Der Bauer in der Au - Rudolf Stratz - E-Book

Der Bauer in der Au E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Spannender Roman über gesellschaftliche Pflichten und Erwartungen im 20. Jahrhundert Nach dem Tod seines Vaters muss Flori als ältester Sohn den elterlichen Hof übernehmen. Keine leichte Aufgabe, denn der Hof ist verschuldet und viele Arbeiter verweigern Flori ihre Gefolgschaft. Um den Hof zu retten sehen seine Geschiwster nur eine Möglichkeit: Flori muss die vermögende Vroni Distl heiraten. Doch Flori hat sein Herz längst an die schöne Münchnerin Fanny verloren. Auch wenn Flori sich seiner Pflicht bewusst ist, kann er Fanny einfach nicht vergessen und trifft eine Entscheidung, die nicht nur seine Familie und den elterlichen Hof betrifft, sondern auch schicksalhafte Auswirkungen auf das ganze Dorf mit sich zieht...-

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Rudolf Stratz

Der Bauer in der Au

Saga

Der Bauer in der AuCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1932, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507339

1. Ebook-Auflage, 2019 Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

1

Eichendunkel, Lärchenhelle, Fichtenschwarz, Espengezitter, weisse, wilde Kirschbaumblüten, Weissdornstacheln, Haselnussstecken, Wacholdergewurzel — die ganze grün wechselnde, sonnenzitternde Waldwand wippte weithin unter dem Griff zweier starker Arme — eine wild gewachsene Urwaldmauer noch, da unten im letzten Süden des Deutschen Reichs, im bayerischen Hochlandswinkel zwischen Inn und Salzach.

Durch das sich sträubende, aufgeregt schwankende Dickicht brach, aus dem Waldschatten heraus, Einer mit breiten Schultern und stand da im Sonnenschein auf der lichten Grasmatte, den Kugelstutzen am Riemen, sechs Fuss lang, in seinen schweren Nagelschuhen, den verschwitzten Lodenfilz mit hoch wehendem Adlerflaum schief hinterm Ohr, grün und gelb gestickt die graue Joppe und die Hosenträger und der Gürtel, nackt die braunen Knie unter den kurzen, schwarz abgewetzten Lederbuxen, grüngeringelte Stutzen über den drahtigen Waden — stand da wie ein Bild der bayerischen Berge, aus denen fern gegen die Salzburger Grenze hin, über dem Steinernen Meer, der letzte Riese des Reichs, der Watzmann, sein noch winterlich weisses. Schneehaupt zum tiefblauen Himmel hob.

Zu Anfang der Dreissig der Bursch aus dem Wald, tief braun gebrannt das verwegene Gesicht mit der Adlernase über dem langen, dunklen Schnurrbart und den stählern wie bei einem Raubvogel glänzenden Augen.

Vor diesen Augen dehnte sich unermesslich, tief da unten, die flache bayerische Hochebene, mit ihren unzähligen weissen Nadeln der Kirchtürme, den grünen Vierecken der Felder, den blauen Seen, den braunen Mooren, den weissen Bändern der Strassen, den schwarzen Wäldern.

Und ganz in der Nähe, in einen Talkessel der Vorberge gebettet, fast unter der Schuhspitze des Jägers, schimmerte blendend weiss, wie aus der Spielzeugschachtel gepackt, fast ein Dorf im kleinen, waldverloren, ein riesiger Einödhof. Eine eigene kleine Kapelle neben dem dreistöckigen Wohnhaus mit dem grüngestrichenen Balkon und den buchsbaumgesäumten roten Kieswegen um den Springbrunnen in dem blumenbunten Vorgarten. Hinter den langen, flachen Stalldächern die Baracken des Sägewerks am aufgestauten Wildbachbecken, weithin die Wagen- und Maschinenschuppen, frei stehend unter blühenden Obstbäumen die Waschküchen und erdgemauerten Backöfen und farbig gekringelten Bienenstände, hundertfach weiss das Gesprenkel der Hühner um das Gehöft, braun-weiss die Flecken der vielen weidenden Kühe zwischen den Gattern, melodisches Almglockengebimmel, verwehtes Peitschengeknall . . .

Aber die Leute auf dem Hof da unten gingen nicht wie sonst mit Sense und Melkeimer und Holzaxt und Mistgabel ihrer Arbeit nach. Die standen da und schauten — ja — nach was?

Um sich herum, vor der leise murmelnden Waldmauer, hörte der Jägersmann oben nur die Stimme der Berge — misstöniges Hähergezeter aus Buchengeäst, das sanfte Gegurr der wilden Taube im Eichenwipfel, das metallische Glucksen des schwarzen Alpeneichhorns blitzschnell den Fichtenstamm hinauf, fern, eintönig wie ein Holzhacker, das Klopfen des Buntspechts und unermüdlich, in diesen Maitagen, irgendwoher aus grüner Weite, vom Morgen bis zum Abend der Frühlingsruf: Kuckuck! Kuckuck!

Jetzt eine Bewegung da unten, unter dem Dienstvolk im Grund. Sie hatten den Mann oben am Waldrand erkannt.

„Juchhu!“ klang es dünn durch das Wehen des Windes herauf. Das war die Marei, die Jungmagd. Die hatte die hellste Stimme von allen.

„Juchhu!“ Er antwortete. Es tönte schneidend wild und froh, wie der Schrei eines der letzten Adler, die sich noch einmal hier in die Bergwildnis verflogen. Jetzt sprang einer unten vor — ein Bursch, etwas jünger und viel kleiner und nicht so breit gestellt in den Schultern wie der da oben.

Was wollte er denn nur — der Bruder — der Simon? Der fuchtelte aufgeregt mit den Armen und winkte, herunterzukommen. Und die andern schrieen und gestikulierten mit.

Brandschaden auf dem Einödhof? Nein. Der rauchte nur friedlich aus bläulich dünstenden Schornsteinen. Also was denn nachher? Immerhin. Der Jäger oben zog schnell die Patronen aus dem aufgeklappten Zwilling, hängte sich ihn über die Schulter und setzte sich in Trab.

Von unten liefen sie ihm entgegen. Sie taten sich härter als er, bergauf. Der Bruder Simon, der blasse, schwächliche, war dem Dienstvolk voraus. Aber wo es steiler ging, verlor er den Atem und klomm nur noch schrittweise empor. An ihm vorbei rannte die Flinkste, die Marei, die Jungdirn. Ihr braunes, wildes Gesichtel mit den lichtblauen Augen und dem dunklen Zopfkranz um die Schläfen tauchte aus einem Steilhang nah unter dem Bursch aus dem Walde auf. Sie hatte den Mund weit offen. Ihre weissen Zähne blitzten. Sie keuchte:

„Mach voran, Flori! Der Bauer fährt heim!“

Und jetzt hinter ihr, ausser Luft, auch der Simon:

„Kimm, Flori! Kimm! Mit dem Vater geht’s z’ End!“

Der Flori flog in federnden Sprüngen die Grasleiten hinab. Die andern rannten nebenher. Die Marei berichtete abgerissen:

„Gestern, auf d’ Nacht, wie wir ’s Vieh eingewiesen haben, hat’s ihn derwischt! Gerad’ hingeschlagen is er! Dös is a Stickfluss, sagt der Doktor! Da kannst nix mehr machen!“

„Wir haben gleich nach dem Doktor telephoniert!“ Der Simon hielt aus Leibeskräften laufend mit dem stärkeren und grösseren Bruder Schritt. „Er is bald kommen! Aber nach dir haben wir umsonst gesucht! Was machst denn die ganze Nacht im Wald? Jetzt is doch keine Jagd nit!“

„Er wird doch noch jaga derfa!“ schrie die Marei im Rennen. Der Flori deutete über seine Schulter zurück. Neben dem Rucksack tanzte da ein Fuchsschwanz auf und ab.

