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Titelangaben
Samstag - Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Sonntag - Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Montag - Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Dienstag - Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Siebenunddreißigstes Kapitel
Achtunddreißigstes Kapitel
Neununddreißigstes Kapitel
Mittwoch - Vierzigstes Kapitel
Einundvierzigstes Kapitel
Zweiundvierzigstes Kapitel
Dreiundvierzigstes Kapitel
Vierundvierzigstes Kapitel
Fünfundvierzigstes Kapitel
Sechsundvierzigstes Kapitel
Siebenundvierzigstes Kapitel
Achtundvierzigstes Kapitel
Neunundvierzigstes Kapitel
Fünfzigstes Kapitel
Einundfünfzigstes Kapitel
Zweiundfünfzigstes Kapitel
Dreiundfünfzigstes Kapitel
Vierundfünfzigstes Kapitel
Fünfundfünzigstes Kapitel
Sechsundfünfzigstes Kapitel
Siebenundfünfzigstes Kapitel
Achtundfünfzigstes Kapitel
Donnerstag - Neunundfünzigstes Kapitel
Sechzigstes Kapitel
Einundsechzigstes Kapitel
Zweiundsechzigstes Kapitel
Dreiundsechzigstes Kapitel
Vierundsechzigstes Kapitel
Fünfundsechzigstes Kapitel
Sechsundsechzigstes Kapitel
Siebenundsechzigstes Kapitel
Achtundsechzigstes Kapitel
Neunundsechzigstes Kapitel
Siebzigstes Kapitel
Info
Johannes Wilkes
Heirate nie auf Spiekeroog
Spiekeroog-Krimi
Prolibris Verlag
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2021
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelbild: © ReneAsmussen, Pexels
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-231-7
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-221-8
www.prolibris-verlag.de
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Fantasie des Autors.
Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Spiekeroog.
Der Autor
Johannes Wilkes, in Dortmund geboren, als der Pott noch rauchte, entwickelte
erste Mordfantasien beim Sezieren einer formalingetränkten Leiche während seines Medizinstudiums in München. Er ist Autor zahlreicher unblutiger Bücher und leidenschaftlicher Strandgänger auf Spiekeroog. Hier spielte sein erster Kriminalroman: »Der Tod der Meerjung frau«. Das erfolgreiche Ermittlerpärchen Karl-Dieter und Mütze geraten in dem vorliegenden Buch in ihren fünften Mordfall auf Spiekeroog.
Samstag
Erstes Kapitel
Ein letztes Mal zu zweit! Mit stolzgeschwellter Brust stand Karl-Dieter auf dem
Oberdeck, während die Spiekeroog II munter hinaus aufs offene Meer stampfte. Im Hafen von Neuharlingersiel hatte es
einen frechen Regenguss gegeben, nun aber spiegelte sich in den Pfützen der Himmel bereits wieder im schönsten Nordseeblau, und in der Ferne, dicht unter dem Horizont, sah Karl-Dieter
seine Lieblingsinsel heranschwimmen. Tief sog der werdende Vater die frische
Salzluft ein. Das letzte Mal zu zweit!
Aus dem Schiffsbauch kletterte Mütze ins Freie, in der einen Hand die obligatorische Bockwurst im dreieckigen
Labbertoast, in der anderen sein Begrüßungsjever.
»Auch einen Schluck, Knuffi?«
»Mensch, Mütze …«
»Ich weiß schon«, lachte Mütze und klopfte auf Karl-Dieters Bauch, »wir sind im dritten Monat, nicht wahr?«
Karl-Dieter grinste etwas gezwungen. Sollte Mütze nur seine Witze machen. Auch wenn Klein-Lasse nicht in seinem Körper heranwuchs, so verhielt sich Karl-Dieter um kein Sandkörnchen weniger verantwortlich als jede Frau. Viel Lob hatte er dafür von den werdenden Müttern seines Schwangerschaftskurses bekommen, während die angehenden Väter wohl nur still über ihn lächelten. Sollten sie nur! Bei Verzicht auf Alkohol ging es ihm doch nicht allein
um Ernährungshygiene, sondern vor allem um die innere Einstellung. Als Vater übernahm man künftig ganz andere Aufgaben, da hieß es, achtsam zu sein, vorbereitet. Das Wort achtsam durfte Karl-Dieter in Mützes Gegenwart allerdings nur in inneren Monologen verwenden, es gehörte zu den partnerschaftlichen Tabuwörtern, genau wie Corona, alkoholfreies Bier oder pH-neutrale Seife.
