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Eine neue Identität, ein neues Leben, um die Menschen zu schützen, die sie am meisten liebt. Hanna alias Sabine Schmidt, wünscht sich nichts sehnlicher als die Vergangenheit endlich zu vergessen und einfach nur zu leben. Die Wahrheit kann Tote nicht wieder lebendig machen. Doch Hanna muss erleben, dass ein Verbrecher mit Geld und Einfluss rasch wieder auf freien Fuß kommen. Um zu überleben muss sie eine Entscheidung treffen. Ben kann Hanna nicht vergessen. Nach einer schweren Verletzung machte er sich auf den Weg, sie zu suchen. Er weiß, dass sie ihm etwas verheimlicht hat und er braucht Antworten, ohne zu wissen, welche Fragen er stellen muss.
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1. Berlin
2. Identität
3. Rom
4. Sightseeing
5. Sehnsucht
6. Entlarvt
7. Geschwister
8. Familie
9. Der Kardinal
10. Suche
11. Verbündete
12. Marie
13. Rückkehr
14. Viktor
15. Ben
16. Paul
17. Leben
18. Harry
19. Wissen
20. New York
21. Gefangen
22. Entscheidung
Epilog
Nachwort
Bücher von Kerstin Rachfahl
Über die Autorin
Deutsche Erstausgabe Februar 2014
Copyright © 2014 Kerstin Rachfahl, 59969 Hallenberg
Lektorat Martina Takacs dulaect.de
Satz: restle.biz
Cover: Georg Lechner
Fotos: Fotolia Copyright© lakov Kalinin
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
Autorenblog: www.kerstinrachfahl.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte – einschließlich des Rechts des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form – sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Danke an all meine Leserinnen und Leser, die mir so viel Mut machen, weiter zu schreiben.
»Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.«
Jh. 8,12
»Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.« - Joanne K. Rowling
Der Himmel war von grauen Wolken verhangen. Es regnete in Strömen. Marie starrte auf den marmornen Engel, dessen Arme schützend um den Grabstein lagen, seine Gesichtszüge so ebenmäßig, sein Mund sanft lächelnd. Das Regenwasser floss von seinem Gesicht auf den feinen, hellen Kies, der das Grab bedeckte. Eine weiße Rose lag darauf. Den Regenschirm über sich haltend, ging sie in die Hocke, streckte die Hand aus und malte mit dem Zeigefinger die Buchstaben des Grabsteins nach: Johanna Rosenbaum, geboren am 11.05.1983, gestorben am 02.07.2012. Sie wechselte auf den zweiten Namen: Gabriel Rosenbaum, geboren am 03.03.1948, gestorben am 02.07.1992. Wie seltsam, in all dem Trubel, in all der Aufregung nahm sie erst heute wahr, dass ihr Vater und ihre Zwillingsschwester am gleichen Tag gestorben waren. Im Tod miteinander vereint. Marie stand auf, wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie kramte in ihrer Manteltasche nach einem Papiertaschentuch. Doch alles, was sie fand, war genauso feucht wie ihr Gesicht. Den Regen schien es nicht zu interessieren, dass sie einen Regenschirm über ihren Kopf gespannt hatte. Überall wehte der Wind das Wasser an ihren Körper. Durchweichte den Mantel und das darunterliegende Kostüm.
Vor ihrem Gesicht tauchte eine schmale, schlanke Hand auf, die ein sauber gefaltetes Stofftaschentuch hielt. Sie gehörte einem Mann, der ihr nur bis zum Kinn reichte.
»Bitte nehmen Sie, bevor auch das Taschentuch ein Opfer der Elemente wird.«
Er sah sie freundlich an, auch der Regen schien ihm nichts auszumachen. Zögernd streckte Marie die Hand aus und nahm das Taschentuch entgegen. Sie wischte sich zuerst das Gesicht trocken, bevor sie sich die triefende Nase damit putzte, steckte es ein und lächelte den Mann vor sich schief an. »Ich werde Ihnen das Taschentuch selbstverständlich ersetzen.«
»Das brauchen Sie nicht, Frau Benner. Es heißt doch noch Benner?«
In jeder Zeitung hatte gestanden, dass sie nach der Verhaftung ihres Mannes die Scheidung eingereicht hatte. Das würde sie ein kleines Vermögen kosten, doch es war ihr egal. Keinen Tag länger wollte sie den Namen des Mörders ihrer Schwester tragen. Und nicht nur deren Tod hatte er auf dem Gewissen. Es überraschte sie nicht, dass der Mann vor ihr diese Frage stellte. Am liebsten hätte sie den Namen bereits abgelegt, doch die deutsche Bürokratie ging ihren normalen Gang und nahm keine Rücksicht auf Gefühle.
»Wieso hier?«
Der Mann zog seine Hand, die hinter seinem Rücken verborgen gewesen war, hervor. Er hob eine dunkelrote Rose an seine Nase, nahm einen tiefen Atemzug. Er bückte sich und legte seine Rose neben ihre weiße. Er erhob sich und sah sie aufmerksam an.
»Interessant, nicht wahr, dass Ihr Vater und Ihre Schwester den gleichen Todestag haben, nur mit zwanzig Jahren dazwischen.«
»Sie sagten, es wäre dringend.«
»Das ist es in der Tat. Wussten Sie, dass ich Ihren Vater kannte?«
»Ist das nicht normal, wenn man derselben Wirtschaftsorganisation angehört, die sich regelmäßig viermal im Jahr trifft?«
Er lachte, schüttelte amüsiert den Kopf, bevor der Ausdruck in seinem Gesicht sich änderte. »Ich meine nicht Ihren Stiefvater, sondern Ihren biologischen Vater, Gabriel Rosenbaum. Ein interessanter Mann, wenn Sie mich fragen.«
Ein kalter Schauer lief Marie über den Rücken. Sie zitterte unwillkürlich und wusste nicht, ob es dem Regen geschuldet war, der langsam ihre Sachen durchweichte, oder dem kalten Ausdruck in den Augen ihres Gegenübers.
»Die Eltern Ihres Vaters gehörten zu den wenigen Juden, die das Nazireich überlebten. Wussten Sie das?«
»Mein Großvater war Jude, meine Großmutter Katholikin.«
»Oh ja, sie heiratete ihn und beschützte ihn so vor dem Konzentrationslager. Eine überaus mutige Frau. Im Gegensatz zu Ihrem Großvater, der für sein Überleben seinen Glauben und sein Volk verraten hat.«
»Sie sagten, es ginge um Medicare, nicht um die Vergangenheit meiner Familie.«
»Stimmt. Doch es ist mir immer wichtig zu wissen, von wem ein Mensch abstammt, bevor ich Geschäfte mit ihm mache. Sehen Sie, Frau Benner, Sie erfahren viel über eine Person, sobald Sie ihre Familie anschauen. Ihre Schwester ist eine Frau, die viel Leid ertragen kann, ohne daran zu zerbrechen. Wie sieht das bei Ihnen aus?«
»War. – Sie war eine Frau, die Leid ertragen konnte«, flüsterte Marie.
»Oh ja, hoffen wir, dass sie in Frieden ruht, nicht wahr? Oder glauben Sie an die Auferstehung?«
»Ja, wir Christen glauben an ein Leben nach dem Tod – aber nicht in dieser Welt.«
»Ebenfalls ein äußerst interessanter Aspekt. Sie sehen, es gäbe vieles, worüber wir uns unterhalten sollten. Aber ich schlage vor, wir verlegen unser Gespräch an einen Ort, der den Launen des Wetters nicht gar so ausgesetzt ist. Was meinen Sie, Frau Benner?«
Trotz seiner höflichen Worte wusste Marie instinktiv, dass ihr keine Wahl blieb. Statt zu antworten, warf sie einen letzten Blick auf das Gesicht des Engels und in ihrem Kopf hörte sie die leise Stimme ihres Vaters Gabriel:
Der Engel des Herrn sei neben dir, dich sanft zu umarmen, dir Schutz zu geben für alle Zeit.
Jeden Abend hatte er sie mit diesen Worten ins Bett gebracht und sie geküsst. Marie straffte die Schultern, drehte sich um und ging zielstrebig auf den Ausgang zu.
Der Raum lag im dritten Stock. Die Fenster besaßen Schutzgitter, eingelassen in die Fassade. Hanna hielt sich allein in dem Raum auf und genoss die Stille nach der Anspannung in den letzten Wochen. Nach ihrem Aufenthalt in Norwegen war sie zuerst in verschiedenen deutschen Städten von Wohnung zu Wohnung gezogen. Obwohl sie Reisen und Ortswechsel gewohnt war, verlor sie mit der Zeit die Orientierung darüber, wo sie sich gerade befand. Viel schlimmer war es jedoch gewesen, nie allein zu sein. Das Teilen eines Badezimmers mit den ihr zugewiesenen Personenbeschützern, das ständige Laufen eines Fernsehers oder von Musik, je nachdem, wer Dienst hatte. Der Geruch von fremdem Schweiß, der Anblick von Geschirr, das sich in der Spüle stapelte, und die Allgegenwart von Schusswaffen spannten ihre Nerven zum Zerreißen. Der Tod, der sich überall bemerkbar machte und sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Schließlich glaubte sie, es nicht eine Minute länger aushalten zu können, und hatte den Vorschlag gemacht, lieber in ein Kloster zu gehen, bis es mit der Verhandlung so weit sei. Natürlich wurde das abgelehnt. Deutsche Bürokratie und Flexibilität waren zwei unvereinbare Begriffe. Also hatte sie auf Erpressung zurückgegriffen und erklärt, dass sie nicht mehr für eine Aussage zur Verfügung stehe, es sei denn, der Personenschutz erklärte sich mit ihrer Lösung einverstanden. Damit löste sie eine Welle hitziger Diskussionen und Rangeleien über die Zuständigkeiten der einzelnen polizeilichen Behörden aus.