„Auf d’ Füchsin, die als d’ Hennen holt, hab’ ich vor dem Bau angesessen und sie heut früh gekriegt — das Luada! Seid’s froh!“

„Wenn d’ Maifüchsinnen so gross wären wie die Ochsen, täten s’ uns alle zerreissen!“ keuchte die Marei.

„Und wann du nur dem Flori alleweil ’s Wort reden kannst!“

„Ich hab’s ihr nit g’schafft, der dummen Dirn!“ Der Flori stand vor dem Haus. Er nahm den Hut ab und bekreuzigte sich. Sein Antlitz war tiefernst. „Kommt’s ’rein — zum Vater!“

Innen, im steingepflasterten Mittelgang, stand die Zenz, die ältere Schwester des Florian und des Simon, mit ihrem Mann, dem Heiss von Walching, weit aus dem Chiemgau her. Der Chiemseebauer war ein schöner, aufrechter, langer Mann, nicht mehr der jüngste, schon in die Vierzig, mit einem ruhigen und klugen Antlitz. Er drückte dem Schwager die Hand.

„Wir sind heut schon vor dem Frühläuten ’kommen!“ sagte er, während sie zusammen die knarrende Treppe hinaufstiegen. Neben ihm schluchzte die junge Heiss-Bäuerin, den am unteren Rand goldgestickten, flachen Hutteller mit den lang hängenden schwarzen Bändern auf dem tränenüberströmten, vollwangigen, blühenden Gesicht.

„Ja — wer hätt’ dös gedenkt! Noch net sechzig is er — der Vater! Und gerad’ wie ein Junger hat er daherg’schaut!“

Aber jetzt sah der Bauer in der Au nicht mehr aus wie ein Junger, sondern wie einer, der auf die weite Reise geht. Er lag oben, schon seit Jahren ein Witwer, in seinem lustig himmelblau mit weissen Vögelchen und grünen Blumen bemalten Bett, den gelblichen, grauschnurrbärtigen Kopf mit feierlich verfallenen Zügen tief in den rotkarierten Kissen.

Bunt wie das Bett war alles Gerät im Zimmer — die Schränke, die Kasten, die Stühle. Durch die kleinen, offenen vier Fenster flutete goldenes Sonnenlicht auf die weissgescheuerten Dielen und das Kruzifix über der Tür und die Bilder der lieben Heiligen an den Wänden, goldumrahmt in Buntdruck die schwarze Mutter Gottes in Altötting und die Grotte von Lourdes. Vor dem kupfernen Weihwasserkesselchen in der Wandnische ein Strauss Vergissmeinnicht und Dotterblumen. Dicht draussen winkten im Maiwind vor dem tiefblauen Himmel Baumgrün und weisser Blütenglast, Hahnenkraht, Spatzenzirpen, Kuhgebrüll, Hühnergegacker, Ferkelgequieke wehten in die Stille des Sterbezimmers wie ein letzter Gruss des lieben Viehs. Es war ein freundlicher Abschied von dieser Welt.

Die Brust des Bauern rasselte noch in schweren Atemzügen. Sein Mund und seine Augen waren offen. Aber die Krankenschwester aus dem Markt Holzing draussen in der Ebene, eine Religiose vom Dritten Orden, schüttelte leise die grosse, weisse Flügelhaube:

„Er kennt sich nimmer!“

Unten im Erdgeschoss, gleich wenn man hereinkam zur Rechten, hatte der Bauer sein Arbeitszimmer. Schon sein Vater hatte die Decke schön mit goldgelbem Zirbelholz ausgetäfelt. An der blaugetünchten Wand hingen Rehgewichtln und ausgestopfte Vögel und eingerahmte Photographien. Auf dem Schreibpult der Marienkalender mit Kreuzeln von Geschäftsterminen für die einzelnen Tage des Monats Mai. Daneben das Telephon.

„Derfen sich fei’ eilen, Hochwürden!“ sprach drängend in den Apparat hinein der alte Gnadl-Vater, einer der Bergbauern aus der Nachbarschaft. Das ganze Zimmer war voll von ihren wetterbraunen, hageren, ernsten Gestalten. Der Grill‘ von Obergaiching und der Schwaiger von Pittenham mit ihren Weibern, der Pointner vom Hemhof samt seinen Söhnen, der Höchsteiger, Bürgermeister von Pittenham, Alles uralter Bauernadel des Berglands, seit ein paar Jahrhunderten mit den Vogl hier in der Au verschwägert und versippt.

Sie schwatzten nicht viel. Sie sassen und schwiegen. Ruhige Ergebung auf den verwitterten Zügen. Von Erde bist du, zur Erde gehst du! In die Erde streut der Bauer den Samen. Aus der Erde spriesst dem Bauern das Korn. Zur Erde kehrt der Bauer zurück. Und statt des Korns streuen, die da leben, ihm die Erde nach, auf dass er im Himmel auferstehe wie das Korn auf Erden. Im ewigen Kreislauf und Gleichmass folgen sich die Jahreszeiten und die Menschengeschlechter. Wie soll einen Bauern der Tod erschrecken?

„Um Sankt Pankraz ’rum fahren die Vogl gern heim!“ sagte in die Stille die kleine, gebückte Fetz-Mutter. Sie musste es wissen. Sie war schon über achtzig. Sie hatte schon zwei Vogl in der Au mit den Füssen voran aus dem Haus hier kommen sehen — den Vater und den Grossvater von dem Sterbenden oben. Und das waren nur die letzten aus einer langen Reihe. Denn schon bald nach dem Dreissig-jährigen Kriege, als man daranging, die von den Kaiserlichen verbrannten Gehöfte wiederaufzubauen, hatte der Fürstbischöflich Salzburgische Ezpositus von Pittenham in sein Kirchenbuch vermerkt: ,Domus Au. Vogl paganus et uxor sua.’ ,Im Haus zur Au der Bauer Vogl und sein Weib.’

„Kommt s’ endlich — die Theres“, murmelte die braune Marei, die mit dem ganzen Gesinde auf dem Flur stand. Ein Berner Wägelchen mit zwei von Schweissflocken weissgesprenkelten Füchsen fuhr vor. Die zweite Tochter des Bauern, die Ametsrainerin von Egg, drüben dicht an der Salzburger. Grenze, kletterte hinter ihrem Mann heraus. Das war ein kleiner, gedrungener Graukopf, fröhlich sonst von Gesicht und Gemüt, ein Viehhändler und der beste Viehkenner in der ganzen „Freundschaft“, der Verwandtschaft, weit und breit.

Er schlug stumm ein Kreuz, ebenso sein Weib, die Theres, eine kleine, blasse, stille Bäuerin. Sie stiegen in das Sterbezimmer hinauf. Dort hatte sich nichts geändert. Immer noch gackerten draussen die Gänse in das Todesröcheln und schlug der Buchfink und rauschte der Wildbach übers Wehr und ging die Welt ihren Gang.

Dann ein dumpfes Hupen. Ein graues Kleinauto lief flink wie eine Maus den holperigen Bergweg empor. Ein volbärtiger, derber, bebrillter Mann steuerte es und liess es stehen und stieg, während alle ihn grüssten, bedächtig die Treppe empor. Oben am Krankenbett runzelte Dr. Nikolaus Gschwendtner, der Arzt aus dem Markt Holzing und Münchner Landtagsabgeordneter, die Stirnfalten bis in die schwarz umbuschte, elfenbeinerne Glatze.

Er war selbst ein Bauernsohn. Er wusste: mit Bauern sprach man nicht städtisch geleckt, sondern frei her, halt gerad’ so, wie’s ist.