Während Mütze, der knallharte Kommissar, einen tiefen Schluck aus der Pulle nahm und
Spiekeroog ins Auge fasste, schickte Karl-Dieter seinen Blick zwischen Langeoog
und Spiekeroog hindurch auf die offene See. In seinen Augen lagen etwas Träumerischeres und eine große Sehnsucht. Die Nordseewellen, kamen sie nicht über den Atlantik daher? Am anderen Ende des Atlantiks aber, in South Carolina,
lag ein kleiner Strand, Myrthe Beach hieß er, und in Myrthe Beach lebte Maggie und trug ihr Kind in ihrem Leib. Und wenn
alles gut lief, würden sie es in sechs Monaten schon in ihre Arme schließen können, ihren Lasse! Karl-Dieter lehnte sich über die Reling. Die Wellen, die auf ihn zuliefen, waren sie nicht schon stille
Grüße aus der Zukunft?
Zweites Kapitel
Zu den Höhepunkten eines Spiekeroog-Urlaubs gehörte unbedingt eine Gruselwanderung mit der Literaturfreundin Katharina Jerke.
Wenn die Sonne blutrot ins Meer tropfte und die Dunkelheit vom Festland herüberwaberte, wenn die Sterne angeknipst wurden, einer nach dem anderen, bis sich
das unglaublichste Lichtermeer über die Insel ergoss, dann zog die belesene Inselspezialistin mit einer Gruppe
Interessierter durch einsame Dünenwege, um von Dingen zu erzählen, die die Sphäre des Übersinnlichen streiften. Dann rieselte den Zuhörern ein kalter Schauer den Rücken hinunter, was mancher jedoch freudig begrüßte, hatte die hyperaktive Strandsonne doch das ein oder andere Bleichgesicht über Gebühr erhitzt, so auch an diesem Tag.
Zu den Familien und Pärchen hatten sich drei Damen gesellt, die aufgrund ihres Alters etwas
hinterherhinkten. Man hatte die versandeten Dünenwege hinter sich gelassen und schritt zum Weststrand hinab, wo die älteren Damen wieder Anschluss fanden. Begleitet vom silbernen Plätschern der Wellen begann Katharina Jerke vom Phänomen des Meeresleuchtens zu erzählen, jenem eigenartig grünlich schimmernden Licht, das in manch mondloser Nacht aus der Tiefe der See
aufzusteigen schien. Doch die gespannte Aufmerksamkeit, mit der alles ihr zuhörte, wurde sofort wieder gestört. Wer tuschelte denn da so ungeniert? Ungehalten unterbrach die Literaturführerin ihren Vortrag und mit ihr drehte sich die ganze Gruppe zu den drei Alten
um. Die jedoch deuteten mit ihren gichtgekrümmten Fingern auf eine Stelle nahe dem Wellensaum und wisperten: »Gehört das zur Führung mit dazu?«
Die Augen weiteten sich und ein junges Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus. Ein Geist! Ein Wassergeist mit ausgebreiteten Armen!
Im hellen Kleid tanzte er auf den Wellen, ohne Kopf, Hände und Füße. Durch und durch Profi, reagierte die Gästeführerin geistesgegenwärtig, indem sie die Eltern bat, sich mit den Kindern doch bitte zu den nahen
Strandkörben zu begeben, sie käme gleich hinterher. Dann trat sie näher ans Meer heran. Was sie da sah, ließ ihren Atem stocken: Dieses Gespenst war kein Gespenst!
Drittes Kapitel
Ahsen war im Dienst, natürlich, Ahsen war immer im Dienst. So war das eben, wenn man Polizist auf
Spiekeroog war. Dienstzeiten waren ein Privileg der Festlandskollegen. Als
Inselpolizist konnte man sich den Luxus eines Feierabends nicht leisten, wer
sollte einen denn auch vertreten? »Allzeit bereit!«, war Ahsens Motto, und so war er auch jetzt, kaum gerufen, schnell wie ein
Strandläufer zur Stelle, so schnell zumindest, wie es sein Dienstrad zuließ. Diskret und um die Nachtruhe der Touristen besorgt, hatte er darauf
verzichtet, die am Lenker verschraubte Kombination aus Blaulicht und
Martinshorn anzuwerfen, was aufgrund der übersichtlichen Verkehrslage auf Spiekeroog allerdings auch nicht wirklich notwendig gewesen wäre. Zudem hatte eine freche Möwe respektlos auf das Blaulicht geschissen, wodurch das schweifende Licht unschön ins Grünliche changiert hätte, was nicht jeder Inselgast mitkriegen musste. Sein Rad hatte er dort
abgestellt, wo der Dünenweg endete, den Rest musste er zu Fuß gehen.
