Hexenkessel: Historischer Roman - Rudolf Stratz - E-Book

Hexenkessel: Historischer Roman E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Dieses eBook: "Hexenkessel: Historischer Roman" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Der Märzabend dämmerte. Je mehr sich die beiden der Gedachtniskirche näherten, desto farbiger lockten, nach dem Grau des Alltags, die tausend Lichter der Nacht. Die grellen Augenpaare der Autos flitzten, die bunten Fronten der Kinos schrien, feurige Lettern huschten am schwarzen Himmel die Dachsimse entlang. Die zahllosen Läden leuchteten, lichtübergossen standen die Warenhäuser, schwarze Menschenmassen fluteten unten, im Geschrei der Zeitungsverkäufer, dem Blöken der Hupen, dem großen Jahrmarkt des Westens zu – der nächtlichen Amüsierstadt zwischen Joachimsthaler und Uhlandstraße, voll von Dielen und Bars, Kinos und Kabaretts, Café- und Likörstuben, Tanzsälen und Spielklubs, Weinkneipen und Bierstätten." Rudolph Stratz (1864-1936) war ein erfolgreicher Romanschriftsteller.

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Rudolf Stratz

Hexenkessel: Historischer Roman

e-artnow, 2017 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-7092-0

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20

Kapitel 1

Inhaltsverzeichnis

»Sie sollten Ihr Pistol nicht in Manteltasche außen bei sich haben, Fräulein, wo wir bald kommen Berlin!« sagte der Mitreisende in rauhem, gebrochenem Deutsch eines Letten. »Jeder – er sieht es da stecken!«

Das junge Mädchen drehte sich auf dem Fensterplatz herum, von dem aus sie seit Stunden regungslos in die am Königsberger Schnellzug vorbeifliegende, märzgraue märkische Ebene hinausgestarrt hatte. Sie zeigte ein kleines, zartes, weißes Gesicht unter glänzend schwarzem, schlicht in der Mitte gescheiteltem Haar. Tiefschwarz auch die Brauen auf der niederen Stirne über den großen, schönen Augen von unbestimmter, bräunlich-grünlicher Farbe. Sie lächelte den andern naiv und fragend an. Der Tuklumer Holz-Händler ergänzte mit seiner heiseren Stimme:

»Waffentragen in Berlin verboten! Werden Verdruß haben – mit Polizei!«

»Oh – danke sehr ...« Seine Nachbarin in dem Abteil dritter Klasse sagte es schnell in dem harten Deutsch einer Deutsch-Russin. Sie lächelte dabei wieder sanft und bescheiden. Sie kramte hastig mit ihren feinen, kleinen Händen den Revolver aus dem Schlitz ihres abgetragenen, braunen Mäntelchens und schob ihn in das Reisetäschchen, das sie auf dem Schoß hielt. Das Lächeln verlor sich um ihren weichen Kindermund. Ihre feinen Nasenflügel bewegten sich nervös. Sie saß ganz still und schaute vor sich nieder und nagte grüblerisch an der Unterlippe. Man sah ihr unterdrücktes, heftiges Atmen. Dem Letten wurde es unbehaglich. Er stand plötzlich auf und trat auf den Gang hinaus.

»Guten Tag, Herr Berith! Reisen auch Berlin?« Er verbeugte sich unterwürfig. Draußen lehnte, aus seinem Abteil erster Klasse nebenan getreten und eine Havanna paffend, Baal Berith, der große litauische Finanzmann, dem das schönste Haus in der Njemetzkaja in Wilna, gerade gegenüber der großen Synagoge, gehörte. Er war ein gewichtiger, dickbäuchiger Mann mit schwarzen Löckchen um die Glatze und schwarzen Bartkoteletten zu beiden Seiten des bleichen, schwammigen Gesichts.

»Ich will ein paar Straßen in Berlin kaufen!« sagte der Litauer auf deutsch zu dem Letten. »Und was tut sich mit Ihnen, Herr Jahdek?«

»Muß man sehen! Kann man jetzt in Berlin kriegen alles – wer hat Valuta! ...«

»Für zwei Dollars guttes Klavier!« ergänzte aus dem Abteil dritter Klasse Aitjend, der estnische Viehhändler. Der Lette Jahdek schaute besorgt hinein.

»Sehen die bildhübsche junge Person da am Fenster?« sprach er gedämpft zu dem großen Baal. »Schon in die ersten Jahre der Zwanzig – aber Gesichtchen – so zart und lieb wie ein Kind! Hat einen Revolver! Bin ich weg! Wird sich noch erschießen – Kind da drinnen!«

»... und wenn jenne das tut – will die Polizei Zeugen! Man muß seine Paßports vorlegen ...« Josel Parch aus Mariámpol an der polnischen Grenze schob sich geräuschlos wie ein schnürender Fuchs aus dem Abteil. Alle Mienen verfinsterten sich. Mit der Polizei kam keiner dieser östlichen Berlinfahrer gern ohne Not in Berührung. Auch Aitjend, dem flachsblonden, backenknochigen Esten, wurde es jetzt da drinnen unheimlich. Er kam heraus. Nur Kimura, der japanische Warenhauseinkäufer aus Tokio, blieb sitzen und schielte aus seinen Schlitzaugen verstohlen hinüber nach dem reizenden, jetzt beinahe leblos wie aus Alabaster gemeißelten Mädchengesicht unter dem frommen Madonnenscheitel. Draußen versetzte Aitjend:

»Sie kommt aus Esti. Ich habe sie schon bei Zollrevision in Walk gesehen!«

»Ich hab' sie gefragt: Woher? Woso? Wohin?« sprach Josel Parch. »Jenne hat nichts geantwortet!«

Die Männer aus dem Osten verstummten. Vom Ende des Wagens schrie eine leidenschaftliche Stimme:

»Belieben Sie: Was heißt: der Dollar zwanzigtausend! Ist er jetzt! Im März 1923! Werden Sie sehen, wie der Dollar kommt im März 1924. Werden Sie ganz Deutschland auskaufen können! In Österreich ist doch nichts mehr los!«

»Haben Sie Dollars bei sich, Herr Berith?«

»Lits!«

»Auch gut! ... Nun, da sind wir in Berlin ...«

Der Zug fuhr langsam zwischen weit ausgedehnten Geleisenetzen, Werkstätten, Weichentürmen, Lokomotivschuppen und Drehscheiben dahin und hielt am Schlesischen Bahnhof. In allen Abteilen ordnete der Osten sein massenhaftes, abenteuerliches Handgepäck. Das junge Mädchen holte ihre Fahrkarte aus dem Täschchen. Drinnen glitzerte der Revolver.

»Ist geladen, Fräulein?« frug der Lette mißtrauisch. Sie zuckte zusammen und schüttelte schnell, beinahe unterwürfig, das blasse, schwarze Köpfchen.

»Ach nein! ... Es ist nur eine Art von Schutz! Ich komme aus Rußland!«

»Hat man Sie denn hinausgelassen?«

»Ich habe mich von Leningrad nach Bjelo-Ostrow durchgeschmuggelt und bin dann über Helsingfors nach Reval!«

»Der Dollar 20 917.50!« verkündete Josel Parch verzückt. Er hatte auf dem Bahnhof ein Mittagsblatt erstanden. »... Da kommt Alexanderplatz! ... Bleiben Sie gesund!«

Der Zug begann sich zu leeren. Gestalten in schwarzen Lammfellmützen und schwarzen russischen Schirmkappen quollen aus den Wagen. Sie wurden von Massen von Freunden abgeholt und verloren sich unter leidenschaftlichen Geschäftsgesprächen hinaus in das Brausen Berlins. Baal Berith blieb gelassen im Wagengang stehen. Er fuhr nach dem feinen Westen. Er sah, daß auch das junge Mädchen im Begriff war, auszusteigen. Er frug sie:

»Kennen Sie Berlin?«

»Nein! Ich war noch nie in Deutschland!«

»In welche Gegend Berlins wollen Sie?«

»Nach dem Königsplatz!«

»Werd' ich Ihnen sagen: Warten Sie noch bis zur nächsten Station!«

»Oh – danke!« Sie setzte sich bereitwillig wieder hin – mit einem kindlichen Kopfnicken – einem kurzen Aufschlag der großen, stummen Frauenaugen – fügsam, aber dabei scheu wie ein kleiner Vogel. Der große Baal aus Wilna stand vor ihr. Er sah aus seiner Höhe von ihrem dunklen Köpfchen nur ein Stück des weichen Kinns, die kleinen Ohren, das schwarze Kraushaar im Nacken, den dünnen, zarten Hals. Sie saß scheinbar ganz ruhig. Aber dabei krampften sich unwillkürlich ihre Fäuste. Ihre schmalen Schultern zitterten leise unter dem dünnen Mäntelchen.