„Gar is’s bald mit dem Vogl!“ sagte er gedämpft zu den Umstehenden. „Da g’hört jetzt ein anderer her als wie ich!“

„Alleweil kimmt der Herr!“ rief von unten die Marei mit ihrer hellen Stimme. Gleich darauf faltete sie die braunen Stallhände und begann zu flüstern: „Jesus, Maria und Joseph!“ Und um sie verschränkten sich rings die arbeitsharten Finger der Männer und Frauen, und ein summendes Murmeln von Sterbegebet ging durch das Haus: „der von den Toten auferstanden ist . . . der uns den Heiligen Geist gesendet hat . . . . .“

„Pax huic domui!“ Friede diesem Haus! Der Pfarrherr Felix Gasthuber stand im Ornat, mit der Stola bekleidet, im Sterbezimmer. Er besprengte den Raum und alle, die ihm dahinein gefolgt waren, mit Weihwasser. Er neigte sein Ohr zum Kranken nieder . . . . horchte . . . . . fragte mit leiser, tröstender Stimme. Ein Röcheln unten . . . .

„I mein’, der Vogl derfangt sich noch einmal . . . “, murmelte hoffnungsvoll der Gnadl-Vater, der selber schon mit einem Bein in der Ewigkeit stand. Er war zu klein. Er konnte durch die Leut’ vor ihm das Bett und die letzte Beichte nicht sehen. Er wusste nur: Da war’s, wo der Flori stand — dunkeläugig, einen Kopf länger als die andern, scharf von der Fensterhelle abgehoben das gesenkte Profil mit dem dunklen Schnurrbart unter dem Adlerschwung der Nase.

„ . . . . . Per eundem Christum dominum nostrum! Amen! . . . “ Eine Stille. Draussen keuchte bergauf auf einem Zweirad, mit flatternden schwarzen Rockschössen, ein junger Geistlicher heran. Ein junges Mädel schob, hundert Schritte hinter ihm, atemlos, erhitzt das frische, verstörte Gesicht, ihr Rad. Der dritte der Brüder, der junge Priester Donat Vogl, und seine jüngste Schwester, die Leni, die ihm die Wirtschaft führte, drängten sich an der Freundschaft vorbei die Stiege hinauf.

„Der Alte Wirt in Söllenwies hat mich im Galopp zur Bahn gefahren, wie ich die Nachricht telephonisch gekriegt hab’!“ sagte er. „Und in Holzing hab’ ich mir auf der Station zwei Fahrräder für mich und die Leni geliehen, um . . . .“

Der junge. Hochwürdige brach ab. Jetzt erst sah er, wie es drinnen stand. Sah die ragende Gestalt seines Bruders Flori, die kleinere seines Bruders Simon. Davor den Priesterornat neben einem fahlen Haupt in den Kissen. Hört das feierliche Rituale in articulo mortis: „ . . . . remissionem omnium peccatorum tibi concedo et benedico te . . . .“ Und wusste: das war die kürzeste Formel des Ablasses aller Sünden, wenn das fliehende Leben nur noch an den Fäden von Minuten hing . . . . . . . .

Und dann, eine halbe Stunde später, stand der Florian Vogl, der Älteste und Erbe, allein vor dem Haus im Garten. Da war alles wie sonst. Die Sonne schien. Der Bach lief. Die Schwalben huschten, mit flatternden Strohhalmen im Schnabel, zum Bau des Hochzeitsnestes im Gebälk. Brünstig brüllte, Herr in der Herde, drüben der Stier. Am blauen Himmel kreisten wie dunkle Punkte zwei Habichte schrill schreiend im Liebesflug. Leben. Leben. Und ganz aus der Ferne, zitterig-dünn in der warmen Luft, von der Kirche in Pittenham das Sterbegeläut für den toten Bauern in der Au.

Der Flori hörte zögernde Schritte hinter sich. Er drehte sich um. Die Jungdirn, die Marei, zeigte schmerzlich die weissen Zähne in dem braunen, wilden Gesichtl und bot ihm die feste, kleine Hand und sagte leise:

„Tröst’ di Gott! Bauer!“

Er nickte ihr zu. Das war das erstemal, dass ihn jemand „Bauer“ nannte! Jetzt war er der Herr! Untertan ihm Haus und Stall und Baumannsfahrnis und Vieh und das ganze weite Bergtal, hoch die Matten hinauf bis tief in die grossen, ernsten Wälder da oben . . . . . .

Über denen standen grau gezackt, riesig die Felsgipfel, in weissen Feldern noch der Winterschnee an ihren Hängen, wie noch darüber die weissen Wolkenballen im Himmelsblau. Er sah den Schnee auf den Kämmen hoch da oben in Schleiern wehen, so wie hier unten im Tal die Blütenbäume stiebten, und dachte sich geistesabwesend: Laut geht heut der Wind . . .

„Noch net sechzig Jahr’ alt — der Vater!“ sagte er zu dem stillen, blassen Simon, der ihm gefolgt war. „Zwanzig Jahr’ hätt’ ich ihm leicht noch geben! Er hat ja manchmal so dahergered’t, dass er mir bald mal den Hof übergibt! Aber recht ernst war’s ihm damit noch nie net!“

„Warum hätt’ er auch sollen?“ Der blasse, stille Simon wischte sich mit dem Handrücken die Augen. „Dich hat’s sorglose Leben ja g’freut! Wer kann den so preisplatteln wie du? Und im Bauerntheater Komödie spielen? Und bei jeder Fahnenweihe? Und gar auf der Jagd! Derfst lang suchen, bis einer trifft wie du . . . “

„Und wann’s dem Vater zuviel war“, der Simon holte ein rotgeblümtes Taschentuch hervor und schnaubte sich tränenschluckend. „Die Arbeit hab’ ja i getan! I war ja immer der Baumeister hier auf dem Hof. I hab’ mich plagen derfen mit Odelfahren und den Motor anlassen und die Zäune flicken. Und i wär’ doch so viel lieber geistlich geworden wie der Donat drinnen!“

„Du verstehst die Bauernsach so gut wie einer!“

„’leicht schon! Aber es gibt halt noch mehr in der Welt . . . “

Die Brüder verstummten. Es rief aus dem grünen Wald übers Tal, immer wieder, und der Simon hub an:

„Hörst den Kuckuck? . . . Aber hat je einer den Kuckuck gesehen?“

„I schon mal . . . auf der Jagd . . . “

„Ja. Du. Aber sonst keiner. Das is nur ein Ruf — verstehst . . . ein Ruf an einen . . . bald da, bald dort — man weiss nit, woher der Ruf kommt! Aber man hört ihn vom Morgen bis in d’ Nacht!“

„Was du daherspinnst . . . “

„Das sind nur Gedanken — gerad’ jetzt — wo der Vater heim is! . . . Ja — Flori — jetzt liegt der Hof auf dir. . .“

2

Drei Tage rief der Kuckuck — vom Frührot über den Loferer Bergen bis zum Bluthimmel abends drüben über dem Chiemgau, drei blaue Maientage hindurch, bis sie unten, auf dem Friedhof in Pittenham, den Vogl-Bauern begruben.

Den goldenen Strahlenreif über dem Haupt, sah die schmerzhafte Mutter Gottes von dem Ehrenmal mit den vielen Namen der gefallenen Weltkrieger auf das Gewimmel schwarzer Röcke und blosser, wetterbrauner Köpfe zwischen den Leichensteinen. Im Frühlingswind bewegten sich leise die langen, schwarzen Bänder an den goldgestickten Tellerhüten der Frauen. Ein Halbkreis von Vereinsfahnen ragte in schweren, hängenden, bunten Falten über die Menschen und die Kreuze.

Der Flori Vogl stand mit seinen Brüdern und Schwestern vorn am Grab und hörte die Reden. Schön sprach er, als Letzter, der Herr Hauptlehrer Wiedemann im Namen der Gemeinde. Ein vorbildlicher Bauer für unser Volk der Berge, vom alten Schrot und Korn, dem neuen Wesen abhold. Karg hat er sich zeitlebens freilich gegeben, der Lorenz Vogl. Viel Reden war nicht seine Sach! Er hat lieber geschafft, streng mit sich und streng mit den andern. Nun geh heim, Vogl! Du hast’s vollbracht!