Erst die Einmischung von Oberst Karl Hartmann, der sich für sie einsetzte und seinen Einfluss geltend machte, bereitete dem ein Ende. Noch jetzt ärgerte Hanna sich darüber, denn er war der letzte Mensch auf Erden, dem sie für irgendetwas dankbar sein wollte. Er hatte ihr Major Ben Wahlstrom auf den Hals gehetzt. Er hatte ihre Gefühle zu Ben ausgenutzt, um sie gnadenlos für seine Zwecke zu manipulieren, und sie war darauf reingefallen. Ben – noch immer verursachte der Gedanke an ihn einen tiefen Schmerz in ihrem Herzen. Sie liebte ihn und hatte ihm ihre Liebe gestanden. Worte, die sie gerne zurückgenommen hätte, wenn es die Möglichkeit gäbe, die Zeit zurückzudrehen. Tage, nein Wochen, hatte sie darauf gehofft, etwas von ihm zu hören. Natürlich konnte sie nicht mehr an ihre E-Mail-Nachrichten herankommen. Aber wenigstens einen Brief hätte er schreiben können oder eine kurze Notiz, dass es ihm leidtat, ihre Gefühle verletzt und sie ausgenutzt zu haben oder dass er sich vielleicht sogar in sie verliebt hatte? Stattdessen nichts, absolut nichts. Was für ein Scheißkerl.
Das Kloster war der erste Ort gewesen, wo sie wieder Struktur in ihren Alltag hatte bringen können. Regeln, Rituale und Ordnung waren ein wichtiger Bestandteil in Hannas Leben. Sie nahm wieder ihre Umgebung wahr, hörte auf, in der Vergangenheit zu leben. Ihre Seele öffnete sich der Stille. Sie nahm die Worte und Gebete in sich auf, fühlte, wie sich alles in ihr miteinander verband: der Kopf, das Herz und die Seele.
Die Kunstwerke im Kloster weckten ihre Aufmerksamkeit. Fotografieren war immer mehr als nur ein Job für sie gewesen. Hier in der Abgeschlossenheit konnte sie wieder fotografieren. Zuerst die Wandmalereien, Bilder und Statuen. Später fing sie an zu zeichnen. Es war eine Art von Meditation, mit den Augen exakt die Einzelheiten eines Kunstwerks zu betrachten und es Strich für Strich zu Papier zu bringen. Das Geräusch, wenn der Stift über den Skizzenblock glitt, oder das Gefühl, wie ihr Handballen über die Fläche strich, wirkten beruhigend. Sie konnte sich völlig darin verlieren, eintauchen in eine andere Welt, in der ihr Leben keine Bedeutung mehr hatte.
Sie zog ernsthaft in Erwägung, dem Orden beizutreten. Aber sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich in der Gemeinschaft anderer wohlfühlten, die es schafften, sich einzuordnen und ihre eigenen Gedanken den anderen unterzuordnen. Aber das Kloster hatte ihr eine Idee gegeben, was sie in Zukunft mit ihrem neuen Leben anfangen wollte, denn als Fotografin unter dem Namen Hanna Rosenbaum würde sie nie wieder arbeiten können.
Sie seufzte tief und wandte sich vom Fenster ab. Sie wusste nicht, weshalb sie noch in diesem Gebäude blieb. Ihre Aussage hatte sie vor zwei Stunden gemacht. Die Anwälte ihres Stiefvaters und ihres Schwagers hatten hartnäckig versucht, durch Fragen die Fakten in einen anderen Zusammenhang zu stellen oder Hannas Worte zu verdrehen. Ein seltsames Gefühl, die Anwälte zu sehen und zu wissen, dass diese sie nicht sehen konnten. Verborgen hinter einer Scheibe sprach sie mit ihnen über ein Mikrofon in einen Computer, der über eine Software ihre Worte in geschriebenen Text verwandelte. Der Richter und der Staatsanwalt saßen auf ihrer Seite des Raums. Alles wurde protokolliert und aufgezeichnet. In ihren Augen stellte der Aufwand eine Farce dar, denn wer anders als sie selbst konnte all das wissen, was sie zu Protokoll gab? Ihr Stiefvater und auch ihr Schwager wussten, wem sie ihre Verurteilung zu verdanken hatten, da war sie sich sicher. Es gab nur einen Grund, weshalb sie das Versteckspiel mitmachte: die Sicherheit ihrer Mutter und ihrer Zwillingsschwester Marie. Solange sie ihrem Leben fernblieb, hoffte sie, dass die beiden sich nicht in Gefahr befanden.
Die Tür wurde in dem Moment geöffnet, als Hanna sich auf einen Stuhl am Besprechungstisch setzen wollte. Sofort spannte sich ihr Körper an, ihre Hände griffen an den Rand der Tischplatte, den sie umwerfen und als Schutz benutzen konnte. Seit sie die sicheren Mauern des Klosters verlassen hatte, war sie auf der Hut, und sie wusste, so würde es ihr restliches Leben lang bleiben.
Sie erkannte ihn sofort. Seine Haare waren an den Schläfen grau geworden, ihr Ansatz nach oben gewandert. Er trug das Haar wesentlich kürzer als damals, als sie ihm das erste Mal begegnet war. Seine Schultern waren immer noch so breit wie vor sechzehn Jahren. Dafür schob sich ein Bauch über seinen Hosenbund.
Hanna löste ihre Finger von der Tischplatte, richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Herr Hartmann, welch überraschender Besuch.«
»Oberst Hartmann«, korrigierte er sie. »Hallo Johanna, schön dich zu sehen.«
Er hatte sie immer bei ihrem richtigen Vornamen genannt, so wie ihr Vater Gabriel, nicht mit der verkürzten Version, Hanna, die alle anderen verwendeten. Aber ihr Name gehörte seit heute ohnehin der Vergangenheit an.
»Sabine, Sabine Schmidt.«
»Richtig, Sabine, ich vergaß deine neue Identität.«
Er kam zu ihr in die Mitte des Raums, setzte sich auf einen der Stühle ihr gegenüber und legte einen Aktenkoffer auf den Tisch. Langsam ließ sie sich nieder. Die Anspannung in ihrem Körper blieb. Schweigend betrachtete sie ihn und fragte sich im Stillen, was er von ihr wollte.
Er schob ihr eine Mappe herüber. Mit spitzen Fingern klappte sie den Deckel auf. Ein nagelneuer Reisepass und ein Personalausweis fielen ihr als Erstes ins Auge. Sie nahm den Reisepass und öffnete ihn. Ihr eigenes Gesicht sah sie an. Schmale, scharf geschnittene hohe Wangenknochen, dunkle Augen, ihr Mund eine dünne Linie, dunkle kastanienbraune Haare, in einem Pagenkopf geschnitten, der ihr bis zur Kinnspitze reichte. Weiblicher, ein wenig sanfter, so hatte die Typberatung gelautet. Kein zu krasser Wechsel auf blonde Haare, weil das mit viel Aufwand verbunden gewesen wäre. Außerdem hätte jeder aufmerksame Beobachter gesehen, dass sie sich die Haare färbte. Ihr erster Pass mit eigenem Foto darin. Früher hatte sie aus Bequemlichkeit immer ein Bild von Marie verwendet. Hanna warf einen kurzen Blick auf den Personalausweis, bevor sie den Führerschein sah. Sie runzelte die Stirn. »Wird es nicht auffallen, dass der Führerschein neu ist?«
»Nein, viele lassen sich ihren alten Führerschein auf den neuen europäischen ändern, weil er ein praktischeres Format hat.«
Hanna ließ ihren Daumen über den darunterliegenden Papierstapel gleiten. »Was ist das?«
»Schulzeugnisse, Sprachaufenthalt in England, Versicherungen, Sozialversicherungsnummer, Nachweis über ein begonnenes Kunststudium. Du hast dich ja schon mit den Studieninhalten vertraut gemacht. Ach ja, fast hätte ich es vergessen.« Er holte ein schwarzes, ledergebundenes Familienstammbuch hervor. »Deine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Du bist seit deinem neunten Lebensjahr bei der Schwester deiner Mutter aufgewachsen, die inzwischen mit Demenz in einem Pflegeheim liegt.«
»Gibt es die Tante wirklich?«
»Ja, aber keine Sorge, du wirst für die Pflegekosten nicht aufkommen müssen. Das Vermögen der Dame ist ausreichend.«
»Wie heißt sie?«
»Wer?«
»Die Frau.«
»Elisabeth Wagner, wie gesagt leidet sie unter Altersdemenz und du wirst dich nicht weiter mit ihr beschäftigen müssen.«
Hanna schwieg. Sie würde Elisabeth Wagner besuchen, nicht heute und nicht nächste Woche, doch wenn das Schicksal beschlossen hatte, ihrer beider Leben miteinander zu verbinden, so wollte sie diesen Menschen kennenlernen. Aber das würde Oberst Hartmann weder verstehen noch würde er dazu sein Einverständnis geben. Soweit verstand sie den Mann vor sich inzwischen.
