderte ans Fenster der Bibliothek. Maestras Haus lag auf dem steilen Hügel des Magnolia District. So hieß dieser Stadtteil, nachdem ein früher Entdecker, der sich mit Botanik nicht auskannte, die vielen Erdbeerbäume mit einer nicht verwandten Spezies verwechselt hatte, die in südlicheren Gefilden heimisch ist. Vom Magnolia Bluff aus überblickte man die Schiffsrouten, auf denen alle möglichen Boote, von Kriegsschiffen und Öltankern bis zu schnittigen kleinen Lachskuttern, verkehrten, wenn sie vom Pazifischen Ozean durch die Meerenge von Juan de Fuca und den Puget Sound zu den Docks von Seattle fuhren. Maestras zweiter Ehemann war als Kapitän zur See gefahren, hatte später mehrere Schlepper besessen und stets ein Auge auf die Gezeiten haben wollen. An diesem regnerischen Tag jedoch hätte der Kapitän nicht viel erkennen können. Himmel und Wasser wirkten wie die beiden Flächen derselben mit Kreide vernebelten Tafel. Die Natur hatte die Schaubilder, Textzeilen und Multiplikationstabellen dermaßen verwischt, dass Switters im Augenblick nur Scheiben voller Kleister sah.
Er wandte sich vom dunstigen Nichts ab und sah sich im gleichen Augenblick mit dessen Gegenteil konfrontiert, nämlich einem überaus plastisch gezeichneten Gegenstand in gespenstischen Farben. Es war der Kürbis, der so intensiv orange leuchtete, dass es den Anschein hatte, als würde er jeden Moment hier auf dem Tisch der Bibliothek in Flammen aufgehen. Switters wusste nicht, ob er einen Feuerlöscher suchen oder ehrfürchtig auf die Knie fallen sollte. Das Ding glühte – und drehte sich im Kreis. Zumindest sah es ein oder zwei Minuten lang so aus. Er blinzelte und rieb sich die Augen. Dann fiel es ihm wieder ein.
Er hatte die Ecstasy-Kapsel völlig vergessen. Sie fing gerade an zu wirken, und zwar mächtig. Da er wusste, dass 150Milligramm 3,4Methylendioxy-Methamphetamin, um es bei seinem richtigen Namen zu nennen, keine Halluzinationen auslösen, musste sein gegenwärtiges Bewusstsein erheblich erweitert sein. Angesichts dieser Erkenntnis zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich genau vor den Kürbis. Er loderte jetzt nicht mehr, war aber sehr hübsch und sehr freundlich, und Switters konnte nicht anders, als zärtlich seine haptischen Konturen nachzufahren.
«Wir suchen nach dem Eingang in diesen Kürbis», flüsterte er, «doch anders als Aschenputtels Kutsche folgt er nur der treibenden Kraft seines gemächlichen Reifeprozesses.». (Wo kam das denn her?) «Vom köstlichen Glanz der Maiskörner abgelenkt, lassen die Mäuse ihn links liegen, bis er groß, rund und orange ist: ein Globus verlorener Kontinente, ein gesichtsloser Kopf, dessen wahre Identität nur dem Halloween-Messer und gewissen Vertretern der Kürbispolizei bekannt ist. O Kürbis, schwangere Squawblase, frechster aller Monde, Wasserball der Vogelscheuchen! Im Namen aller Bauerntöchter der Welt, nimm deine Kapuze ab und…»
«Switters!» Maestra war hereingekommen und stand hinter ihm. «Was, zum Teufel, erzählst du diesem armen Kürbis da? Ist das etwa das Resultat deiner neun Stunden moderner Poesie?»
«Meine Königin! Du bist zurück!»
«Liebe Güte! Ich glaube, dein Kürbis wird allmählich weich, was? Fängst du etwa an zu spinnen?»
Er schenkte ihr ein zuckersüßes Lächeln und warf dann einen verlegenen Blick auf seine weißen Turnschuhe. «Maestra, macht es dir was aus, Musik aufzulegen? Ich hätte Lust zu tanzen.»
«Vergiss die verdammte Musik. Sailor Boy und ich brauchen jetzt deine ungeteilte Aufmerksamkeit.»
Erst da bemerkte er den Papagei.
Wie seine gebrechliche Großmutter es geschafft hatte, Sailors Käfig vom oberen Wohnzimmer herunterzuholen, war ihm schleierhaft. Der Käfig war aus Korbweide und Kupferdraht gebaut und sehr luftig, aber auch sehr geräumig, wie es Vogelkäfige nun mal sind, und bestimmt alles andere als leicht. Die sonst so skeptische Maestra hatte im Lauf der Zeit die Überzeugung gewonnen, dass Pyramiden die Macht besitzen, organisches Gewebe frisch zu halten, egal, ob es sich um einen Apfel oder um Federvieh handelt. Von einem Artikel in einer angesehenen Fachzeitschrift inspiriert, hatte sie vor langer Zeit einen Handwerker damit beauftragt, dem Papagei einen Käfig nach dem Vorbild der Großen Pyramide zu bauen. Dabei hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, ob die geometrische Form das Gewicht des Käfigs vergrößern oder verkleinern würde. Die Wirkung auf Sailors Wohlergehen war ebenso unbewiesen, obwohl kein Betrachter den gesunden Glanz seiner Federn bestreiten konnte.
«Ich kenne deine Abneigung gegenüber Tieren», sagte sie.
«Das ist glatte Verleumdung, Maestra. Ich schätze alle Geschöpfe Gottes, kleine wie große.» Es war das Ecstasy, das aus ihm sprach. Es war das Ecstasy-Grinsen.
«Na schön, dann gegen Haustiere, ich weiß es aus sicherer Quelle, nämlich von dir selbst, dass du Haustiere nicht ausstehen kannst. Was stellst du dich jetzt so an?»