Der letzte Segen. Das Kollern der Schollen. Jetzt war’s zu End’! Der Florian Vogl, der neue Bauer in der Au, schüttelte überalhin Hände. Er stand da, sechs Fuss hoch, jung und hager und sehnig, mit seinem dunkeläugigen, schnurrbärtigen, verwegenen Raubvogelkopf — fremdartig jetzt — auch sich selbst — in dem ungewohnten schwarzen Rock und dem hohen schwarzen Hut. Auf dem Platz vor dem Alten Wirt wartete sein Leiterwagen mit eingenagelten Sitzbänken. Er stieg auf und griff nach den Zügeln der beiden starken Gäule, die sonst in den Bergen die Holzfuhren zogen. Neben und hinter ihm sassen die Brüder, Donat, der Hochwürdige in schwarzem Priesterrock, und der blasse Simon, und die Schwestern, die Heissin von Walching und die Ametsrainerin von Egg, und ihre Männer und die Jüngste, die Leni, die Pfarrersköchin, und im Wagenrasseln rief die Zenz, die frische, blühende, junge Bäuerin vom Chiemsee, ihrem Bruder ins Ohr:

„Kommst fei’ in die strengste Zeit jetzt, im Sommer, Flori — wo du eh’ von nix was weisst!“

„Kann i dafür, dass mich der Vater in nix eingeweiht hat?“ Der Bauer scheuchte mit einem Peitschenschmitz eine Rossmucke vom Pferdehals. „Er hat ja wochenlang kein Sterbenswörtl gered’t!“

„Ja — meinst denn, mit mir?“ rief hinter ihm der Simon.

„Dass i da lieber auf d’ Jagd gegangen bin — soll i epper dastehn wie ein Depp, wann der Vater alles selber macht?“

„Und er hat’s nimmer alles selber machen können!“ bestätigte von hinten der Simon. „Gerad’, was sie mögen, haben s’ g’trieben, auf dem Hof — die Leuť!“

„Und dir war’s recht, und du bist halt zur nächsten Fahnenweih’ und zum Platteln gefahren!“ sprach die rotbäckige Heissin von Walching. „Da is er überal bekannt — der schöne Flori — im Land! — Na . . . ein sauberer Bursch bist freili’ . . . Aber jetzt derfst schaug’n, dass du wieder a Ordnung in der Au schaffst!“

„Vogl! A Karten für di!“

Der Postbote, der sein Rad aufwärtsschob, reichte dem Bauern eine Postkarte hinauf. Der hielt sie, die Zügel in der Linken, vor die stählernen Augen.

„Ausg’schamter Gloifi!“ sprach er. „Der neue Senn, der morgen einstehn sollť, sagt auf.“ Und er las die letzten Krakelfüsse. „ . . . Und nähme ich lieber disse Stellung in München als Beifahrer beim Lastauto an. Es griesst Ihr lieber Mooslechner Xaver.“

„Der hat g’spannt, dass der Vater tot is und a neuer Herr kimmt!“ rief die Leni. Der Florian Vogl warf die Karte aus dem Wagen.

„Sakra! Sakra! Und nächster Tag’ muss das Vieh auf die Alm!“ Er stieg vor seinem Hof ab. Er hing in seiner Kammer oben den schwarzen Rock in das Kastl. Er trat, wieder Bauer, in Joppe und nackten Knieen und Wadenstutzen, allein in das Arbeitszimmer seines Vaters. Er setzte sich an das Pult. Es war ein Glück, dass sie gleich nach dem Tod des Alten das Versteck seiner Schlüssel, in der Mauernische, unter dem hohlen, porzellanenen Madonnenbild, gefunden hatten.

Er öffnete das eine Schubfach, in dem der Vater immer schweigsam und verbissen gekramt hatte. Er zog einen Haufen Papiere heraus und durchblätterte sie. Finanzamt-Nebenstelle Holzing stand auf den meisten. Auch Gemeindekasse Pittenham: Umsatzsteuer. Hauszinssteuer. Gewerbesteuer aus Sägewerk. Einheitswertbescheid, Landeskirchenumlage, Gemeinde-Kirchenzuschlag, Grundsteuer, Distriktsumlage, Verwaltungskostenabgabe, Bauernkammerbeitrag — ihm wurde wirr vor den Augen. Er griff nach einem andern Packen: Kreiskrankenkasse. Alters- und Invaliditätsmarken. Unfallversicherung der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft . . .

Der Bauer fuhr sich mit der braunen Hand über die Stirn. Er entfaltete ein drittes Bündel Briefschaften. Alle auch mit Behörden-Vordruck. Das waren jetzt die Ämter.

Das Arbeitsamt. Das Landeskulturamt. Das Messungsamt. Das Grundbuchamt. Das Salinenamt. Das Bezirksamt. Das Forstamt. Das Amtsgericht. Die Wildbachverbauung. Die Brandversicherungskammer . . . Es waren noch viel mehr. Es war dem Flori, als füllte sich das Zimmer in dem einsamen Berghof mit unzähligen fremden Herren aus der Stadt, die ihm über die Schulter guckten, ihm rieten, drohten, befahlen, verboten, ermahnten, erinnerten, warnten — ohne einander — gegeneinander — jeder für sich, wie’s traf.

Der Florian Vogl schaute verstört auf die Masse Papier. Er wusste nichts damit anzufangen. Die vielen Drohungen mit Gefängnis, Beitreibung und Zwangsvollstreckung erbosten ihn. Er sperrte vorsichtig all das Gedruckte und Geschriebene wieder in die Schublade und schloss sie zu. Und ging in den Stall zum Grossknecht.

„Musst die erste Zeit hinauf auf die Alm, Battist! Der Xaver, der Teifi, hat abg’schrieben!“ sagte er. Aber der Johann-Baptist schüttelte seinen freundlichen Dickkopf:

„Na — Bauer! Am Ersten geh’ i!“

„Ja wohin denn?“

„I hab’ a Saisonstellung als Hausmeister in einem Hotel in Reichenhall! Da tu’ i mi leichter als hier bei der Bauernarbeit! Und Trinkgelder gibt’s a!“

„Und wann die Saison zu End’ is?“

„Ah — da kriegst doch den Winter über a Stempelgeld!“

„Schau, dass d’ weiterkommst!“ sprach der Flori zornig, und dann zu seinem Bruder Simon, der die Treppe herabkam: „Können wir net den Mathis wieder derwischen, der wo voriges Jahr bei uns war?“

„Der is schon lang drüben am Inn in der Fabrik. Der will nit von da fort. Er verdient halt mehr!“

Die beiden Brüder traten vor das Haus. Da rauschte der Wildbach über die Steine. Forellen schossen schwänzelnd im bewegten Wasser seiner Gumpen. Aber das Kreischen der grossen Holzsäge drüben war schon seit Wochen verstummt. Zwischen den Stapeln der Eichen- und Fichtenstämme am Boden wehten rote wilde Nelken.