Der Oberst lehnte sich zurück und betrachtete sie aufmerksam.
Hannas Puls beschleunigte sich. Er war noch nicht fertig mit ihr.
»Interessiert es dich nicht, wie die Verhandlung läuft?«
Natürlich interessierte es sie. Niemand konnte ihr zurückgeben, was sie verloren hatte, die Menschen lebendig machen, die gestorben waren. Aber ihre Hoffnung war, dass sich mit ihrer Hilfe zwei Menschen für ihre Taten verantworten mussten, und das nicht nur vor dem letzten Gericht.
»Es wäre gut gewesen, wenn du mehr Emotionen gezeigt hättest. Der Anwalt deines Stiefvaters hat deine Mutter und deine Schwester als Zeuginnen benannt.«
Hanna behielt ihre ausdruckslose Miene bei. Niemanden gingen ihre Gefühle etwas an. Sie hatte ihr Leben aufgegeben für ihre Aussage. Niemand durfte mehr von ihr verlangen. Von Marie wusste sie, dass sie die Scheidung eingereicht hatte. Sie hatte sich in dem Augenblick entschieden, als die Polizei mit dem Haftbefehl für Lukas vor der Haustür aufgetaucht war. Es hatte die Medien beschäftigt und Lukas eine Vorverurteilung der öffentlichen Meinung eingebracht, für Hannas Tod verantwortlich zu sein. Der Staatsanwalt erhob gegen Lukas Anklage nach § 211 des Strafgesetzbuches wegen Mordes und beantragte eine lebenslange Haftstrafe, was Hanna seltsam erschien, da sie immerhin noch lebte. Doch das spielte anscheinend in diesem Fall keine Rolle. Hannas Mutter hingegen hielt an ihrer Ehe mit Armin Ziegler fest. Die Staatsanwaltschaft klagte Armin Ziegler wegen erpresserischen Menschenraubs an und versuchte, eine Haftstrafe von sieben Jahren zu erzielen. Armin machte in der Öffentlichkeit keinen Hehl daraus, dass er Hannas Entführung in Auftrag gegeben hatte, wobei er das geschickter formulierte. Als Hausarrest, der nicht im eigenen Haus stattgefunden hatte, als Erziehungsmaßnahme gegenüber der pubertierenden Stieftochter, die ihn und seine Frau auseinanderzubringen versuchte. Wie zynisch!
Leider sei er bei der Auswahl der betreuenden Personen einem Fehlurteil unterlegen. Die Scham über das, was passiert war, der Schock und die Schuld hätten ihn all die Jahre schweigen lassen. Hannas Mutter unterstützte dieses Bild, indem sie darüber sprach, wie schwierig es für ihre Tochter gewesen sei, den Tod ihres Vaters zu verkraften. Ihre Introvertiertheit, fehlender Kontakt zu Gleichaltrigen, ihr Mangel an sozialer Kompetenz und die völlige Ablehnung ihres Stiefvaters, der keine Mühe gescheut habe, einen Zugang zu ihr zu finden, all dies führte sie ins Feld. Erstaunlicherweise gab es genügend andere Menschen, die bereit waren, mit der Presse über Hanna zu sprechen. Menschen, die mit ihr noch nie ein Wort gewechselten hatten. Menschen, die nur kurz ihren Weg gekreuzt hatten, und nun vorgaben, sie zu kennen. Aber es war keine Wut, kein Zorn, kein Hass, den Hanna gegenüber ihrer Mutter fühlte. Stattdessen fühlte sie Trauer, Enttäuschung und die Frage, wo der Mensch geblieben war, der sie auf die Welt gebracht und sie bedingungslos geliebt hatte.
Manchmal keimte ein leiser Zweifel in ihr auf, ob es diese Mutter jemals gegeben oder ob sie doch nur in ihrer Einbildung existiert hatte. Irgendwann hörte Hanna auf, heimlich die Artikel der Presse im Internet zu lesen, es tat einfach zu weh. Außerdem wusste sie nicht, was in den Berichten der Presse wirklich der Wahrheit entsprach und was nicht. Nur ihre Mutter und ihre Zwillingsschwester selbst hätten ihr sagen können, wie sie sich wirklich fühlten, und beide glaubten – ja, was glaubten sie? Dass sie tot war?
»Wenn wir nicht aufpassen, werden die Aussagen deiner Mutter dazu beitragen, dass das Strafmaß von Armin Ziegler ein lächerliches Maß annimmt.«
»Ben ...«, sie holte Luft. »Major Wahlstrom hat mir gesagt, Sie hätten Material, das die Zugehörigkeit meines Stiefvaters zu einer Wirtschaftsorganisation beweist. Angeblich sorgt die mit illegalen Mitteln für Instabilität in Afrika, um sich den Zugriff auf die Rohstoffmärkte zu sichern. Was ist damit?«
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, atmete tief ein und zuckte mit den Achseln. »Das Ganze ist kompliziert. Es wird in dieser Verhandlung nicht zum Tragen kommen.«
Er verschwieg ihr etwas, das konnte sie deutlich spüren. »Weshalb nicht?«
Ein scharfer Blick traf sie. Er runzelte die Stirn, musterte sie.
Dann schüttelte er den Kopf. »Was, Johanna, ist wirklich unten in Afrika passiert?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Das wissen Sie bereits.«
»Warum wolltest du dich mit Marie treffen? Was hast du herausgefunden? Es gab zu diesem Zeitpunkt keinerlei Hinweise, dass Lukas Benner in die Sache verwickelt war. Also, was verheimlichst du vor uns?«
Hanna blieb ruhig. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihr diese Frage stellten. Und ihre Antwort blieb konstant dieselbe: »Nichts. Ich habe nichts herausgefunden.«
»Weshalb dann das Treffen mit Marie?«
»Weil ich sie heimlich ausspioniert und mich deshalb schlecht gefühlt habe.«
»Und stattdessen kommt dein Schwager und versucht dich zu töten. Wie lange willst du sie noch beschützen?«
Für immer, hätte sie ihm am liebsten geantwortet, doch sie schwieg. Was geschehen war, war geschehen. Das konnte niemand mehr rückgängig machen. Seine Andeutung, Marie habe etwas mit Lukas‘ Mordversuch an ihr zu tun, war einfach nur lächerlich. Und das andere? Das andere spielte auch keine Rolle mehr, denn wenn es die Spur eines Heilmittels gegen die HIV-Erkrankung gegeben hätte, so wäre es inzwischen auf dem Tisch. Marie würde sich in diesem Fall verantworten müssen, dass sie Menschen ohne deren Wissen als Versuchskaninchen für ein neues Medikament benutzt hatte – genauer gesagt: Waisenkinder.
Was hatte ihre Schwester dazu bewogen, diesen Schritt zu gehen? War es wohl so gewesen oder gab es Dinge, die Hanna nicht sah und deshalb nicht verstand? Nein, sie würde Marie nicht ans Messer liefern, nicht, bevor sie mehr über die Hintergründe für ihr Handeln wusste. Sie kannte ihre Schwester besser als jeden anderen Menschen auf der Welt. Es mochte sein, dass Marie ihre Schwächen hatte, so wie jeder Mensch, aber tief in ihrem Inneren gab es einen guten Kern, davon war sie überzeugt. Hanna mochte in Zukunft Sabine Schmidt heißen, aber ihre Verantwortung blieb dieselbe. Es war ihre Aufgabe gewesen, ihre Mutter und ihre Schwester vor allen Gefahren zu beschützen, seit ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Sie hatte versagt. Diese Schuld konnte ihr niemand nehmen.
»Hättest du mir damals vertraut und den Mut gehabt, das Richtige zu tun, dann wäre all das niemals passiert. Mach diesen Fehler nicht noch einmal.«
Eine Drohung schwang in seinem Satz mit. Hanna hob den Kopf, schob das Kinn vor und funkelte ihn an. Eine Antwort sparte sie sich. Er hatte recht und sie beide wussten das. Niemand würde so hart mit sich ins Gericht gehen wie sie selbst. Das Bild des kleinen Jungen würde für immer in ihren Kopf eingebrannt sein. Es würde ihre Strafe sein, nie wieder ihren eigenen Namen tragen zu dürfen. Das mit Marie war eine andere Sache, nicht vergleichbar mit dem, was ihr Stiefvater ihr angetan hatte.
»War das alles?« Sie wollte endlich allein sein.
Er senkte den Kopf, wich ihrem Blick aus.
Überrascht sah Hanna ihn an. Der Mann war ihr schon auf viele Arten gegenübergetreten: wütend, streng, sie unter Druck setzend, sanft, beschützend und fürsorglich in der ersten Zeit nach ihrer Begegnung. Doch seine Verlegenheit zu sehen, war neu für sie.
Er rutschte auf dem Stuhl herum, verschränkte die Hände ineinander. Schließlich hob er den Kopf und suchte ihren Blick.
Sie sah ihn an, fühlte, dass etwas kam, was sie auf eine weitere Probe stellen würde. Seine Finger lösten sich voneinander. Die rechte Hand wanderte in seine Anzugjacke. Er trug keine Uniform, schoss es ihr durch den Kopf. Das irritierte sie, trotzdem schob sie den Gedanken beiseite, als er vorsichtig ein kleines Kästchen auf den Tisch setzte, auf halbe Entfernung zu ihr.