Nachdenklich kratzte er sich am Kinn. «Ich mag nur keine Käfige, Leinen, Fußfesseln und Halfter. Ich mag nichts Gezähmtes. Ich gebe ja zu, dass ein Haustier jemandem wie dir ein gewisser Trost sein kann, aber die Seele der Tiere verkümmert in der Gefangenschaft. Hätte der liebe Gott gewollt, dass Tiere in Häusern leben, hätte er ihnen einen Bausparvertrag mit auf den Weg gegeben.»
«Du ziehst die Wildnis vor.»
«Nun ja, ich gebe zu, dass die Natur gelegentlich über die Stränge schlägt und übertreibt mit all dem Kreuchen und Fleuchen, Schleimen, Stechen, Zischen und vor allem mit ihrer ewigen Fortpflanzerei. Aber im Großen und Ganzen, ja, gilt mein Respekt eher Viechern, die an ihrer Beute schnuppern statt zwischen meinen Beinen und ins Elefantengras scheißen statt in eine Kiste in meiner Küche.»
«Du drückst dich etwas unfein aus, aber ich verstehe, was du meinst. Du ziehst wilde und freie Geschöpfe vor. Das ist gut. Das ist sehr gut.»
«Wirklich, Maestra?» Er sah aus wie ein kleines Kind, das stolz darauf ist, für eine banale Leistung gelobt zu werden, die ihm aufrichtig am Herzen liegt.
«Ja, das ist verdammt gut, denn es zeigt mir, dass du philosophisch gerüstet bist für den kleinen Auftrag, den ich dir erteilen werde.»
Switters blinzelte. Er befand sich in einem durch Drogen ausgelösten, neurologisch definierten Zustand seliger Großherzigkeit, in der das Ego heruntergefahren, Ängste zerstreut und das Vertrauen erweitert ist; trotzdem hatte er das mulmige Gefühl, in eine Falle gelockt zu werden.
Wie sich herausstellte, wollte seine Großmutter ihn bitten, Sailor mit nach Südamerika zu nehmen und ihn dort im Dschungel auszusetzen. In ihrem fortgeschrittenen Alter müsse sie sich auf das unausweichliche Ende gefasst machen, und die Lebenserwartung des Papageis sei zwar mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit höher als die ihre, aber auch er sei nicht mehr der Jüngste. Sie wollte, dass der Vogel seine letzten Jahre in Freiheit verbrachte und in den Dschungel zurückkehrte, in dem er das Licht der Welt erblickt hatte.
«Aber, aber, hör mal…!», stotterte Switters. «Seit ich denken kann, lebt Sailor bei dir.»
«Seit vier- oder fünfunddreißig Jahren. Und als ich ihn kaufte, war er mindestens genauso alt.»
«Ja richtig. Ich bin sechsunddreißig. Warum also jetzt, so spät…?»
«Stell dich nicht dumm! Du weißt genau, warum. Ich habe immer gedacht, er hätte es gut bei mir, aber vielleicht ist das nur chauvinistische Selbstüberschätzung. Immerhin ist er eingesperrt, nicht? Vielleicht kannst du dich daran erinnern, dass er früher frei durchs Haus flog, aber in den letzten Jahren hat er angefangen, die Vorhänge zu zerfetzen und eine Menge Unfug anzustellen. Er hat eine Persönlichkeitsveränderung durchgemacht. Hast du nicht immer behauptet, dass alle Haustiere irgendwann genauso neurotisch werden wie Menschen? Stimmt’s, oder hab ich Recht? So blieb mir nichts anderes übrig, als ihn einzusperren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mies ich mir dabei vorkam. Also wird es meinem Gewissen und seiner ‹verkümmerten Seele› nur gut tun, wenn du ihm die Freiheit wiedergibst.»
«Aber, aber… ich habe immer gedacht, dass Sailor aus Brasilien stammt. Dass er ein brasilianischer Papagei ist. Ich fliege nach Peru.»
«Hör auf, mit mir zu reden, als wäre ich senil. Brasilien, Peru – der Amazonas ist der Amazonas. Vögel und wilde Tiere kümmern sich nicht um Nationalitäten. So beschränkt sind sie nicht.»
«Na schön, aber ich fliege nicht zum Amazonas. Ich fliege nach Lima.» Seine Stimme klang undeutlich und von gespielter Gleichgültigkeit gedämpft. «Lima liegt an der Küste. Es ist von Wüste umgeben. Es liegt Hunderte von Kilometern vom Amazonas entfernt.» Er drehte sich zu dem Käfig um. Sailor zerrte an ein paar Weintrauben, die zwischen den Gitterstäben steckten, doch er hatte den Kopf auf die Seite gelegt, und ein schimmerndes Auge fixierte Switters, als spürte er den außergewöhnlichen Zustand, in dem er sich befand. «Tut mir Leid, alter Knabe, aber wenn du vorhast, in deinen smaragdgrünen Dschungel zurückzufliegen, wirst du deinen Vielflieger-Bonus einlösen müssen.»
Maestra fand das weder lustig, noch ließ sie sich entmutigen. «Dein Ton enttäuscht mich», sagte sie. Die Pupillen seiner bereits erwähnten wilden, hypnotisch grünen Augen waren derart erweitert, dass sie aussahen wie die Brenner eines Puppenhausherdes. Unerschrocken starrte sie hinein. «Ich bitte dich bloß um einen kleinen Abstecher. Möglich, dass es deinen Reiseplan etwas durcheinander bringt, aber das musst du für mich tun.»
«O nein. Kommt nicht in Frage. Das ist kein kleiner Umweg. Wenn ich nicht binnen achtundvierzig Stunden wieder aus Südamerika raus bin, dann mache ich mich verdammt unbeliebt. Tut mir Leid, Maestra. Erstens ist es viel zu umständlich, und zweitens ist es zu viel verlangt.»
Sie klatschte derart heftig in ihre altersfleckigen Hände, dass der Vogel aufschreckte und mit den Flügeln flatterte. «Dann ist es eben keine Bitte mehr, sondern ein Befehl.»