»Kein Zweifel, ein Brautkleid«, stellte Ahsen fachmännisch fest, während er das von Katharina Jerke mithilfe eines walknochenähnlichem Holzstücks an Land gezogene Kleidungsstück musterte.
Ahsen beugte sich nieder. Zwar hatte er selbst nie geheiratet, sich jedoch im
Laufe seines nunmehr zwanzigjährigen Inselpolizistendaseins eine hübsche Allgemeinbildung angeeignet, die auch alle Formen der Eheschließung einschloss. Mit Brautkleidern jedenfalls kannte er sich aus, kaum ein
Wochenende verging, an dem die Fähren nicht zwei, drei Bräute ausspucken würden. Zur Schließung des Ehebunds nach Spiekeroog zu schippern, war schwer in Mode gekommen, ein
Phänomen, über dessen Grund sich die Insulaner stritten. Die Romantiker unter ihnen sagten,
es liege daran, dass die Insel so idyllisch sei. Realisten mit Sinn für finanzielles Knausertum hingegen behaupteten, Spiekeroog sei als Ort für das Ja-Wort so beliebt, weil durch diese Wahl die Hochzeitsgesellschaft hübsch übersichtlich ausfalle. Zudem seien im Inseldorf aus Ruhegründen keine abendlichen Tanzveranstaltungen erlaubt, so dass die Nicht-Tänzer unter den Bräutigamen (eine nicht zu unterschätzende Spezies) gerne Spiekeroog favorisierten.
Bräute gab es auf Spiekeroog also häufig, auf dem Wasser treibende Brautkleider allerdings nur selten. Genauer
gesagt, Ahsen erinnerte sich an kein einziges, weshalb sich eine kleine
Sorgenfalte auf seiner Stirn zu bilden begann, als er das Fundstück inspizierte. Was war hier zu tun? Was sollte er mit diesem speziellen
Strandgut anstellen? Mussten weitere Ermittlungen folgen? Strenggenommen lag ja kein Delikt vor, wenn man von einer Umweltsünde absah. Das nächtliche Ins-Wasser-Werfen von Brautkleidern stellte an und für sich kein Vergehen oder gar Verbrechen dar, das Kleid könnte aber, das war nicht völlig abzustreiten, auf ein Verbrechen hindeuten. Langsam massierte sich der
Inselpolizist die Schläfen, was ihm oft hilfreich war, um seine Gedankengänge zu beschleunigen.
»Die Frage, die sich stellt«, sagte er in bedächtigem Ton und mehr zu sich als zu der Literaturführerin, »wenn das hier ein Brautkleid ist, wo ist dann die Braut?«
Sonntag
Viertes Kapitel
Ahsen kam aus der Linde gelaufen und wollte sich gerade sein Dienstrad schnappen, das an dem
geschwungenen Holzzaun lehnte, als ihm jemand fröhlich hinterherrief: »Moin, Herr Kollege!«
Mütze amüsierte sich, wie Ahsen verwirrt seinen Kopf rotieren ließ, bis er ihn endlich entdeckte. Da ging ein Strahlen über das wettergegerbte Gesicht des Inselpolizisten.
»Mensch, das gibt’s doch nicht! Moin, Mütze! – Und Karl-Dieter! Moin, die Herren!«
Mütze hatte sich durchgesetzt. Während Karl-Dieter ein Fan von Ferienwohnungen war, weil er gerne den Kochlöffel schwang und Spaß daran hatte, sich häuslich einzurichten, liebte es Mütze, sich in der Linde verwöhnen zu lassen, dem altehrwürdigen Inselhotel. Der Morgen war freundlich, sie konnten im Freien frühstücken, und wo war es schöner als auf der Veranda unter dem ehrwürdigen Baummethusalem, der sich seit über 150 Jahren erfolgreich gegen die Stürme wehrte?
»Schau, Ahsen«, rief Mütze und deutete mit verschmitztem Lächeln zu seinem Teller hinüber, »rate, was das ist!«
Ahsen beugte sich vor und betrachte Mützes Frühstückskreation, wobei er seine Stirnfalte zu einem Fragezeichen verbog.
