Herbstzaubernacht - Sandra Gernt - E-Book

Herbstzaubernacht E-Book

Sandra Gernt

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Wenn die Erfüllung unserer Hoffnungen und Sehnsüchte bedeutet, jegliche Menschlichkeit aufzugeben, wie könnten wir den großen Preis verdient haben?“ Als Tallyn in den Wald aufbricht, um die monatliche Opfergabe an die Fuchsgötter zu überbringen, beginnt für ihn ein Abenteuer jenseits seiner Vorstellungskraft. Denn die Fuchswandler sind keineswegs Götter … Und wenn Tallyn und Vulf nicht bis spätestens zur Tag-und-Nachtgleiche im Herbst den Fluch brechen, der über dieses Volk gelegt wurde, dann sind die Folgen für alle Bewohner des Este-Tals dramatisch. Dies ist der 4. Teil der Zaubernachtsreihe. Teil 1: Winterzaubernacht Teil 2: Frühlingszaubernacht Teil 3: Sommerzaubernacht Teil 4: Herbstzaubernacht Die Geschichten sind vollkommen unabhängig voneinander, es gibt keine wiederkehrenden Charaktere. Darum können sie einzeln gelesen werden. Ca. 54.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 270 Seiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



„Wenn die Erfüllung unserer Hoffnungen und Sehnsüchte bedeutet, jegliche Menschlichkeit aufzugeben, wie könnten wir den großen Preis verdient haben?“

 

Als Tallyn in den Wald aufbricht, um die monatliche Opfergabe an die Fuchsgötter zu überbringen, beginnt für ihn ein Abenteuer jenseits seiner Vorstellungskraft. Denn die Fuchswandler sind keineswegs Götter … Und wenn Tallyn und Vulf nicht bis spätestens zur Tag-und-Nachtgleiche im Herbst den Fluch brechen, der über dieses Volk gelegt wurde, dann sind die Folgen für alle Bewohner des Este-Tals dramatisch.

 

Dies ist der 4. Teil der Zaubernachtsreihe.

Teil 1: Winterzaubernacht

Teil 2: Frühlingszaubernacht

Teil 3: Sommerzaubernacht

Teil 4: Herbstzaubernacht

Die Geschichten sind vollkommen unabhängig voneinander, es gibt keine wiederkehrenden Charaktere. Darum können sie einzeln gelesen werden.

 

 

Ca. 54.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 270 Seiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

von

Sandra Gernt

 

Inhalt

 

Kapitel 1: Die Opferung

Kapitel 2: Erwachen

Kapitel 3: Erklärungen

Kapitel 4: Begegnungen

Kapitel 5: Die erste Nacht

Kapitel 6: Aufstieg

Kapitel 7: Wölflinge

Kapitel 8: Fluchsprecher

Kapitel 9: Urhula

Kapitel 10: Vertrauen

Kapitel 11: Fragen und Antworten

Kapitel 12: Von Luchsen und Menschen

Kapitel 13: Am Cuurtha-Stein

Kapitel 14: Herbstzaubernacht

Epilog

Ein Jahr …

 

 

 

 

Die Opferung

 

allyn folgte dem Weg, den schon tausende Füße vor ihm beschritten hatten.

Auch er selbst war bereits mehr als einmal in diesen Teil des Waldes aufgebrochen, um seinen Vater oder einen seiner Brüder zu begleiten, wenn es Zeit für die allmonatliche Opferung geworden war. Besonders im Winter war es überlebenswichtig, nicht allein in den Wald zu gehen. Zu leicht blieb man in Schneeverwehungen stecken, und Sturmwinde konnten Zweige zu lebensgefährlichen Geschossen werden lassen.

Jetzt im Spätsommer, in der Umbruchzeit zum Herbst hin, da war es völlig ungefährlich. Darum marschierte Tallyn allein und schleppte den schweren Korb für die Fuchsgötter. Gemüse, Obst, Brot, ein wenig Honiggebäck, ein Stück Räucherwurst, ein Tiegel Butter, ein weiterer Tiegel Gänseschmalz, ein halbes Dutzend gepökelte Flussfische. Wertvolle Nahrung, die die Dörfler des Este-Tals dennoch mit Freuden den Göttern opferten. Denn nur dank ihnen war das Leben gut im Tal. Die Füchse beschützten sie, indem sie gegen die Monster kämpften, die in unregelmäßigen Abständen das abgeschiedene Gebiet zu erobern versuchten. Himmelhohe Berge umschlossen das Este-Tal und nur ein einziger Pass bot Einlass – oder Auslass für jene, die fortgehen wollten. Das kam vor, war allerdings extrem selten, denn sie besaßen alles, was zum Leben benötigt wurde. Ausgedehnte Wälder, in denen sie Früchte, Holz, Jagdwild in großer Fülle vorfanden. Wiesen an den Hängen, auf denen das Vieh weiden konnte. Platz für Felder, um Getreide und Gemüse und Obstbäume anzupflanzen, genug, um die rund tausend menschlichen Bewohner zu ernähren, die sich auf drei Dörfer verteilten.

