Heide-Novela - Kathrin Hanke - E-Book
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Heide-Novela E-Book

Kathrin Hanke

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Beschreibung

Während das Team um Oberkommissarin Katharina von Hagemann nach einer vermissten Frau fahndet, verbreitet sich Angst in Lüneburgs Party-Szene: Irgendjemand scheint in den Clubs K.-o.-Tropfen einzusetzen. Auch Katharinas Kollegin Vivien Rimkus ist nach einem ausgelassenen Abend betroffen. Die Ermittlungen nehmen Fahrt auf, als ein junger Mann kollabiert. Handelt es sich wirklich um K.-o.-Tropfen? Was bedeuten die Einstichstellen bei den vermeintlichen Opfern, die weder beraubt, noch misshandelt werden, jedoch alle eine Verbindung zu der Lüneburger TV-Soap „Gelbe Tulpen“ haben?

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Seitenzahl: 278

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kathrin Hanke

Heide-Novela

Kriminalroman

Zum Buch

Filmriss Während die Dreharbeiten der Lüneburger TV-Soap „Gelbe Tulpen“ kurz vor der Sommerpause stehen, der Freund von Oberkommissarin Katharina von Hagemann in der JVA Uelzen seine Haftstrafe absitzt, sie unterdessen Hauptkommissar Benjamin Rehder privat gefährlich nahe kommt und beruflich bisher vergeblich nach einer vermissten jungen Frau fahndet, schleicht sich die Angst in Lüneburgs Party-Szene ein: Immer wieder berichten Personen von „merkwürdigen Körpergefühlen«, wie sie durch die Einnahme von K.-o.-Tropfen hervorgerufen werden. Auch Katharinas Kollegin, Vivien Rimkus, die in ihrer Freizeit am Set von „Gelbe Tulpen“ als Statistin arbeitet, ist nach einem ausgelassenen Abend mit der Crew betroffen. Die Ermittlungen nehmen Fahrt auf, als ein junger Mann stirbt. Wer treibt hier sein Unwesen in der idyllischen Hansestadt? Und mit welchem Ziel? Die vermeintlichen Opfer werden weder beraubt, noch misshandelt, jedoch haben sie alle eine Verbindung zu „Gelbe Tulpen“.

Kathrin Hanke schrieb als freie Autorin über ein Jahrzehnt lang erfolgreich Krimis. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Heidekrimis rund um das Team des Ermittlerduos Katharina von Hagemann und Benjamin Rehder, sowie ihre True Crime-Bücher, die sie in die Tiefen von Archiven steigen ließen und in enger Zusammenarbeit mit der Polizei und Museen entstanden sind. Kathrin Hanke war Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur, sowie aktiv bei den Mörderischen Schwestern, dem gemeinnützigen Verein zur Förderung der von Frauen geschriebenen, deutschsprachigen Kriminalliteratur.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thorsten Chmielewski / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3222-9

Widmung

Für Amelie

Zitat

»Liebe zur Schönheit ist Geschmack.

Das Schaffen von Schönheit ist Kunst.«

Ralph Waldo Emerson, US-amerikanischer Geistlicher, Schriftsteller und Philosoph

Prolog Sonnabend, 31.8.2024

5.32 Uhr

Ihr Kopf dröhnte wie immer, wenn sie nach einer Behandlung aufwachte. Sie hatte gehofft, sie würde sich daran gewöhnen, doch inzwischen hatte sie das Gefühl, es wurde nach jedem Mal schlimmer. Das Einzige, was half, war sich nicht zu bewegen. Und nicht in das Licht zu blicken, das durch die Ritzen der Kammer fiel und schmale Streifen auf dem Boden zeichnete. Dennoch war sie dankbar für das Licht. Mit seiner Hilfe konnte sie Tag und Nacht unterscheiden. Für jeden Tag hatte sie einen Strich mit ihrem Fingernagel tief in ihre Haut geritzt. So tief, dass die Haut auseinanderklaffte und beim Verheilen eine Narbe blieb, die sie fühlen konnte. Zunächst verkrustete der Spalt, den sie sich mit dem Fingernagel in die Haut schnitt, und dann wurde er langsam zu einer bleibenden Erinnerung. Sie hatte hierfür ihren Oberschenkel gewählt. Ganz am Anfang hatte sie versucht, die Wand und danach den Boden zu nehmen, doch beide waren aus hartem Holz und es war ihr mit dem Schnitt nicht gelungen. So hatte sie sich selbst zu ihrem Kalender gemacht. Wie ein Gefängnisinsasse. Aber sie war schließlich in einem Gefängnis. Da war ihr Vorgehen nur logisch. Fand sie. Inzwischen war sie 105 Tage hier und ihr Oberschenkel mit Narben und frisch zugefügten Wunden übersät. Bald würde sie den zweiten Oberschenkel verstümmeln müssen. Und danach? Ihre Arme? Oder den Bauch? Daran wollte sie noch nicht denken. Dann wäre sie hoffentlich nicht mehr. Nicht mehr hier oder nicht mehr am Leben.