Switters grinste. Im Augenblick liebte er die ganze Welt, einschließlich Südamerika und der herrschsüchtigen alten Dame, aber er würde sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. «Du hast wohl vergessen, dass ich das einzige Familienmitglied bin, das du nie einschüchtern oder rumkommandieren konntest. Deshalb hast du mich so sehr ins Herz geschlossen. Also kannst du genauso gut…»
«Moment mal! Der einzige Grund, warum ich dich toleriere, zu einem gewissen Grad toleriere, ist der, dass du der Einzige von uns bist, der noch ein paar Tricks auf Lager hat. In diesem Fall aber fürchte ich, dass dir deine Tricks zum Verhängnis werden könnten.» Sie hielt inne, um ihre theatralische Pose so richtig zur Geltung zu bringen. «Du musst nämlich wissen, mein Kleiner, dass ich zufällig sämtliche E-Mails, die du in den letzten Monaten an Suzy geschickt hast, in meinem Besitz habe.»
«Das ist nicht wahr!», platzte er selbstsicher heraus, aber irgendwie wusste er, dass sie nicht bluffte.
«Wetten, dass?», sagte sie und trat geradewegs zu dem älteren und kleineren der beiden Computer, dem Mac Performa 6115.In Sekundenschnelle hatte sie gefunden, was sie suchte. «Na schön, diese stammt vom dreißigsten September. Hm. Ich zitiere: ‹Ich sehne mich danach, deiner Muschi zu huldigen wie der Hahn dem Morgengrauen.›»
«Ach du Scheiße.» Errötend rutschte Switters tiefer in seinen Sessel und begann ganz leise «Send in the Clowns» zu summen.
Während der folgenden Diskussion kam Switters mehrmals das Wort «Erpressung» über die Lippen. Er sagte es ohne Erbitterung, und sie reagierte ohne das geringste Schuldbewusstsein.
«Ich hätte nie gedacht, dass meine eigene Großmutter so tief sinken und mich erpressen würde.» Er schüttelte die dunkelblonden Locken. Er war verwirrt.
«Das hätte kein Mensch gedacht. Und es hätte auch keiner die Schweinigeleien für möglich gehalten, die sich hier in diesem E-Mail-Verkehr offenbaren. Ich frage dich nochmals: Willst du, dass deine Mutter und dein Stiefvater diese E-Mails zu Gesicht bekommen? Willst du, dass deine Vorgesetzten in Virginia Wind davon kriegen? Denk mal darüber nach.»
«Das ist Erpressung der übelsten Art und überhaupt nicht lustig!»
«Der Zweck heiligt die Mittel. Nimm es nicht so schwer. Im Übrigen solltest du wissen, dass ich daran denke, mein Testament zu ändern. Der Sierra Club würde mit der Hütte am Snoqualmie nicht viel anfangen können, deshalb habe ich daran gedacht, sie dir zu vermachen, aber wohlgemerkt, bisher ist es nur ein Gedankenspiel.»
«Ich…»
«Psst. Hör mir zu. Mein Matisse, nach dem du immer so verrückt warst, sollte eigentlich an das Seattle Art Museum gehen, aber vielleicht lasse ich mich breitschlagen, ihn in der Familie zu behalten. Falls Sailor seine Freiheit bekommt und mein Herz Frieden findet.»
«Erpressung genügt dir wohl nicht, jetzt musst du auch noch Bestechung hinzufügen.»
«So ist es. Und glaub ja nicht, dass du mich davon abhalten kannst.»
«Du wusstest von Anfang an, dass du mit Bestechung allein bei mir nicht landen könntest, was?»
«Materialismus gehört zu den wenigen Lastern, denen du nicht verfallen bist. Aber ganz tief drinnen hast selbst du einen Funken von Selbsterhaltungstrieb.»
Er machte einen letzten Versuch, seinem Schicksal zu entrinnen. «Vielleicht hast du nicht daran gedacht», weil du selbst keine Reisen unternimmst, Maestra, aber man kann ein Tier nicht so ohne weiteres in fremde Länder mitnehmen. Die meisten Staaten haben strenge Quarantänevorschriften, was Haustiere angeht. Ich wette, in Peru…»
«Switters! Du bist CIA-Agent, Herrgott nochmal! Du hast mit Sicherheit deine Möglichkeiten, alles Verbotene an aufmerksamen Zollbeamten vorbeizuschmuggeln. Du selbst hast mir mal gesagt, es wäre so ähnlich wie diplomatische Immunität, nur viel besser.»
Resigniert rutschte er noch ein Stück tiefer in seinen Sessel. Jetzt waren seine Augen auf gleicher Höhe wie der Kürbis, und er bildete sich ein, zu erkennen, dass seine Kerne im Innern kreisten wie Sterne in einer Galaxie oder ein Bienenvolk in seinem Korb.
Sichtlich zufrieden mit sich marschierte Maestra mit klimpernden Armbändern zu ihm herüber und stieß ihm sanft den Gehstock in den Nacken. «Sitz gerade, mein Junge. Oder willst du aussehen wie Quasimodo, wenn du erwachsen bist?» Aus ihrem reich bestickten Kimono zauberte sie ein dreifach gefaltetes, zerknittertes rosafarbenes Blatt hervor. «Von so viel Erpressung und Bestechung habe ich einen Mordshunger bekommen. Bestellen wir uns erst mal Lunch.» Dann knallte sie die billige Speisekarte und ein drahtloses Telefon zwischen ihm und dem Kürbis auf den Tisch. «Im Einkaufszentrum von Magnolia hat ein neuer Thai eröffnet. Such uns was Leckeres aus, okay? Nach fünf Jahren in Bangkok müsstest du dich ja auskennen.»