„Die verschreiben sich jetzt fei’ das Schnittholz aus Jugoslawien!“ sagte der Simon. „Sell is bald frei Salzburg noch billiger! Die Schlawiner da hintri — die zahlen net soviel Steuern und Lasten wie wir! Das Sägewerk darfst still liegen lassen! Da verdienst nix mehr dran!“

„Komm zu den G’schwistern!“ sagte der Flori. Da sassen sie alle in der Stube unten, wo der uralte Kachelofen, noch mit dem venezianischen Markuslöwen an allen Ecken, stand. Und der Donat, der hochwürdige Herr, sprach nach der Schrift, auf hochdeutsch:

„Also du übernimmst als der Älteste von uns die Au, Flori! Wehtun dürfen wir Geschwister dir dabei nicht! Wir lassen ein jeder unser Erbteil bei dir auf dem Hof einschreiben — steht freilich schon ein Trumm von ’ner Hypothek drauf — und du gibst uns halt die Zinsen!“

„Und, wenn d’ alles erbst . . . “ Der Ametsrainer, der kleine, pfiffige, viehkundige Graukopf nickte . . . „und wir nix in d’ Hand kriegen, nachher übernimmst die Erbschaftssteuer a!“ —

„Du zahlst in der ersten Steuerklass’, Vogl-Bauer!“ versetzte gemütlich in Holzing, dem nächsten Marktflecken, am nächsten Vormittag der Rechtsanwalt Bayerle zu den im Halbkreis um ihn sitzenden Trauerleidern aus der Au. „G’rad’ nur dreieinhalb Prozentl vom Wert. Und dazu die Nebenkosten!“

„Ja — wovon soll i denn das aufbringen?“

„Gehst ’nüber in die Kreditgenossenschaft! Dort hat der Vogl selig sein Geld!“

Aber hinter dem Schalter der kleinen ländlichen Bank pfiff der Bogner, der hagere, alte Schneidermeister, der die Kassiererstellung verwaltete, durch die schadhaften gelben Zähne.

„Ja — Vogl — da schaut’s bös her! Vom Einzahlen is dein Vater schon lang kein Freund net gewesen! Geholt hat er sich’s Geld! Schuldig ist er der Genossenschaft zehntausend Markln ’leicht! Die derfen wir jetzt bald mal wiederkriegen — gelt? Haust halt an Wald ’runter!“

Das traf sich gut, dass der Lechner, der Holzhändler, jetzt gerade auf Mittag zurückkam. Der dicke, schwere Mann sass wie in einer Badewanne in seinem winzigen Schnauferl, in dem er oben im Gebirg die steilsten und holperigsten Holzabfuhrwege auf und nieder kletterte. Er nahm sehr ernst die Pfeife aus dem Vollbart.

„Dass du’s glei’ weisst, Flori! Den schlagreifen Hochbestand in der Au, den mit den sechzig-siebzig Jahrln — den hat mir dein Vater selig schon voriges Jahr um Lichtmess auf dem Stamm verkauft! I lass ihn bloss jetzt noch ins Geld wachsen, bei den elendigen heutigen Holzpreisen!“

„Ja — Kruzitürk — wovon soll i denn da jetzt glei’ nur die Erbschaftssteuer zahlen?“ schrie der Flori. Der Simon riet: „Fragen wir den Mühlthaler in Holzing. Der hat die Vertretung von dera Münchner Bank über sich!“

Der Kaufmann Mühlthaler in Holzing hatte vorn ein grosses Kaufgewölbe mit einem halben Dutzend Ladnerinnen. Hinten in seinem Kontor rang er die Hände:

„Wann’s bloss ihr alle, daherkommt und a Geld haben mögt! Noch a Hypothek — dös trägt ja d’ Au nimmer! Mit den Antrag schmeissen s’ mich in München aussi! Kann dir net helfen, Bauer! Wär’ höchste Zeit, dass es mal Dukaten regnen täť im ganzen Land!“

Auf dem Heimweg hieb der Flori auf die Gäule, dass der Leiterwagen im Galopp der Hufe rasselte. Er hörte in dem Lärm nicht, was die Geschwister hinter ihm miteinander tuschelten — nicht nur die Mannsbilder, sondern auch — mit belebten Gesichtern — die Weibsleut’! Als er in der Au finster vom Wagen stieg, gab ihm die Schwester Zenz, die rüstige junge Bäuerin aus Walching am Chiemsee, einen vielsagenden Rippenstoss:

„’s kommt schon Rat, Flori! Wann d’ schiech wärst — aber so wie du daherschaugst . . . Es gebührt sich heut net, davon zu reden — wo der Vatter noch kaum unter der Erd’ is — aber bald amal . . . verstehst?“

Der Flori hörte es nicht recht. Denn die Katrein, die alte Magd, humpelte erbost aus dem Haus auf ihn zu.

„Vogl! Hau gleich mal dem Annerl a paar Watschen in ihr dalket’s G’fries! Fort möcht’ der Aff’ nach Minka!“

„Hast denn ka Scham net? Was hast denn in München verlor’n?“

„A Stitz’ der Hausfrau mach’ i da . . . “ Das Annerl stand strahlend, die Mistgabel geschultert, in Holzschuhen, mit blossen Waden, auf dem Dunghaufen.

„Warum bleibst denn net hier, du Trampel, du verdächtiger . . . ?“

„ . . . weil’s mir hier zu einsam ist, Bauer! In Minka hast’s Kino und kannst tanzen und siehst Leuť, und mehr Geld kriegst a noch!“

„Herrgott — und dabei müssen d’ Viecher morgen auf die Alm! Und kein Senn! Und niemand!“ Der Vogl-Flori spuckte wütend aus. „Ja — was tu’ i denn da?“

„I treib’ die Herde schon aufi, mit der Katrein und dem Wastl, Bauer, bald du nur den Stier auf di nimmst! Den Bazi kann i unterwegs net regiern!“ Die braune Marei guckte begeistert aus dem Kuhstall. Ihr hübsches, wildes, braunes Gesicht lachte mit weissen Zähnen. „I schaff’s schon den Sommer über da oben. I geh’ nit nach Minka! I bleib’!“

„Wird dir zu streng auf der Alm!“ Der Flori schaute von seinen sechs Fuss Länge nachsichtig auf das verliebte Madl herunter. Das war kein Geheimnis, dass die Marei in ihn vernarrt war. So ein geringes Dirndl — lediges Kind — der Vater weiss der Himmel wer — die Mutter beim Herrgott! Das Leben besitzt die Marei — aber sonst nix in der Welt . . .

„Hast niemand oben, Marei, als den alten Krauter, den Wastl, und die Katrein!“

„Bauer — i arbeit’ für zwei!“

„Is recht! Kriegst auch was zur Kirchweih! Morgen is Auftrieb!“

Der Flori ging langsam, die Hände in der Tasche, mit gesenktem Kopf um das Haus herum. Er fürchtete sich fast vor dem Haus, das ihm gehörte und doch nicht gehörte, sondern den Geschwistern und den vielen Amtsstuben und der Hypothekenbank.

Vor dem einen, dem hellblau bemalten, Flugloch des weissen Bienenhauses brauste es dumpf in tausendfachem schwarzem Gewimmel. Ein Mann in einem Helm mit Drahtvisier stand davor, Tabakpfeife und Wasserkrug zur Betäubung und Bespritzung des Maischwarms bereit, sobald der junge Weisel sich mit seinem Volk als kindskopfgrosser schwarzer Klumpen an einem der nächsten Bäume angehängt haben würde. Der Flori erkannte an der Stimme seinen Bruder, den besinnlichen Simon.

„Bien’ und Bauer sind heutzutag’ eins, Flori! Bien’ und Bauer arbeiten und tragen ein. Und dann kommen s’ und nehmen einem die Tracht wieder weg!“

„I schick’ dir a Tuch und a Schwingkorb!“ sagte der Flori und ging weiter. Seine Schwester, die Zenz, hatte sich wie von ungefähr zu ihm gesellt. Die junge Bäuerin scheuchte händeklatschend ein goldgelbes Gewatscher junger Enten aus dem Weg und meinte beiläufig:

„Is doch gut, Flori, dass d’ erst über die Dreissig bist! Wärst ein paar Jahr’ älter, wärst leicht noch im Krieg ausblieben, wie so viele . . . “

„Wär’ noch net ’s Schlechteste!“ brummte der Flori.