Das Licht half ihr nicht nur mit dem Zeitgefühl. Es brachte in die ansonsten unbeleuchtete nachtschwarze Kammer Konturen. Zwar waren es nur Grautöne, aber immerhin. Hauptsache, sie sah nicht direkt ins Licht. Dann fühlte sie sich noch blinder als in der nächtlichen Dunkelheit. Ihr Blick fiel auf eine Assel, die auf dem Boden gerade mitten in einen Lichtstreifen krabbelte und dann dort verharrte. Ob das Tier sich wärmte? Oder war es das Licht, das sie festhielt und nicht mehr herausließ? Gern hätte sie die Assel angestupst, damit diese weiterkrabbelte und durch einen Ritz der Bodendielen wieder dorthin verschwand, wo sie hergekommen war. Das Tier machte ihr Angst. Natürlich wusste sie, dass es ein Pflanzenfresser war, und auch, dass es das Totholz, auf dem es herumkroch, in Ermangelung von etwas Besserem fressen würde. Dennoch grauste es ihr jedes Mal, wenn sie eines dieser Gürteltiere in Setzkastengröße bemerkte, und es gab hier viele von ihnen, die immer wieder aus den Ritzen herauskamen, oft sogar in ganzen Kohorten. Sie war sich nie sicher, ob nicht doch eines der Tiere plötzlich zum Allesfresser mutieren und sich an ihrem Fleisch gütlich tun würde, um dann seine Kumpane zu rufen, wie lecker sie war. Vor allem hätten die Tiere es leicht bei ihr. Sie müssten sich nicht erst durch Stoff fressen, da sie splitterfasernackt war. Bis auf die Windel, die sie seit dem zweiten Tag, den sie hier war, trug. Sie wurde ihr regelmäßig zur Nacht gewechselt. So abstrus es auch war, dass sie überhaupt so etwas wie Dankbarkeit empfand, dann tat sie es für diese Inkontinenzslips. Es war nicht ganz so würdelos, wie in einen Eimer oder sogar einfach unter sich zu machen. Wobei ihr ansonsten jegliche Würde genommen worden war. Sie wurde gewickelt und gesäubert, wenn sie es nicht mitbekam. Während sie schlief und von den Fressattacken der Asseln albträumte. In diesen grausigen Träumen belagerten sie Tausende dieser Krabbelmonster, schlugen ihre merkwürdigen Mundwerkzeuge in ihre Körperteile und labten sich an ihr, ohne dass sie etwas dagegen ausrichten konnte. Schon bei dem Gedanken daran bekam sie auch jetzt wieder eine Gänsehaut. Sie selbst hatte bereits aus Hunger ihre Haare gegessen, aber das war etwas anderes. Gewesen. Inzwischen tat sie das nicht mehr. Nicht, weil ihr Magen auf Erbsengröße zusammengeschrumpft schien und ihre Innereien aus Mangel an Kraft kaum mehr Signale sendeten. Sie konnte es schlicht nicht. Sie hatte keine Haare mehr auf dem Kopf, außer ungleichmäßig lange Stoppeln. Es war am 32. Tag ihres Hierseins gewesen, als sie aufwachte und ihre Kopfhaut auf das Übelste juckte. Sofort war ihre Hand nach oben geschnellt, um sich heftig zu kratzen, und in diesem Moment fühlte sie, dass ihr der Schädel während des Schlafens rasiert worden war. Normalerweise war sie für die ersten Minuten nach dem Öffnen der Augen benommen und die sowieso stets vorhandenen Kopfschmerzen und das Dröhnen überlagerten alle weiteren Empfindungen, bis sich ihr Körper an seinen Wachzustand gewöhnt hatte. Erst dann fühlte sie auch andere Schmerzen, wie den am Fußgelenk, um das ein eiserner Ring geschmiedet war, der an einer ebenso eisernen Kette hing, die wiederum in einen Betonklotz eingelassen war. Der Beton war in einer Ecke auf den Boden und gegen die Kammerwand gegossen worden, sodass er einen kleinen Hügel auf den Holzdielen bildete. Dies war erst geschehen, nachdem sie hierher gebracht worden war, und sie hatte es ebenso wenig mitbekommen wie das Anschweißen der Fußfessel und ihre spätere Schädelrasur. Auch die folgenden Rasuren waren während ihres Schlafs vollzogen worden. So, wie das meiste andere. Bei diesem Gedanken musste sie sich schütteln, und sofort verstärkte sich der dröhnende Schmerz in ihrem Kopf. Der Gedanke blieb, als hätte er Spaß daran, sie in Panik zu versetzen. Er malte ihr sehr plastisch aus, was mit ihr im Schlaf angestellt wurde, und das war um ein Vielfaches schauerlicher als ihr Asselmonstertraum. Es mitbekommen wollte sie jedoch auch nicht. Das wäre noch schlimmer.