Er hätte hungrig sein müssen (abgesehen von einer Maß Redhook Ale im Pike Place Market hatte er nicht gefrühstückt) und obendrein wütend auf Maestra, doch dank der Ecstasy-Kapsel war er keins von beidem. «Wie ruhig gestellte Astronauten, die sich ihre Kräfte für die bevorstehenden Begegnungen der dritten Art aufsparen, schweben die Kürbiskerne in ihrem schleimigen Plasma.» Diese Worte flüsterte er, aber zum Glück schenkte sie ihnen keine Aufmerksamkeit, denn sie stand bereits vor der Pyramide, um sich mit dem Papagei zu unterhalten. Im Gegensatz zu anderen alten Frauen, die mit ihren Vögeln in einer Art Babysprache herumgurren, sprach Maestra mit Sailor nicht anders als mit Menschen auch. Ihre Ausdrucksweise war im Großen und Ganzen formell und rutschte nur gelegentlich ins Blumige. Die ironische Sprachgewandtheit, mit der sie auch sich selbst auf die Schippe nahm, hatte zu einem gewissen Ausmaß Switters’ Sprechweise beeinflusst, obwohl er es nicht gerne zugab. (Was den Papagei anging, so brachte er bei den seltenen Gelegenheiten, da er überhaupt etwas sagte, nur einen einzigen Satz zustande, und zwar immer denselben. «Völker dieser Welt, relaxt!», krächzte er mit einem heiseren spanischen Akzent, als sei das der weiseste Rat, den er der Welt geben konnte.)
Da Switters keine Möglichkeit sah, sich davor zu drücken, und ihr außerdem den Gefallen tun wollte, nahm er die Speisekarte unter die Lupe und griff zum Telefon. Er bestellte Gerichte wie tom kah pug oder pak tud tak, deren Namen gewöhnlich so klingen, als frage jemand mit Hasenscharte nach einer Packung Heftzwecken, und hatte keinerlei Schwierigkeiten mit der heiklen Aussprache. Der Kellner hielt ihn sogar für einen Landsmann, bis Switters ihm klar machte, dass er ungeachtet seines makellosen Akzents keine Ahnung von dieser Sprache hatte, die von Elmer Fudds alten asiatischen Vorfahren erfunden worden sein musste.
Weniger als eine halbe Stunde später stapelten sich Kartons mit allerlei wohlriechenden, dampfenden Leckereien auf dem Schreibtisch der Bibliothek. Das Aroma von Zitronengras, Chilipaste und Kokosnussmilch belebte das altmodische, mit allerneuester Technologie voll gestopfte Zimmer.
Nach fünf Gabeln voll scharfem pla lard prik nickte Maestra in ihrem Schaukelstuhl ein und schlief etliche Stunden.
Switters probierte keinen Bissen, sondern tanzte allein vor dem CD-Player bis tief in den düsteren Nachmittag hinein.
AM NÄCHSTEN MORGEN flog er nach Peru. Mit Alaska Airlines ging es zunächst nach Los Angeles, dann um 13Uhr mit LAN-Chile weiter nach Lima. Während der kurzen Zwischenlandung in Mexico City hatte er gerade genug Zeit, einen verschrobenen Linguistikprofessor anzurufen, den er dort kannte.
Nachdem man den Papagei in der Druckausgleichskabine des Frachtraums verstaut hatte, der für Tiere vorgesehen war, ging alles Weitere problemlos. Zum Glück, denn das Ecstasy hatte ihn ganz schön erledigt. Kaum hatte er seinen Platz in der Business Class eingenommen und eine Bloody Mary auf dem Klapptisch vor sich stehen, war er einigermaßen versöhnt, wenn nicht sogar euphorisch, als er an die Aufgaben dachte, die vor ihm lagen. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass die Mission, die ihm seine durchtriebene Großmutter aufgeschwatzt hatte, möglicherweise erheblich spannender war als der Mickymaus-Auftrag, mit dem ihn Langley betraut hatte. Was nicht heißen sollte, dass er keine Unannehmlichkeit war, aber zumindest besaß er den Vorzug, eine ungewöhnliche Unannehmlichkeit zu sein, so was Ähnliches wie etwa eine Bullenfalle. Nun, ein paar zusätzliche Tage in Südamerika würden der Kaulquappenkolonie in seinem Abflussgraben schon nicht den Garaus machen. Er würde es überleben.
Ja, kein Zweifel, den kurzen Ausflug in den stickigen, verrückten, verregneten und scheißlebendigen Dschungel des Amazonas würde er überstehen. Der Film dagegen, der während des Fluges gezeigt wurde, war was ganz anderes.
Es war einer dieser Action-Thriller, deren Spannung hauptsächlich darin besteht, dass man nicht sagen kann, ob neunzig Sekunden oder volle zwei Minuten zwischen einer ohrenbetäubenden Explosion und der nächsten vergehen werden. In solchen Filmen ist der Himmel nie sehr lange blau. Schwarze Rauchwolken, orangefarbene Stichflammen und bunte Kaskaden herumfliegender Trümmer flackern in unregelmäßigen Abständen über die Leinwand, und der Soundtrack, jede Menge Krachen, Poltern und Dröhnen, ist so selbstverständlich wie Musik, wird allerdings vom ständigen Belfern der Maschinengewehre und von Schmerzensschreien noch übertroffen. Maestra und Suzy zogen sich hin und wieder solche Streifen rein, weil sie glaubten, so ungefähr müsse sein Leben bei der Central Intelligence Agency aussehen. Dumme Dinger.
Switters hielt es eine knappe halbe Stunde aus, ehe er sich die Kopfhörer herunterriss, seinen Drink in einem Zug leerte und sich seinem Platznachbarn zuwandte, einem großen, drahtigen Latino mit scharf geschnittenen Zügen, der einen blauweiß gestreiften Leinenanzug trug. «Sagen Sie, amigo», bemerkte Switters gerade laut genug, um sich durch die Kopfhörer des Kerls verständlich zu machen, «wissen Sie, warum diese Knaller so populär sind? Können Sie mir sagen, warum vor allem junge Männer so unglaublich scharf darauf sind, dass die ganze Welt in die Luft fliegt?»
Der Mann starrte Switters ausdruckslos an. Dann lüftete er den Kopfhörer, aber nur an einem Ohr. «Es ist so was Ähnliches wie eine Erlösung», erklärte Switters fröhlich. «Eine Befreiung von der materiellen Welt. Im Unterbewusstsein haben die Menschen das Gefühl, von all den Gebäuden in unserem Kulturkreis und einer gnadenlosen Lawine von Konsumgütern erdrückt zu werden. Wenn sie mit ansehen, wie der ganze Mist in die Luft fliegt und respektlos zum Teufel gejagt wird, sind sie genauso erleichtert wie die alten Griechen beim Betrachten ihrer Tragödien, spüren die gleiche Ekstase psychischer Befreiung.»