Hannas Herzschlag beschleunigte sich. Sie konnte den Blick nicht von der Schachtel lösen.
»Es wäre besser, du würdest es nicht annehmen.«
Sie starrte darauf, versuchte, nicht zu ahnen, was darin war. Ihre Hand fand ihren Weg wie von selbst auf die Tischplatte, näherte sich millimeterweise dem Kästchen, so vorsichtig, als enthielte es eine Bombe.
»Tu es nicht.« Er legte seine Hand schützend über die Schachtel. »Lass mich ihm sagen, dass ich sie dir geben wollte und du abgelehnt hast. Er wird es verstehen.«
Ihre Hand verharrte. Sie hob den Blick, sah in das Gesicht von Oberst Hartmann. »Haben Sie hineingesehen?«
Schuldbewusst senkte er den Kopf, richtete seine Augen auf das Kästchen.
»Warum haben Sie es mir gezeigt, wenn Sie nicht wollen, dass ich es annehme?«
»Weil ich es ihm versprochen habe und weil ich ihn nicht anlügen möchte und weil ich es ihm schuldig bin.«
Seine Stimme war leise, nur ein Flüstern. Dann hob er die Augen und sah sie fest an. »Hanna, du fängst ein neues Leben an und es gibt nichts, was du von deinem alten Leben mitnehmen kannst, keine Freunde und keine Dinge. – Es gibt nichts, was ihr beide gemeinsam habt, weder in eurem alten noch in deinem neuen Leben. Er ist mein bester Mann, loyal, zuverlässig, konzentriert und kontrolliert in allem, was er macht. Ich brauche ihn fokussiert. In seinem Job kann er sich keine Ablenkung erlauben, weil es für ihn tödlich sein kann. Das willst du doch nicht, oder?«
Er versuchte es wieder. Hätte er nichts gesagt, hätte er geschwiegen, dann hätte sie Bens Geschenk abgelehnt, nicht wegen Ben, nicht wegen Oberst Hartmann, sondern ihrer selbst wegen. Sie musste diesen Mann vergessen, ihre Gefühle für ihn begraben. Nein, er war kein Mann für sie, das wusste sie nur zu gut. Aber sie hatte es satt, sich von Oberst Hartmann manipulieren zu lassen, nach seiner Pfeife zu tanzen. Sie zog die Schachtel unter seiner Hand hervor und packte sie ungeöffnet in ihre Jacke.
Für einen Moment saßen sie sich still gegenüber, Oberst Hartmann noch immer die nun leere Hand auf dem Tisch. Er seufzte, schloss seinen Aktenkoffer. Das Einschnappen der Schlösser klang unnatürlich laut in der Stille. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich wünsche dir, dass du als Sabine Schmidt ein ruhiges Leben hast und vielleicht irgendwann jemandem begegnest, den du lieben kannst. Ich weiß, du siehst es anders, aber es war nie meine Absicht, dir wehzutun.«
»Ich weiß«, entgegnete Hanna leise, »dennoch haben Sie es getan. Es wäre besser gewesen, Sie hätten mich niemals wieder zurück ins Leben geholt.«
Tief und regelmäßig atmete Hanna ein und aus. Darin bestand die Kunst, während sie hoch oben auf dem Gerüst stand und mit vorsichtigen Strichen die Wandmalerei vom Staub befreite, der darauf lag. Sie wusste, dass unter ihr ein wachsames Augenpaar jede ihrer Handbewegungen verfolgte, was ihr eigentlich hätte Stress verursachen müssen. Nur mit viel Mühe hatte sie den Professor davon überzeugt, dass er ihr die Säuberung des oberen Teils der Wandmalerei überlassen konnte. Nachdem sie beim Fotografieren der unteren Teile festgestellt hatte, wie er auf dem Gerüst immer wieder ins Wanken geriet, hatte sie ihn energisch von dort oben vertrieben.
»Passen Sie auf, Frau Schmidt! Nicht so fest.«
Hanna reagierte nicht auf seine Worte.
»Frau Schmidt!«
Der Ruf verhallte in der Kirche genauso wie der erste.
»Sabine!«
Dieser Schrei wiederum ließ sie erschrocken zusammenzucken. Auch nach all den Monaten fiel es Hanna schwer, auf den Namen Sabine Schmidt zu reagieren. Sie konnte ihn einfach nicht mit sich in Verbindung bringen.
»Kommen Sie sofort runter von dem Gerüst, Sie zerstören das Bild, wenn Sie es weiter so bearbeiten«, schimpfte der Professor und machte Anstalten, zu ihr hochzuklettern.
Hastig legte Hanna den Pinsel beiseite und hob die Kamera hoch, die sie vor Beginn der Arbeit neben sich gelegt hatte. Stück für Stück fotografierte sie die Fresken. Dabei veränderte sie die Belichtungszeiten. Sie überlegte, ob sie noch mal herunterklettern und ihr kleines Stativ holen sollte, entschied sich aber dagegen. Das künstliche Licht, aufgestellt für eine optimale Ausleuchtung, entwickelte eine Wärme, die der Wandmalerei Schaden zufügen würde. Sie atmete tief ein, hielt die Luft an, während sie den Auslöseknopf drückte und die Nikon D3200 absolut ruhig hielt. Der Apparat war nichts im Vergleich zu ihrer Profikamera, einer Nikon D4, die in ihrem speziellen Rucksack mit eingebautem Kamerafach sicher verstaut in ihrem Zimmer lag. Schließlich gab sie sich mit ihrer fotografischen Ausbeute zufrieden.
Eigentlich hätte Hanna sich nicht mehr mit dem Thema Fotografie beschäftigen dürfen. Nachdem sie aber am ersten Tag die katastrophalen Bilder des Professors gesehen hatte, konnte sie einfach nicht widerstehen, vom nächsten Tag an das Fotografieren der Wandmalereien zu übernehmen. Der erste Blick durch das Objektiv, ihr Zeigefinger auf dem Auslöser und ihre Konzentration auf das Motiv waren reiner Balsam für ihre Seele. Der Professor konnte beim Anblick der Ergebnisse ihrer Arbeit seiner Begeisterung gar nicht genug Ausdruck verleihen. Ganz zu schweigen von seiner Reaktion auf ihren geschickten Umgang mit der Fotosoftware auf seinem Laptop, mit dem sie verschiedene Szenarien aus Fotos mit unterschiedlicher Tiefe, Belichtung und Zusammensetzung erstellte.
Professor Bartolis Schreiben mit der Einladung zu dem Projekt hatte Hanna zu einem Zeitpunkt erreicht, der nicht besser hätte sein können. Ihre Arbeit über die frühchristliche Geschichte und ihre Symbolik war gerade abgegeben und der erste Part ihres Fernstudiums der Kunstgeschichte an der Open University of England somit abgeschlossen. Nach ihrer Zeugenaussage vor Gericht hatte sie sich für einen neuen Wohnort entscheiden müssen, an dem sie nicht mit Menschen aus ihrer Vergangenheit in Berührung käme. Ihre Wahl war auf Bonn gefallen. Zum Glück gab es nur wenig Menschen, zu denen sie in ihrem Leben Kontakt gehabt hatte, und die lebten überwiegend in Hamburg und Berlin. In dem Schreiben hatte ihr der Professor einen auf drei Monate befristeten Job angeboten, der sie mit einer Menge Kunstwerke der christlichen Geschichte in Berührung brachte.
Hanna kletterte das Gerüst hinunter. Der Tag war zu weit fortgeschritten, sodass das Licht für weitere Aufnahmen nicht mehr ausreichte. Die anderen Mitglieder des Teams packten ihre Sachen zusammen. Es war Samstag und morgen würden sie nicht arbeiten. Zwei der Hilfskräfte waren Studentinnen an der Hochschule für bildende Künste in Dresden, drei kamen von der staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart, und ein Student kam von der Technischen Universität in München. Letzterer fertigte bei Professor Bartoli seine Doktorarbeit über Konservierung und Restaurierung an. Hanna nahm den Chip aus der Kamera und übertrug die Bilder auf den Laptop des Professors.
»Hey, Sasa, hast du Lust auf eine Pizza bei Luigis?«
Ein blondes Mädchen tauchte an ihrer Seite auf. Hanna fiel der Name der kleinen, zierlichen Person nicht ein. Es gab Dinge, die sich in ihrem neuen Leben nicht geändert hatten. Ihr mangelndes Interesse, sich in eine Gruppe einzufügen oder mit anderen Menschen nicht leicht Freundschaft zu schließen, gehörten dazu. In der Rolle einer Studentin, wenn auch von einer Fernuniversität, fiel es ihr schwer, sich der sozialen Dynamik der Studentengruppe zu entziehen. Ein oder zwei Mal war sie mit den anderen unterwegs gewesen, aber heute stand ihr nicht der Sinn danach. Heute war ihr Geburtstag. Ihr richtiger Geburtstag, ein Tag, den sie seit ihrer Geburt mit Marie teilte. Doch heute würde sie ihn allein verbringen und noch nicht mal Maries Stimme durchs Telefon hören. Ein seltsam befremdlicher Gedanke. Sie erinnerte sich, wie sie letztes Jahr spöttisch zu Marie gesagt hatte, man könne seinen Geburtstag nicht verpassen. Marie machte ihren gemeinsamen Tag zu etwas Besonderem, auch wenn sie sich dagegen wehrte. Hanna, die sich immer selbst genug gewesen war, fühlte sich einsam.