»Werden Sie auf dem Bahnhof erwartet, Fräulein?«

»Nein. Von niemandem!«

»Finden Sie sich denn zurecht?«

»Man hat es mir auf einem Blatt Papier aufgezeichnet!«

»Nehmen Sie sich nur vor schlechten Menschen in acht!«

»Oh – das werde ich!« Sie hob den Kopf, mit einem stillen und fanatischen Lächeln. Dann stand sie schnell auf. Baal Berith sah, daß sie kaum mittelgroß war – zierlich und ebenmäßig gewachsen. Eben dunkelte die Wölbung des Bahnhofs Friedrichstraße. Der große Baal hätte schon Lust gehabt ... Aber fast ehe noch die Räder standen, war das junge Mädchen, plötzlich flink wie eine Eidechse, mit einem kurzen Abschiedsnicken an ihm vorbeigewitscht und in dem Gewühl draußen verschwunden.

Sie hielt ein Zettelchen in der Hand. Auf ihm waren flüchtig mit Bleistift ein paar Straßenzüge hingekritzelt. Denen folgte sie. Es stimmte: Erst der menschenwimmelnde Engpaß, dann rechtsum ein mächtiger, baumbestandener Prospekt, breit wie die Straßen in Rußland, an seinem Ende, hinter dem Tor mit der Troika oder dem Viergespann hoch oben, ein endloser Platz – eine Säule mit einer goldenen, geflügelten Frau in der Mitte. An der einen Seite ein palastartiges, graues Haus mit der Nummer Königsplatz 408, die auf ihrem Notizblatt stand.

Niemand in dem durch den Umsturz verödeten, alten Palais aus der Schinkelzeit kümmerte sich darum, daß sie eintrat. Das Tor stand weit offen. Durch seinen rückwärtigen Ausgang sah sie in einen verwüsteten Herrschaftspark. Kahle Baumriesen lagen gefällt und mörtelbespritzt zwischen Bausandhügeln und Backsteinhaufen eines hastigen, behelfsmäßigen Kontorbaues. Auf der breiten, dämmerigen Schneckenkrümmung der Steintreppe wieder kein Mensch. Das junge Mädchen blieb stehen. Sie sah sich scheu um, holte den Revolver aus ihrem Täschchen und steckte ihn sich wieder handbereit außen in den Reisemantel. Dann stieg sie die Stufen empor.

Auf dem ersten Treppenabsatz lüfteten sich ein paar junge Damen mit unwahrscheinlich rotblonden, ondulierten Haarwellen. Die eine manikürte, die andere rauchte. Auf der Türe dahinter war ein Schild: »Metropolbank.« Die beiden Fräulein achteten kaum auf die Fremde, die zum ersten Stock hinaufschritt. Eine leere Halle oben mit ein paar mächtigen alten Schränken und Ahnenbildern an den Wänden. An den Türen schiefgenagelte Visitenkarten: »von Bellisam. An- und Verkauf von Vollblut. Rennwetten-Tips.« – »Sinz. Ankauf von künstlichen Gebissen. Höchste Preise für Diamanten und Silbergegenstände.« – »Frau von Prucha. Zentral-Detektivbüro. Spezialität: Material in Ehescheidungssachen« ...

Alles nichts. Aber da kam ein Briefträger die Treppe hinunter. Also hausten im zweiten Stockwerk auch noch Menschen. Das junge Mädchen stand dort und las: Pawlos Christakis: »Für antike Perserteppiche bis zu hunderttausend Mark der Quadratmeter sofort bar.« Wieder nichts.

Doch hier ... jäh belebte sich das kleine, weiße, zartgeschnittene Gesicht. Hier: Eine große, neue, gelbleuchtende Messingplatte. Und auf ihr – russisch und deutsch: »Rowaja Rossija. – Neues russisches Handelskontor.«

Sie holte tief Atem und klopfte. Das Klappern einer Schreibmaschine innen verschlang ein etwaiges »Herein«. Sie öffnete und trat in ein Vorgemach. Hinter einem Tisch saß ein Mann in mittleren Jahren. Sie erkannte in ihm wieder den Lettentyp des Holzhändlers, ihres Reisegefährten. Sie frug leise und hastig, mit freundlichem Lächeln:

»Gawarite pa rußki?«

»Ich spreche sehr schlecht Russisch!« sagte der finstere Mann hinter der Schreibmaschine. »Verstehen Sie nicht Deutsch?«

»Gewiß! Ich bin Deutsch-Russin!«

»Was steht zu Ihren Diensten?«

»Ich möchte in dringenden Angelegenheiten Herrn Serge Ssilin sprechen!«

Ein stechender Blick aus den kleinen, düsteren Augen des Letten über die Remington hin.

»Und was sind das für Angelegenheiten?«

»Oh – ganz persönlicher Natur!« versetzte das junge Mädchen unbefangen und geläufig. »Ich komme in diesem Augenblick aus Rußland. Ich habe Herrn Ssilin eine wichtige mündliche Bestellung unter vier Augen auszurichten!«

Durch die geschlossene Nebentüre hörte man den Wortwechsel zweier Männerstimmen. Der Lette maß die kaum mittelgroße, zarte, junge Brünette vor ihm mißtrauisch von Kopf bis zu Fuß und versetzte dann langsam:

»Belieben Sie, Ihre Adresse dazulassen! Man wird Ihnen Nachricht geben!«

»Ich habe keine Adresse!« Das junge Mädchen zuckte lächelnd die Achseln und trat einen Schritt näher. »Herr Ssilin muß mich sofort empfangen!«

»Ihr Name?«

»Er tut nichts zur Sache! Bitte melden Sie mich!«

»Es wird nicht gehen! Gospodin Ssilin hat Besuch!«

Aber zu gleicher Zeit öffnete sich die Nebentüre. Ein langer, hagerer Mann in den Dreißigern mit bloßem Kopf begleitete einen anderen, der eine Zobelmütze auf dem bartlosen, grobknochigen Bauernschädel und einen kostbaren Zobelpelz trug, zum Flurausgang.

»Unbesorgt – Mr. Callies!« sprach er in fließendem, russischhartem Deutsch. »Ich werde alles Nötige für Ihre Geschäfte einleiten! Ihr litauischen Rückwanderer habt es gut! Ihr kommt jetzt mit euren ersparten Dollars aus Amerika wieder! Ihr seid die Könige im Osten! Nun – mit Gott!« Er wandte sich von der Schwelle in das Innere des Zimmers. »Uhkeneek – Was will dies Fräulein?«

»Zu Ihnen!« sprach der finstere Lette.

Das junge Mädchen nickte hastig und geschäftig. Sie stand mitten in dem Vorraum. Sie legte bittend die beiden schmalen Hände zusammen und sah Serge Ssilin fest und freimütig in das Gesicht – ein Gesicht, als sei es flüchtig mit der Holzaxt irgendwo im nordischen Urwald aus dem Rohen eines Erlenklotzes für handfesten Gebrauch herausgehauen. Glattrasiert und länglich, mit großen, abstehenden Ohren. Starke, eckige Stirne. Eine große, gerade, kolbiggeformte Nase. Ein langer Mund mit grobgewulsteten, brutalen Lippen. Ein kantiges Kinn. Das rötlichblonde Haar starrte borstenartig über den ungeschlachten, faltigen Zügen. Es war so fahl, daß die blaugrauen, dichtbeisammen stehenden Augen fast wimperlos schienen, während sie sich mit einem lächelnden Fuchsblinzeln des Wohlgefallens auf das junge Mädchen senkten.

»Ist es dringend?« frug er verbindlich, mit rauhem Kehlklang. Die einschmeichelnde Schmiegsamkeit, mit der er dabei den Kopf zur Seite legte, wies auf slawisches Blut.

»Oh – sehr! ... Sehr!« sagte das junge Mädchen hastig.

»Nun – dann: bitte!«

Er öffnete mit seiner plumpen, breitgeformten Hand, deren Nägel ganz kurz geschnitten waren, die Nebentüre. Er hatte dabei eine nonchalante Sicherheit der Bewegung wie ein eleganter Petersburger. Er trat lässig voraus in sein Privatkontor. Die Besucherin folgte ihm, schloß schnell hinter sich die Türe und lächelte dabei verwirrt und etwas atemlos.