Der Latino lächelte, aber es war kein freundliches Grinsen. Es war dieses Beinahelächeln, das man gelegentlich bei kleinen Hunden auf dem Rücksitz eines geparkten Autos sieht, kurz bevor sie anfangen, hysterisch zu kläffen, und versuchen, sich durch die Fensterscheibe zu beißen. Vielleicht versteht er mich nicht, dachte Switters.
«Dinge. Cosas. Die Dinge krallen sich wie Blutegel an die Seele der Menschen, und dann saugen sie ihnen alle Lust aus, die Musik und die ursprüngliche Freude darüber, unbehindert auf der Welt zu sein. Comprende? Die Menschen leiden an einem unerträglichen Trieb, sich in einer Art stabilem Raum niederzulassen und ihn mit einer Menge Gerümpel voll zu stopfen, aber tief im Innern verabscheuen sie diese Gebilde und haben zudem eine Heidenangst vor all dem Zeug, weil sie wissen, dass die Dinge sie beherrschen und ihren Aktionsradius einschränken. Das ist der Grund, warum sie diese Knaller mögen. Symbolisch betrachtet, töten sie damit ihre leblosen Wächter und sprengen die Mauern ihrer diversen Gefängniszellen.»
Da Switters mittlerweile Lust auf ein Schwätzchen bekommen hatte, hätte er an dieser Stelle seine Theorie über Selbstmordkommandos zum Besten gegeben, dass nämlich islamische Terrorgruppen nur deshalb so erfolgreich freiwillige Märtyrer rekrutieren können, weil junge Männer sich liebend gern mit Sprengstoff behängen und kostbares öffentliches Eigentum in tausend Stücke zerfetzen. An solchen Knalleffekten geilen sie sich auf. Würde man ihnen befehlen, sich zu opfern, indem sie sich vor einen Bus werfen oder einen feuchten Finger in die Steckdose stecken, würden die Freiwilligen schnell den Schwanz einziehen. Doch er gab nichts mehr zum Besten, denn unterdessen hatte der Latino begonnen, ihn zähneknirschend anzustarren. Ja, es ist nicht gerade die feine Art, jemanden sozusagen anzuknirschen, aber zweifellos tat der Bursche genau das. Er knirschte sogar ziemlich laut und derart kräftig, dass sein dichter schwarzer Schnurrbart auf und ab rollte wie eine Berg-und-Tal-Bahn für abenteuerlustige Maispastetenkrümel. Switters blieb nichts anderes übrig, als den Knirscher mit dem, was manche Leute als «wilde, hypnotisch grüne Augen» bezeichnet haben, zu durchbohren. Er starrte den Knirscher so wild und so hypnotisierend an, dass der schließlich aufhörte, mit den Zähnen zu knirschen, heftig schluckte, sich abwandte und Switters’ Blick während des ganzen restlichen Fluges auswich.
Davon abgesehen, verlief die Reise ohne Zwischenfälle.
Montagmorgen um zwei Uhr früh landete Switters mit einem quälenden, dumpfen Kopfschmerz auf dem Jorge Chávez International Airport. Er neigte zu leichten Migräneanfällen, und Flugreisen waren hundertprozentige Auslöser dafür. Die Lektüre amerikanischer Geheimdienstberichte über peruanische Guerilla-Aktivitäten und eine Bloody Mary nach der anderen hatten nicht viel geholfen. Doch als er die Zollbeamten beschwatzen musste, Sailor Boy passieren zu lassen, war der Schmerz hinter seinen Augen erst richtig eskaliert. Hätte er nicht Papiere dabeigehabt, die – fälschlicherweise natürlich – bezeugten, dass er vorübergehend der amerikanischen Botschaft zugeteilt worden war, hätte er bis Weihnachten dort schmoren können. Manchmal war Langley wirklich verdammt effektiv.
Er hielt den verhüllten Vogelkäfig in der rechten Hand und schob mit der Linken seinen Gepäckwagen an Grüppchen von mürrischen Männern in brauner Uniform vorbei, die Schnellfeuergewehre über der Schulter trugen. Es war die Policía de Turismo. Sie hatte die Aufgabe, ausländische Touristen vor Taschendieben, Neppern, Schleppern, Handtaschenaufschlitzern, Schwindlern, Betrügern, Banditen und Revoluzzern zu beschützen, die sich in Lima tummelten wie die Kerne in einem Kürbis. Und nicht selten war die Polizei selbst das Problem. (Während seines letzten Besuches in Südamerika hatte er im kolumbianischen Cartagena einen Polizisten über den Haufen schießen müssen, nachdem der versucht hatte, ihn mit vorgehaltener Waffe auszurauben. Der Kerl hatte überlebt, aber Switters litt noch immer an Albträumen, in denen er den ohrenbetäubenden Knall seiner Beretta hörte, als er den Halunken zunächst ins Handgelenk schoss, um ihn zu entwaffnen, und die Schreie, als er ihm anschließend beide Kniescheiben zerschmetterte, damit er nie wieder Gelegenheit hätte, sich unter dem Schutz seiner Hundemarke an seine Opfer heranzumachen. Switters fand, dass Gesetzeshüter, die Gesetze brechen, doppelt so hart bestraft werden sollten wie Normalbürger, wenn sie bei den gleichen Verbrechen erwischt werden. Der Beamte verletzt nicht nur das heilige Vertrauen der Öffentlichkeit, sondern tritt auch das Konzept der Gerechtigkeit und der Fairness auf der Welt mit Füßen. Ein korrupter Polizist ist ebenso ein Verräter wie jemand, der Staatsgeheimnisse verhökert, und sollte dementsprechend hart bestraft werden.)