Sie verzog die Lippen zu einem kurzen Lächeln für die Studentin und schüttelte den Kopf.
»Ach, komm schon. Marco hat seine Gitarre dabei und wir wollen später noch alle gemeinsam an den Tiber. Sei keine Spielverderberin. Selbst der Professor kommt mit, nicht wahr, Baba?«
Der Professor, dessen glänzende Augen aufmerksam auf den Bildschirm gerichtet gewesen waren, hob mit einem gequälten Lächeln den Kopf. Ob wegen der Verunstaltung seines Namens oder in Vorausschau auf den Abend, konnte Hanna nicht erkennen. Sie versteckte ihr Grinsen vor Sonja – richtig, Sonja hieß das Mädchen oder wie sie es selbst immer gerne betonte: Soso. Hanna runzelte die Stirn und fragte sich, warum Marco von Soso Marco genannt wurde und nicht Mama, dann brach sie in Lachen aus. Verständnislose Blicke der anderen Teammitglieder richteten sich auf sie, aber es war zu spät. Sie bekam einen Lachkrampf, der die anderen ansteckte.
Schließlich japste Sonja: »Okay, was immer dich jetzt so erheitert hat«, sie warf einen vorsichtigen Blick auf den Professor, der sich die Lachtränen abwischte, »aber jetzt gehst du auf jeden Fall mit und erzählst uns, worüber du so lachen musstest.« Ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu. Jeder in der Gruppe fügte sich Sonjas Kommando. Ihre gerade mal ein Meter fünfundsechzig gepaart mit der zierlichen Figur waren eine Täuschung.
Tatsächlich steckte in dieser Frau eine unglaubliche Energie und Kommandierfreudigkeit, aber Hanna gehörte nicht zu den Menschen, die sich einem Kommando unterwarfen. Sie hatte immer getan, was sie für richtig hielt, und die Konsequenzen daraus getragen. »Nein, tut mir leid, aber ich kann heute nicht.« Sie lächelte freundlich, und bevor sich Sonja von der Überraschung ihres Widerspruchs erholen konnte, hatte Hanna ihren Rucksack geschnappt und verschwand aus der Kirche.
»Stracciatelle e pistacchio«, bestellte sie mit einem Lächeln ihr Lieblingseis an der Eisdiele, die sich auf dem Weg zur Spanischen Treppe befand.
»Prego, Signora.« Der Italiener reichte ihr das Eis nicht ohne ein Grinsen und indem er ihr ein Auge kniff.
Es gelang Hanna nicht, die Röte auf ihren Wangen zu verbergen. Normalerweise bewahrte ihre Größe sie vor der steten Aufmerksamkeit der Römer, wie sich die in Rom gebürtigen Italiener gern bezeichneten, doch den Eisverkäufer störte sie offenbar nicht. »Grazie«, bedankte sie sich hastig, bevor sie sich in den Strom von Einheimischen und Touristen einfädelte, der sich zur Spanischen Treppe bewegte.
Die Steine strahlten die Wärme der Sonne ab, die den Tag über am Himmel gestanden hatte. Der Abend war mild und von den Düften des Frühlings erfüllt. Hanna liebte diese Treppe, auf der sich alles sammelte. In der Anonymität der Menge beobachtete sie Liebespärchen, Eltern mit ihren Kindern, Jugendliche, das vorsichtige Annähern zwischen Mädchen und Jungen. Das Kichern von Mädchen in Gruppen, die so taten, als würden sie sich für Jungs nicht interessieren. Das Coolsein der reinen Jungengruppen, die so taten, als interessierten sie sich wiederum nicht für die Mädchen. Schließlich waren sie auf der Suche nach ihrer Männlichkeit.
Hanna setzte sich an den Rand auf halber Höhe der Treppe, so hatte sie einen Überblick über das bunte Treiben der Menschen aus unterschiedlichsten Ländern. Vorsichtig umrundete ihre Zunge das Eisbällchen. Langsam ließ sie den Geschmack sich in ihrem Mund ausbreiten. Erst als das Eis geschmolzen war, knackte sie die Nüsse und die Schokoladensplitter. Dabei schloss sie die Augen, damit sie den ganzen Geschmack wahrnahm. Es lag nicht allein daran, dass sie noch nie ein so hervorragendes Eis gegessen hätte, sondern an dem Luxus, den sie sich so selten gönnte. Das Eis war ihr Geburtstagsgeschenk an sich selbst.
Hatte sie in ihrem früheren Leben Geld keine Bedeutung beigemessen, so gehörte es in ihrem jetzigen Leben zu einem äußerst knappen Gut. Alles Ersparte, auch ihre Eigentumswohnung, die sie sich vom Erbe ihres Vaters geleistet hatte, war mit ihrem amtlichen Tod an ihre Schwester und ihre Mutter gefallen. Zwar hatte der Staat ihr einen Ausgleich gewährt, aber der entsprach nur einem Bruchteil ihres Vermögens. Das allein wäre kein Problem gewesen, hätte sie weiter als Fotografin arbeiten können. Derzeit verdiente Hanna sich ihren Lebensunterhalt als Zimmermädchen und Spülhilfe in verschiedenen Hotels. Dafür brauchte sie keine Berufsausbildung und es gab ihr genug Zeit für ihr Fernstudium. Große Sprünge konnte sie mit dem Verdienst nicht machen.
Der Job bei Professor Bartoli erwies sich als eine willkommene Abwechslung in ihrem Alltag. Das Geld reichte ihr, um sich die Unterkunft bei den Schwestern der Unbefleckten Empfängnis leisten zu können, das Essen und die Reisekosten. Rom gehörte zu den Städten, die sie so gerne zusammen mit ihrem Vater hatte bereisen wollen, bis sein Tod einen Strich durch ihre Pläne machte. Es gab unendlich viele Kirchen, heilige Orte, Geschichte, wo immer sie hinsah. Vermutlich würde sie Jahre brauchen, um alles zu entdecken. Vielleicht sollte sie ganz hierher ziehen. Da waren natürlich der Dreck, die Enge und die Masse an Menschen. Aber gleichzeitig das Forum Romanum, das Kolosseum, die Engelsburg, das Pantheon, die Via Appia, die Pieta von Michelangelo und all die Werke zahlreicher kleiner und großer Künstler.
Das Projekt von Professor Bartoli, in Auftrag gegeben von der katholischen Kirche, beinhaltete die Erfassung der Wandmalereien und ihres Zustands in allen römischen Kirchen. Es sollte ein langfristiger Plan für den Erhalt und die Renovierungsbedürftigkeit der Malereien erstellt werden – ein ideales Doktorandenprojekt für Marco.
Hanna hatte in den drei Wochen so viel von den beiden Männern gelernt, mehr als in all der Literatur, die sie gelesen hatte. Marco war ein netter Typ, den sie nur anzustupsen brauchte, damit er sein Wissen mit ihr teilte, was aber mit eifersüchtigen Blicken von Sonja quittiert wurde. Immer wieder hängte sich Soso vertrauensvoll an Marcos Arm und klimperte mit ihren Augenlidern. Er nahm das gelassen hin. Hanna hatte noch nicht herausgefunden, ob der Student aus München an Sonja interessiert war oder nicht. Marco besaß eine wunderschöne Gesangsstimme, der sie gerne lauschte, wenn er von seiner Gitarre begleitet Lieder sang. Auch Sonja hatte eine eindrucksvolle Stimme, und wenn sie zusammen sangen, bekam Hanna eine Gänsehaut. Sie waren wie füreinander geschaffen, das Singen, die Kunst – sah Marco das nicht? Nein, Männer waren blind, wenn es um tiefe Gefühle ging, dachte Hanna im Stillen und verbot ihren Gedanken, in die Vergangenheit zurückzuwandern. Ihre Hand rutschte automatisch zu ihrem Hals, umfasste das schlichte goldene Kreuz. Unter ihren Fingern gewann es an Wärme. Sie konnte die Ruhe und Kraft spüren, die es ausstrahlte.
Hanna wusste, dass der Professor ihre ruhige Art mochte, ihre Konzentration bei der Arbeit, ihr Talent beim Fotografieren und ihr Gespür für das Auffinden von Stilrichtungen. All das war für die Restauration der Malereien äußerst wichtig. Sie erinnerte sich an ihre Überraschung, als sie den Brief mit der Einladung für das Praktikum erhalten hatte. Zwar gehörte der Professor zu den Personen, die ihre Hausarbeit korrigiert hatten, doch dass er sie deshalb einlud? Von den anderen wusste sie, dass es viele Bewerber für dieses Projekt gegeben hatte. Kürzlich hatte der Professor sich sogar erkundigt, ob sie sich vorstellen könnte, für längere Zeit in Rom zu bleiben. Ein faszinierender Gedanke, bei der Restauration der Kunstwerke helfen zu dürfen. Vielleicht wäre der Job sogar besser bezahlt als ihr jetziger. Sie könnte ihr Studium an der Fernuniversität genauso gut in Rom fortführen wie in Bonn. Hanna lächelte bei dem Gedanken. Es gab nur einen Haken dabei – Onkel Richard, den Freund ihres Vaters, ihren Patenonkel und Kardinal in Rom.