»Ich bin erst froh, wenn ich diesen dicken Brief an Sie aus Leningrad los bin! Ich hab' ihn da in meiner Tasche!«

Er kehrte ihr noch, im Begriff, zwei Stühle vor dem großen Spiegel zurechtzuschieben, den Rücken zu. Das junge Mädchen langte mit einem jähen Griff in ihren Mantelschlitz, während es unheimlich in ihren bisher taubensanften, großen, grünlich-braunen Augen aufglühte. Aber eine mächtige Faust fuhr wie der Blitz hinterher und umspannte ihr Handgelenk. Serge Ssilin hatte ihre Bewegung im Spiegel gesehen und sich windschnell zu ihr herumgedreht. Er riß ihre Rechte, die noch den Revolver umspannte, an das Tageslicht, entwand ihn mit seiner Linken ihren dünnen Fingern und legte ihn, leise vor sich hinsummend, in eine Tischschublade, die er verschloß. Er war in keiner Weise aufgeregt.

»Glauben Sie, ich hätte das Ding nicht schon draußen in Ihrem Mantel stecken sehen?« sagte er. »So etwas trägt man doch nicht offensichtlich! Sie verstehen sich auf derlei nicht! Nun – setzen Sie sich ...«

Das junge Mädchen stand, ohne sich zu rühren, so als begriffe sie noch nicht recht, was eigentlich geschehen war. Serge Ssilin nahm Platz, wickelte sich eine Papyros und schob ihr, mit einer aufmunternden Kopfbewegung, sich zu bedienen, Seidenpapier und Tabak hin.

»Wie kommen Sie nur auf solche Einfälle?« sagte er zwischen den ersten Rauchwirbeln aus den Nasenlöchern. »Wie leicht hätten Sie mich beschädigen können! Sie selbst hätten allerhand Unannehmlichkeiten mit den örtlichen Behörden! ... Warum? ... Aber so setzen Sie sich doch ...«

Die Besucherin schaute ihn starr, aus weitaufgerissenen Augen an. Er frug:

»Belieben Sie Tee? Dort steht der Samowar. Ich werde holen ...«

Sie zuckte zusammen. Sie murmelte zwischen den Zähnen:

»Verhöhnen Sie mich nicht auch noch!«

»Wie das?« Es war eine vertrauliche Dienstbereitschaft in der Art, wie er, aufmerksam zuhörend, den langen Oberkörper vorbeugte. Fast etwas Untertäniges des Abkömmlings der Leibeigenen – der vererbte Gehorsam des Undeutschen. Und doch wieder, trotz des Äußeren eines vierschrötigen Freigelassenen von einst, die lächelnde Gewandtheit der Bewegungen, die tadellose Kleidung eines eleganten Mitteleuropäers. Ein plebejischer Weltmann. Er wiederholte: »Wie das? Wodurch trat ich Ihnen zu nahe?«

»Sie werden mich doch jetzt natürlich der Polizei ...«

»Der Polizei?« Ein abwehrendes, östliches Heben und Senken der Schultern drüben. »Die Polizei ist keines Menschen Freund! Lassen wir sie! Gott mit ihr! ... Was geschah denn? Nichts! Es fiel kein Schuß. Ein kleines Mißverständnis ... Setzen Sie sich!«

Sie sank auf einen Stuhl. Halb betäubt. Ihr zarter Körper zitterte an allen Gliedern. Er blickte sie über den Tisch hin an. Er sagte langsam, halb zu sich:

»Mein Gott – was sind Sie hübsch!«

Und dann lauter, so daß sie es hören mußte:

»Ein kleines Heiligenbild! Eine schwarze Madonna! ...«

Sie schwieg. Er rauchte. Er verlor sich immer mehr in das kleine, feine, wie eine Gemme geschnittene Antlitz drüben, aus dem jetzt jeder Blutstropfen geschwunden war. Er versetzte:

»Sie hätten sich mir eingeprägt, wenn ich Ihnen jemals begegnet wäre! Aber ich kenne Sie nicht!«

»Nein.«

»Und doch sind Sie zu mir ...?«

»Aus Rußland hierher.«

»Eigens – um mich zu töten?«

»Ja.«

»Haben Sie mich denn je gesehen?«

»Nein.«

»Nun bitte ...« Serge Ssilin zündete sich eine neue Zigarette an. »Was habe ich Ihnen also getan? Ich ... Ein einfacher russischer Kaufmann ...«

»Das sind Sie nicht ...«

»Gott weiß, für wen Sie mich halten ...«

»Für das, was Sie sind ...«

»... Bleiben Sie sitzen! ... Wozu der Lärm? ... Was fällt Ihnen ein?«

Aber das junge Mädchen war von dem Rohrstuhl emporgeschnellt, daß er umstürzte. Ihre Augen flammten. Ihre Stimme leuchte. Ihr dünner Arm reckte sich gegen den Mann drüben, der langsam aufstand.

»Sie sind Ssawa Kol ... der Bluthund ... Ssawa Kol ... der Mörder, dem tausend Menschen in der Krim fluchen! ... Sie sind Ssawa Kol – Sie werden einmal vor Gottes Gericht treten ... Aug' in Auge mit all den Unglücklichen, die Sie haben töten lassen ...«

Serge Ssilin stand am Samowar. Er mischte gelassen in zwei Gläsern das heiße Wasser mit dem Tee-Extrakt und sagte:

»Trinken Sie! ... Beruhigen Sie sich! Ich sehe jetzt: Ihre Nerven haben gelitten. Sie gehören zu den unzähligen Opfern der furchtbaren Zustände in unserer unglücklichen Heimat. Sie verwechseln in Ihrer Verwirrung mich mit irgend jemandem ...«

»Sie sind es! Ich kenne Sie doch vom Sehen aus Sebastopol! Ich erkenne Sie doch sofort wieder!«

»Erwägen Sie selbst: Wäre ich denn, wenn ich dieser Ssawa Kol wäre, in einem mühsamen Lebensunterhalt, hier in der Fremde? Wäre ich dann jetzt nicht in Moskau?«

»Dort waren Sie! Und haben dort selbst die Schreckensmänner gegen sich aufgebracht! Man sagt: Sie haben Staatsgelder unterschlagen. Sie mußten fliehen ...«

»Nie war ich in Moskau. Nie in der Krim! Ich stamme aus dem ehemaligen Gouvernement Kurland!«

»Jawohl! Ich weiß es! Ich weiß alles! Ihr Vater war ein lettischer Hafenzollbeamter in Libau. Ihre Mutter eine russische Kaufmannstochter dort. Er brachte Sie zur Kronsmarine. Sie waren Starschi-Leitnant auf dem Linienschiff Joann-Slatoust in Sebastopol ...«

»Sie träumen ...«

»Zusammen mit dem Inscheneer-Mechanik Sax! Er wollte euren Blutrausch nicht mitmachen. Er floh. Während des Kampfes zwischen den Weißen und den Roten in der Krim habt ihr ihn in seinem Versteck gefunden – bei meinem Vater ...«

»Wer hat Ihnen diese Märchen aufgebunden?«

»... bei dem Uhrmacher Büttner in Sebastopol! Ich bin seine Tochter Luja Büttner. Ihr habt den Mischa aus unserer Wohnung in der Tscheßmanskaja weggeschleppt. Ich habe ihn nicht wiedergesehen! Ihr habt den Mischa ermordet ...«

»Bitte: Wer ist Mischa?«

»Der Oberstabs-Ingenieur Michael Sax auf dem Ioanna-Slatoust – mein Bräutigam! ... Auf Ihren Befehl ist mein Mischa erschossen worden ... Ich weiß es ... Der Mitschman Koschto hat mir alles gesagt ...«

»Ich kenne keinen Midshipman Koschko!«

»Ihr habt meinen Vater eingekerkert, weil er meinen Mischa beschützt hat. Der alte Mann ist im Gefängnis oben über der Teatralnaja gestorben. Meine Mutter ist dahingesiecht. Jetzt hat sie ausgelitten. Jetzt war ich frei. Jetzt schlug ich mich nach Leningrad durch und ins Ausland – und kam hierher ...«

»... um einen harmlosen Menschen wie mich umzubringen ... ?«

»Um meinen Mischa an Ihnen zu rächen ... Da ...« Sie griff sich an ihren schmächtigen Hals. Sie nestelte ein Medaillon, das sie auf der bloßen Brust trug, unter dem Ausschnitt hervor. Sie hielt es leidenschaftlich Serge Ssilin unter die Augen. »Kennen Sie Ihren einstigen Kameraden vom Joann-Slatoust?«