»Das musst du doch kennen«, lachte Mütze, »das ist eure Insel, das ist Spiekeroog.«
Tatsächlich! Mütze hatte die Insel am Büfett nachgebaut. Das Meer, das war der Heringssalat, eine langgezogene Welle am
nördlichen Tellerrand. Dann schloss sich der Strand an, geformt aus einige
Scheiben hellem Gouda, dann die Dünen, gepellte Eier, halbiert, mit der Spitze nach oben. Das Inseldorf hatte Mütze liebevoll aus Mettklecksen mit dazwischen gestreutem Schnittlauch
nachgebaut, das Watt schließlich bildeten platte Lachsscheiben.
»Na dann, wohl bekomm’s«, grinste Ahsen.
»Magst du dich nicht zu uns setzen?«
»Ne, ne«, sagte Ahsen und setzte eine wichtige Miene auf, »ich bin im Dienst!«
Mit diesen Worten schwang er sich auf sein Fahrrad.
»Was denn, was denn?«, rief ihm Mütze hinterher. »Hat wieder jemand einen Bollerwagen geklaut?«
Fünftes Kapitel
Moni, die muntere Kellnerin, aber wusste mehr.
»Die Braut ist weg«, flüsterte sie leise, während sie das Rührei mit dem gebratenen Speck servierte.
»Die Braut? Welche Braut?«
Moni deutete unauffällig zu der Verandatür, aus der gerade ein beleibter Herr mit karierten Shorts und seltsam grünlichem Gesicht trat, um sich mit seinem riskant beladenen Teller zum Frühstück niederzulassen. »Das ist der Bräutigam, eben von Ahsen vernommen, unter vier Augen, hinten im Strandkorb, im
Garten.«
»Er sieht, wie soll ich sagen, er sieht nicht ganz gesund aus.«
»Eine dumme Krankheit, seltene Sache.«
»Und was ist das für eine Ratte, die er in seinem Körbchen trägt?«
Moni musste lachen. »Das ist keine Ratte, das ist ein Chihuahua.«
»Ein was?«
»Ein Hündchen, Nosie, heißt der Kleine. Misst gerade mal zwanzig Zentimeter. Bei seiner Geburt soll er in
einen Teelöffel gepasst haben, musste mit der Pipette großgezogen werden. Süß, nicht wahr?«
Sechstes Kapitel
»Da stimmt doch was nicht«, sagte Karl-Dieter, während die Freunde den Pfad entlangslurten, der sich durch die Dünen Richtung Badestrand schlängelte. Während Mütze Shorts zu seinen Badelatschen trug, hatte Karl-Dieter lange weiße Hosen angezogen, weil er fand, ein Mann jenseits der fünfzig sollte seine Beine nicht mehr öffentlich zeigen.
»Was stimmt denn nicht, Knuffi?«
»Welche Frau würde am schönsten Tag ihres Lebens türmen? Man hat ihr was angetan, sollst sehen!«
»Ach, Knuffi! Die Wahrheit ist leider oft viel banaler als deine Bühnenbildnerfantasien. Denk an den Film Die Braut, die sichnicht traut. Manch Heiratskandidat bekommt im letzten Moment eben Muffensausen, nicht jeder
fiebert dem Ende seiner Freiheit entgegen, auch wenn du dir das nicht
vorstellen kannst.«
Karl-Dieter verstand die Andeutung und schwieg. Dass Lasse-Baby unehelich zur
Welt kommen würde, bereitete ihm in stillen Momenten manch leisen Kummer. Gerne zitierte Mütze, um ihn zu ärgern, Oscar Wilde: »Die Ehe ist eine gegenseitige Freiheitsberaubung in beiderseitigem Einvernehmen.« Konnte er Mütze, dem hartnäckigen Ehemuffel, deshalb aber ernsthaft böse sein? Nein! Selbst die schönste aller Hochzeitsfeiern, was war sie schließlich gegen den Gedanken, bald das eigene Baby im Arm wiegen zu dürfen? Außerdem, eine Heirat ließ sich jederzeit nachholen, vielleicht lag gerade darin ja ein besonderer Reiz.