Zu Beginn ihres Aufenthalts hier wunderte sie sich, wie sie in der gespenstischen Kammer überhaupt schlafen konnte und dann noch so tief. Nach ein paar Tagen schluckte sie jedoch die Erklärung im wahrsten Sinne: Ihr wurde etwas in ihren Abendbrei, für den sie keinen Löffel bekam und deswegen ihre Finger benutzen musste, gemischt. Sie ging davon aus, dass es ein Schlafmittel war. Der Brei war die einzige Mahlzeit, die sie am Tag bekam, und er wurde ihr stets durch einen kleinen, eingelassenen Spalt am unteren Ende der massiven Tür durchgeschoben. An jenem Abend hatte sich die Tablette anscheinend nicht vollständig im Brei aufgelöst, der wie zäher Leim schmeckte, und sie spürte sie beim Schlucken in ihrer Speiseröhre. Es war ein furchtbares Gefühl. Zunächst dachte sie, sie hätte eine große Assel verschluckt, die ungesehen von ihr im schummrigen Licht der Kammer in den Napf geklettert war. Das ließ sie sofort würgen. Dann schmeckte sie die bittere Pille in ihrem Gaumen und spuckte sie aus. In dieser Nacht konnte sie nicht einschlafen. Irgendwann machte sich jemand an ihrer Kammertür zu schaffen. Ihr Körper versteifte sich bei der Wahrnehmung des Geräuschs sofort. Ängstlich wartete sie darauf, dass die Tür geöffnet wurde. Wer würde eintreten? Und warum? Ein kleiner Funken Hoffnung keimte in ihr auf. Vielleicht holte sie endlich jemand aus der Kammer heraus und sie in die Freiheit. Mit heftig klopfendem Herzen hatte sie auf die Tür gestarrt, die sich wie in Zeitlupe öffnete. Dann sah sie plötzlich nur noch gleißende Kreise – ihr wurde mit einer Taschenlampe, wie sie noch immer annahm, direkt in die Augen gestrahlt. Sie wendete ihren Kopf ab und senkte ihn gleichzeitig zu Boden. Instinktiv blinzelte sie einige Male, um die gleißenden Kreise zu vertreiben. Es gelang nicht, und so presste sie ihre Lider bald fest aufeinander, da sie das Gefühl hatte, ihre Netzhaut würde anderenfalls durch das schneidende Licht verätzen und sie erblinden. An das, was dann geschehen war, wollte sie sich keinesfalls erinnern, tat es aber doch immer wieder. Es war entsetzlicher als alles, was sie in ihren 20 Lebensjahren je erlebt, gelesen oder gesehen hatte. Ebenso der Schmerz, den sie mit einem Mal an ihrer linken Brustwarze gespürt hatte. Zuvor war sie trotz der Fußkette mit Kabelbindern an Händen und Füßen zusammengeschnürt worden. Beim Zusammenschnüren öffnete sie aus Reflex ihre Augen und schrie. Und dann sah sie ihn. Der Mensch, der sie fesselte, glich einem Schatten, aus dem kalte, kleine Augen hervorblitzten. Und eine Reihe gelber Zähne, zwischen denen ein »Halt’s Maul« hervorschnellte. Der Schatten war in einen dunklen Umhang gehüllt und seine lippenlosen Zähne umrandete ein Bart, in dem Speichel hing. Seine schwarze Gewandung verschmolz mit dem grauen Licht in der Kammer, die nur von der inzwischen auf dem Boden liegenden Taschenlampe matt erhellt wurde. Trotz seines Ausrufs konnte sie nicht aufhören zu schreien. Jetzt nicht mehr wegen der schneidenden Kabelbinder, sondern vor blankem Entsetzen.

»Dann stopf’ ich es dir eben«, zischte der Schatten in ihr Ohr und rammte ihr einen stinkenden Stoff tief in den Rachen, sodass sie kaum mehr schlucken, geschweige denn schreien konnte. Doch diese Pein war nichts im Vergleich zu der darauf folgenden an ihrer Brust. Dann verließ sie das Bewusstsein. Erst am nächsten Morgen weckte sie der brennende Schmerz, der von ihrer Brust ausging. Vorsichtig betastete sie sie, dann erst senkte sie ihren Blick. Sie trug einen bereits durchnässten Verband um die Wunde und wünschte sich, dass sie an Wundbrand sterben würde. Und der Gedanke, dass sie noch eine weitere und unversehrte Brust hatte, machte sie wahnsinnig. Zu ihrem Bedauern starb sie nicht und wachte jeden Morgen mit einem frischen Verband auf, bis ein großes Pflaster diesen ablöste. Einige Zeit später war auch das nicht mehr nötig und sie konnte sehen, was ihr angetan worden war: Ihre Brustwarze fehlte.

Bereits seit der Nacht, als sie ihr entfernt worden war, hatte sie jeden Abend artig ihren Brei gegessen. Nun leckte sie die Schüssel sogar wie ein Hund aus.

Zitat

»Schönheit liegt im Auge des Betrachters.«

Thukydides, antiker griechischer Geschichtsschreiber

Kapitel 1 Samstag, 31.8.2024

21.53 Uhr

Der Applaus war mäßig, doch Katharina hatte nicht die Kraft und auch nicht die Lust, ihm durch lautstarkes Händeklatschen etwas entgegenzusetzen. Sie fühlte es einfach nicht, und obwohl sie den Hauptdarsteller kannte, verspürte sie keine Veranlassung, sich zu überwinden. Sie wunderte sich darüber, aber vermutlich war der Hauptdarsteller der springende Punkt. Sie kannte den Mann, der da auf der Bühne stand und sich gerade verbeugte, gut. Ziemlich gut sogar, aber in einer komplett anderen Rolle. Und genau die hatte er auf der Bühne immer wieder durchblitzen lassen. Möglicherweise bildete sie es sich auch nur ein oder hatte ihm während seiner Vorstellung keine Chance gegeben und nach Anzeichen geradezu gesucht, die seine Person, wie sie sie nur allzu häufig erlebte, ausmachten. Sie war sich da nicht sicher, hatte jedoch nicht die Muße, sich weiter damit zu beschäftigen. Es war, wie es war, und im Grunde gab ihr der maue Beifall recht.