Der Mann von lettisch-russischem Mischblut vor ihr musterte gleichgültig das nach einer Photographie auf Porzellan gemalte Miniaturbild eines blonden jungen Kronschiff-Offiziers mit kurzem, weichem Vollbart und träumerischen Augen. Er sagte, in seinem harten, aber geläufigen kurischen Deutsch:

»Es starben viele Menschen in Rußland! Also auch dieser! Aber nicht durch meine Schuld. Ich kenne ihn nicht!«

Und dann, nach einem schnellen, heißen Blick auf Luja Büttner, sich plötzlich abwendend und zerstreut in den Briefkopien auf dem Tisch blätternd:

»Man hat Ihnen einen echt russischen Bären aufgebunden! Nun – Ihr Vorhaben ist Ihnen nicht geglückt! Seien Sie froh, daß ich Sie von Unbesonnenheiten zurückhielt! Doch ... Sie verzeihen ... Ich habe jetzt dringende Geschäfte ...«

»Sie lassen mich ... mich einfach so weggehen?«

»Was denn sonst?« frug Serge Ssilin gleichmütig über die Schulter. Er hielt, breit-russisch lächelnd, den fanatisch glühenden Blick der dunklen Augen in dem weißen Gesichtchen drüben aus.

»Ich versteh' ja!« sagte Luja Büttner nach einer kurzen Stille im Zimmer. »Sie wollen nicht erst wegen mir sich auf der Polizei ausweisen müssen, wer Sie sind ...«

»Halten Sie mich für einen Menschen ohne Paß?« Der Halblette lachte. Nicht so ölglatt und fast unterwürfig wie bisher. Es blinkte weiß wie ein Wolfsgebiß in dem großen, belustigt breitgezogenen Mund.

»O nein! Sie haben wahrscheinlich sogar viel mehr Pässe als andere Menschen!«

Serge Ssilin tat rasch einen fast drohenden Schritt auf das junge Mädchen zu. Er sah ihr stechend, mißtrauisch aus seinen sonst völlig ausdruckslosen, blaugrauen Augen ins Gesicht. Dann kniff er wieder gleichgültig die wimperlosen Lider zusammen und machte eine höfliche Handbewegung nach dem Ausgang.

»Nun – Mit Gott!«

Das junge Mädchen trat hastig auf die Schwelle und legte die Hand auf die Klinke.

»Und doch handeln Sie unüberlegt ...,« sagte sie leise und atemlos ..., »daß Sie mich laufen lassen! ... Glauben Sie nicht, daß Sie mich jetzt los sind ...«

»Oh – ich werde Sie im Auge behalten!« Serge Ssilin saß schon an seinem Schreibtisch. Er hatte sich einen Zwicker aufgesetzt und ordnete stirnrunzelnd seine Korrespondenz.

»Nehmen Sie sich vor mir in acht ...«, klang es leise von der Türe. Der Inhaber des Handelskontors »Nowaja Rossija« tat, als hörte er es nicht. Er wartete, bis er das Schnappen des Schlosses vernahm. Dann rief er im tiefen, rauhen Baß eines Halbrussen aus dem Volk:

»Uhkeneek!« – und als der schweigsame, düstere Lette eintrat ... »... Schicke sofort einen fixen Jungen hinter diesem Mädchen her! Er soll beobachten, wo sie hingeht! Wo sie Wohnung nimmt ... Gleich wird sie aus dem Haus treten ... Da ...« Er faßte einen bleichen östlichen Burschen, den Jakob Uhkeneel eilig von den Kugeln des Rechenbretts im Schreibzimmer weggerissen, am Ohrläppchen und beutelte ihn in seiner Ungeduld wie eine Ratte, während er mit dem plumpen Zeigefinger auf die Straße hinunterwies. »Siehst du sie denn nicht, du Hundesohn? ... Der Teufel hole deine Großmutter, wenn du noch länger nach den geputzten Weibern da drüben schaust! ... Hier – gerade unter uns – dies entzückende kleine Geschöpf ... in dem braunen Bettelmäntelchen und der zerdrückten alten Reisemütze! ... Sie sieht trotzdem aus wie eine kleine Prinzessin – unter diesen Deutschen! ... Lauf ... Machalles! ... Du kannst sie noch leicht erreichen! Sie geht ganz langsam nach dem Brandenburger Tor zu ...«

Außen an dem Tor vorbei. Da war ein großer, kahler Wald ... mitten in der Stadt ... Das junge Mädchen schritt traumverloren, wie eine Nachtwandlerin, über den davor liegenden Platz. Auf dem jagten die mit Ausländern besetzten Autos. Tuteten. »Fräulein – Sie haben wohl Ihre Ohren zu Hause jelassen – wat?« Der Chauffeur, der vier Japaner beförderte, rief es wütend durch das Aufspritzen einer Pfütze nach rückwärts. Luja Büttner rannte verwirrt über die freie Fläche. Schleppte sich dann wieder matt, mit schweren Füßen, ziellos, nach links auf dem breiten Kiesweg am Rand des Gehölzes dahin. Da standen Holzbänke. Sie ließ sich erschöpft nieder. Sie starrte geistesabwesend auf die niedere Backsteinmauer gegenüber, auf der anderen Straßenseite – auf den trüben Himmel über den grauen Dächern der großen, fremden Stadt. Sie stützte verstört die Ellbogen auf die Knie und die blassen Wangen in die Hände. Plötzlich konnte sie nicht mehr. Ihr dunkler Kopf sank ihr vornüber auf den Schoß. So kauerte sie – in sich zusammengesunken – in stiller Verzweiflung – ohne sich zu rühren, im Ohr nur ein fernes, dumpfes, unbestimmtes Brausen Berlins ... Es schläferte ein ... Sie legte halb träumend, mit geschlossenen Augen, die Rechte auf die Stelle der Brust, wo sie das Medaillon Mischas trug ... Sie war zu matt zum Weinen ... Nur Schlafen ... Schlafen ... und nicht mehr Aufwachen ... Eine Hand berührte ihre Schulter. Sie fuhr empor. Da stand ein Sipomann. Ein Häuflein Neugieriger dahinter.

»Sind Sie krank, Fräulein?«

»O nein ...« Sie stand schüchtern und lächelnd auf. »Ich fühle mich ganz wohl, Herr Gorodowoi!«

»Sie sind Ausländerin ... nach der Art, wie Sie deutsch reden?«

»Natürlich! ... Es gibt ja überhaupt nur noch Russen in Berlin!« sagte ein dicker Herr entrüstet in der Schar der Gaffer.

»Gehen Sie lieber nach Hause, Fräulein!« mahnte der Sipo. »Wo wohnen Sie denn?«

»Ich habe keine Wohnung. Eben traf ich ein!«

»Dann suchen Sie sich aber vor Abend ein Quartier. Sie müssen polizeilich gemeldet werden!«

»Ich kann nicht, Herr Gorodowoi! Ich habe keine Kopeke!«

»Wie sind Sie denn da nach Berlin gekommen?«

»Mein Geld hat gerade noch für die Karte von Eydtkuhnen nach Berlin gelangt!«

»Leichtsinn ...«, sprach der dicke Herr kopfschüttelnd.

»Na, Fräulein – haben Sie denn hier gar keine Bekannten? Ganz Berlin ist doch voll von geflüchteten Russen!«

»Gewiß doch!« sagte das junge Mädchen gleichgültig und strich sich mit der Hand über die Stirne. »Es ist da eine Base von mir ... ich hörte in Rußland, daß sie sich hier befinden soll!«

»Wie heißt sie denn? Dann werden wir sie schon ermitteln!«

»Lisa Altschüler ... Sie floh mit ihren Eltern aus Cherson. Der Alte hatte dort eine Apotheke.«

»Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo sie wohnt?«

»Ja – wie denn?« Luja Büttner schaute zerstreut vor sich hin, als ginge sie die Sache eigentlich gar nichts an. »Die Pension hieß doch nach einer Pflanze, Herr Gorodowoi ... Etwas mit Alpen ... Alpenrose – gibt es das?«

»Die Pension ist in der Tölzer Straße 17.« Der Sipo blätterte in seinem Dienstbuch. »Drüben im Bayerischen Viertel. Sie fahren am besten mit der Linie ... ach so ... Sie haben ja kein Geld ... Na – da fragen Sie sich eben in Gottesnamen durch.«

»Ausjeschlossen!« verkündete in dem rasch wachsenden Kranz der Zuschauer der dicke Herr. »Das junge Mädchen fällt ja unterwegs um! Sehen Sie sie doch gefälligst nur 'mal an! Da sitzt sie wieder ... Wie das Leiden Christi ...«

»Ja. Ich kann nichts weiter machen!« Der Sipo zuckte die Schultern.