In unregelmäßigen Abständen kamen neue Siedler in das Tal. Zumeist einzelne Familien, die mit Freude begrüßt und willkommen geheißen wurden, da sie frisches Blut und Arbeitskraft in die Gemeinschaft einbrachten. Tallyns Vater hatte zu einer Gruppe von über vierzig Leuten gehört, die hier Zuflucht suchten, nachdem ihr eigenes Dorf erst von einer Dürre und später von einer Schlammlawine nach ausgedehnten Regenfällen in den Bergen fortgeschwemmt worden war. Das hatte anfangs Unruhen gegeben, wie er bereitwillig erzählte, denn die Gruppe war groß, sie war von weit hergewandert und verstand die Sprache der Estener nicht.

In dieser Zeit waren die Fuchsgötter mehrfach bis ins Dorf hineingekommen und hatten sogar menschliche Gestalt angenommen, um zwischen den Gruppen zu vermitteln und den Frieden zu wahren. Es war geglückt, die Neuankömmlinge hatten sich integriert. Noch größere Gruppen wurden von den Göttern für gewöhnlich fortgeschickt, und wären nicht so viele Frauen und kleine Kinder unter den Überlebenden gewesen, hätte man vermutlich auch Tallyns Vater und seine Verwandten nicht eingelassen. Er dankte ihnen darum besonders gerne und meldete sich eifrig, wenn jeden Monat gefragt wurde, wer den Opfergang freiwillig übernehmen wollte.

Tallyns Vater war bereits zwölf Jahre alt gewesen, als er in das Tal kam. Er hatte die Sprache der Estener nie richtig erlernt, hatte einen schweren Akzent behalten und verdrehte die Wörter und Sätze. Da er fleißig war, auf den Gemeinschaftsfeldern seinen Teil leistete, das Vieh hütete und das Herz von Isra erobern konnte, Tallyns Mutter, besaß er durchaus Ansehen im Dorf; jedenfalls bei den Älteren war er geachtet. Für Tallyn und seine Geschwister war es jedoch kein leichtes Leben gewesen, als sie sich in Kindheit und Jugend durchsetzen mussten. Die anderen Kinder verspotteten sie, weil bei ihnen ihr Vater als schwach galt, als dumm und ungeschickt, da er fehlerhaft sprach.

Zum Glück lagen diese Zeiten inzwischen hinter ihm, Tallyn hatte sich Respekt verschaffen können und war gut in die Gemeinschaft integriert. Mit Anfang zwanzig konnte man auch erwarten, die Narrheiten der Kinderzeit hinter sich lassen zu dürfen …

Mittlerweile hatte er die Felder ebenfalls hinter sich gelassen und wurde von allen Seiten von dichten Bäumen umschlossen. Die Sonne beschien die Kiefern und Kastanien, Eichen, Haselnuss- und Schlehensträucher, die krüppeligen Apfelbäume, die auf Lichtungen wuchsen, die Linden und Tannen. Es roch warm und harzig, nach Farnen und Erde, sommermüden Kräutern und Gewächsen. Ein letztes Mal gab der Wald, was er an Kraft besaß, präsentierte sich voller Früchte und Nüsse, die Mensch und Tier helfen würden, den endlosen Winter zu überstehen. Doch das Laub begann bereits, sich bunt einzufärben, die ersten raschelnden Blätter fanden sich am Boden, gemeinsam mit faulenden Beeren, Kastanien-, Hasel- und Eichelschalen. Tallyn schritt weiterhin zügig aus. Er hoffte so sehr, dass die Götter ihm einen Blick auf sich erlauben würden. Manchmal taten sie das, ließen zu, dass man eine verwischte Bewegung aus den Augenwinkeln erhaschte, einen Fuchsschweif im Unterholz entschwinden sah. Es galt als Glücksomen. Die Götter mussten einem sehr wohlgesonnen sein, wenn sie erlaubten, dass gewöhnliche Sterbliche sie ansahen.

Tallyn hatte seinen alltäglichen Kummer, mit dem er kämpfte, wie jeder andere Mensch auch. Er hatte seine Träume und Wünsche, die sich wohl niemals erfüllen würden – denn ja, so gerne er auch das Este-Tal verlassen und die große weite Welt anschauen wollte, so sicher wusste er, dass er diesen Schritt niemals wagen würde, denn hier besaß er alles, was er zum Leben benötigte und wurde von Göttern und seiner Familie und dem Dorf beschützt, während er dort draußen ganz allein wäre. Trotzdem wünschte er sich nachts, wenn er still in seinem Bett lag, er könnte die Menschen kennenlernen, mit denen er über seinen Vater verwandt war. Ein wenig beherrschte er sogar diese Sprache, auch wenn sein Vater sich geweigert hatte, sie an seine Kinder weiterzugeben.