Selbst in der heruntergekommenen, aber immer noch eindrucksvollen Lobby des Gran Hotel Bolívar wimmelte es von Beamten der Touristenpolizei. Die meisten hielten in den schweren verblichenen Polstersesseln ein Nickerchen. Einer stand an der Rezeption und musterte Switters’ verhüllte Pyramide misstrauisch, verzichtete jedoch auf eine genauere Inspektion, und Switters brauchte nicht mehr als die übliche Ewigkeit, um sich anzumelden.
Ohne sich die Mühe zu machen, den Koffer auszupacken, nahm er eine Ergomar-Pille gegen die Kopfschmerzen und ging sofort ins Bett. Es war vier Uhr morgens. Die Stunde, wenn Madame Angst große schwarze Pullover strickt und der Blutzucker in den Keller sackt, um dort herumzuwerkeln.
Um halb elf wachte er benommen auf und öffnete die Jalousien gerade so weit, dass er sehen konnte, wo das Telefon stand. Als Erstes rief er Hector Sumac an, den abtrünnigen Rekruten, und verabredete sich mit ihm zu einem späten Abendessen. Er drückte sich selbst die Daumen, dass der Kerl überhaupt auftauchte. Danach rief er Juan Carlos de Fausto an, einen Führer, den der Pförtner an der Rezeption empfohlen hatte, und einigte sich mit ihm auf eine Tour durch die wichtigsten Kathedralen und Kirchen von Lima am späten Nachmittag. Switters spielte mit dem Gedanken, zum Katholizismus zu konvertieren, um bei Suzy, die sehr gläubig war, Eindruck zu schinden. Er selbst würde einen schrecklichen Katholiken abgeben – organisierte Religion bedeutete für ihn im Großen und Ganzen nicht mehr als kollektives Pfeifen im Dunklen mit gefährlichen politischen Untertönen–, aber er hatte etwas übrig für Rituale, solange sie einigermaßen unverfälscht waren, und im Übrigen war ihm Unterwanderung als Taktik nicht ganz fremd.
Rituale gefielen ihm, aber zwanghafte Routine hasste er wie die Pest. Daher verabscheute er jede Minute, die er nun mit Duschen, Haarewaschen, Rasieren und Zähneputzen vergeuden musste. Wenn der Mensch schon Kühlschränke erfunden hatte, die sich selbst enteisen, und Herde, die sich selbst reinigen, warum hatte es die Natur in all ihrer komplexen, erfindungsreichen Herrlichkeit nicht geschafft, Zähne zu entwerfen, die sich von selbst putzen? «Es gibt Geburt», murmelte er, «es gibt Tod, und dazwischen gibt es Wartung.»
Nach diesen Worten ging er zurück ins Bett und schlief noch drei Stündchen.
Bevor Switters sich auf seine Stadtrundfahrt begab, machte er das Zimmerpersonal darauf aufmerksam, dass sich in seinem Zimmer ein Papagei befand. Sailor hatte einen ziemlichen Jetlag und war dermaßen von der Rolle, dass er nicht mal fressen wollte. Es war eher unwahrscheinlich, dass er Probleme machen würde, aber er brauchte nur ein einziges Mal sein schrilles «Völker dieser Welt, relaxt!» loszulassen, wenn ein ahnungsloses Zimmermädchen hereinkam, und Switters könnte sich in einer ähnlichen Lage wieder finden wie seine Großmutter vor einem Dutzend Jahren.
Damals hatte Maestra ein normalerweise kompetentes Hausmädchen namens Hattie gehabt. Eines Tages, als Maestra sich auf einem ganztägigen Computerlehrgang befand, der vom North Seattle Community College gesponsert wurde, machte sich Hattie daran, den Pyramidenkäfig zu putzen. Dabei schrubbte sie auch Sailors Trinknapf, der zugegeben ziemlich verdreckt war, mit einem beliebten Haushaltsreiniger namens Formula 409.Unglücklicherweise reagieren Papageien sehr empfindlich auf chemische Ausdünstungen. Möglich, dass es an den Lösungsmitteln in Formula 409 lag, vermutlich am 2-Butoxyethanol – jedenfalls wurde Sailor, als er sich anschickte, aus seinem blitzblank gewienerten Wassernapf zu trinken, von den Restdämpfen, so schwach sie auch gewesen sein mochten, überwältigt und kippte um.
Hattie hielt ihn für tot. Da sie ihrer Arbeitgeberin das Trauma ersparen wollte, ein soeben verschiedenes Tier vorzufinden, wenn sie nach Hause kam, wickelte sie den im Koma liegenden Vogel in Zeitungspapier und deponierte ihn im Kofferraum ihres Wagens. Dann schrieb sie Maestra einen mitfühlenden Zettel und fuhr nach Hause, um ihrem halbinvaliden Vater ein frühes Abendessen zu machen.
Anschließend wollte sie den Kadaver entsorgen. Während sie in der Küche beschäftigt war, humpelte ihr Vater zum Wagen, um irgendwas herauszuholen. Als er den Kofferraum öffnete, flog ihm der mittlerweile aus seinem Koma erwachte Papagei ins Gesicht, wobei er wild mit den Flügeln schlug und schrie wie der übergeschnappte Schaffner im Nachtexpress zur Hölle. Der arme Mann erlitt einen Herzanfall, von dem er sich nie wieder ganz erholte.
Maestra brauchte anderthalb Tage, um Sailor aus der Kiefer zu locken, wo er Zuflucht gesucht hatte. Hattie dagegen reagierte genau so, wie es jeder moderne amerikanische Bürger getan hätte: «Ich bin die Leidtragende. Daher steht mir Schmerzensgeld zu. Ich gehe zum Anwalt.»
Schließlich wies der Richter Hatties Forderungen als unzumutbar ab, doch bis dahin hatte Maestra bereits an die dreißig Riesen für Gerichtskosten hinblättern müssen. Seitdem hatte sie kein Hauspersonal mehr eingestellt.