»Sie springt womöglich kopfvor in den Kanal!« flüsterte besorgt eine ältere Dame. »Man darf sie nicht allein lassen!«

»Ich kann von meinem Posten hier nich weg!« sagte der Sipo ... »Hat denn niemand von den Herrschaften das halbe Stündeken Zeit übrig und bringt in Gottesnamen das Fräulein an Ort und Stelle?«

»Das ist ein gutes, deutsches Wort!« rief der dicke Herr und trat schnell mitten in die Gruppe zurück.

»Vorwärts – Freiwillige vor! ... Niemand? ... Ja – Verehrteste – So wird Deutschland nicht genesen ...«

»Sie haben ja selber kalte Füße ...«

»Herr – ich verbitte mir ...«

»Machen Sie 'mal Platz, Muttchen!« sagte freundlich ein junger Mann. Er drängte sich an der alten Dame vorbei nach vorn und lachte: »Kinder – was habt ihr denn hier für'n Theater?«

»Freiwillige vor!« wiederholte aufmunternd der dicke Herr mit starker Stimme. Er stand jetzt hinter einem Baum.

»Das Kommando kenn' ich aus schönern Zeiten! ...« Der blonde junge Mann arbeitete sich mit den Ellbogen in die vorderste Reihe. »Herrschaften – wo steht denn der Feind? ... Donnerwetter.« Seine blauen Augen lachten, während sie auf Luja Büttner ruhten, die bleich und verwirrt vor der Menge auf der Bank saß. »Aber Püppchen – was haben Sie denn angestellt?«

»Gegen das Fräulein liegt nichts vor!« erklärte der Sipo. »Sie kommt aus Rußland.«

»War ich drei Jahre an der Front.«

»Sie hat kein Geld!«

»Ganz mein Fall!«

»Und will nach dem Bayerischen Viertel!«

»Ungefähr mein Weg auch!«

»Na – dann könnten Sie ja zusammengehn! ... Tölzer Straße 10!« sagte der Sipo erleichtert. »Wenn es dem Fräulein recht ist ...«

Das junge Mädchen erhob sich langsam. Sie ließ mit einem resignierten Atemzug die schmalen Schultern sinken und stand gottergeben, mit müde herabhängenden Armen da – den feinen, dunklen Kopf gesenkt.

»Ich finde: Wir passen famos zusammen!« sagte der junge Mann kameradschaftlich. »Wollen Sie sich mir anvertrauen? Ich tu' Ihnen nichts!«

»Ach ... bei so einem hübschen Menschen wird sie sich nicht lange bitten lassen ...«, sprach die alte Dame unruhig.

Luja Büttner blickte den jungen Mann schweigend an. Er war mittelgroß, um die Mitte der Zwanzig. Er hatte ein bartloses, frisches, freimütiges Gesicht mit lustigen blauen Augen und weißen Zähnen. Er besaß eine weiche, freundliche Art, mit Frauen umzugehen. Das fühlte sie ...

»Ich werde Sie schon bemuttern!« sagte er und lachte dabei wie ein großer Junge. »Kommen Sie nur!«

»Sie bringen das Fräulein doch auch sicher wohlbehalten vor das richtige Haus?« mahnte der Sipo ernst.

»Nun denkt der Herr Wachtmeister nämlich, ich bin ein Bauernfänger!« Der junge Mann wandte sich vergnügt zu den Umstehenden. »Leider nicht! ... Gar kein Talent für die Neuzeit ...! Also – wie ist's, Fräulein: Halten Sie mich für einen guten Menschen? Nicht wahr: da nickt sie! Also los!«

»Linie 111«, rief der Sipo hinterher. Der junge Mann winkte fröhlich mit der Hand zurück. »Danke ... Danke!«

»Der hält mich nämlich für Stinnes!« sagte er dann zu seiner Begleiterin. »Sie glauben gar nicht, was für 'ne Unmasse Geld ich nicht hab'! ... Im Vertrauen gestanden: Nicht 'nen polnischen Groschen!«

»Ich auch nicht!«

»Na also! ... Dann ist ja alles in schönster Ordnung! Wollen wir 'nen reichen Ausländer totschlagen? Aber das hält unnütz auf! ... Wir kommen auch so hin! Wenn Sie schlapp werden, trag' ich Sie!«

»Ich werde nicht schwach werden!« Das junge Mädchen neben ihm schüttelte fanatisch das schwarze, blasse Köpfchen und straffte im Ausschreiten leidenschaftlich ihre zarte Gestalt. Es war das erste Mal, daß sie länger mit ihrem Gefährten sprach. »Ich muß sehr stark sein in Berlin! Ich hab' hier noch viel zu tun!«

Kapitel 2

Inhaltsverzeichnis

Sie 'mal im Vertrauen, Fräulein – Hand aufs Herz: Haben Sie in Rußland 'was ausgefressen?«

Der junge Mann mußte seine frische, gemütliche Stimme erheben, um den Straßenlärm Berlins zu übertönen, durch den sie dahinpilgerten. »Nein? Wirklich nicht? Na – ich frag' ja auch nur, weil ... Fällt Ihnen nichts auf?«

»Nein!«

»Aber mir! Wir werden nämlich verfolgt! Wir marschieren doch nun 'ne gute Viertelstunde mang den Westen, und immer schleicht so ein junger, käsgelber Schlemihl hinter uns her – so von der Sorte – die kenn' ich aus Kurland und Polen ... Bleiben Sie 'mal unauffällig vor dem Schaufenster da stehen! Gucken Sie in die Spiegelscheibe hinein! Da: Im selben Augenblick macht ein höchst konfiszierter Jüngling an der Straßenecke hinter uns halt! – ja – der da mit der mottenzerfressenen Lammfellmütze auf dem schwarzen Lockenhaar, – Sehen Sie ihn?«

»Ja ...«

»Sie zucken dabei so zusammen ... Haben Sie Feinde in Berlin?«

»Aber wie sollte ich?« Die kleine Büttner lächelte. Sie sah reizend aus, mit dem weichen, halbgeöffneten Mund und dem kindlichen Ausdruck ihres weißen Gesichtchens. »Eben kam ich an und ging direkt vom Bahnhof nach der Bank an dem Park, und da kamen Sie ...«

Der junge Mann schritt mit ihr weiter und lachte.

»Um mich kümmert sich doch das gute Rußland nicht!« sagte er. »Dieser Lausejunge hinter uns gilt Ihnen ... Ich muß Sie auf alle Fälle von dem Bengel loseisen! Kommen Sie! Ich kauf' mir in dem Eckladen da 'ne Zigarre!«

»Aber Sie haben ja gar kein Geld – sagten Sie!«

»Das stört große Geister nicht!« Der junge Mann trat ein und wandte sich lässig an den Verkäufer: »... 'ne bessere, echte Importe bitte ... Kann dreist fünftausend Märker kosten! Geld spielt keine Rolle! Wie? Havannas kommen jetzt bei der Inflation nicht herein? Na – dann entschuldigen Sie man, daß ich geboren bin! Mahlzeit! ... Hier – durch die andere Türe 'raus, Fräulein!« Und draußen, in der Nebenstraße: »Uff! ... Das ist der Vorteil von zwei Ausgängen! Der Achtgroschenjunge kann drüben um die Ecke Wurzel schlagen! Der ist nach allen Regeln der Kunst versetzt! ... Nu flugs in die nächste Querstraße! Gut! ... Erledigt ... Ist Ihnen nicht doch ein bißchen unheimlich zu Mut?«

»Wie das? ... Ich erzählte Ihnen ja schon: Ich bin eine Waise. Ich floh aus Rußland wie hunderttausend andere! Ich suche in Berlin mein Brot. Ich kenne hier, außer meinen Verwandten, keine Menschenseele. Wer sollte also Böses gegen mich vorhaben?«

»Dabei zittern Sie aber am ganzen Leib! ... Mein Gott ... Unglückskind ... Sie fürchten sich doch nicht etwa plötzlich aus heiler Haut auch noch vor mir? Warum äugen Sie mich denn auf einmal so mißtrauisch an?«

Das junge Mädchen war stehen geblieben. Dann trat sie drei Schritte zurück. Sie frug leise, zwischen den Zähnen:

»Wo führen Sie mich hin ...?«

»Na – in die Arme der Ihrigen!« sagte der blonde junge Mann arglos und verwundert.