Ein weiterer großer Traum war es, den Posten als stellvertretender Chronikenklöppner zu erhalten. Der alte Bewahrer der Erinnerungen war vor wenigen Wochen hochbetagt gestorben. Dessen Nachfolger sollte bis zum Fest der Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche benannt werden. Es gab nur sehr wenige unverheiratete junge Männer unter dreißig, die im ausreichenden Maß Lesen und Schreiben konnten und sich für diese anspruchsvolle Arbeit interessierten. Ein großer Hinderungsgrund war, dass Chronisten keine eigene Familie gründen durften. Für Tallyn wäre dies das geringste Problem, er war nicht an Frauen interessiert und Kinder, so sehr er sie mochte, waren für ihn keine Notwendigkeit. Seine Geschwister würden reichlich für Nachkommen sorgen, da brauchte er nicht ebenfalls tätig zu werden. Zudem interessierte er sich wirklich von Herzen für diese Aufgabe. Nicht zuletzt auch deswegen, weil die Bewahrer der Erinnerungen nicht nur Schreiber, sondern Handwerker sein mussten und diese Spulentechnik extrem reizvoll für ihn war.

Einerseits waren Tallyns Aussichten recht gut, dass man ihn erwählen würde. Niemand beherrschte die Schrift und das Klöppeln so vollkommen wie er, er hatte unermüdlich geübt. Andererseits war bereits seine Schwester Rionna zur Auserwählten erkoren worden: Sie gehörte zu den wenigen Dörflern, denen es erlaubt war, das Geheimrezept für die Bierbrauerei zu erfahren. Nicht einmal ihrem Gefährten oder den Kindern, die sie womöglich zur Welt bringen würde, durfte sie etwas darüber verraten. Zwei Auserwählte aus einer Familie? Das wäre unerhört.

Aus diesem Grund hielt er seine Hoffnungen möglichst klein, um später nicht zu hart mit der Enttäuschung kämpfen zu müssen, sollte die Entscheidung tatsächlich gegen ihn fallen.

Tallyn hatte den Opferungsplatz nun beinahe erreicht. Dieser befand sich mitten im Wald, auf einer schmalen Lichtung, die von sämtlichen Seiten gut einsehbar war. Im Mittelpunkt befand sich ein abgebrochener Baumstumpf, nahezu vollständig verwittert. Man konnte kaum noch erkennen, dass dies einst eine mächtige Eiche gewesen sein musste. Hier wurden die Opferkörbe abgestellt und zurückgelassen. Wer wollte, konnte niederknien und Fragen oder Bittgesuche an die Götter stellen. Praktisch nie wurde etwas davon beantwortet, obwohl es wunderschöne Legenden gab, in denen genau das geschehen war. Gelegentlich zeigten sich Götter allerdings den Betenden, besonders häufig dann, wenn es sich um Trauernde handelte, die den Göttern von Schmerz und Verlust erzählten. Auch Schwerkranke, die keine Aussicht auf Heilung hatten, konnten sich Hoffnung machen, dass die Fuchsgötter herankamen und sich berühren ließen. In einigen seltenen Fällen war es danach zur Heilung gekommen, oder zumindest zu einer vorübergehenden Besserung.

Tallyn schwankte innerlich. Normalerweise stellte er den Korb ab, verneigte sich in alle vier Himmelsrichtungen, dankte den Göttern für ihren unermüdlichen Schutz und kehrte dann zügig nach Hause zurück. Heute könnte er es allerdings mit einem Gebet versuchen, oder? Wenn es schon nichts nutzte, würde es zumindest nicht schaden. Und wer wusste es schon, vielleicht offenbarte sich ihm einer der Götter, kam näher heran, spendete ihm Trost durch seine Anwesenheit, schenkte ihm Zuversicht, wo quälende Zweifel vorherrschten?

 

 

Vulf beobachtete den jungen Mann aufmerksam, als dieser den Korb abstellte und zum Gebet niederkniete. Ein hübscher Junge war das, mit leichtem Rotschimmer in den braunen Haaren und glatten Wangen. Er sah anders aus als die meisten Menschen in dem Tal, die für gewöhnlich blonde Haare und blaue Augen besaßen, kräftiger und größer gebaut waren. Dieser Mann hingegen war eher schmal und klein und seine Augen waren dunkelbraun. Vulf hatte ihn bereits einige Male beobachtet und er mochte, was er sah. Auch der Vater dieses Menschen war ihm aufgefallen, der noch dunkler, brauner, kleiner war. Ein ungewöhnlicher Mann, und sicherlich noch besser als sein Sohn geeignet für das, was Vulf tun musste. Mehr Erfahrung, das machte zumeist den Unterschied. Leider konnte Vulf nicht in das Dorf gehen, das war streng verboten. Gleichgültig welches Gesetz er zu brechen gedachte, dieses eine, es war heilig. Heilig!

Also musste er mit dem Jungen vorliebnehmen, der freiwillig in den Wald gekommen war. Er betete halblaut, erzählte von seinen kleinen Sorgen und Wünschen und Hoffnungen. Vulf war zu ungeduldig, um ihm zuzuhören. Vielleicht wollte der Kleine Hilfe, damit seine Liebste ihn erhörte. Vielleicht war er auch bereits verheiratet und wünschte sich göttlichen Segen für sein ungeborenes Kind – aus der Nähe betrachtet war er doch schon etwas älter, höchstens drei, vier Jahre jünger als Vulf, der sechsundzwanzig Winter zählte. Da konnte der Kleine also durchaus bereits einen Stall voll Nachkommen besitzen, um die er sich sorgte. Oder seine Mutter war krank und sollte genesen. Die üblichen Dinge eben, die junge Menschen bewegten. Für Vulf waren sie bedeutungslos, diese menschlichen Kümmernisse, an denen er nicht das Geringste ändern konnte und wollte. Schließlich war er kein Gott, egal was die Estener in ihm zu sehen glaubten.