Normalerweise taten Darsteller ihr leid, die nur mageren Applaus für ihre Darbietung erhielten, ganz gleich, ob diese wenig gelungen war. Obwohl sie selbst noch nie für irgendetwas auf der Bühne gestanden hatte, wusste sie, wie viel Zeit und Herzblut von den einzelnen Beteiligten in jede Vorstellung gesteckt wurden, und allein das war gewöhnlich für sie Grund genug, lauthals zu applaudieren. Vor allem, wenn es sich um eine Premiere wie heute handelte. Allerdings hatte der heutige Tag sie arg gebeutelt und sie saß in erster Linie aus reinem Pflichtgefühl hier. Dieses Pflichtgefühl war dem Hauptdarsteller geschuldet, der kein Geringerer als ihr oberster Vorgesetzter war: Kriminalrat Stephan Mausner. Abgesehen davon, dass Mausi, wie der Kriminalrat hinter seinem Rücken von allen in der Lüneburger Polizeidirektion genannt wurde, sie und ihre Kollegen vom Fachkommissariat 1 für den heutigen Abend mehr oder minder zur Anwesenheit verpflichtet hatte, hatte sie auch ein Quäntchen Neugier getrieben, ihn auf der Bühne zu sehen. Hinzu kam, dass Stephan Mausner in wenigen Tagen in Pension gehen würde und er bereits mit dieser Vorstellung und der anschließenden Premierenfeier seinen Abschied geben wollte. Eigentlich hatte er das Ruhestand-Regelalter für Polizisten längst erreicht, aber seine Pensionierung immer wieder herausgezögert. Zuletzt mit dem Argument des Personalmangels, doch nun konnte selbst Mausner nichts mehr ausrichten und musste sich in sein vom Staat festgesetztes Schicksal fügen. Ob seine Gegenwehr etwas mit dem Verleugnen des Älterwerdens oder seiner um etliche Jahre jüngeren zweiten Ehefrau Ann-Christin oder beidem zu tun hatte, konnte Katharina nicht sagen. Sie hatte sich jedoch in den letzten Jahren immer wieder darüber gewundert, dass der Kriminalrat an seinem Posten so festgehalten hatte. Immerhin war er dafür bekannt, dass er sich lieber auf dem Golfplatz herumtrieb, als auf seinem Schreibtischstuhl zu sitzen. Wobei das inzwischen nicht mehr ganz stimmte. Seit etwa einem Jahr, seit er auf Drängen seiner Frau bei einer Laiengruppe mitmachte, hatte er das Schauspielern für sich entdeckt und kam nach eigenem Bekunden kaum mehr auf den Golfplatz. Inzwischen verkündete er sogar bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er das Theater als neue Herausforderung für sich entdeckt hätte und froh sei, sich bald als Pensionär ganz dieser neuen Leidenschaft hingeben zu können. In der Polizeidirektion wurde sogar bereits gemunkelt, dass Mausi sich in einer Casting-Agentur hatte aufnehmen lassen. Katharina konnte sich das gut von ihm vorstellen. Letztlich geht es mich aber nichts an, dachte die Oberkommissarin jetzt bei sich, hoffte jedoch, dass Mausners Posten in der Direktion gut besetzt werden würde. Es gab einige Kandidaten, doch wusste sie nicht, welcher es werden würde. Sie wusste nur, dass keiner von ihnen so locker sein würde wie der aktuelle Kriminalrat. Denn unabhängig davon, dass sie nicht gerade ein Fan von Stephan Mausners Persönlichkeit war, ließ er ihrem Team oft gewisse Freiheiten in ihren Ermittlungen und redete nur herein, wenn sie kurz davor waren, behördliche Grenzen erheblich zu überschreiten.

Der Applaus war inzwischen vollkommen abgeklungen. Selbst Ann-Christin Mausner, die neben Katharina saß, hatte ihre Hände in den Schoß gelegt und wartete anscheinend darauf, dass ihre Banknachbarn aufstanden, sodass sie es selbst auch tun konnte. An Katharinas anderer Seite saß Ben, ihr direkter Vorgesetzter im FK 1, der Onkel ihrer kleinen Tochter, ihr guter Freund und seit einiger Zeit sogar Wohnungsnachbar und Seelentröster. Letzteres, weil sein Zwillingsbruder und der Vater ihres Kindes eine unglaubliche Dummheit begangen hatte: Bene hatte sich hinreißen lassen und mit zwei anderen Typen zusammen Luxuswagen geklaut. Und nicht nur das – immerhin war er mit ihr, einer Polizistin, zusammen –, er hatte sich auch noch dabei erwischen lassen und war zu insgesamt zwei Jahren Haft verurteilt worden. Ein wenig davon hatte er bereits in der Untersuchungshaft abgesessen, und den Rest verbüßte er jetzt in der Justizanstalt Uelzen, hoffte jedoch, durch gute Führung vorher auf Bewährung herauszukommen.

Autodiebstahl erfüllte den Straftatbestand des besonders schweren Diebstahls. Im Gegensatz zum einfachen Diebstahl war die Bestrafung mit einer Geldstrafe ausgeschlossen, sodass Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und zehn Jahren verhängt wurden. Da hatte Bene mit seiner zweijährigen Haftstrafe noch relatives Glück.