Ben sah Hanna zu, wie sie auf der Treppe genussvoll ihr Eis schleckte. Entspannt saß sie rechts am Rand, etwa auf halber Höhe der Treppe. Sie trug ihre Haare länger. Ihr Hemd hatte sie ausgezogen und in ihren Rucksack gesteckt. Die Sonne hatte ihre Haut in einen Goldton verwandelt. Ihr Tattoo zeichnete sich deutlich knapp unter dem rechten Ärmel des T-Shirts ab. Ein Notizbuch lag auf ihren Beinen, die in einer leichten Cargohose steckten. Ihre Turnschuhe samt Socken hatte sie ausgezogen und unter sich auf die Treppe gestellt. Er fragte sich, was in diesem Buch auf ihrem Schoß war. Er lächelte, als er das goldene Kreuz in ihrem Ausschnitt sah – sein Geschenk. Oberst Hartmann hatte es Hanna also bei der Verhandlung übergeben.
Ben war sich nicht sicher gewesen, ob sie es annehmen würde. Doch sie hatte es getan, und dass sie es trug, ließ eine warme Welle durch seinen Körper fluten. Noch mehr, als sie danach griff und es mit den Fingern umschloss. Es war, als würde sie ihn berühren. Er sah die Blicke von Männern, die Hanna streiften, während sie auf eine unverschämt genussvolle Art ihr Eis leckte. Aber es lag eine Vorsicht gebietende Aura um sie und ließ die Männer Abstand halten. Nicht zu Unrecht, wie Ben aus eigener Erfahrung wusste. Hanna konnte sich ihrer Haut wehren, wenn es darauf ankam. Sie hatte sich verändert und das lag nicht nur an den braunen Strähnen in ihrem eigentlich schwarzen Haar oder an dem Grün, ihrer normalerweise himmelblauen Augen, das sie mit gefärbten Kontaktlinsen erreichte. Augen, die ihn vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen hatten. Nein, ihr Blick erschien ihm offener als früher. Sie besaß eine intensive Art, das Leben um sich herum wahrzunehmen, etwas, was ihm früher nur bei ihren Bildern aufgefallen war. Jede Laterne, jedes Schild und jeder Pfosten schien ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Oder ihre nackten Füße, die leicht über die Treppe strichen, als wollte sie die Konturen nachfühlen, die Tausende von Füßen im Laufe der Zeit beim Auf-und-ab-Laufen hinterlassen hatten. Sie leckte ihr Eis, als wäre es die größte Kostbarkeit auf Erden.
Ben war zurückgegangen und hatte sich ein Eis geholt, als er sicher war, dass sie eine Weile auf der Treppe bleiben würde. Obwohl Eis nicht zu seinem Speiseplan zählte. Entsprechend klassisch fiel seine Wahl aus: Schokolade und Vanille.
»Worüber lächelst du, Sabine?« Ihr neuer Vorname ging ihm leichter über die Lippen, als er es gedacht hatte. Langsam öffnete sie die Augen, die sie geschlossen hatte, nachdem sie mit ihrer Zunge die Eisbällchen einmal umrundet hatte. Das hatte sie jedes Mal aufs Neue gemacht, wenn sie an ihrem Eis leckte. Sein Herz klopfte fest gegen seine Brust, so heftig, dass sie es sehen musste. Er hatte keine Ahnung, wie sie auf sein Erscheinen reagieren würde. Das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, waren sie schweigend auseinandergegangen. Er war dem Befehl seines Obersts gefolgt und hatte Hanna, nachdem er sie geknackt hatte, an das BKA übergeben. Er hatte gewusst, dass er sie danach nie wiedersehen würde. Hanna Rosenbaum war tot. Gestorben im Feuer in einer Hütte am Seeufer in Berlin. Ihr Schwager Lukas hatte das Feuer gelegt und einen Abschiedsbrief vorbereitet, damit alle Welt glaubte, Hanna hätte sich das Leben genommen. Aber Ben hatte ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht und Hanna überzeugt, gegen ihren Schwager auszusagen, ebenso gegen ihren Stiefvater, der Jahre zuvor ihre Entführung in Auftrag gegeben hatte. Ihm war bewusst gewesen, dass Hanna alles verlieren würde, was ihr jemals etwas bedeutet hatte, aber einen Weg zu gehen, der Gerechtigkeit brachte, hieß Opfer zu bringen. Sie war mutig genug gewesen, das zu erkennen. Und doch war er das Gefühl nicht losgeworden, dass es etwas gab, das er nicht sah. Dass sie etwas vor ihm verheimlichte. Er hatte sich selbst eine Mauer gegen ihre Anziehungskraft aufgebaut, die sie umrundet hatte. Zwei Mal hatte er mit ihr geschlafen. Zwei Nächte, die sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatten, nicht allein wegen des Sex. Es gab etwas anderes, was dabei passiert war und was er nicht verstand.
In Norwegen hatte sie ihm voller Staunen erklärt, dass sie ihn liebe. Aber er wusste, dass es nicht stimmte. Wie sollte sie, Hanna, einen Mann lieben, der anderen Menschen das Leben nahm? Ihr eigenes eingeschlossen. Er war Soldat und tötete Menschen. Das gehörte zu seinem Job und er war zutiefst von dem überzeugt, was er machte.
Hanna antwortete ihm nicht. Ihre Zunge glitt ein weiteres Mal um ihr Eis herum, sie schloss die Augen und ließ das Eis in ihrem Mund schmelzen. Verwirrt beobachtete er sie und überlegte, was er machen sollte. Versuchte sie ihn zu ignorieren? Ihr eines Lid öffnete sich, blinzelte, schloss sich wieder. Er seufzte. »Hanna, ich bin kein Geist, der verschwindet, wenn du die Augen schließt.« Hastig sah er sich um. Verdammt, wie konnte ihm so ein Fehler passieren, dass er sie mit ihrem richtigen Namen ansprach? Sie öffnete die Augen, sah ihn an.
»Schade, ich dachte es würde funktionieren.«
Das Bedauern in ihrer Stimme versetzte ihm einen Stich. Sie runzelte die Stirn, legte den Kopf schief. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann beugte sie sich leicht vor, als wollte sie ihm ein Geheimnis erzählen. Unwillkürlich beugte er sich von seiner unter ihr sitzenden Position aus vor und wandte ihr sein Ohr zu.
»Aber weißt du was?«, sagte sie verhalten. »Ich kenne einen Zauberspruch, mit dem man Menschen wie dich aus seinem Leben verjagt.«
Sie lehnte sich mit einem Lachen zurück und begann die Waffel vom Eis abzuknabbern. Er betrachtete Hanna und versuchte zu verstehen, was in ihr vorging. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, und das ärgerte ihn, denn in seinem Job gehörte es zu seinen Stärken, sich in die Empfindungen anderer Menschen hineinzudenken. Das machte seine Erfolge bei den Verhören und seinen Einsätzen aus: das sich Hineinversetzen in seine Gegner. Schweigend aßen sie beide ihr Eis zu Ende. Ein hervorragendes Eis, wie er sich eingestand. Cremig, kalt, von perfekter Konsistenz, und wenn es im Mund zerschmolz, entfaltete es seinen vollen Geschmack, die Schokolade leicht bitter, die Vanille süß und zart. Hanna stand auf, schulterte ihren Rucksack und nahm die Turnschuhe in die Hand. Er folgte ihr zu dem Brunnen am Fuß der Treppen, in dem sie sich die klebrigen Hände wusch. Bevor er dasselbe machen konnte, traf ihn ein Schwall Wasser. Er starrte sie überrascht an.
»Hm, geweihtes Wasser scheint dich auch nicht zu vertreiben.«
Er musste grinsen. Sie besaß eine seltsame Art von Humor. »Das ist kein geweihtes Wasser, sondern dreckiges Brunnenwasser.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Stimmt, du hast recht, ich vergaß. Dann kann es natürlich nicht funktionieren.«
Ein zweiter Schwall Wasser traf ihn. Er schüttelte die Feuchtigkeit aus seinen Haaren, leicht verärgert. »Hanna, du bist albern.«
»Ich heiße Sabine«, erklärte sie ruhig, setzte sich auf den Boden und zog ihre Turnschuhe an.
Er folgte ihr durch die Gasse. Ihre Schritte waren zügig, und es fiel ihm schwer, ihr Tempo zu halten. Er war nicht den weiten Weg nach Rom geflogen, um sich von ihr abschütteln zu lassen. Er wusste aber auch nicht, wie er es anfangen sollte, mit ihr über das zu reden, weshalb er hier war. Schließlich hatten sie die Pension der Schwestern der Unbefleckten Empfängnis erreicht. Was für ein Name! Ben verzog das Gesicht. Die Unbefleckte Empfängnis – wer konnte an so etwas glauben? Als Hanna den Wunsch geäußert hatte, die Zeit bis zur Verhandlung in einem Kloster zu verbringen, war man beim BKA erst dagegen gewesen. Oberst Hartmann, sein Vorgesetzter, hatte schließlich dafür gesorgt, dass Hanna dieses Zugeständnis erhielt. Eine, wie sich herausstellte, günstige Variante des Personenschutzes für Zeugen. Hanna schien aus ihrem Aufenthalt im Kloster Ruhe und Kraft für die Verhandlungen gewonnen zu haben.