Da Switters kein allzu großes Vertrauen in seine Spanischkenntnisse setzte – Arabisch und Vietnamesisch beherrschte er erheblich besser – und dem Hotelpersonal klar machen wollte, dass das Objekt seiner Fürsorge ein Papagei war, zog er einen Polaroid-Schnappschuss aus seiner Jackentasche. Maestra hatte ihn mit Selbstauslöser gemacht, kurz ehe er das Haus auf dem Magnolia Bluff verlassen hatte.
Für die Mädchen, die sich alle Mühe gaben, ihn zu verstehen, zeigte er auf den Käfig und dessen prachtvollen Bewohner. Dann zeigte er auf das Foto. Switters links, Maestra in der Mitte und Sailor rechts.
Oder, wie Maestra mit zittriger Hand auf den Rand des Fotos gekritzelt hatte: Slacker, Hacker und Polly-will-einen Cracker.
Als Switters sein Abbild in einem der lebensgroßen goldgerahmten Barockspiegel musterte, deren bombastische Allüren angesichts der theatralischen Buntglaskuppel über der Lobby geradezu bescheiden wirkten, murmelte er: «Dabei sehe ich gar nicht aus wie ein Slacker», und um die Wahrheit zu sagen, hatte er damit gar nicht Unrecht. Das Herrliche an Orten wie Lima war, dass sie ihm die Möglichkeit boten, weiße Leinenanzüge und Panamahüte zu tragen, so wie jetzt. Der Anzug trug das Etikett eines berühmten Designers, doch bei sämtlichen Pussys von Sacramento hätte er im Augenblick nicht sagen können, von welchem. Der Anzug war leicht vergilbt, weil Switters es mit der Wartung nicht allzu genau genommen hatte.
Abgerundet wurde sein Outfit von einem rabenschwarzen T-Shirt mit einem winzigen Emblem über der linken Brust. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein kleines grünes Kleeblatt, bei näherer Betrachtung jedoch entpuppte es sich als das spinnenartige Logo des C.R.A.F.T.-Clubs, eines Geheimbundes mit Niederlassungen in Hongkong und Bangkok, dessen Mitglieder sich regelmäßig trafen, um ein merkwürdiges Gebräu zu trinken und über Finnegans Wake zu debattieren. Wenn man sie später danach fragte, antworteten die Mitglieder: «C.R.A.F.T.» – Can’t Remember a Fucking Thing (Ich kann mich an nichts erinnern)–, und im Allgemeinen war das nicht mal gelogen. Dazu trug Switters schwarze Turnschuhe, und er kaute auf einer schlanken schwarzen Zigarre, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Leguanscheiße hatte. Sein Spiegelbild gefiel ihm, doch er machte kein großes Aufheben darum.
Aus Rücksicht auf die anderen Hotelgäste, vor allem die Touristenpolizei, wartete er, bis er draußen war, ehe er den Stängel anzündete. Kaum hatte er den ersten perfekten Rauchring ausgestoßen, steuerte ein leicht gebeugt gehender, zur Kahlköpfigkeit neigender Herr mittleren Alters auf ihn zu. Unter seinem spärlichen Schnurrbart zeigte sich ein aufrichtiges Lächeln, als er ihn freundlich ansah und sich als «Juan Carlos de Fausto» vorstellte, «Englisch sprechende Touristenführer für alle Sehenswürdigkeiten und Kuriositäten hier in die Stadt der Könige.» Señor de Fausto war derjenige, der Switters für fünfunddreißig US-Dollar Limas heilige Stätten zeigen und ihm obendrein und unentgeltlich einen Ratschlag geben würde, der den Lauf seines Lebens indirekt, aber entscheidend und unwiderruflich verändern sollte.
Vom Gran Hotel Bolívar war es nur ein Katzensprung über die Promenade Jirón de la Unión zur Plaza de Armas und Limas bedeutendster Kathedrale. Der berüchtigte Nebel, der von der Küste kam, hatte sich verzogen, und der Nachmittag war für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß. Die Promenade brutzelte in der Sonne. Und sie wimmelte von Menschen. Eine Garküche für sämtliche Taschendiebe der Stadt.
Juan Carlos tauchte durch eine Welle von aufdringlichen Straßenverkäufern und führte Switters über die Plaza in die ziemlich nüchterne, nur spärlich beleuchtete Kathedrale. Er zeigte seinem Kunden den Sarg mit den Überresten von Francisco Pizarro, vergewisserte sich, dass er die Schnitzereien an den Kirchenbänken bewunderte, und schilderte ihm das Erdbeben, das im Jahre 1746 einen Großteil der Kathedrale dem Erdboden gleichgemacht und Pizarros Skelett so durchgerüttelt hatte, dass die Verbindung von Schienbein zu Oberschenkelknochen unterbrochen wurde. Doch eines verriet er nicht, nämlich warum Limas wichtigste Kathedrale keinen Namen hatte. Insgeheim taufte Switters sie Santa Suzy de Sacramento.
Zu Fuß besichtigten sie die anderen Kirchen im Zentrum: Iglesia de la Merced, Iglesia de Jésus Maria, Santuario de Santa Rosa de Lima, San Pedro, San Francisco, Santo Domingo und Iglesia de las Nazarenas, alles Gebäude, in denen unzählige Generationen versucht hatten, mit Blattgold, Holzschnitzereien und protzigen Kacheln Gottes Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Kuppeldächer gaben sich alle Mühe, ihre hochfliegenden Balken an der Fußmatte des Himmels abzustreifen, wurden jedoch von der bleiernen Last der Heiligenfiguren und einer trostlosen Katakombengeologie voller Gebeine zur Erde zurückgezerrt.
Anschließend bahnten sich Switters und Juan Carlos einen Weg durch die Massen von Straßenhändlern– Indios in regenbogenfarbenen Ponchos, die Tonwaren verhökerten, mestizos in T-Shirts der Chicago Bulls, die mit Raubkassetten dealten – zum Oldsmobile seines Stadtführers, Baujahr 1985, das zwar liebevoll poliert, aber trotzdem hoffnungslos heruntergekommen war, und fuhren zum Convento de los Descalzos, einem Kloster aus dem sechzehnten Jahrhundert mit zwei verschwenderisch ausgestatteten Kapellen, und diversen außerhalb gelegenen Kirchen.