Lautlos schlich er an den Jungen heran. Der bewegte den Kopf, spürte wohl seine Nähe. Das war ein gutes Zeichen, Vulf brauchte jemand mit Instinkt und scharfen Sinnen. Das Überleben von ihnen allen hing davon ab, dass Vulf die richtige Entscheidung traf. Den richtigen Dörfler auswählte. Da die Zeit viel zu sehr drängte, um auf andere Männer zu warten, die zum Holz holen oder zur Pilzsuche in den Wald gingen, musste es sowieso dieser hier sein. Es sei! Wenigstens war es jemand, der Vulf schon immer gut gefallen hatte.

Sobald er sich hinter ihm befand, verwandelte er sich, richtete sich langsam auf. Der Mensch blieb auf den Knien, den Kopf demütig gesenkt, die Handflächen flach gegeneinandergepresst. Wenigstens schwieg er nun, Vulf konnte die Angst wittern, die allmählich in ihm aufstieg und in Wellen von ihm abstrahlte. Der rasche Herzschlag war überdeutlich zu hören, die hastigen, unsteten Atemzüge. Er fürchtete sich. Gut so. Die Welt war, wie sie sein sollte, zumindest in diesem Augenblick.

Vulf beugte sich zu ihm herab, sog tief die Witterung seines Opfers in sich ein. Er wusste, die anderen seiner Familie beobachteten das Geschehen aus der Ferne, und sie hießen gut, wen er erwählt hatte. Noch nie zuvor hatte jemand getan, was er beabsichtigte. Es war unabdingbar, sonst wäre es niemals in Betracht gezogen worden.

Behutsam legte er eine Hand auf die Schulter des Mannes, spürte, wie er unter der Berührung zu beben begann, hörte das leise Angstwimmern. Einerseits würde er sie ihm gerne nehmen, diese Angst. Andererseits … Es war berauschend, sie zu riechen, zu spüren, zu wissen, wie viel Macht er in diesem Moment besaß. Er konnte mit diesem Menschen anstellen, was immer er wollte, nichts und niemand würde ihn daran hindern. Vulf lauschte begeistert in sich hinein, fühlte nach, was dieses Gefühl von Macht mit ihm anstellte. Großartig war das. Könnte er es doch noch auskosten! Es genießen, für einen einzigen Tag!

Es war nicht möglich, darum beugte sich tiefer, schlang rücklings die Arme um die Brust des Mannes.

„Du musst schlafen“, wisperte er ihm ins Ohr. Die ersten Worte, die Vulf jemals zu einem Menschen gesprochen hatte. Der Mann erschauderte heftig, starrte zitternd von ihm fort, wagte nicht, den Kopf zu ihm zu wenden. Gegen die Magie, die Vulf auf ihn wirkte, gab es kein Entkommen für ihn. Sie sickerte in ihn hinein, raubte ihm die Kraft, zwang ihn in den Abgrund des Schlafes. Ohne Kampf ging es nicht: Der Mann bäumte sich in Vulfs Armen auf, halb bewusstlos, wand sich, schrie seine Angst heraus. Vergeblich: Sein Körper betrog ihn, erschlaffte, und schließlich hing er tief schlafend in Vulfs Griff.

Erst jetzt kamen die anderen heran, die diesen Übergriff nicht stören wollten.

„Er ist gut geeignet“, sagte Vina, Vulfs jüngere Schwester, sobald sie menschliche Gestalt angenommen hatte. „Stark, gesund, jung. Ich wünsche dir Kraft und Mut, Bruder. Mögest du unversehrt zu uns zurückkehren.“ Sie umarmte ihn kurz, machte dann Platz für das Rudel, das nacheinander Abschied von Vulf nahm.

„Unversehrt und siegreich, das sollst du sein“, flüsterte Vengard, der Rudelälteste. Ihn würde Vulf am liebsten mitnehmen, sein Wissen, seine Erfahrung wäre bei dieser Mission unentbehrlich. Leider war dies nicht möglich, egal was er sich wünschte.

Die Familie wandelte sich geschlossen zurück, als Vulf sich zu dem bewusstlosen Mann hinabbeugte und den schweren, schlaffen Körper ächzend über die Schulter wuchtete. Füchslinge waren stark und ausdauernd, aber ein tief schlafender Mensch besaß nun einmal ein gewisses Gewicht. Mit Knurr- und Fieplauten verabschiedete ihn sein Rudel. Seine Familie. Er musste schon bald ins Ungewisse ziehen, mit wenig Ausrüstung und einem Menschen auf dem Rücken, der nach dem Erwachen möglicherweise vor Angst den Verstand verlieren würde. Nichts davon war gut. Nichts davon war richtig. Es musste dennoch geschehen. Es war unabdingbar. Sie würden allesamt sterben, sollte er versagen. Es war unabdingbar.

 

 

 

Erwachen

 

s war mühsam, ins Leben zurückzufinden.