Karl-Dieter lächelte versonnen, während er den Strohhut tiefer in die Stirn zog und einem entgegenkommenden
Bollerwagen auswich. Wie hübsch war doch die Vorstellung, die Hochzeitsblumen vom eigenen Kind streuen zu
lassen. Und ihr Lasse würde das hübscheste aller Blumenkinder werden. Aber auch bei der Hochzeit galt: Nur nichts überstürzen. Bei Mütze brauchte man zwei Dinge: Geduld wie eine Schildkröte und den Sinn für den richtigen Moment.
»Mag sein, dass ich mich täusche«, sagte Karl-Dieter, als der Utkieker vor ihnen auftauchte, jener Riese oben auf den Dünen, der die See mit nicht erlahmender Aufmerksamkeit inspizierte, nie zum Essen
kam und darum immer magerer wurde. »Mag sein, dass sich für alles eine harmlose Erklärung findet. Dennoch: Welcher Bräutigam verzehrt in aller Gemütsruhe sein Frühstück, wenn ihm die Braut davon ist? Und dann noch Eier mit Speck?«
Siebtes Kapitel
»Sie soll eine dunkle Schöne mit leichtem Silberblick sein, ein bisschen moppelig um die Hüften vielleicht, sonst aber absolut vorzeigbar, Angie heißt sie …«
»Ihren Bräutigam hat sie angeblich am Badestrand kennengelernt, hier auf Spiekeroog, Jahre
her, er soll sich zur Kur hier aufgehalten haben, man sagt, er sei nicht gesund
…«
»Nicht gesund? Sie sollen gestern noch zusammen Beachball gespielt haben, mit
ihren Freunden, die alle auf dem Zeltplatz wohnen …«
»Bis tief in die Hochzeitsnacht haben sie wild am Strand gefeiert, sagt Ilse, und
Ilse muss es wissen, denn die weiß es von Gerd …«
»Man hat zur späten Stunde noch ein kleines Boot beobachtet, dicht am Strand. Vielleicht ist die
Braut heimlich an Bord gegangen und dann ab übers Meer …«
Ist die Inselpost eine entschleunigte, die Gemütlichkeit streifende Institution – wer seine Lieben daheim mit Urlaubsgrüßen neidisch machen will und dazu eine traditionelle Postkarte versendet, sollte
diese spätestens am zweiten Urlaubstag in einen der von den Möwen weiß verzierten Briefkästen werfen, sonst ist man schneller zu Hause, als die Karte – so funktioniert die Flüsterpost auf Spiekeroog umso besser. Bald schon wusste jedermann von dem
angeschwemmten Brautkleid und über die verschwundene Braut geisterten in Windeseile die verrücktesten Gerüchte die Noorderloog entlang, den Broadway der Insel. Die vielleicht verwegenste
These behauptete, die Braut habe um Mitternacht ihr Hochzeitskleid mit einem
Taucheranzug vertauscht und sei nach Wangerooge geschwommen, um dem Wangerooger
Leuchtturmwärter in die Arme zu fallen, einem Kerl mit Augen wie George Clooney. So
unterschiedlich die Versionen aber auch ausfielen, in einem Punkt waren sich
alle einig: Die Reaktion von Nobby, dem Bräutigam fanden alle unter aller Kanone. Nach dem Frühstück sei er vor der Bunten Kuh gesichtet worden, wo er sich eine Maxieiswaffel bestellt habe. »Eine von den 5 Kugeln soll eine Honeymoon gewesen sein, ist das nicht unerhört?«
Ahsen konnte über solche Lästereien nur den Kopf schütteln. Dass der Bräutigam auf diese Weise reagiert hatte, war für ihn nur zu verständlich. »Klarer Fall von Schockreaktion, wenn du mich fragst«, sagte er zu Mütze, während sie ein erstes Bierchen im Sir Georg’s Pub kippten. »Nach Eis war ihm bestimmt gar nicht mal zumute, hast du gesehen, wie grün der Ärmste aussah? Ich habe noch nie einen Menschen mit solch ungesunder
Gesichtsfarbe gesehen.«
Es war Nachmittag geworden. Ahsen hatte Mütze natürlich alles erzählen müssen, klare Kiste, immerhin bildeten sie seit Jahren ein erfolgreiches
Ermittlungsteam, zumindest inoffiziell.