Wenn Städte Käsebrote wären, wäre Lima Schweizer Käse auf einer Waffel. Seine Alleen waren Mondlandschaften voller Schlaglöcher. Nachdem sie durch zahllose Krater geholpert waren und sich durch den Verkehr geschlängelt hatten, der Switters noch anarchistischer erschien als der in Bangkok, kamen ihnen die Kirchen von Lima wie Inseln des Friedens vor. Etwas düster und morbide vielleicht, aber im Gegensatz zur kaputten Infrastruktur, den Straßenhändlern und den vielen Taschendieben, die die Straßen unsicher machten, herrlich ruhig und wohltuend.
Irgendwann, nachdem er beobachtet hatte, dass Switters weder niederkniete noch sich verbeugte und immer wieder darauf aufmerksam gemacht werden musste, den Hut abzunehmen oder seinen Stumpen auszudrücken, konnte Juan Carlos nicht länger an sich halten. «Señor Switters, ich vermute, dass Sie nicht angehören die katholische Glaube?»
«O nein, nein, noch nicht, aber ich denke darüber nach, dem Verein beizutreten.»
«Warum, wenn ich fragen darf?»
Switters überlegte. «Vielleicht könnte man es so ausdrücken, dass ich ein Faible für die Jungfrau habe», antwortete er schließlich.
Juan Carlos nickte. Die Antwort schien ihn zu befriedigen. Natürlich konnte er nicht ahnen, dass Switters seine sechzehnjährige Stiefschwester im Sinn hatte.
Die Sonne fiel so schnell in den Horizont wie eine Münze in den Geldschlitz eines Automaten. Der Ozean biss drauf, um sich zu vergewissern, dass es kein Falschgeld war. Das Zwielicht dämpfte die Konturen der Stadt, doch es brachte sie nicht zum Schweigen. Im Gegenteil, mit Einbrechen der Dunkelheit wurde Lima rauer, voller und bedrohlicher. Switters steckte seine Brieftasche in die vordere Hosentasche und die Beretta in den Gürtel. Er gehörte der Minderheit an, die Überfälle noch nicht als unausweichliche Tatsache des modernen Lebens betrachten.
Nachdem sie die Stadtrundfahrt beendet hatten, machten Juan Carlos und sein Kunde einen Abstecher in eine Arbeiterkneipe, um sich einen Pisco zu genehmigen. Wer hätte gedacht, dass man den Saft der Traube in eine Flüssigkeit verwandeln kann, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Napalm hat?
«Steigt zu Kopf, no?», triumphierte Juan Carlos.
«Südamerika, wie es leibt und lebt», grunzte Switters.
Im Lauf der Unterhaltung weihte Switters Juan Carlos in seinen Plan ein, Sailor Boy zu repatriieren. Warum auch immer, der Touristenführer war entsetzt. Er erklärte seinem Kunden, dass auf dem Land eine Choleraepidemie wüte, die von der Presse totgeschwiegen werde, und dass die marxistischen Wegelagerer, die als Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) bekannt und angeblich seit 1992 ausgerottet waren, ihr Comeback feierten und ihre Kampagne wieder aufgenommen hätten, bei der sie unschuldige Touristen um die Ecke brachten, um auf diese Weise die Lebensbedingungen der armen Bevölkerung zu verbessern. Darauf antwortete der Amerikaner, dass er sich gegen die Cholera habe impfen lassen und dass er in anderen Ländern schon mehrmals mit selbst ernannten «Volksbefreiern» zu tun gehabt habe: Sie könnten ihm kein bisschen Angst machen. Letzteres äußerte er im Flüsterton, da er um das vorherrschende politische Klima in Bars wie dieser wusste.
Juan Carlos gab zurück, die Choleraimpfung schütze nur in sechzig Prozent aller Fälle und dass er nicht gedacht hätte, dass ein Vertreter von landwirtschaftlichen Maschinen ein derart abenteuerliches Leben führe. (Switters hatte sich als internationaler Handelsvertreter für John-Deere-Traktoren ausgegeben.) Zudem würde er ein Glas Pisco darauf wetten – «Garantiert, Kumpel!»–, dass Switters’ Großmama ihre Entscheidung, dem Vogel die Freiheit zu schenken, längst bereut habe. Sollte Switters aber auf der Durchführung dieses Vorhabens bestehen, so würde er dies am Ende ebenso bereuen wie seine Großmutter, ihn überhaupt auf diese Reise geschickt zu haben. Juan Carlos war nicht davon abzubringen, dass eine Tragödie unmittelbar bevorstand, und um seinen närrischen Kunden davon zu überzeugen, drängte er ihn, eine kleine Fahrt mit ihm zu machen. Switters willigte ein, schon deshalb, um einem weiteren Pisco aus dem Weg zu gehen.
So holperten sie zum noblen Viertel Miraflores, parkten den Wagen, schlüpften durch eine Hecke, durchquerten einen verwilderten Garten – wobei sie ein ganzes Bataillon blutrünstiger Insekten aufscheuchten – und schlichen auf Zehenspitzen auf eine Terrasse, von wo aus sie schließlich einen Blick durch die Fenster auf eine ältere Dame erhaschen konnten, die entfernt mit Juan Carlos verwandt war. Diese Szene wurde bereits samt gerupftem Papagei, unbarmherzigen Moskitos und allem Drum und Dran beschrieben.
Sollte der Führer geglaubt haben, dass die Peepshow mit einer tattrigen alten Dame und ihrem tattrigen alten Papagei, die wie zwei Blinde zusammen auf den Tod zutappten – sollte er also gehofft haben, dass der verstohlene Anblick von ewiger Treue zwischen Frauchen und Haustier das Herz seines Kunden erweichen und ihn dazu bewegen könnte, der Großmutter und dem so unbedacht in Freiheit entlassenen Vogel eine glückliche Wiedervereinigung zu ermöglichen, so war er auf dem Holzweg.