Tallyn fühlte sich, als würden Mühlsteine auf ihm liegen. Ihm war schwindelig und alles war schwer. Das Atmen. Sein Herzschlag, der viel zu langsam erschien. Seine Muskeln. Es schmerzte und er fror und er hasste dieses Elend. War er denn krank? Tallyn erinnerte sich nicht. An gar nichts. Oder? Doch! Er wollte die Opferung vornehmen. Soweit er wusste, war er tatsächlich in den Wald gegangen. Und danach? Möglicherweise war er danach krank geworden. Das kam vor. Im Winter eher als an warmen, sonnigen Herbsttagen, aber die Erkältung hatte ihm vielleicht schon vorher in den Knochen gesteckt.

„Du musst aufwachen“, sagte eine fremde Stimme. Tief. Männlich. Nicht erschreckend, sondern sehr freundlich. Dennoch fremd. Fremd war seltsam. Es gab keine Fremden im Tal der Este. Selbst wenn neue Siedler angekommen wären, würde seine Familie nicht zulassen, dass einer von denen an das Bett eines Kranken trat. Das war falsch. Absurd.

Tallyn kämpfte mit und gegen sich, versuchte, die Augen zu öffnen, aus der Umklammerung der Erschöpfung freizukommen.

„Kannst du mich hören? Du musst aufwachen.“ Jemand berührte ihn am Rücken und der Schulter, schüttelte ihn sacht durch. Wieder diese fremde Stimme! Angst verbiss sich in seinen Magen, sandte heiß-kalte Schauder durch seinen Körper. Panisch riss er die Lider auf und blickte hoch.

Über ihm schwebte ein fremdartiges Gesicht. Das Gesicht eines Mannes. Es war schön und auf merkwürdige, bedrohliche Weise anders. Die Nase war etwas zu spitz, die Augen ein winziges bisschen zu lang gezogen und leicht gerundet – und besaßen einen eindeutig bernsteinfarbenen Unterton in dem hellen Braun. Dieses Gesicht wurde von langen, kupferroten Haaren umrahmt. Wangen und Kinn waren von einem schneeweißen, dichten, sehr kurzen Bart bedeckt, obwohl dieser Mann eindeutig jung war, sicherlich noch ein gutes Stück vom dreißigsten Lebensjahr entfernt.

Tallyn starrte in ehrfürchtiger Faszination. Er wusste, ein Gott war zu ihm gekommen. Derselbe Gott, der ihn am Opferplatz in den Schlaf gezwungen hatte, da konnte kein Zweifel bestehen. Jetzt erinnerte er sich an die letzten Momente vor der Ohnmacht. Warum hatte der Gott das getan? Noch nie war etwas Vergleichbares geschehen, so viel war gewiss. Götter berührten keine Menschen, sie sprachen nicht zu ihnen und welchen Grund sollte es geben, Tallyn zu verschleppen? Dies war nicht mehr länger der Opferungsplatz, sie befanden sich irgendwo tief im Wald. Auf einer sonnenbeschienenen Lichtung, umgeben von Holunder und Birken und Weiden. Das Murmeln von Wasser bezeugte, dass sie nah bei der Este sein mussten, dem lebensspendenden Fluss, der das gesamte Tal durchzog.

Warum war er hier? Was wollte der Gott von ihm? Tallyn zitterte vor Angst und Ehrfurcht, wagte kaum zu atmen, verkrampfte sich mit jedem Moment, der verstrich, noch ein bisschen mehr.

„Ganz ruhig“, wisperte der Gott. „Du bist nicht in Gefahr. Mein Name ist Vulf.“

Tallyn wimmerte bloß. Der Gott, er sprach zu ihm! Er verriet ihm seinen Namen! Allein die Tatsache, dass er so etwas überhaupt besaß – einen eigenen Namen! – überstieg sein Begriffsvermögen. Die Hand des Gottes – Vulf, sein Name war Vulf! – kam langsam auf ihn zu.

„Ganz ruhig“, wiederholte Vulf in jenem Tonfall, mit dem man panische Kreaturen zu besänftigen versuchte. Er berührte Tallyn am Kopf, kraulte ihm vorsichtig durch das Haar. Eine Geste, mit der man Tieren begegnete. Hunden. Katzen. Erstarrt ließ er es zu, konnte es nicht verhindern. Unangenehm war es nicht, lediglich unglaublich seltsam.

„Ich will dich nicht verletzen“, sagte Vulf und blickte ihn dabei weiter unverwandt an, sprach mit gleichbleibender Intensität, streichelte ihm durch das Haar. „Nimm meine Witterung ruhig in dich auf. Du riechst, dass ich dir nicht wehtun werde, nicht wahr? Ihr Menschen riecht zwar nicht so gut wie wir, aber das geht doch sicherlich?“ Er ließ die Hand tiefer sinken, strich über Tallyns Nase, seine Wange. Das war noch viel seltsamer. Glaubte er wirklich, dass Tallyn … Sollte er an ihm schnüffeln? Wie ein Kätzchen es tat, wie Hunde es taten? Er schämte sich, denn seine Nase war viel zu schwach, um allzu viel wahrzunehmen. Da war ein vager Duft nach Haut und Raubtier, der ihn eher beunruhigte statt zu versichern, dass keinerlei Gefahr drohte. Verwirrt hielt er weiter still, ertrug die Berührungen, versuchte zu begreifen, was mit ihm geschah. War dies vielleicht ein Traum? Ein unglaublich bizarrer, beängstigender Albtraum? Tallyn konnte nicht aufhören zu zittern und das er nicht längst um sein Leben schrie, war alles, was er an Selbstbeherrschung aufbringen konnte.