„So ist’s beispielmässig getad’ beim Distl, unserm Nachbar am Chiemsee! Da sind die drei Buben net wiederkommen. Und der Distl selber is seither auch g’storben. Is nur die Mutter übrig, mit der Tochter, der Vroni! Der g’hört der Hof!“

„Meinethalb!“

„Und was für ein Hof — sag’ i dir! Hundertachtzig Tagwerk gute Gründ’. Sechzig Stück Vieh. Wald a. Streuwiesen. A Torfstich . . . “

„Lass mi aus!“

„Die Vroni solltest mal schauen . . . Wie g’malen — sag’ i dir!“

„Hab’ schon g’nug von ihr gehört!“

„Die und du, Flori — das gäb’ jetzt schon a bildsauberes Paar! Du — und da is a bares Geld! . . . A Geld . . . sag’ i dir!“

„Meinst?“

„I mein’ net! I weiss! Weil s’ doch Baugründ’ am See haben! Die verkaufen s’ Stuck um Stuck an a Siedelung. Die Vroni — die lasst sich von keinem ausschmier’n! Wer mit dem Madl handeln muss, der büsst sei’ Sünden schon auf dera Welt ab!“

„Wie alt ist sie denn?“

„Dreiundzwanzig! Flori — das is was für di! Da bist aller Sorgen ledig! Jetzt hörst: So den Sonntag über acht Tag’ — da suchst du uns mal heim in Walching — den Blasi und mi! Nachher richt’ i’s schon, dass ihr euch trefft!“

Der Florian Vogl schwieg. Das durft’ die Schwester neben ihm, nach Bauernart, als Ja deuten. Die junge Heissin von Walching sprach nichts mehr zu. Zu viel durft’ man in Mannsbilder und Zugochsen nicht hineinreden! Sonst wurden s’ störrisch! Sie und der Flori schauten nachdenklich vor sich auf die blumenbunte, maigrüne Wiese.

In dem hohen Gras stapfte da mit blossen, braunen Beinen die Marei und sammelte mit ihren braunen Armen einen Stoss Feldblumen. Die Zenz gab ihrem Bruder einen Schubs und wies mit dem Kopf nach den Bienenstöcken. Dort hatte der Simon seinen Kopfschutz abgenommen und guckte unverwandt auf die braune Marei mit ihrem weissen Kopftuch unter dem blauen Himmel.

„Wo die Lieb’ hinfallt, da fallt s’ hin!“ sagte die rotbackige Heissin von Walching und lachte ein wenig, zum erstenmal seit dem Tod des Vaters.

„ . . . und wann s’ auf den Mist fallt! So a notige Dirn!“ Hochmut alten Bauernadels klang aus den Worten des Vogl in der Au. „Gut, dass sie dem Simon jetzt auf der Alm aus den Augen kimmt!“

3

Den ganzen Abend hatte die Marei in der Kuchl gehockt und mit ihren braunen Fingern die Feldblumen, die sie am Nachmittag gesammelt, zu einem Boschen gewunden — einem Boschen, drei Fuss lang, schmal und spitz wie ein Fuchsschwanz, prächtig in seinen schreiend grellen Farben und Bändern.

Den Almboschen befestigte sie morgens vor dem Haus mit einem urväterlichen, buntgestickten Ledergurt auf der Stirn der Scheckei, der Leitkuh. Dann knüpfte sie innen den Lieblingskühen kleine Sträusschen an die Hörner. Dem Maxl, dem dunklen, vierjährigen Zuchtstier, der daneben, wie ein Galeerensträfling in Ketten, widerkäuend lag, banden der Flori und der Simon ein Tuch vor die weissglühenden Augen und lösten ihn aus den Eisenringen und führten, Knüttel in den Fäusten, den blinden Wüterich ins Freie. Die Herde wogte hinter dem steil ragenden Blumenboschen der Scheckei mit melodischem, hohem und tiefem Glockengebimmel, unter Peitschengeknall und Geschrei. Die alte Katrein schrie, der alte Wastl, der Peperl, der Dienstbub, der Steffel, ein schwächlicher, junger Knecht, der an der fallenden Sucht litt, die Toni, eine unansehnliche kleine Magd. Aber am gelisten schrie die Marei. Der Flori hörte beim Stiertreiben durch das braunweissgefleckte und gehörnte Gewimmel vor ihm ihr helles, durchdringendes: „Gäh, Kühlein — gäh!“

Sie fegte, das Lodenhütl mit der flatternden Hahnenfeder tief auf dem braunen Zopfnest im Nacken, mit geschwungenem Bergstock in langen Sätzen links hinunter zum Bach und scheuchte den abgeirrten Jungochsen: „Gehst bei, Sauhund, elendiger!“ und jagte aus dem Waldhang rechts die schwerfällig galoppierenden Kühe: „I reiss’ euch d’ Schwänz aus, ihr Luader, ihr drecketen!“

„Schimpf net so, Dirn!“ rief der Flori von hinten, und die Marei drehte ihm, hell vom blauen Himmel abgehoben, über die Schulter ihr dunkelrot erhiztes Gesicht zu und zeigte atemlos die weissen Zähne.

„Du wirst mir lehren, mit die Viecher umgehn, Bauer! Platteln kannst und Komödi spielen und Rehböck’ derschiessen! Aber des gedenkt mir bald nimmer, wann i di mal im Kuhstall g’sehn hab’!“

„Recht hat sie, die Speikatz’“, sprach der Simon. Der Vogl-Flori schwieg. Stund’ um Stunde ging es hinauf durch Berghochwald. Dann wurde der immer lichter und niedriger, nun nur noch verkrüppelte, kriechende Latschen, eisgraue Moosflechten wie die Bärte alter Männer um die borkige Rinde. Sonnengoldene, grüne, freie Weite. Das Reich der Matten.

Der grosse Almstier lief schon ohne Binde. Er schnob durch die Nüstern. Er stiess ein helles Gebrüll aus, das beinahe wie das Wiehern eines Pferdes klang. Er stürmte federnd schnell trotz seiner Plumpheit durch das Glockengebimmel seines Harems auf und nieder.

„Was der Maxl scherzt!“ sagte die Marei bewundernd mit verschlungenen Händen. „Recht frisch is er beisammen!“

„Von hier ab bringt’s ihr die Herde leicht auf d’ Alm!“ Der Flori setzte sich verdüstert auf einen Stein. „Macht’s nur voran! I komm’ euch nach!“

Das Gebimmel der Glocken verhallte immer höher über ihm in der dünnen, klaren Luft. Nun war alles still. Er hörte nur noch den klagenden Schrei einiger schlanker, schwarzer Alpendohlen. Er sass mit dem Rücken gegen die aufsteigenden, baumlosen Weiden und das kahle Felsgezack dahinter und schaute hinab ins Tal.

Tief da unten lag winzig und weiss ein Hof. Und wer den Hof kannte, der wusste, dass er in Wirklichkeit nicht klein war, sondern mächtig gross, und dass er Beim Vogl in der Au hiess, seit undenklichen Zeiten, und ihm, dem Flori, gehörte, und ringsherum weithin im Grund die Wälder und die Wiesen.

Aber durch diese Wälder unten sah der Vogl-Bauer oben im Geist einen fremden, grossen, dicken, bärtigen Mann gehen, und das war der Lechner, der Holzhändler, und der hatte all die Baumriesen auf dem Stamm gekauft. Und über den Wiesen sah der Vogl-Bauer schwere, schwarze Schatten trotz des wolkenlos blauen Maihimmels, und das waren die Schulden auf dem Hof in der Au. Und hinter den Fenstern seines Hauses sah der Vogl-Bauer viele fremde Herren sitzen und schreiben und rechnen, und das waren die Beamten aus der Stadt mit ihren hundert Verboten und Verordnungen und Gesetzen mitten hinein in den ewigen Kreislauf des uralten Bauernguts.