»Kommen Sie ... etwa ... vom Königsplatz?«

»Vom Königsplatz ...?« wiederholte er verständnislos.

»Wissen Sie nicht, was ich meine?«

»Nee!« sagte er ehrlich ... »Ich merke nur: dies Rußland hier in Berlin scheint ein gehöriger Hexenkessel ... Da braut ihr offenbar nette Sachen gegeneinander! ... Na, – ich bin 'n guter Deutscher! Ich hab' nichts damit zu tun!«

»Herrjeses aber ...« Er schüttelte, während sie – scheu und unschlüssig – bei seinem Nähertreten zurückwich, halb lachend, halb ungeduldig den hübschen Jungmannskopf. »Ich beiße Sie doch nicht, Fräulein! ... Aber damit Sie sehen, daß ich nichts Böses gegen Sie im Schilde führe – da ist meine studentische Legitimationskarte! Da können Sie lesen: stud. agr. ... Bernd Vollbrecht, Sohn des Gutsinspektors Martin Vollbrecht, im bisherigen Westpreußen ... Nun sitzen da die Polacken ... Also ... Hat nun die arme Seele Ruh'? ...« Er nickte seiner Schutzbefohlenen freundlich zu und steckte seine Karte ein ... »Na schön! ... Los!«

»Verzeihen Sie nur ...«, sagte Luja Büttner im Weiterschreiten halblaut und hob bang die schwarzen, dichten Wimpern zu ihm empor. »Mein Kopf ist so verwirrt ... Nun sind Sie mir gewiß böse?«

»Nee ... wahrhaftig nicht ...« Er guckte fidel aus seinen warmen, blauen Augen auf sie hinab. »Wissen Sie ... Ihnen böse zu sein – das wäre überhaupt ein höllisches Stück Arbeit! Also ich brächt' es bestimmt nicht fertig!«

»Ich hab' es nicht so gemeint! ... Ich hab' so Schweres durchgemacht ...«

»Man sieht es Ihnen an ...«, sagte Bernd Vollbrecht ernst und mitleidig. Es war ein herzlicher Klang in seiner Stimme. »Na – nur Kopf hoch! Es wird schon werden – mit Ihnen ... hier in unserm guten, ollen Berlin.«

»Ja.« Das junge Mädchen wiederholte es geistesabwesend – in ihre Gedanken versunken. Dann kam sie zu sich. Sie frug:

»Was heißt denn das stud. agr. auf Ihrer Karte?«

»... daß jemand Landwirt werden möchte ...«, sagte Bernd Vollbrecht, »vorausgesetzt, daß ihm nicht plötzlich 'mal vorher die Puste ausgeht!«

»Lernt man denn bei euch die Landwirtschaft in der Stadt?«

»Das Theoretische! Vorher war ich schon, wie ich glücklich 1919 aus dem Krieg zurückkam – ich war nämlich zu guter Letzt noch in russischer Gefangenschaft im Ural –, also da war ich ein paar Jahre praktisch unter meinem Vater als Scholar drüben in der Wasserpolackei tätig ...«

»Dürfen denn da jetzt noch Deutsche sein?«

»Das ist ja eben die Schweinerei!« rief der junge Mann zornmütig. Jäh lohte bei ihm der Hitzkopf unter dem Blondhaar auf. »Polnischer Staatsbürger wird Papa nicht ums Totschlagen! Wer das glaubt, der kennt meinen alten Herrn flach! Wir sind deutsch bis auf die Knochen! ... Nun ist's nur noch 'ne Frage von Wochen, wann er ausgewiesen wird ... samt Muttern ... 'ne Schwester von mir ist auch noch da ... Was dann werden soll – mit den Eltern und der Marjell – das weiß der liebe Gott...«

»Und unterdessen hungern Sie hier auch schon?« sagte die dunkle, kleine Deutsch-Russin an seiner Seite.

»Ja. Papa kann mir schon seit dem Anfang vom Jahr nichts mehr schicken!« Der stud. Vollbrecht schlenderte, seitdem die Rede auf ihn gekommen, ziemlich sorglos dahin. »Hätte ja auch gar keinen Zweck! Bis das Geld da ist – ist es ja doch schon wieder 'n Dreck wert, und es kosten alle Dinge das Zehnfache! ... Man muß eben jeden Tag schauen, wie man sie mit Anstand weiterbringt!«

»Haben Sie denn keine Freunde?«

»Na – 'ne schwere Menge! ... Das heißt: Wirkliche Freunde hauptsächlich nur zwei: Ein Polytechniker und ein angehender Zahnbrecher! Wir waren jahrelang Kriegskameraden draußen und halten jetzt noch zusammen wie die Kletten. Wenn der eine kein Geld hat, hat der andere meistens auch nischt, und der dritte 'ne Kleinigkeit weniger – na – und so helfen wir uns gegenseitig durch ... So ... da ist die Tölzer Straße ... Wollen 'mal sehn, ob da hinter uns 'was kraucht? Nee – den Schlemihl sind Sie los. Wer kann den bloß auf Sie losgelassen haben ...?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung!«

»Sie sagten doch 'was vom Königsplatz?«

»Ach – das war so ein Gerede ...«

»Woher kennen Sie denn aber den Königsplatz – wo Sie doch ganz fremd in Berlin sind?«

»... weil ich vorhin da vorbeigekommen bin ...«

»Ach so ...«

Beide schauten unwillkürlich nach der Richtung, wo fern am Königsplatz sich das altersgraue Palais Nr. 40 in entschwundener Pracht erhob. In seinem zweiten Stockwerk, im Privatkontor der »Nowaja Rossija«, klatschten Hiebe und gellte Wehgeschrei. Serge Ssilin jagte blindwütig seinen Sendboten, den jungen Schmelke Machalles, mit einer Hundepeitsche vor sich her durchs Zimmer. Sein knotiges, in klotzigen Ecken und Kanten flüchtig von der Natur zurechtgezimmertes Antlitz brannte rot vor Zorn. Es hatte jetzt etwas Wölfisches in dem wilden Blecken der weißen Zähne. Ein Waldmensch tobte da, in der Kleidung eines Mitteleuropäers.

Klatsch! »Du besoffenes Schwein!« Klatsch! »Du räudiger Hund ...«

»Jach bin kein Hünd!« heulte Schmelke Machalles.

»Hab' ich dir nicht befohlen, du stinkender Teufel, du sollst sie nicht aus den Augen lassen. Solch ein Mädchen gibt es doch nicht wieder ...,« Serge Ssilin wandte sich außer Atem an Jakob Uhkeneek, der völlig teilnahmslos an der Türe stand ..., »ein Kleinod ... eine Perle ...«

»Es ist eine wie die andere!« sprach der Lette mürrisch. Sein Herr scheuchte wieder, mit pfeifender Knute, den bleichsüchtigen Schlemihl die Wände lang.

»Wo hast du ihre Fährte verloren? ...« Klatsch! »Gestehe ... du schwarze Laus ...«

»E bresele langsam!« stöhnte Schmelke. »Nah' am Wittenbergplatz!«

»Und in welcher Richtung ging sie da mit dem jungen Kerl neben ihr?«

»Eu weh! Nach dem Bayerischen Viertel!«

»Pascholl! ... Ins Bayerische Viertel!« Serge Ssilin warf Schmelke Machalles die Peitsche an den Krauskopf und kreuzte, plötzlich unheimlich ruhig, die Arme über der Brust. »Du kommst mir nicht wieder vors Gesicht, ehe du sie gefunden hast! Ihr kennt mich!« ...

Dort, in der Tölzer Straße, machte der blonde stud. agr. Vollbrecht halt.

»So! Da sind wir! Hausnummer zehn. Wie kriegen Sie denn nun Ihr Gepäck?«

»Gepäck?« Die kleine, brünette Deutsch-Russin sah erstaunt aus ihren tiefen, schönen Augen zu ihm auf. »Ich habe keins!«

»Nichts?«

»Wie sollte ich – als Flüchtling? Nur, was ich auf dem Leib trage! Und Seife und Zahnbürste und etwas Wäsche hier im Handtäschchen!«

»Ja – aber so können Sie doch nicht herumlaufen!«

Luja Büttner schwieg, mit dem Fatalismus des Ostens.

»Sie müssen sich doch ein bißchen ausstatten! In dem Fähnchen können Sie sich ja nirgends vorstellen!«

Das junge Mädchen hob nur die Schultern und ließ sie, mit einer schicksalsergebenen Bewegung, wieder sinken.