„Du musst dich nicht fürchten. Dir droht keinerlei Gefahr. Schön ruhig, es ist alles gut. Ich bin kein Feind für dich. Schau? Ich tue dir nicht weh und das will ich auch gar nicht. Ich brauche deine Hilfe, sonst nichts. Du wirst schon sehr bald zu deinen Leuten heimkehren. Du verstehst mich, nicht wahr? Wir haben euch unsere Sprache gelehrt und ich konnte schon vielfach belauschen, dass ihr sie weiterhin nutzt. Und vorhin, als du gebetet hast, da hast du auch unsere Sprache benutzt, nicht wahr? Ich habe dir nicht zugehört, das machen wir eigentlich nie, trotzdem bin ich mir recht sicher.“

Die Götter hörten nicht einmal zu, wenn man zu ihnen betete? Welten zerbrachen vor Tallyns Augen. Dieser … dieses Wesen … es erschien ihm keineswegs göttlich, wie es über ihm aufragte und ihn demütigte. Unglaublich machtvoll, aber dabei durch und durch lebendig, körperlich. Beinahe menschlich. Allein dass er einen eigenen Geruch besaß und ihm Fragen stellte, weil er sich nicht sicher zu sein schien, was Tallyn für Fähigkeiten besaß … Das alles konnte nicht richtig sein! Es musste ein schrecklicher Traum sein, sonst wäre es zu grausam. Die Welt konnte nicht derartig grausam sein!

 

 

Vulf spürte, dass er sich zusammenreißen musste. Der junge Mann reagierte zunehmend panisch und die Berührungen schienen es noch zu verschlimmern. Mittlerweile stand pures Entsetzen in sein Gesicht geschrieben und er zitterte derartig stark, er konnte sich offenkundig nur noch mit purer Willenskraft aufrecht halten. Ungeduld würde nicht zum Ziel führen. Ja, es war verführerisch. Er könnte ihn schlagen, es würde wohl kaum viel Gewalt benötigen, um den kleinen Willen dieses Menschen zu brechen und ihn vollständig zu unterwerfen. Er würde gehorchen und jedem Befehl Folge leisten. Doch das war nicht der Sinn des Fluches, der Vulf dazu zwang, sich mit einem Menschen belasten zu müssen. Auf diesem Weg gab es nichts zu gewinnen, das hatten sie im Familienkreis ausgiebig diskutiert.

Also wich Vulf ein wenig von ihm zurück und widerstand der Versuchung, ihn zu berühren. Der Kleine roch gut. Weich. Süß. Sehr menschlich, harmlos, ungefährlich. Wie ein Beutetier, auch wenn er gelegentlich Fleisch zu sich nahm. Sein Haar war ebenfalls weich und am liebsten hätte Vulf seine Nase hineingedrückt und eine kleine Ewigkeit damit zugebracht, an ihm zu schnüffeln. Offenkundig mochte er das nicht. Ein Jammer.

Zumindest wurde er jetzt etwas ruhiger, sein Herzschlag verlangsamte sich, Wachsamkeit ersetzte die Todesangst in seinem Blick. Hach! Solch schöne Augen hatte er. Ein entzückendes Menschenwesen. Hätte er die Zeit, würde Vulf sich mit größtem Vergnügen erlauben, ihn noch für einige weitere Stunden zu beobachten, zu studieren, seine Reaktionen auszutesten.

„Du hast sicherlich einen Namen, nicht wahr?“, fragte er besänftigend. „Ich heiße Vulf.“ Das hatte er zwar bereits gesagt, aber möglicherweise hatte der Mensch ihn vor lauter Angst nicht verstanden. „Nenn mir deinen Namen.“ Versuchsweise legte er ein winziges bisschen Schärfe in seinen Ton, ließ die letzten Worte als Befehl erklingen. Ohne jede Drohung, das war wichtig. Er musste vorankommen, doch der Wille seines Opfers durfte nicht gebrochen werden.

„Ta… Ta…“

Der Kleine stammelte, rang mit den Lauten.

„Tata? Das ist dein Name?“, fragte Vulf. Das wäre erfreulich, leicht auszusprechen und mühelos zu erinnern. Doch der Mensch schüttelte den Kopf.

„Tallyn“, brachte er hervor.

„Tallyn also. Ein hübscher Name.“ Vulf lächelte und bevor er sich daran hindern konnte, hatte er Tallyns Hand ergriffen und streichelte sie. Eine gute Hand war das. Stark, arbeitsgewohnt, mit zahlreichen Schwielen, die Haut innen hart und rau, außen weich. Die Finger lang und geschickt, sicherlich konnten sie komplexe Arbeiten verrichten. Als hätte der Fluch dafür gesorgt, dass genau der richtige Mann zu ihnen in den Wald kam, um die monatliche Opfergabe zu überbringen. Ungewöhnlich wäre das nicht, Magie funktionierte gerne auf diese Weise. Leider zitterte Tallyn schon wieder, scheute und zuckte vor ihm zurück, darum gab Vulf ihn bedauernd frei.