Es hatte Karl Hartmann beeindruckt, mit welcher Klarheit und Präzision ihre Aussage erfolgte. Lediglich ein wenig mehr Emotionalität hätte er sich gewünscht. Die Rechtsanwälte hatten versucht, die Zeugin, die sie nicht sehen konnten, da sie sich in einem Nachbarraum befand, aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Fragen an sie hatten dem Oberst deutlich gemacht, dass zumindest der Anwalt von Lukas Benner sehr wohl wusste, wer die unbekannte Zeugin war. Am Ende fiel die Strafe für Lukas Benner geringer als erhofft aus. Mit sieben Jahren kam der Mistkerl davon. Nach dreieinhalb Jahren bestand für ihn die Möglichkeit, eine Haftentlassung zu beantragen. Rechnete man die Zeit der Haft vor der Verhandlung ab, so blieben zwei Jahre, die Lukas Benner mit Sicherheit würde abbüßen müssen. Eine Schande, dass es kein Auslieferungsabkommen zwischen Nigeria und Deutschland gab, um auch deutsche Staatsangehörige für ihre Verbrechen nach Nigeria auszuliefern. Der einzige Weg, ihn für den Überfall auf das Dorf haftbar zu machen, führte über den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, und dort stapelten sich die Fälle.
Hanna blieb stehen. Sie wandte sich ihm zu, steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. »Da wären wir.«
»Ja, da wären wir.« Er nahm seinen Rucksack herunter, öffnete ihn und holte ein Geschenk heraus, ein Päckchen, doppelt so lang wie ein durchschnittliches Buch und auf einer Seite etwas dünner.
Er reichte es ihr. Hanna starrte auf das Päckchen und wich zurück, als wäre darin eine Bombe versteckt, was in gewisser Weise ja auch stimmte. Nein, natürlich keine Bombe, aber etwas, was ihr gleichzeitig Freude machen und wehtun würde.
»Herzlichen Glückwunsch zum einunddreißigsten Geburtstag, Hanna.«
Sie sah ihn an. Ihr Blick bohrte sich in seinen und er bekam das Gefühl, dass sie in die Tiefe seiner Seele blickte, einer Seele, die viel Schuld auf sich geladen hatte. Hanna presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, ging einen Schritt vor, nahm sich das Päckchen aus seiner Hand und wandte sich ohne ein Wort des Dankes um. Er blieb, bis sich die Tür hinter ihr schloss.
Allein in ihrem Zimmer atmete Hanna tief ein. Mit zitternden Händen setzte sie sich auf ihr Bett und presste das Päckchen an ihr Herz. Sie hatte keine Ahnung, was es enthielt, aber sie wusste, es steckte eine Absicht dahinter. Nur, welche, das musste sie noch herausfinden. Noch immer hatte sie sich nicht von dem Schock erholt, den Bens plötzliches Auftauchen verursacht hatte. Freute sie sich oder überwog die Angst?
Es klopfte leise an ihrer Tür.
»Sabine?« Gedämpft drang die Stimme von Schwester Valentina an ihr Ohr. »Möchten Sie an der Vesper teilnehmen?«
Hastig stopfte Hanna das Geschenk unter ihr Kopfkissen. Sie stand auf, straffte die Schultern und wischte sich über die Augen. Nein, besser auch noch die Nase putzen, bevor sie die Tür aufmachte.
Aufmerksam musterte Schwester Valentina sie. Sie war so klein, dass sie zu Hanna aufsehen musste. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja.« Hanna rang sich ein Lächeln ab und folgte der Schwester in einen Raum, der den Ordensfrauen als Gebetsraum diente.
Der gewohnte Rhythmus der Vesper und die vertrauten Worte beruhigten ihr aufgewühltes Gemüt. Ihre Hände zitterten nicht mehr, nur das Ziehen in ihrem Herzen wollte nicht aufhören.
Später schöpfte Hanna im gemeinsamen Beten die Kraft, um das Paket von Ben zu öffnen. Nachdem sie sich gewaschen und ihr altes Schlafshirt angezogen hatte, wickelte sie sich sicherheitshalber in die Strickjacke ihres Vaters. Umhüllt von seiner Wärme und Liebe riss sie das Papier auf. Vorsichtig umschlossen ihre Hände den dunkelbraunen, abgenutzten Einband. Die goldenen Buchstaben darauf leuchteten ihr entgegen: Mit den Augen von Hanna. Sie schlüpfte unter die Decke, rollte sich ein und lehnte das Album an das Nachtkästchen. Lange starrte sie darauf, bevor sie es öffnete. Sie hatte es als Geschenk von ihrem Vater bekommen, vor langer, langer Zeit. Ungewöhnlich, dass er dafür ihren abgekürzten Namen verwendet hatte. Es war mit Fotos gefüllt, die sie gemeinsam an einem Wochenende gemacht hatten.
Glaube an dich. Betrachte die Welt in ihrer Einzigartigkeit. Sieh all das Schöne, das dich umgibt, und halte es fest. Dann erkennst du, dass es nichts zweimal auf Erden gibt. – Dein Papa, der seine kleine Johanna von Orleans so liebt, wie Gott sie ihm gab und nicht anders.
Sie flüsterte die Worte beim Lesen vor sich hin. Es tat weh, aber gleichzeitig fühlte sie eine innere Ruhe. Sie hatte das Album nie zu Ende geführt. Sie hatte es so gelassen, doch jetzt waren die letzten Seiten gefüllt mit weiteren Bildern: Marie und Silvia, ihre Mutter, sie selbst, fotografiert von einem afrikanischen Jungen, und zuletzt ein Bär. Sie starrte das letzte Foto an und fragte sich, wann er es ihr geklaut hatte. Warum liebte sie einen Mann, der sie ständig zu manipulieren versuchte und ihr alles weggenommen hatte, was ihr in ihrem Leben überhaupt geblieben war? Und das alles für eine Gerechtigkeit, die keine war, denn sie brachte kein Leben zurück. Aber sie verhindert, dass weiteres Leben geopfert wird, hörte sie die leisen, mahnenden Worte ihres Vaters im Kopf. »Und was ist mit mir? Was ist mit meinem Leben?«, fragte sie ihn. Doch die Antwort blieb aus, wie immer, wenn sie diese Frage stellte. Armin Ziegler – verurteilt zu fünf Jahren, weil er Reue gezeigt hatte, wegen seines sozialen Engagements sowie dem Fehlen einer erpresserischen Absicht. Lukas Benner hatte lächerliche sieben Jahre bekommen. Hanna schloss das Album, stand auf und packte es in ihre Tasche, ganz nach unten. Wie auch immer er an das Album herangekommen war, sie war ihm dankbar dafür, dass sie es wiederhatte, denn es gehörte zu ihr.
Als Hanna am nächsten Morgen um acht die Pension verließ, wartete Ben bereits auf sie. Er lehnte auf der anderen Straßenseite an einer Hauswand, einen Fuß angewinkelt an der Wand, mit dem er sich abstieß, bevor er auf sie zukam. Er lächelte, zog seine Kapuze vom Kopf und nahm die Kopfhörer aus den Ohren. Seine Füße steckten in Turnschuhen. Er trug eine Kaki-Bermuda, ein schwarzes T-Shirt und darüber seine übliche Kapuzen-Sweatshirtjacke, alles weit geschnitten. Obwohl er einen halben Kopf größer als sie war, wirkte er in den Klamotten weniger groß. Seine braunen Haare waren ungewöhnlich lang für ihn. Das letzte Mal, als sie ihn außerhalb von Rom gesehen hatte, war sein Haar so kurz gewesen, dass sie es mit den Händen nicht zu greifen vermochte. Es faszinierte Hanna, wie harmlos Ben in seiner Alltagskleidung aussah. Ein Jäger, der sein Opfer in Sicherheit wiegte. Sein Gesicht war etwas blasser um die Nasenspitze, obwohl es die tiefe Bräune der afrikanischen Sonne besaß.
»Zeigst du mir Rom?« Abwartend blieb er in sicherem Abstand vor ihr stehen.
Statt eine Antwort zu geben, wandte sich Hanna um und schlug den Weg zur Spanischen Treppe ein. Ihre Schritte waren zügig, doch das stellte für Ben kein Problem dar, wie sie wusste. Er trainierte täglich. Als sie merkte, dass sich ihr Abstand zu ihm vergrößerte, drosselte sie das Tempo.
Ben war froh, als Hanna die Geschwindigkeit ihrer Schritte verringerte. Sie schien verdammt gut in Form zu sein, das war ihm bereits gestern aufgefallen, als er ihr von der Kirche aus gefolgt war. Hanna hatte eine effiziente Art zu gehen, die wenig Kraft kostete, und er konnte sich ohne Probleme vorstellen, wie sie Stunden durch die Wildnis lief für ein einziges gutes Foto. Normalerweise hätte es für ihn keine Schwierigkeit bedeutet, sich ihrem Tempo anzupassen. Doch seine Wunde bereitete ihm heute mehr Ärger als gestern.