Obwohl seine Festnahme bereits über ein Jahr her war, war Katharina noch immer hin- und hergerissen, ob sie ihm verzeihen konnte. Im Grunde ging es ihr dabei gar nicht um die Tat an sich. Sie hatte immer gewusst, dass in Bene, ganz im Gegensatz zu seinem Zwilling, eine erhebliche Portion krimineller Energie steckte. Es ging ihr um den Vertrauensbruch. Bene hatte ihr über die Jahre das Gefühl gegeben und oft genug versichert, dass er aus dem Alter heraus war, mit dem Feuer zu spielen, und sie auf seine Zuverlässigkeit zählen konnte. Und nachdem ihre Tochter Matilda geboren war, betonte er selbst immer wieder, dass ihm seine kleine Familie über alles ging. Darüber hinaus litten sie keine finanzielle Not. Natürlich mussten sie nach Matildas Geburt den Gürtel etwas enger schnallen, da sie nicht mehr über ihr doppeltes Einkommen verfügten – Bene hatte sich entschieden, zu Hause zu bleiben und sich um ihre Kleine zu kümmern, während Katharina weiterhin »Räuber und Gendarm« spielen konnte, wie er es in seiner jungenhaften Art gern ausdrückte. So hatten sie nur ihren Verdienst zur Verfügung, der nicht schlecht war und sie gut über die Runden brachte. Immerhin war sie Oberkommissarin. Er hatte es also nicht nötig gehabt, Geld zu beschaffen und dafür sogar ein Verbrechen zu begehen.

Als junger Mann war Bene schon einmal in Autodiebstähle im großen Stil verwickelt gewesen. Damals, sie hatte ihn zu dieser Zeit noch nicht gekannt, war er durch die Hilfe seines Bruders glimpflich davongekommen und konnte nicht verurteilt werden. Auch Kriminalrat Mausner hatte ihn durch seine enge Verbundenheit zu Ben in irgendeiner Weise schützen können, und dies war ein weiterer Beweggrund, weswegen sie hier auf den unbequemen Theaterstühlen saß. Katharina wusste nicht genau, inwieweit Stephan Mausner geholfen hatte, und sie wollte es auch nicht wissen. Darüber hinaus hielten sich in dieser Hinsicht bis heute alle Beteiligten recht bedeckt, wofür es sicherlich einen Grund gab, und Katharina war eine Person, die so etwas akzeptierte und nicht weiter nachbohrte. Zudem ahnte sie, dass es Bene in ein noch schlechteres Licht bei ihr rücken würde, als es eh schon der Fall war. Sie haderte sowieso mit ihrem Umgang mit ihm. Einerseits war er der Vater von Matilda, und gerade in der letzten Zeit waren sie überaus glücklich miteinander gewesen. Wenige Tage vor seiner Festnahme beschlossen sie sogar zu heiraten. Bene wollte dies nach wie vor, doch war sie es gewesen, die ihr Ja-Wort aufgrund seines Verhaltens zurückgezogen hatte. Auch damit haderte sie. War ihr Rückzug von Bene richtig? War er fair? Schließlich war er der Mensch, in den sie sich vor Jahren verliebt hatte und den sie tief in ihrem Inneren noch liebte. Und sie wusste von Anfang an, dass er ein Grenzgänger war, jemand, der sich vorsätzlich gewissen Wagnissen stellte und dem die gesellschaftliche Sicherheitszone als alltäglicher Lebensbereich schnell langweilig wurde. Auch sie selbst war in gewisser Hinsicht eine Grenzgängerin, das zeigte ihre Berufswahl, und aus dieser Gemeinsamkeit heraus passten sie eigentlich gut zueinander. Allerdings stand sie auf der Seite der Guten und Bene durch sein Vergehen auf der anderen. Und alles nur für diesen Kick und ein bisschen Taschengeld. Wobei, das stimmte nicht ganz. Es war nicht nur ein bisschen, was er für seine Coups in Aussicht gestellt bekommen hatte. Das hatte er ihr gerade heute gestanden, als sie ihn in der JVA besucht hatte.

»Stehst du auf?«, riss Bens ruhige Stimme Katharina aus ihren Gedanken. Sie hatte nicht bemerkt, dass Ann-Christin Mausner sich zwischenzeitlich auf ihrer anderen Seite erhoben hatte und bereits durch die Sitzreihe auf den Gang zusteuerte. Katharina nickte und unterdrückte ein Gähnen, während sie sich aufrappelte und es der Frau des Hauptdarstellers, der bereits ebenfalls die Bühne mitsamt seinen Kollegen verlassen hatte, nachtat. Hinter sich spürte sie Ben, der ihr dicht folgte. Es tat gut, jemanden hinter sich zu wissen, der einem den Rücken freihielt, wenn man es gerade dringend benötigte.