„Hast du Hunger?“, fragte er. Das war der Rat seiner Großmutter gewesen, er sollte den Menschen gut füttern. Derjenige, der Essen gab, dem vertraute man. Das war wertvoller als lange Worte und mühsame Erklärungen. Die waren natürlich auch notwendig, aber am wichtigsten blieb erst einmal, einen gewissen Vertrauensgrund zu erschaffen. Vulf zog den Tragbeutel heran, den er mitgebracht hatte, und holte mehrere Bündel hervor. Getrocknete Fleischstreifen, gekochte Wurzeln, frische, gänseeiergroße Juffa-Beeren, die eine feste, rote Schale besaßen und herrlich süß schmeckten. Eine schöne Mahlzeit, die auch diese ängstliche Kreatur überzeugen sollte, das ihr nichts Schlimmes drohte. Der Schlafzauber war anstrengend für den Körper, sicherlich hatte der Mann großen Hunger. Und ja: Ein leises Knurren seines Magens erklang, und Tallyn leckte sich unwillkürlich über die Lippen, als er auf das Fleisch blickte. Ein seltener Leckerbissen, Menschen lebten zum größten Teil von Pflanzen. So wie es richtig für sie war als hilflose, schutzbedürftige, wenn auch kluge und geschickte Beutewesen. Genau aus diesem Grund mühten sich die Füchslinge ja auch so sehr, um diese Kreaturen zu verteidigen. Sie waren es wert.

„Nimm dir“, sagte Vulf und griff selbst nach einer Juffa-Beere, um zu zeigen, wie ungefährlich es war. „Nimm, was du willst. Lass es dir gut schmecken. Du brauchst deine Kraft.“

Tallyn zögerte noch ein bisschen, aber nach ein wenig Ermunterung fasste er sich ein Herz, nahm sich einige der Beeren und kauerte sich auf dem Boden nieder, um sie zu Essen. Vulf setzte sich nah zu ihm, achtete darauf, ihn nicht zu berühren oder zu sehr zu bedrängen, und aß mit ihm gemeinsam. Gelegentlich schob er ihm Leckerbissen zu, die Tallyn dankbar annahm. Jedenfalls schien es Dankbarkeit zu sein, die er dabei empfand, auch wenn er den Kopf gesenkt hielt und kaum etwas von sich zeigte. Die Situation, zusammen mit einem Geschöpf zu essen, das er als Gottheit verstand, überforderte ihn. Verständlicherweise – auch Vulf war überfordert und er wünschte, er müsste das nicht tun. Sich mit einem Menschen einzulassen, war in absolut jeder Hinsicht falsch, schlecht, schwierig. Nie zuvor war ein Füchsling gezwungen gewesen, zu tun, was er gerade tat. Wenn er es doch bereits hinter sich hätte …

 

Erklärungen

 

er Gott, der sich Vulf nannte, fütterte ihn.

Das war eine seltsame Erfahrung, zumal es unmöglich war, sich zu verweigern. Zum einen, weil er ein Gott war und forderte, dass Tallyn die Speisen annahm. Zum anderen war Tallyn unglaublich hungrig. Wer die Opfergaben überbrachte, musste sich vorher reinigen. Eine ausgiebige Waschung im Fluss, einen ganzen Tag und eine Nacht zuvor wurde nichts gegessen, Gebete und Segnungen durch Kirshat, der Priesterin, sowie einige rituelle Handlungen waren notwendig, bevor man den Korb übernehmen durfte. Anschließend konnte man sich über eine besonders gute Mahlzeit freuen, als Dank, weil man den Dienst an den Göttern übernommen hatte.

Mit leerem Bauch köstliche Leckerbissen vorgesetzt zu bekommen, machte es schlichtweg unmöglich, zu widerstehen.

Den Gott freute es offenbar, wie es Tallyn schmeckte. Jedenfalls schob er ihm regelmäßig weitere Happen zu und aß selbst nur wenig.

Die Frage war: Was würde es Tallyn kosten, diese Mahlzeit? Was wollte der Gott von ihm?

Als der letzte Krümel verspeist war, lehnte sich Vulf wieder näher an ihn heran. Schon lag seine Hand auf Tallyns Rücken, was er mit gesenktem Kopf hinnahm. Es war ja nicht unangenehm oder gar schmerzhaft, auf diese Weise berührt zu werden, im Gegenteil. Lediglich beängstigend, weil er eben nicht wusste, was daraus folgen könnte. Der Gott musste nicht aufhören, bloß weil Tallyn Nein sagte. Seine Macht war absolut, sich ihm zu verweigern ein Sakrileg.

„Geht es dir jetzt besser?“, fragte Vulf. Tallyn nickte. Auch zuvor war es ihm ja nicht schlecht gegangen. Er musste davon ausgehen, dass der Gott es gut mit ihm meinte, ihm keinen Schaden zufügen würde. Die panische Todesangst war einer gewissen stumpfen Resignation gewichen.

„Gut. Ich möchte, dass du mir sehr aufmerksam zuhörst, Tallyn. Dein Name war Tallyn, richtig?“

Er nickte erneut.