»Traumafolgereaktion, der Klassiker«, fuhr er fort, »weiß ich von meiner letzten Fortbildung. Verschwindet ein geliebter Mensch von der Bildfläche, macht so mancher Angehörige mechanisch weiter, so als sei nichts gewesen. Du hättest den Polizeipsychologen hören sollen! Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht. Eine Oma wollte nicht damit aufhören, ihre Herdplatten zu polieren, während man die Leiche ihres Ehemanns vom Haken an der Zimmerdecke holte.
Verstehst du? Er hängt an der Esstischleuchte und sie putzt unverdrossen die Küche!«
Mütze brummte. Warum musste er in diesem Moment an Karl-Dieter denken?
»Ich wollte dir eigentlich gleich alles erzählen«, fuhr Ahsen fort, »nur heute Morgen vor der Linde ging das natürlich nicht, die anderen Gäste, du verstehst.«
»Klar doch«, sagte Mütze.
Er hatte sich für ein Jever entschieden, obwohl das neue Inselbier nun Erdinger zu heißen schien, zumindest wenn man dem Abstimmungsergebnis der Sonnenschirmreklamen
glaubte. Dass Ahsen nach außen demonstrieren musste, wer auf der Insel das Auge des Gesetzes war, verstand
er nur zu gut. Mütze wischte sich den Schaum von den Lippen und kniff die Augen zusammen, die
sich seit einiger Zeit mit immer mehr Fältchen schmückten. »Statt eines Schocks gibt es noch eine andere Erklärung«, murmelte er.
»Und die wäre?«
»Eine tiefgehende Erleichterung darüber, seinem Schicksal als Ehemann in der letzten Sekunde noch entwischt zu sein.«
Die Wiederholung dieses Spruchs konnte sich Mütze nur deshalb leisten, weil Karl-Dieter nicht in der Nähe war. Karl-Dieter war zur Kogge unterwegs, dem Haus, in dem die Kurverwaltung untergebracht war, um sich für zwei Kurse anzumelden: »MuMaMe – mit Muschel-Mandalas meditieren und den Weg zum eigenen Ich entdecken« und »Sanddorn – selbstgepflückt und schmackhaft zubereitet«. Liebend gerne hätte Karl-Dieter zudem den Dünentangokurs gebucht, aber Mütze hatte schmerzhaft das Gesicht verzogen und eine Meniskusreizung
vorgeschoben.
Ahsen musste über Mützes Bemerkung grinsen. »Glaub ich nicht. Dieser Niggemeier, so heißt der Ärmste, wirkte trotz der zur Schau gestellten Fassade ziemlich durch den Wind, so
grün, wie er aussah.«
»Und der üppige Frühstücksteller? Die Mammuteiswaffel?«
»Mechanisches Weiterleben, wie gesagt. Und Unterzucker. Bei Schock nicht ungewöhnlich. Hat auch die Polizeipsychologin gesagt.«
»Wann hat Herr Grünlich seine Braut denn zuletzt gesehen?«
»Die ganze Festgesellschaft hat bis in die Puppen am Strand gefeiert, das
Brautpaar und ihre vier Freunde, man hat ziemlich gepichelt, wie das so üblich ist. Irgendwann sei es dann zum Streit gekommen, wegen ’ner Kleinigkeit. Darauf sei seine Angie wutentbrannt davon, den Strand entlang
Richtung Osten.«
»Selbstmord?«
»Kaum anzunehmen. Wer zieht sich seine Kleider aus, wenn er den feuchten Tod
sucht? Ne, ne, auch die Befragung der Hochzeitsgäste hat keinen Hinweis auf Suizid erbracht. Die haben nur gelacht. Angie? Eher würde Angie ganz Spiekeroog umbringen als sich selbst. Die Gute sei mit Sicherheit
auf und davon. Dafür gibt es zudem einen untrüglichen Beweis.«
»Und der wäre?«
Ahsen nahm in aller Seelenruhe einen tiefen Schluck. Er genoss es sichtlich,
seinen letzten Trumpf genüsslich auszuspielen. »Sie hat ihren Rucksack mitgenommen.«
»Ihren Rucksack?«
»Ja, ihren Rucksack. Die ganze Festgesellschaft hat die letzten Tage zusammen auf
dem Zeltplatz verbracht, inklusive Braut und Bräutigam. Nach der Hochzeitsfeier aber wollte das Brautpaar in die Linde umziehen. Deshalb hatten sie ihre Rucksäcke dabei und – o Wunder! – nun ist nicht nur die Braut verschwunden, sondern auch ihr Gepäck.«
»Tschüssikowsky!«, lachte Mütze, »bestimmt hat sie die erste Morgenfähre genommen.«
»Das war mein erster Gedanke, hat sie aber nicht und auch keine spätere.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Die Videoaufnahmen. Jeder Fährgast, der über den Steg läuft, wird gefilmt.«
»Donnerlüttchen!« Mütze pfiff durch die Zähne. Ahsen machte seine Arbeit wirklich professionell. »Aber wo wird die Hübsche hin sein? Man kann die Insel doch nicht unbemerkt verlassen.«
Ahsen griff nach seinem Bierglas und ließ die Guinnesssuppe kreisen. Dabei klappte er seine Oberlider wie ein alter
Chinese hinunter und lächelte wissend in sich hinein: »Och, da wüsste ich an die zehn Möglichkeiten.«
»Aber kennt sie die auch? Und was ist eigentlich mit ihrem Handy?«
»Tot.«
Achtes Kapitel
Kein Gesetz der Welt verbat einem erwachsenen Menschen, zu verschwinden. Wenn es
keinen Hinweis auf ein Gewaltverbrechen gab oder einen Suizid, schloss sich das
Auge des Gesetzes müde und wartete in Ruhe ab, bis die Person wieder auftauchte. So war das eben.