Drüben im Westen färbte sich jetzt mählich schon der Abendhimmel purpurn. Der Flori Vogl sass aufrecht und straff, einen Halm zwischen den weissen Zähnen unter dem dunkeln Schnurrbart, den Hut mit dem steifen Adlerflaum schief auf dem linken Ohr, den Bergstock quer über den braunen, blossen Knieen, und spähte aus seinen dunkeln, raubvogelscharfen Augen über die dämmernde bayerische Hochebene hin, die sich fern zu seinen Füssen breitete. Wie Stücke eines zerbrochenen Spiegels schimmerten aus ihr, im Abendschein, die grossen und kleinen Seen. Ganz im Westen am Horizont lag eine mächtige, bleigraue Wasserfläche. Der Vogl in der Au kniff vielsagend das linke Auge zu, in der Richtung nach dem da sichtbaren Chiemsee. Dort am Ufer des Bayerischen Meeres lag das Dorf Walching. Und einer seiner Höfe hiess Beim Distl. Und in dem Hof sass eine — die hiess Vroni und wartete, bald der Rechte käm’ . . . Und hatte a Geld . . .

Wär’ nicht schlecht, wenn man da als Tochtermann einständ’ . . . Dann war alles in der Reih’ . . . Und wenn’s die Vroni nicht war, dann war’s eine andere! Da unten hat’s viele Dörfer, und in jedem dritten, vierten Dorf eine Bauerntochter, meinetswegen gar eine junge Witfrau, die nach ’nem Mann aussah. Wartet’s nur! Der Flori nickte, so wie wenn ihm sonst auf dem Anstand im Juni ein roter Sechserbock schussgerecht vor die Büchse trollte. Er kannte seine Gewalt über die Weibsleut’ . . .

Dann gähnte er und reckte sich in den breiten Schultern und stand auf. Er war im Begriff, sich vor dem Weitersteigen die Pfeife anzuzünden, und horchte, und das Streichholz verflackerte ihm dabei im Bergwind in der Hohlhand . . .

. . . Sie war nicht gerad’ gross und auch nicht gerad’ klein gewachsen . . . ein zartes, rankes Figürl in städtischer Tracht, einen Topfhut auf dem schwarzen Bubikopf, darunter ein liebes, rundes, weiches Gesicht mit dunkeln, sanften, katholischen Augen. Haferlschuh’ hat sie gerad’ an, der Stadtfratz, da heroben in den Bergen! Sie hatte einen dünnen, zusammengelegten Schirm geschultert. An dessen Spitze baumelte hinten eine kleine gelblederne Reisetasche. Bravo! So geht man auf d’ Alm! Der Flori musste lachen . . .

Das Fräulein war noch jung — so ein paar Jahr’ über zwanzig — sie war nicht erhitzt vom Bergsteigen, sondern blass von der Anstrengung.

„Grüss Gott!“ sagte sie lustig, obwohl es ihr den Atem verschlug, und schaute den Vogl-Bauer vertraulich an. „Bin i hier recht nach der Frauenalm?“

„Freili san S’, Fräulein!“

„I kann bald nimmer! Wie weit is dann noch?“

„A gute halbe Stund’!“

„Net mehr? Für wahr und g’wiss?“

„I muss es doch wissen!“ Der Bursche lachte und zündete sich jetzt seine Pfeife an. „I bin doch der Bauer auf der Alm!“

„Der Vogl-Bauer?“

„Derselbige! Woher wissen S’ denn das?“

„Ja — weil i auf der Alm bleiben möcht’ — ein paar Wochen zur Erholung — wissen S’. . .“

„An Unterschlupf mit an Bett hat’s oben schon!“ sagte der Flori gutmütig. „Aber ’s muss Sie erst einer eing’laden haben!“

„Ja. Das hat doch der Mauser g’macht . . . Ich weiss net, wie er eigentlich heisst . . . Er zieht überall ’rum und fangt die Schermäus’ z’sammen!“

„I kenn’ ihn, den alten Haberer!“

„ . . . und wann er die Maulwurfsfelle nach München bringt, ins Pelzgeschäft, dann kehrt er als gern bei uns ein! I bin nämlich Kellnerin, in ’ner Wirtschaft dort im Tal . . . “

„Ja so . . . “

„ . . . und da sagt er, er kennt die alte Sennerin auf der Frauenalm — die Katrein —, der soll ich nur sagen: ,Der Mauser schickt mich.’ Die braucht’ bloss den Bauern um Erlaubnis zu fragen! Ja — hat sie denn das nit getan? Das is doch schon ein paar Wochen her!“

„Damals hat mei’ Vatter noch g’lebt!“ Der Flori machte eine ergebungsvolle Handbewegung. „Der hat mir nie nix g’sagt . . . “

„Jetzt bin i vorgestern nach Holzing kommen — da hat mir der Bruckbräu gesagt: „G’fehlt is! Die Alm is noch net b’fahrn!’ Da hab’ i beim Bruckbräu gewartet, und heut früh hat der Viehhändler, der Kreitmayr, unten in der Schwemm’ gesagt: ,Alleweil treiben s’ aufi!’ Da hab’ ich mich schnell zurechtgemacht . . . “

„Aber jetzt komm’ i am End’ nit zupass?“ Sie musste das blasse Münchner-Kindl-Gesicht heben, um dem riesigen jungen Bergbauern aus ihren sanften, dunkeln Augen ängstlich in das braungebrannte, trotzige Antlitz zu sehen. „Sie, Herr Vogl — sagen S’gerad’, wie’s is! Muss i wieder umdrehn?“

„Ja — warum denn, Fräulein? Wann S’ da sind, san S’da!“

„Da dank’ i auch schön!“

„Kei’ Ursach’! Kommen S’! Gehn wir aufi! Ach — sperren S’ Ihna net! Geben S’ schon her!“

Der Flori hakte die Reisetasche von dem geschulterten Regenschirm und nahm sie in die Hand. Für ihn war das ein Federgewicht. Aber das Fräulein atmete auf.

„Blutsauer is mir’s geworden!“ sagte sie, während sie zusammen emporstiegen. „I schwitz’ — sag’ ich Ihnen — i schwitz’! I bin halt noch schwach . . . “

„Ich war nämlich so krank!“ erzählte sie weiter, vorsichtig die Haferlschuhe mit den umgekrempelten Übersöckchen zwischen die scharfen Steinbrocken des Bergpfads setzend. „Vier Wochen hab’ i im Krankenhaus links der Isar gelegen. Auf der Brust — wissen S’, Herr Vogl — hab’ ich’s gehabt! Kellnerin — das is ein strenger Beruf. Und daheim bei den Eltern hab’ ich mich nit erholen können. Da ist’s zu eng. Mein Vater is Maurer in Giesing — wissen S’ — hinterm Nockherberg. Und der Doktor hat gesagt: ,Höhenluft. So recht hoch! Und ordentlich a Milch!‘ Ja — und so is es kommen!“

„Gangen S’zu, Fräulein!“ rief der Flori, schnell nach oben schauend, und da sie ihn nicht gleich verstand, sondern gar noch stehenblieb und ihn fragend anblickte, fasste er sie um die Taille und zog sie, dicht an sich gepresst, an einer verwitterten Steinhalde vorbei, an deren Fuss unten regellos einzelne Felsbrocken lagen. Recht weich war sie und mollig. Sie schaute ihn halb erschrocken an. Aber sie gab sich doch mit halbgeschlossenen Augen in seinen Arm. Er liess sie los.

„Steinschlag! Hat’s gern an der Stell’!“ sagte er. „Da kimmt gerad’ was!“

Ein kopfgrosses Stück Berg tanzte in ungeschlachten, langen Sprüngen den Hang herab und klatschte auf und blieb stumpfsinnig liegen. Die beiden waren ein wenig verwirrt. Die Wangen des Fräuleins färbten sich ganz schwach rot. Er blickte sie von der Seite an. Er sah: sie hatte eine Stupsnase und einen weichen, herzförmigen Mund. Recht froh war das Gesichtl. Sonnig und weich, mit innigen Augen. Da lag nicht die harte Bauernarbeit darauf, die den Zügen etwas Strenges gab. Das war was Feines — was Städtisches. Das war halt München.

Sie gingen weiter, durch ein wüstes einsames Trümmertal von Steinblöcken. Es pfiff schrill da und dort aus dem Geklüft.