22.04 Uhr

Er saß an seinem Frisiertisch und schminkte sich. Schon eine lange Weile verbrachte er seine Zeit hier, da er nicht zufrieden mit dem war, was er im Spiegel sah. Immer wieder wischte er sich die Schminke vom Gesicht und begann erneut mit ihrem Auflegen. Dezent musste sein Make-up sein. Im Grunde kaum erkennbar und dennoch sollte es Unschönes kaschieren und Markantes betonen. Darüber hinaus sollte es sich von seinem Tages-Make-up unterscheiden. Das hätte er in 15 Minuten aufgelegt, doch heute Abend wollte er zusätzliche Highlights setzen, ohne dass seine Betrachter wussten, was es war, das ihm eine besondere Ausstrahlung verlieh. Verdammt! Jetzt hatte er seine Brauen schon wieder zu stark nachgezogen! Natürlich hatte er sie sowieso gefärbt – passend zu seinen Haaren, die er regelmäßig tönte – dennoch wiesen seine Brauen durch das langjährige Zupfen inzwischen kleine Löcher auf, die seine Haut durchblitzen ließen, weshalb er sie mit einem Brauenstift auffüllte. Wütend warf er den Stift auf den Frisiertisch. So langsam lief ihm die Zeit davon. Er wollte natürlich nicht der Erste sein, aber auch nicht der Letzte. Er mochte es, Party-Neuankömmlinge zu beobachten. Dabei guckte er sich schon den einen oder anderen aus.

Ein weiteres Mal wischte er sich mit einem Kosmetiktuch, das er anschließend wie schon die davor einfach auf den Fußboden fallen ließ, die Schminke vom Gesicht. Dann seufzte er genervt von sich selbst auf und begann resigniert, nun doch sein Tages-Make-up aufzulegen. Sein Äußeres war ihm wichtig. Noch hatte seine wirkliche Schönheit, seinen Kern, keiner so recht erkannt. Die Leute waren noch nicht so weit. Deshalb musste er nachhelfen.

Als er fertig und sogar einigermaßen zufrieden mit sich war, holte er seine Tasche, in der sich die notwendigen Utensilien für Abende wie diesen befanden. Nur eines fehlte noch. Er öffnete eine kleine Box, in der er die vorpräparierten Spritzen lagerte. Auf einer von ihnen hatte er mit rotem Edding ein Kreuz gezeichnet. Er griente in sich hinein, während er diese und ein paar weitere griff, vorsichtig in die Tasche legte und kurz darauf seine Wohnung verließ.

23.01 Uhr

Verstohlen blickte Ben auf seine Armbanduhr. Er hatte sie noch nicht lange. Eigentlich war es eine Pulsuhr, die er sich zugelegt hatte, nachdem er sich entschlossen hatte, besser auf sich zu achten, wozu auch regelmäßiges Sporttreiben gehörte. Inzwischen konnte er sich seinen Personal-Trainer, wie er das Gerät an seinem Handgelenk für sich nannte, kaum mehr aus seinem Leben wegdenken. Es zeichnete nicht nur sein inzwischen tägliches Work-out und gewisse Reaktionen seines Körpers darauf auf, sondern motivierte ihn ebenso, mehr Bewegung in seinen Alltag zu bringen. Gleichzeitig half es ihm dabei, sein Schlafverhalten zu verfolgen und seine Herzfrequenz im Auge zu behalten – und allein das gab ihm ein gutes Allgemeingefühl. Schon vor zwei Jahren hatte er angefangen, besser auf seinen Körper zu achten. Allerdings war es ihm dabei wie Rauchern gegangen, die ständig aufhören wollten, es ein paar Tage oder manchmal sogar Wochen schafften und dann doch wieder zur Zigarette griffen. Zunächst versuchte er es mit Intervallfasten. Im Grunde hatte das auch ganz gut geklappt, doch kaum waren ein paar Kilo runter, belohnte er sich mit einem leckeren Döner, einem Eisschlemmerbecher oder Kuchen vom Bäcker. Natürlich zwischendurch. Ohne auf seine Intervallmahlzeit zu warten. Nach einer Weile hatte er nicht nur die verlorenen Kilo wieder drauf, sondern sogar ein paar mehr und die Lust an dieser Diät, dem anhaltenden Trend der Ernährungsmedizin, wieder verloren. Er war in dieser Hinsicht einfach zu undiszipliniert. Das war nichts für ihn. Zumindest nicht die 16:8 Methode, auf die so viele schworen – 16 Stunden nichts essen und in den acht Stunden danach nur zwei Mahlzeiten zu sich nehmen? Dafür war er nicht geschaffen, selbst wenn er einen Teil der 16 Stunden schlief. Die anderen Intervallfastenmethoden probierte er gar nicht erst aus, sondern wandte sich direkt dem intensiven Sportmachen zu. Bevor Katharina mit Matilda schwanger geworden war, waren sie beide einigermaßen regelmäßig zusammen gejoggt. Als Katharina dann wieder joggen konnte und auch die Zeit dafür fand, nahmen sie das gemeinsame Laufen nicht wieder auf. Das lag vor allem an Ben. Zunächst, weil er privat zwischen sich und Katharina einen gewissen Abstand bringen wollte, da er durch die Geburt von Matilda endgültig einsehen musste, dass er mehr für die Freundin seines Bruders empfand, als er es als ihr Chef, Schwager in spe und frischgebackener Patenonkel ihrer Tochter tun sollte. Dann hatte er sich, auch aufgrund seiner Gefühle für Katharina, wie er sich inzwischen eingestand, wieder auf seine Ex-Frau Simone eingelassen und vollkommen auf die Beziehung mit ihr konzentriert. Er verkaufte sogar auf Simones Wunsch hin sein Reihenhaus in Ochtmissen, um mit ihr frisch und frei von allen Altlasten komplett neu durchzustarten. Es war ein Fehlstart gewesen, denn nur einen Tag, nachdem er sein Haus verkauft hatte, trennten er und Simone sich wieder und er saß auf der Straße. Seitdem joggte er nicht nur wieder regelmäßig mit Katharina, sondern wohnte auch bei ihr. Zwar nicht in ihrer Wohnung, sondern der gegenüberliegenden, dennoch kam es ihm so vor. Gerade vor ein paar Tagen hatte er gedacht, dass er eigentlich nur zum Schlafen in seine eigene Wohnung hinüberging. Das Schönste und zugleich Problematischste war die Tatsache, dass er durch diese Situation seit Langem mal wieder so richtig glücklich war und er dieses Leben um keinen Preis würde eintauschen wollen.