Selbst, wenn das Handy ausgeschaltet war.
»Aber das kann doch nicht sein«, regte sich Karl-Dieter auf, »ich meine, da ist sicher eine Katastrophe passiert, ich meine, eine menschliche.
Das kann man nicht einfach tatenlos hinnehmen.«
Die Freunde saßen an einem Tisch vor der Strandbar. Ein jugendlicher Blondschopf, auf dem Mützes Augen ruhten, für Karl-Dieters Geschmack eine Spur zu lange, servierte lächelnd die Getränke, eine Virgin-Colada für Karl-Dieter und ein Jever für Mütze. Dazu ließ der junge Mann mit gekonntem Schwung eine knusprige Focaccia auf den Tisch
segeln, mit einem Glas Oliven in der Mitte. Die Terrasse war der abendliche
Lieblingsplatz der Freunde. Zwar konnte man das Meer nicht sehen, weil es sich
hinter der letzten Dünenreihe verbarg, dennoch spürte man seine stete Gegenwart und dieses Gefühl war fast noch märchenhafter. Der Abend war mild, Möwen segelten in elegantem Flug über den Dünenkamm und der rote Sonnenball verquirlte die zarten Schleierwolken zu rosa
Spiralen.
Schleierwolken! Wieder musste Karl-Dieter an die Braut denken. Wegen eines lächerlichen Streits davonzulaufen, noch dazu in der Hochzeitsnacht, wie blöd musste man sein? Wenn er selbst wegen jeder Kleinigkeit den Koffer packen würde! War eine Partnerschaft nicht wie ein langer Strandspaziergang? Bald lief
man zusammen durch den feinsten Fußschmeichler, durch Sand wie warmen Puderzucker, bald über eine Fläche fest wie Asphalt, bald über vom ablaufenden Wasser gewellten Grund. Nicht immer aber war man vor Überraschungen gefeit. Plötzlich konnte es morastig werden und man holte sich nasse Füße, auch konnte es passieren, dass man in eine scharfe Muschel trat oder eine
glitschige Qualle. Immer aber, auch in den weniger angenehmen
Strandabschnitten, blieb man zusammen. Wegrennen, das konnte doch nicht die Lösung sein. Gemeinsam Fußstapfen zu hinterlassen, darauf kam es an, und wenn einer mal nicht
weiterwusste, musste der andere eben Rücksicht nehmen und mal ein Päusken einlegen oder den Freund, wenn es ihn weiter schmerzte, unter dem Arm
fassen und eine Weile stützen.
Welche Freundschaft, über die noch kein Schatten gezogen wäre? So wie damals, als der freche Praktikant sich an Mütze rangemacht hatte, beim Austausch der Ventilatorlampe im Dortmunder
Polizeirevier. Junge, Junge, drei Blumensträuße hatte Mütze das gekostet! Danach aber war alles wieder vergeben und vergessen. Wobei,
vergessen vielleicht nicht ganz. Wieder beschlich Karl-Dieter das Gefühl, Mütze würde in die Richtung schauen, in die der blonde Kellner verschwunden war. Ach
was, und wenn schon! Ein bisschen Eifersucht, gehörte sie nicht zum Leben wie das Salz zur Nordsee?