»Werden Ihre Verwandten oben Ihnen helfen?«

»Lisa Altschüler und ihre Eltern? Mehr wie das Leben besitzen sie gewiß nicht!«

»Ja – was macht man denn da?«

»Gott weiß es!«

»Und das sagen Sie so pomadig?« rief der junge Mann heißblütig. »Da muß aber etwas geschehen! Berlin ist kein Spaß! Man muß Ihnen auf die Beine helfen! Na ...« Er legte ihr plötzlich strahlend und zuversichtlich die Hand auf die Schulter. »Lassen Sie mich nur machen! ... Verlassen Sie sich 'mal ruhig auf mich! Warum stimmt Sie denn das heiter?«

Die kleine Deutsch-Russin mußte zum erstenmal lachen. Ihr weißes, zartes Kindergesicht verklärte sich in dem Anflug von Sonnenschein lebenswarm zu einer verführerischen Evaschönheit.

»Sie haben doch auch kein Geld!« sagte sie und wurde plötzlich wieder scheu und ernst.

»Macht nichts!« Der Student vor ihr verlor sich andächtig in das dunkle Märchen aus der Fremde. »Ich schaff' es schon ... wenn es für Sie ist ... Wie? Nein ... Hinaufbegleiten muß ich Sie noch ... Am Ende wohnen Ihre Verwandten gar nicht mehr da oben – und dann stehn Sie da ...« Aber auf der Schwelle der Türe, auf der »Pension Alpenrose, für In- und Ausländer« stand, schob eine große, stramme Weiblichkeit zu Mitte der Zwanzig rasch und resolut das öffnende Mädchen beiseite. Sie trug dicke, kastanienbraune Zöpfe verschlungen über dem vollen, runden, regelmäßigen, von Jugend blühenden Gesicht. Sie rief mit einem starken, tiefen Alt:

»Luja ... Das ist doch deine Stimme ...«

»Lisa ...« Die beiden Basen küßten sich. »Gottlob ... Du bist in Berlin ...«

»Luja ... Du lebst noch ... Wo kommst du her! Ich danke Ihnen von Herzenl«

Die derbe, gesunde Lisa Altschüler blickte mit phlegmatischem Wohlgefallen auf den blonden, frischen deutschen Jungmann. Der schüttelte herzhaft die magere kleine Hand seiner Schutzbefohlenen und zeigte lachend die weißen Zähne.

»Also ... ich lasse noch von mir hören ... In den nächsten Tagen! ... Nein ... nein ... Sie brauchen einen Freund! ... Auf Wiedersehen!«

Er stieg die Treppe hinab. Er vernahm durch die offen gebliebene Tür aus dem Flur oben Lisa Altschülers starke Stimme:

»Du mußt aber mit mir zusammen in einem Bett schlafen! ... Wie ...? Ja – ich bin hier Verkäuferin in einem Warenhaus ... in der Abteilung Galoschen ... weil ich Russisch kann ... Die vielen Russen in Berlin kaufen doch alle Galoschen ...«

Und schon ganz aus der Ferne:

»Ja – damit ernähr' ich die Eltern: ... Papa? ... Mein Gott ... Papa sitzt eben so da! Mama auch! Was sollen sie machen?«

Der Student der Landwirtschaft Vollbrecht trat auf die Straße hinaus und frug sich, wo eigentlich das Geld auf dieser Welt hingeraten war? Niemand hatte mehr welches – außer den massenhaften Ausländern: Es wimmelten so viel Japaner und Russen längs der Häuser dahin, als sei ein neuer Krieg in der Mandschurei in Sicht. Der junge Mann ließ das Fremdenviertel hinter sich. Er wandte sich dem dahinter liegenden grünen Alltag der Gassenzüge nahe der Potsdamer Straße zu. Er durchschritt einen düsteren Hof und stieg vier Treppen im Quergebäude empor. Oben, am Geländer, lehnte eine fassungslos auseinandergequollene, schlampige Alte.

»Können Sie mir 'was pumpen, Mutter Peereboom?« rief er vergnügt schon von unten.

»Nee – so wat!« Die Zimmervermieterin stemmte fast sprachlos die Hände in die Hüften. »Wo Sie seit vierzehn Tagen nischt zahlen und nischt tun!«

»Na – ich bin doch Student!« Bernd Vollbrecht klopfte der Quartiermutter beschwichtigend auf den feisten, runden Rücken.

»Hätten Sie 'was gelernt!« keifte Mutter Peereboom. »Dann brauchten Sie jetzt nicht zu studieren!«

»Ich hab' Soldat gelernt! Ich hab' Berlin drei Jahre lang gegen die Kosaken geschützt!«

»Ach wat! Wenn die ollen Russen ooch gekommen wären – mir hätten sie nischt jetan!«

»Das glaub' ich auch!« sprach der junge Mann aus voller Überzeugung und öffnete eines der vielen, nebeneinander liegenden Zimmer, die Mutter Peereboom auf Tage, Wochen und Monate vermietete. An der Tür außen haftete neben seiner eigenen Visitenkarte eine zweite, mit dem Aufdruck: »Paul Ribbentropp, cand. ing.« Innen stand, unter der schrägen, niederen Decke der Dachstube, in einem Waschbottich ein nackter Zyklop. Er kehrte dem Eintretenden den gemaltigen, weißschimmernden Rücken zu und schüttete sich, trotz der Märzkühle in der kahlen Kammer, das kalte Berliner Leitungswasser stromweise aus einem Kübel über die Schultern. Er schnaufte dabei vor Behagen. Seine mächtigen Oberarme rundeten eisenhart ihren Bizeps. Überall sprangen ihm wie dem farnesischen Herkules ganze Muskelbündel an Stellen, wo kein gewöhnlicher Mensch solche besaß, aus dem Leib – zwischen den Schulterblättern – auf den Rippen – im Nacken.

»Lass' jetzt das Geplantschte!« rief Bernd Vollbrecht stürmisch. »Es ist da ein Mädchen ...«

»Wo?« frug Paul Ribbentropp und warf sich schleunigst ein durchlöchertes, altes Bettlaken über den Riesenkörper.

»Na – mitgebracht hab' ich sie natürlich nicht! Es ist eine geflüchtete kleine Deutsch-Russin! ... Also süß! Man muß ihr helfen! ... Entwickele dich jetzt aus deinem Naturzustand zum Menschen, Paule ...«

»Trag du 'mal den Tag über im Speicher an der Spree Lastsäcke!« sagte der Riese. »Da ist der feinste Hund am Abend dreckig!«

Auf dem wackeligen Tischchen am Fenster standen eine Kaffeemühle und ein Spiritusmaschinchen neben aufgeschlagenen Büchern mit planimetrischen Tafeln.

Der junge Vollbrecht schüttelte den Kopf.

»Tagsüber bist du im Hafenspeicher der starke Mann, und nachts kochst du dir den viersträhnigen schwarzen Kaffee, um beim Büffeln wach zu bleiben! Auf die Dauer hält sogar ein Bär wie du das mit den Nerven nicht aus!«

»Mir wär's auch lieber, ich hätte nachts eine Brotstelle,« der Kandidat Ribbentropp fuhr in Hemd und Hosen, »und könnte bei Tag in die Vorlesungen im Polytechnikum gehn! Aber da müßt' ich mich schon als Fassadenkletterer auftun! ... In der Branche allein ist noch Nachfrage nach strebsamen, jungen Leuten!«

»Also hör' mal – hast du Geld?«

Paul Ribbentropp drehte sich langsam um. Statt eines grimmen Boxerschädels, wie ihn seine Hünengestalt erwarten ließ, zeigte er ein unendlich gutmütiges, behäbiges Gesicht mit aufgedrehtem, winzigem, blondem Schnurrbärtchen. Er sah den Freund forschend an und umspannte schweigend mit seiner Mammut-Tatze dessen Handgelenk.