Als hätte Katharina seine Gedanken gehört, raunte sie ihm zu: »Sollen wir? Ich bin müde. Aber falls du noch bleiben möchtest, kann ich auch allein …«

»Nein, nein«, unterbrach er sie schnell. Auch er sprach leise. Wie schon bei der Theateraufführung saßen sie nebeneinander. Sie waren im Mama Luu, in das Stephan Mausner geladen hatte. Der Kriminalrat hatte das ganze thailändische Restaurant gemietet, sodass er mit seinen Gästen unter sich war. Darüber hinaus hatte er mit der Besitzerin und Namensgeberin Mama Luu ausgemacht, über die Öffnungszeit heraus feiern zu dürfen. Normalerweise schloss das Restaurant in der Helmholtzstraße um 22 Uhr, Stephan hatte jedoch zwei weitere Stunden bis 24 Uhr herausgeschlagen. So beschlich Ben nun ein schlechtes Gewissen, denn er befürchtete, dass andere Gäste sich ebenfalls verabschieden würden, wenn Katharina und er bereits eine Stunde früher den Anfang machten. Darum ruderte er gegenüber Katharina zurück: »Vielleicht wäre es unfair Stephan gegenüber, jetzt schon aufzubrechen. Würde es dir sonst etwas ausmachen, allein nach Hause zu fahren? Ich gehe dann später zu Fuß und lass mir den Kopf durchpusten.«

»Das ist doch blöd. Du gehst von hier bestimmt eine halbe Stunde«, gab Katharina zu bedenken.

»Ja, aber extra ein Taxi rufen will ich auch nicht. Und es kann mich keiner rumfahren. Bis auf dich haben alle etwas getrunken oder sind mit dem Rad. Und auf Tobis Gepäckträger will ich sicher nicht. Ich laufe, das ist gar kein Problem.«

»Ach was, ich kann noch aushalten. Auf die eine Stunde kommt es nicht mehr an. Wir gehen zusammen und morgen früh kann ich etwas länger schlafen. Das ist das Gute, wenn meine Mutter auf Matilda aufpasst und bei uns übernachtet. Dann lässt sie es sich nicht nehmen, sich morgens mit Tildchen zu beschäftigen«, sagte Katharina.

»Wie du möchtest«, gab Ben zurück und freute sich innerlich – er mochte es, mit Katharina nach Hause zu kommen. Und obwohl er wie immer allein in seine eigene Wohnung gehen würde, fühlte er sich dann nicht einsam.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich denken, ihr beiden seid ein altes Ehepaar, so, wie ihr immer zusammen rumgluckt«, rief Tobi in diesem Moment über den Tisch und prostete Katharina und Ben zu. Ben fühlte sich ertappt, denn Tobi hatte unwissentlich das ausgesprochen, was Ben ebenso fühlte. Dass es jedoch so offensichtlich war, hatte er nicht gedacht. Und es war auch nicht gut. Immerhin arbeiteten sie alle zusammen. Tobias Schneider war in ihrem Team für den Innendienst zuständig. Er war ein überaus lieber Kerl, aber als sein Vorgesetzter wollte er definitiv keinen Klatsch und Tratsch über sich haben. Wer wollte das schon? Ben nahm sich vor, ab jetzt in Gegenwart anderer ein bisschen zurückhaltender gegenüber Katharina zu sein, und prostete Tobi nun ebenfalls zu. Katharina tat es ihm mit ihrem Mineralwasser gleich, woraufhin auch alle anderen in der geselligen Runde ihr Glas erhoben, tranken und sich wieder ihren jeweiligen Gesprächspartnern zuwandten. Nur Ben sagte nichts mehr zu Katharina und suchte ganz bewusst das Gespräch mit Doktor Frauke Bostel, der Rechtsmedizinerin, die auf seiner anderen Seite saß. Sie plauderten ein wenig über das Theaterstück, und Frauke erklärte ihm schmunzelnd, dass sie es sich nie und nimmer hätte entgehen lassen, Stephan Mausner auf der Bühne zu sehen.