„Du musst dringend einige Dinge verstehen, Tallyn. Das Wichtigste davon ist wohl: Ich bin kein Gott. Ich bin ein sterbliches Wesen, dir gar nicht mal unähnlich. Ja, ich kann Fuchsgestalt annehmen. Und ja, ich bin ebenso sehr Fuchs wie von menschlicher Art. Zudem besitze ich einige Fähigkeiten, die kein Mensch, wie du es bist, jemals erwerben könnte. Das ändert nichts an der schlichten Tatsache, dass ich durch und durch sterblich bin. Ich altere. Ich muss essen und trinken, um nicht zugrunde zu gehen. Ich muss mich mehrmals am Tag erleichtern. Wenn ich mich verletze, blute ich. Man kann mich genauso leicht töten wie dich. Und ich werde irgendwann sterben. Verstehst du, was ich dir damit sage?“

Tallyn schüttelte den Kopf.

„Nein“, flüsterte er dem Waldboden zu. „Wir wissen, dass ihr Götter nicht unsterblich seid und in Körpern lebt, die vergänglich sind. Unsere Priester erklären es uns. Ihr seid Wesen von unvorstellbarer Macht. Wächter, die das heilige Tal gegen Feinde verteidigen. Götter, die uns Menschen beschützen. Ich verstehe nicht …“

„Ich bin kein Gott!“, rief Vulf unbeherrscht, sprang auf, brüllte vor Zorn, schlug mit der Faust auf einen Baumstamm ein. Schockiert starrte Tallyn ihn an, beobachtete diesen Ausbruch mit offenem Mund und wachsender Todesangst.

„Nein!“, wimmerte er, warf sich auf die Knie, kroch auf Vulf zu. „Vergib mir! Vergib meine Dummheit! Bitte zürne nicht! Wende dich nicht von uns ab, nur weil ich zu dumm bin! Herr!“ Zitternd streckte er die Hände nach Vulf aus. Er würde ihn niemals mehr einen Gott nennen, wenn ihm dies missfiel. Das war schwierig für ihn, aber er würde es lernen. Dann nannte er ihn eben einen Wächter. Einen Herrn. Oder einen Vulf. Vielleicht war das gar kein eigener Name, sondern eine Bezeichnung, die die Götter für sich selbst gewählt hatten? Er würde es lernen! Er musste es lernen, sonst brachte er Tod und Verderben über dieses Tal …

 

 

Gänsehaut kroch über Vulfs Leib, als er Tallyn dabei beobachtete, wie dieser sich ihm vollständig unterwarf, unter Tränen um Gnade und Vergebung flehte. Dabei hatte er ihn nicht einmal angerührt, die hilflose, frustrierte Wut von ihm fortgelenkt. Wie viel Macht er über dieses Geschöpf besaß, wurde ihm nun überdeutlich bewusst, und es war berauschend. Beängstigend, beklemmend. Unglaublich falsch und doch vollkommen.

Er beugte sich zu ihm herab, streichelte ihm über Kopf und Rücken.

„Ich bin nicht wütend auf dich“, sagte er leise. „Nicht einmal enttäuscht. Es ist nicht dein Fehler, du bist vollkommen schuldlos an dieser Situation. Auch brauchst du nichts für deine Familie und dein Dorf zu befürchten. Hab keine Angst. Du musst Dinge verstehen, die nicht mit Händen zu greifen sind. Neues Wissen ist leicht zu erlernen. Den Glauben zu verändern, sich von Überzeugungen abzuwenden, die über zahllose Generationen gewachsen und weitergegeben wurden, das geschieht nicht einfach so nebenbei. Wenn überhaupt, bin ich also wütend auf mich selbst und enttäuscht von meiner eigenen Ungeduld. Verzeih mir, Tallyn. Ich habe dich aus deinem gewohnten Leben herausgerissen und verlange nun von dir, für mich zu funktionieren, wie ich es benötige. Das ist viel verlangt, du bist schließlich kein Hammer oder Stiefel.“ Er seufzte leise und wartete, bis Tallyn unter seinen Händen ruhiger wurde. Es war falsch, ihn ständig anzufassen und zu streicheln, das war ihm schon bewusst. Das hier war ein erwachsener Mensch, ein intelligentes Wesen mit Selbstwertgefühl und Stolz. Wenn er ihn wie ein neugeborenes Kätzchen behandelte, würde er ihn auf Dauer genauso zerbrechen, als würde er ihn schlagen, treten und in Fesseln legen. Leider fühlte es sich gut an und Vulf wusste nicht, wie sie einen Neuanfang schaffen sollten.

Verflucht! Er hatte wirklich alles falsch gemacht und damit womöglich die letzten Hoffnungen seines Volkes verspielt.

„Ohne dich werden wir alle untergehen“, murmelte er. Tallyn schreckte hoch, starrte ihn ängstlich an. „Es ist wahr, fürchte ich. Hör mir zu, ich will versuchen, es dir möglichst knapp zu erklären. Wir müssen heute noch ein langes Stück Weg bewältigen. Um genau zu sein, müssen wir das Tal der Este verlassen und mindestens den Pass erreichen.

---ENDE DER LESEPROBE---