»Pulsschlag normal ...«, sagte er dann. »Bezecht ist der Kerl auch nicht! ... Also wie kommst du denn auf solche Halluzinationen, bei mir Geld zu vermuten?«

»Das Mädchen läuft 'rum wie 'ne Motte!« rief der stud. Vollbrecht aufgeregt. Er hielt inne, in der Sorge, daß man rechts und links nebenan durch die dünnen Türen etwas hören könnte. Aber die beiden Kellnerinnen, die auf der einen Seite wohnten, saßen jetzt schon, vor dem Antritt des Dienstes, unten beim Friseur, und Marmoll und Macca, das Berufstänzer-Ehepaar, zeigten bereits, beim Vieruhr-Tanztee in einer Diele des Kurfürstendamms, die letzten amerikanischen Beinverrenkungen nach dem neuesten Niggertakt. Bernd Vollbrecht fuhr hitzig fort: »Also kurz und gut: das Mädchen muß neu eingepellt werden – von anständigen Menschen! ... Denk' nur: die Versuchungen in Berlin! ... Sie ist ja so wunderhübsch!«

»Das süße Mädel hat dir gerad' noch gefehlt ...« Paul Ribbentropp knotete vor dem fliegenblinden Spiegelchen die altpreußisch-schwarzweiße Binde.

»Ich hab' ihr versprochen, sie zu bemuttern!« Der junge Landwirt ballte heißblütig die Fäuste. Es flackerte in seinen blanken, blauen Augen. »Denk' dir nur die arme Kleine – ohne einen Groschen – ohne 'was anderes als wie sie da geht und steht – mitten in diesem Berlin von heutzutage! ... Das gibt ja ein Unglück! ... Es muß Geld bei! ... Steh nicht so stumpfsinnig da! ... Komm mit zu Alfred ...«

»Der reißt ja jetzt noch Zähne!«

»Darf er noch gar nicht! Lernt ja erst bei dem Techniker! Um fünf wird dort die Schreckenskammer geschlossen!«

Immer mehr russische Laute auf den Straßen, je mehr sich die beiden jungen Leute dem Kurfürstendamm näherten. Lammfellmützen. Fremdartige Gesichter. Russische Zeitungen in den Auslagen der Straßenhändler. Russische Buchläden mit unverständlichen Aufschriften. Das Sausen der Autos mit Japanern, Tschechoslowaken, Dänen, Yankees. Ein vornehmer, alter Herr in abgeschabter Kleidung flüsterte an der Ecke einer Querstraße leise, ohne – der Polizei-Augen wegen – den abgetragenen Hut abzunehmen:

»Ich hungere ...«

»Ja – wir leider Gottes auch ...«, sagte der Riese mitleidig und bog mit seinem Gefährten in die Seitenstraße ein. Ein Haufen Männer und Frauen stand da vor einem geschlossenen Brotladen. Der Tschako eines Sipomanns ragte vom Treppenabsatz über die Köpfe.

»Drüben in Moabit gibt's schon Klamauk!« klagte eine Stimme. »Drei Läden haben sie schon gestürmt ...«

»Jotte nee ... seit gestern det Brot wieder um vierhundert Mark teurer ...«

Nicht weit davon stiegen die beiden Studenten in einem Miethaus von der jetzt verblichenen Talmi-Eleganz des neuen Berliner Westens zur Vorderwohnung im zweiten Stock empor. Eine weißhaarige, würdig aussehende alte Dame öffnete erschöpft auf ihr Klingeln. Sie hielt einen riesigen, plattfüßig breiten Lackschuh und ein Ölläppchen in der Linken.

»Guten Abend, Frau Geheimrat! Ist Alfred da?«

»Er holt eben Preßkohlen aus dem Keller!« sagte die verwitwete Geheime Regierungsrätin atemlos. In einem Türspalt leuchtete ein weißes Gebiß in einem pechschwarzen Antlitz:

» Madam – pumps – please ...«

»Ich habe eben die Schuhe geputzt, Mr. Congo!« Die Geheimrätin reichte diensteifrig dem Gentleman Samuel Congo aus Haiti die beiden schwarzen, flachen Flundern und seufzte bang. »Nun geht er wieder schwiemeln! Jede Nacht! Wenn er nur übermorgen noch Geld hat ... für die Miete ... Alfred ... Monsieur Tavernier wartet schon auf die Briketts ...«

Alfred Henke, der angehende Zahntechniker, trug einen Zwicker vor dem seinen, weichen, intelligenten Gesicht. Er war zart und schmächtig gebaut. Es kostete ihn Mühe, den Kübel mit Kohlen in das Zimmer des Belgiers zu schleppen, aus dem das Gequietsche von Weiberstimmen schrillte.

»Er hat wieder Damenbesuch!« meldete er zurückkehrend seiner Mutter und drückte den Freunden die Hand. »Sie trinken französischen Sekt.«

Aus den Zimmern am Ende des Flurs quäkte Kindergeschrei durch ein heiseres Grammophon. Ein untersetzter, mahagonibrauner Herr mit rabenschwarzem Knebelbart winkte südlich-leidenschaftlich die Geheimrätin heran.

»Das ist unsere neueste Akquisition ... Señhor Affonso dos Santos mit Familie aus Brasilien ...«, sagte der Sohn des Hauses. »Was gestikuliert er da? ... Ach so ... das versprochene Kanape, das noch nebenan bei dem Siamesen steht ... Der ist nicht daheim ... Helft mal!« und, während sie das Möbelstück hinübertrugen: »Mama schafft's nicht mehr! Ein Mädchen können wir uns nicht halten! Ich muß von jetzt ab durchaus abends 'was verdienen – als Zigarettenfritze oder so ... Wenn ich nur 'nen roten Heller Betriebskapital hätte ...«

»Und ich wollt' dich eben anborgen!«

»Bernd ist nämlich lititi geworden!« erläuterte Ribbentropp, während sie in das Zimmer des Siamesen zurückkehrten und die Polster und Decken des Kanapes holten. »Er hat die fixe Idee, ein kleines Mädchen auszustaffieren ...«

»Ein Engel!« schrie Bernd Vollbrecht. »Also denkt euch einen tiefschwarzen Engel ...«

»Du – sieh 'mal ... was ist denn dort auf dem Yorkplatz los?« Der Riese wandte sich, nach einem Blick durch das Fenster des Siamesen, jäh zu dem kurzsichtigen Zahnpraktiker. »Da gibt's ja 'was zu verdienen!«

»... mit Augen ... von einer Schönheit ...«, fuhr der Dritte begeistert fort ... »Halt ... Wohin rennst du?«

Paul Ribbentropp war schon aus der Türe. Die Treppe hinab. Im Laufschritt über die Straße. Die beiden andern hinterher. Vor der hoch-vornehmen Ausländerpension »Luna« am Yorkplatz hielt ein Gepäckauto. Oben auf seinem Gitterdeck lag ein ungeheurer Transatlantikkoffer mit dem aufgepinselten Namen: MacTilloch. Sein Besitzer, ein langer, dürrer Angelsachse, stand auf dem Bürgersteig. Daneben der Portier. Dessen Frau. Ein paar Hausmädchen. Der Chauffeur. Ratloses Schweigen.

»Det Stück Handgepäck ... det tragen drei Jebrieder aus dem Zirkus nich!« sprach der Hausbesorger heiser. Und dann verblüfft: »Nu fällt Ostern und Fingsten uff eenen Tach! Mutter – nu kiek' man bloß!«

Paul Ribbentropp hatte sich von seinen beiden auf das Verdeck geenterten Freunden den Mammutkoffer auf die Schultern wuchten lassen. Er stieg mit ihm, während die zwei andern mit dem Rest des Gepäcks folgten, langsam und bedächtig bis zum dritten Stock, setzte ihn dröhnend nieder und bedeutete dem Yankee mit aufgehobenem Zeigefinger: »Ein Dollar! – Halt – nein: Ein Dollar für jeden!« – und als Mr. MacTilloch zögerte: »Gut! Tragen wir das Dings wieder 'runter!«

» Oh – I see – stop – please!« Der Amerikaner winkte dem Riesen halt, der schon wieder gemütlich mit dem buntbeklebten Ungetüm auf dem Rücken die ersten Stufen abwärts stieg, und drückte ihm noch zwei kleine grüne Scheine in die Hand. Unten vor dem Hause gab Paul Ribbentropp jedem der zögernden Freunde einen.

»Nehmt!« dräute er. »Oder es bleibt von euch nur ein häßlicher, nasser Fleck am Boden übrig!«

»Nun stürze ich mich in meinen nächtlichen Erwerb!« sprach der zarte Zahnbeflissene entschlossen. Bernd Vollbrecht rechnete:

»Kinder ... Für 'nen Dollar kann sie sich doch schließlich allerhand kaufen!«

»Er ist rein verrückt mit dem Mädel!« brummte Ribbentropp zu Henke. Und der stud. agr. Vollbrecht lächelte nur sonnig und verzückt vor sich hin:

»Ach – ihr kennt sie eben nicht!«

Kapitel 3

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