»Ich wäre auch hingegangen, wenn Mausner mich nicht in Abständen von wenigen Tagen mindestens fünfmal angerufen und eingeladen hätte. Ich glaube, so oft hat er mich in seiner ganzen Dienstzeit nicht kontaktiert«, lachte Frauke auf, doch ihr Kommentar klang nicht so belustigt, wie es sonst ihre Art war. Da sie nebeneinander saßen, sahen sie sich bei ihrer Unterhaltung nicht direkt an. Deswegen folgte Ben jetzt dem Blick der Rechtsmedizinerin, die in Lüneburg am Klinikum die Pathologie leitete und in diesem Bereich die rechtsmedizinische Außenstelle der für den Kreis Lüneburg zuständigen Rechtsmedizin Hamburg. Doktor Frauke Bostel stierte fast schon zu seiner Kollegin Vivien Rimkus, die im Zwiegespräch mit Phil vertieft war. Sie hieß mit vollem Namen Doktor Philippa Hensel-Gruber und war freiberufliche Entomologin, die sie alle bei ihrem letzten großen Fall im vergangenen Jahr kennen und schätzen gelernt hatten, als diese sein Team mit ihren Insektenforscher-Kenntnissen unterstützte und sogar den entscheidenden Hinweis zur Aufklärung lieferte. Ben beobachtete jetzt, wie sich Vivien und Philippa verschworen zunickten, nach ihren Taschen griffen, ihre Stühle abrückten und dann nahezu gleichzeitig aufstanden.

»Gehen die jetzt etwa gemeinsam auf Toilette«, entfuhr es daraufhin Frauke Bostel, was wenig amüsiert, sondern im Gegenteil genervt klang. Frauke hatte sich getäuscht. Nachdem die beiden Frauen aufgestanden waren, streiften sie ihre dem guten Wetter nach ausgewählten, leichten Jacken über, gingen zu Stephan Mausner und verabschiedeten sich von diesem. Danach riefen sie fröhlich in die Runde: »Habt noch viel Spaß zusammen, wir müssen los« und steuerten dem Ausgang entgegen. Auf ihrem Weg dorthin blieben sie bei Katharina, Ben und Frauke stehen.

»Wie gesagt, wir müssen los. Es findet noch eine andere Party statt, auf der ich mich blicken lassen möchte. Wenn ihr Lust habt, kommt doch nach. Wir sind im Irish Pub am Stint«, sagte Vivien gut aufgelegt.

»Lass mal, ich will nicht stören«, erwiderte Frauke prompt, stand ihrerseits auf und verließ wortlos den Tisch, um in Richtung Toilette zu marschieren. Vivien und Philippa sahen sich perplex an, dann zuckte die Entomologin angelegentlich mit den Schultern, und auf Viviens Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.

»Wer nicht will, hat selber Schuld«, kommentierte sie Fraukes Abgang so laut, dass auch die Rechtsmedizinerin es sicher hören konnte. Dann wandte sie sich an Ben und Katharina: »Was ist mit euch? Tobi habe ich vorhin gefragt. Er möchte direkt nach Hause zu Frau und Kind, wie er meinte.«

»Ich geh auch nach Hause«, antwortete Katharina und setzte hinzu: »Ich bin platt. Der Tag war anstrengend.«

»Und ich schließe mich Katharina an«, sagte Ben, der nicht nur von Viviens Spruch, sondern vor allem von Fraukes Verhalten überrascht war. So kannte er die Medizinerin nicht. Sie hatte zwar eine spitze Zunge, jedoch setzte sie diese stets mit einer Prise Humor ein. Passte es ihr nicht, dass die beiden jungen Frauen sich so gut verstanden?

War Frauke auf die Freundschaft zwischen Philippa und Vivien eifersüchtig? Im Grunde konnte er sich das nicht vorstellen, da die Rechtsmedizinerin noch nie solch eine Regung gezeigt hatte. Andererseits: Was wusste er schon? Vor allem von Frauen und ihren innersten Gefühlen? Definitiv würde er es schade finden, wenn es deswegen Zwistigkeiten im erweiterten Team gab. Bei Gelegenheit müsste er einmal mit Katharina sprechen, wie sie die Situation empfand. Mist, da war er wieder. Dieser Gedanke, alles mit Katharina besprechen zu wollen. Klar könnte er es darauf schieben, dass sie seine engste und nach ihm in der Rangfolge höchste Mitarbeiterin war. Doch dann würde er sich selbst belügen. Ständig dachte er »Ach, das muss ich Katharina erzählen« oder »Was würde wohl Katharina dazu sagen?« und auch Entscheidungen, die nur ihn betrafen, besprach er stets mit ihr. Und das hatte so rein gar nichts damit zu tun, dass Ben mit Katharina zusammenarbeitete. Er fühlte sich einfach mit ihr verbunden und teilte auf diese Art sein Leben mit ihr. Früher war das Alex gewesen, sein bester Freund aus Kindertagen. Gerade neulich, als sie sich nach einer längeren Pause, die dem Alltag geschuldet gewesen war, getroffen hatten, hatte Alex gemeint: »Irgendwie vermisse ich unsere frühere Vertrautheit. Vielleicht täusche ich mich, aber ich habe das Gefühl, du hast dich von mir distanziert, Ben. Korrigiere mich, wenn ich falschliege, und falls es doch so ist, sag mir bitte, ob ich irgendetwas getan habe. Ich möchte wirklich nicht, dass etwas zwischen uns steht. Ja, ich weiß, ich habe weniger Zeit für unsere Freundschaft, da ich jetzt mit Julie zusammen bin und wir unseren kleinen Sonnenschein Michel haben, der uns zu einer richtigen Familie macht. Liegt es daran?«