Bisher hatte Hanna kein Wort zu ihm gesagt. Sie schien auch nicht überrascht, dass er auf sie gewartet hatte. Sie war nicht dumm, leider auch nicht neugierig, und sie war geduldig. Er hatte erwartet, dass sie ihn fragte, was er hier suche oder wie er an das Album herangekommen war. Irgendetwas. Doch sie tat ihm den Gefallen nicht. Er wusste noch nicht einmal, wohin sie unterwegs waren. Im Grunde hatte er nur die vage Hoffnung gehabt, dass Hanna es sich nicht entgehen lassen würde, heute eine Tour durch Rom zu machen, und er hatte recht behalten. Wenigstens ab und an schien es ihm zu gelingen, ihr Verhalten vorherzusagen. Hanna gehörte nicht zu den Menschen, die viel redeten. Alles, was sie dachte und fühlte, drückte sie in ihren Bildern aus. Nachdem er sie damals halbtot aus dem Feuer gerettet und nach Norwegen in eine einsame Hütte gebracht hatte, bekam sie von ihm eine neue Nikon D4 samt Objektiv geschenkt. Allein die Kamera hatte ihn mit Versandkosten über sechstausend Euro gekostet, hinzu kam das Objektiv mit weiteren tausend Euro. Zu sehen, wie beim Anblick der Kamera das Leben in Hannas Augen zurückkehrte, wäre ihm auch mehr Geld wert gewesen. Norwegen. Schnell verbannte er die Erinnerung in den hintersten Winkel seines Gedächtnisses.
»Wohin gehen wir?« Er machte sich keine Hoffnung auf eine Antwort.
»Castel Sant‘Angelo.«
»Castel Sant‘Angelo, okay«, sagte er gedehnt, »ich dachte, das hättest du in den vier Wochen längst abgehakt.«
Abrupt blieb sie stehen. Ihre Augen funkelten in einer seltsamen, fremden Farbmischung. Ben legte ein wenig Distanz zwischen sich und Hanna. Sie konnte gefährlich werden. Sein Blick ging prüfend über die Gegend, ein Reflex aus seinem jahrelangen Training. Auf den Straßen von Rom tummelten sich die Römer auf dem Weg zur Arbeit. Touristen konnte er nur wenige entdecken.
»Seit wann bist du hier?«, stellte sie ihn zur Rede.
»Seit gestern«, antwortete er wahrheitsgemäß.
Skepsis lag in ihrer Haltung. Er ließ sie nicht aus den Augen. Zwar rechnete er nicht damit, dass sie ihn hier auf der Straße angreifen würde, aber sicher war sicher. Sie atmete tief ein, schloss kurz die Augen, bevor sie mit dem Verhör fortfuhr. »Weshalb bist du hier?«
Das war eine schwierige Frage, die er so einfach nicht beantworten konnte. Zwei Männer waren tot und er wusste nicht weshalb. Sein Instinkt vermittelte ihm, dass Hanna nicht alles gesagt hatte, was sie wusste. Weshalb verheimlichte sie etwas? Um Marie zu schützen? Er konnte ihr nicht von den toten Männern erzählen, genauso wenig von den Umständen, die zu seiner Verwundung geführt hatten. Das alles unterlag Geheimhaltung. Offiziell hatte es ihren Einsatz nie gegeben. Er versuchte, mit einer Lüge Zeit zu gewinnen. Das hier war nicht der richtige Moment, sie zum Reden zu bekommen.
»Ich mache Urlaub.«
»In Rom?«
»Ja.«
»Ausgerechnet dann, wenn ich in Rom bin?«
»Du scheinst dich in Rom auszukennen«, versuchte er sie von ihrer Frage abzulenken.
»Nein, tue ich nicht. Es ist mein erster Besuch in Rom. Aber du weichst mir aus und lügst.«
Ihre Arme verschränkten sich vor ihrer Brust. Ben atmete tief ein und zuckte zusammen, als ihm der Schmerz durch die Seite fuhr. Vorsichtig ließ er die Luft wieder aus seinem Brustkorb entweichen. Hanna runzelte die Stirn. Sie war eine aufmerksame Beobachterin. Bevor sie eine Frage stellen konnte, die er ihr nicht beantworten wollte, entschloss er sich, ihr einen Teil der Wahrheit zu sagen. »Also gut, ich bin deinetwegen hier.«
»Weiß Oberst Hartmann, dass du hier bist?«
»Ja«, log Ben, ohne mit der Wimper zu zucken. Es war sicherer für ihn und Paul, wenn sie das glaubte. Paul hatte ihm Hannas neuen Namen und Aufenthaltsort aus den Daten des Zeugenschutzprogramms organisiert. Allein wäre er an diese Information nicht herangekommen. Er wollte nicht, dass Paul seinetwegen in Schwierigkeiten geriet.
»Bist du in seinem Auftrag hier?«
»Können wir das Verhör auf der Straße beenden und uns eine nettere Umgebung für das Gespräch aussuchen?«
»Nein.« Sie drehte sich um und ging weiter.
Zum Glück behielt sie das langsamere Tempo bei. Am Anfang der Brücke, die über den Tiber führte, blieb sie stehen, holte ihre Kamera hervor und begann Fotos zu machen, beim Blick durch ihr Objektiv völlig auf das Motivkonzentriert. Stundenlang hätte Ben sie bei ihrer Arbeit beobachten können. Er wandte den Blick von ihr ab auf das Motiv, betrachtete das runde Gebäude am anderen Ufer. Er versuchte, die Festung mit Hannas Augen zu betrachten. Was sah sie darin? Welches Geheimnis entlockte sie dem Gebäude? Die Welt über die Bilder von Hanna zu entdecken, das eröffnete eine völlig neue Blickweise auf all das, was einen umgab. Eine einfache Blume konnte zu einem Wunder an Farbe, Struktur und Leuchtkraft werden, das Gesicht einer alten Frau, mit tiefen Runzeln und zahnlos, zu einer Geschichte über das Leben in einem Land.
Ben runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen für einen besseren Fokus. »Soll das auf der Spitze des Gebäudes ein Engel sein?«
»Castel Sant‘Angelo – Engelsburg«, spottete Hanna.
Ben hatte nie Latein gelernt, doch Angelo, das war nicht weit entfernt von Engel oder Angel. Englisch gehörte durchaus zu den Sprachen, die er beherrschte. Er spürte, wie ihm Röte ins Gesicht stieg. Wie dumm, natürlich musste das Gebäude von irgendwoher seinen Namen bekommen haben.
Sie nahm die Kamera vom Auge und sah ihn amüsiert an. »Ursprünglich war es ein Mausoleum, gebaut für den Kaiser Hadrian.«
Ihn zu belehren, schien ihr zu gefallen. »Und der ließ sich einen Engel auf die Spitze bauen, der seinen Tod bewachen sollte?«, hakte Ben interessiert nach.
»Nein, der Engel kam erst später auf das Mausoleum. Im Jahr 590 nach Christus wütete eine Pest in Rom. Angeblich hat Papst Gregor I. über dem Grabmal eine Erscheinung des Erzengels Michael gesehen, der das Schwert des göttlichen Zorns in die Scheide steckte und somit das Ende der Pest verkündete. Tatsächlich ging die Pest zu Ende. Aus diesem Grund gibt es auf dem Dach die Bronzefigur des Erzengels Michael und aus dem Hadrianeum wurde das Castel Sant’Angelo.«
Wow, Ben konnte sich nicht erinnern, wann sie freiwillig so viel geredet hatte. Sie ließ die Kamera um ihren Hals hängen, schulterte den Rucksack und betrat die Brücke. Ein Engel, der sein Schwert schwingt, dachte Ben und betrachtete die Figur auf dem Gebäude nachdenklich.
Bevor er Hanna begegnet war, hatte Ben in der Religion lediglich den größten Auslöser für Kriege gesehen. Egal, in welches Krisengebiet ihn sein Job führte, fast immer ließen sich die Konflikte auf drei wesentliche Ursachen reduzieren: Religion, Zugang zu oder Mangel an Rohstoffen und Machtbesessenheit, häufig gepaart mit einer Form von Größenwahn. Bei Hanna hatte er zum ersten Mal erlebt, wie der Glaube einem Menschen die Kraft verlieh, mit seelischen und physischen Verletzungen fertigzuwerden.
Hanna war in ihrem Zorn durchaus schlagkräftig, was er am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Gleichzeitig gab es etwas an ihr, das er mit Worten nicht beschreiben konnte. »Ich bin das Licht der Welt« hatte sie an ihrem Oberarm eintätowieren lassen. Es war ein Bibelzitat, wie er inzwischen wusste. Noch ein Geheimnis, das er nicht verstand. Er hatte Gesetze übertreten, um zu ihr zu kommen und er hatte keine Ahnung, was sein Oberst tun würde, wenn er erfuhr, dass er sich hier bei Hanna in Rom befand. Zum Glück war sein Vorgesetzter mit anderen Dingen beschäftigt und er selbst offiziell bei seiner Schwester, Dr. Elisabeth Jung, in Berlin. Tatsächlich hatte ihm der Oberarzt im Militärkrankenhaus erst erlaubt zu fliegen, nachdem er den Namen seiner Schwester hörte. Es überraschte Ben immer wieder, welchen Ruf Lisa in so jungen Jahren in Fachkreisen besaß.
Hanna bewegte sich von Engel zu Engel über die Brücke, und er folgte ihr langsam.
»Wieso hat der Engel ein Tuch in der Hand?«, rutschte ihm die nächste Frage über die Lippen.
»Alle Engel auf der Brücke tragen ein Symbol aus der Passionsgeschichte von Jesus.«
»Passionsgeschichte?«
Seufzend nahm Hanna die Kamera vom Auge. »Die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu.«