„Jesses, Herr Vogl: wo halten sich denn die Leut’ all versteckt? Die werden uns doch nix tun?“

„Das sind die Mankeis! Die gibt’s noch da heroben. Schauen S’: da hält so a Manderl Ausguck auf einem Stein!“

Das Murmeltier, da da sein Männchen machte, verschwand mit einem gellen Pfiff in seinem Loch. Schiessen durfte man die Viecherln nur in ein paar Herbstwochen, wenn überhaupt. Trotzdem hätte der Flori, der Jäger, sonst kein Auge von dem seltenen Wild verwandt. Jetzt schaute er statt des Mankei das Münchner Kindl an.

„Wie haben S’denn die Sucht auf der Brust derwischt, Fräulein?“

„Ja . . . schauen S’: der Winter in München ist doch gar so kalt und hart — indem dass es so frei daliegt — gerad’ wie ein Stück Leberkäs auf dem Teller. Jetzt gar der Fasching! Vor sechs kommt man ja nimmer ins Bett!“

„So lang haben S’ als Kellnerin arbeiten müssen? Dös is ja a Sünd’ und Schand’!“

„Ah na! Die Bäll’ dauern so lang! Die Bäll’!“ Das Münchner Kindl lachte. Seine dunkeln, frommen Augen glänzten. „Sie, Herr Vogl — wissen S’, wieviel Bälle dass ich heuer mitgemacht hab’? Dass ich net lüg’: A Stucker siebenundzwanzig! . . . Und Pareh’s drunter und . . . aber z’meist bin ich als Maschkerer gegangen . . . als „Alt-Heidelberg’ . . . das passt sich doch gut — net — wo ich doch selber a Kellnerin bin! Sie — das war zünftig! Da hat’s Kaw’liere gegeben . . . die haben fei’ gleich an Schampus spendiert . . . “

„So . . . so . . . “

„ . . . und einmal . . . da haben wir gerad’ den Frasseh getanzt — wissen S’ . . . wann alle so in zwei Reihen pfeifen und in die Händ’ patschen — ja . . . tanzen denn Sie keinen Frasseh?“

„I bin Fahnenträger vom Gebirgstrachtenverein! Wir tanzen nur unsere alten, rechten Bauerntänze — nix von dem neumodischen G’lump!“

„So? Na — ihr seid mir die Rechten! Das muss ich sagen! Also bei selbigem Frasseh — wie wir nachher am Morgen im Schneesturm zum Donisl sind, Weisswürst essen — da hab’ ich mich so arg verkühlt und bin krank geworden. Aber schön war’s doch! Jesses, Maria und Joseph — was wird denn jetzt dös?“

Über den Saumpfad vor ihnen war von oben eine Schlamm-Muhre niedergegangen. Zehn Fuss breit sperrte der gelbe Brei aus Lehm und Steingebröckel und Wurzelwerk den Weg. Die kleine Münchner Kellnerin starrte auf ihre Haferlschuhe.

„Wie soll i denn da hinüber? Durch den Mordsdreck?“

„Gehst halt her!“ Der Flori nahm das Handtäschchen zwischen die Zähne und das Fräulein mit einem Schwung auf die Arme. Er stapfte mit ihr durch den Bergschlamm, der ihm die Nagelschuhe und Wadenstutzen lehmgelb färbte und bis zu den blossen Knieen reichte. Sie hielt in der einen Hand den langen Alpstock, den er ihr gegeben, die andere schlang sie um seinen Hals und lachte ihm freundlich ins Gesicht. Zärtlich fast. Es wurde ihm warm. Beide atmeten schnell.

„Bin ich nit zu schwer, Herr Vogl?“

„Net schwerer als a Sechswochenkalb!“ Er liess sie jenseits der Muhre zu Boden gleiten. Sie zupfte an sich herum, rückte sich den Topfhut zurecht und legte herzlich die sauber gepflegte, kleine, weisse Hand in seine riesige braune Rechte.

„Vergelt’s Gott vieltausendmal! Ohne Sie hätt’ ich jetzt gleich umdrehn dürfen! Sie sind a guter Mensch, Herr Vogl!“

Und im Weitersteigen: „Zum Oktoberfest, wann S’ nach München kommen, dann müssen S’ bei uns im Tal z’ Mittag essen! Ich versprech’ Ihnen a Protektionshaxen!“

„I zahľ mei’ Haxen selber!“ sprach der Flori störrisch. „I bin der Bauer in der Au! Wissen S’, Fräulein — was das heisst? Nix weisst!“ Und dann milder, mit einem wohlgefälligen, gutmütigen Augenzwinkern: „Wie heisst’s d’ dann eigentlich?“

„Blumetsrieder-Fanny! Also Fannerl sagen s’ meist zu mir!“

„Guck, Fannerl, da oben — na — besser rechts — so — die grauen Steine auf dem Schindelbach — dös is die Frauenalm!“

„Gelobt sei Gott — i bin halb hin!“

„Wirst die Viertelstund’ schon noch schaffen! Komm nur, Fannerl!“

4

„Bist glei’ stad, Scheckele!“ schrie die Marei im Stall die Leitkuh an, vor der sie auf einem niedrigen Schemel hockte. Zwischen ihren Fingern rann der dünne, weisse Milchstrahl aus den Euterzitzen in den Melkeimer. An den beiden Enden der langen Rinderreihe plätscherte es ebenso. Dort sassen die Katrein, die alte Sennerin, und der alte Wastl. Der Simon holte armweis. Bergheu aus dem nahen Stadel und warf es den Viechern vor, die heute nicht zum Weiden gekommen waren.

Das behagliche Malmen der Kühe füllte die würzig-warme Dämmerung, durch die nur die gelben Lichtkreise der drei Stallaternen glommen. Undeutlich klang dann und wann eine Almglocke, wenn eines der Tiere schattenhaft die Hörner bewegte. Die eisernen Stallketten klirrten. Die Marei schob beim Melken ihr Licht zurecht, dass ein greller Streifen über ihr hübsches, braunes Gesichtel fiel, und schrie, zornmütig die Zitze pressend:

„So a damischer Stadtfratz — so a damischer! Bist dann narrisch g’worden, Mutter? Wer hat dann der Mutter g’schafft, Wastl, dass sie so a traurige Gans auf d’ Alm lasst!“

„Ja mei!“ sagte der Alte.

„I tät’ der an deiner Stell’ an Schwung geben, dass sie nach Minka heimkimmt!“

„Das Fräulein is ganz fei’ und still. Die sitzt draussen vor der Hütt’!“

„Und wo is der Bauer? Warum schaugt er denn nit hier nach seiner Sach’?“

„Geh — halt’s Mäu!“ Die alte Katrein rappelte sich steifbeinig vom Melkstuhl auf und wackelte durch die Tür nach vorn in die Kuchl, wo die Latschenzweige im Herd prasselten. Am Feuer sass der Loderer, der alte Berggänger, mit seinem vergilbten Ruckfack. Jetzt im Frühjahr hatte er weisse Enzianwurzeln darin — zum Schnapsansetzen bei den Bauern — verboten war’s freilich, das Enzianausraufen — und Klumpen gelbes Fichtenharz — fei’Obacht: die Waldherren haben’s gar nicht gern, wenn ihnen aus den Kerbschnitten in den Bäumen der Maisaft quillt! — und zuunterst — braucht der Schandarm gerad’ net zu schauen — ein paar geräuberte Katzenfelle.

Der Loderer hatte einen weisshaarigen Geierkopf, braun wie eine Nuss. Ein langer, weisser, vom Tabaksaft an der Wurzel gelber Schnurrbart hing ihm über den zahnlosen Mund. Der runzelte sich in verschmitzten Fältchen.

„Draussen sitzt der Vogl-Bauer, Katrein . . . “

„Aber net allein!“ Die Alte rieb still kichernd Schmalz in die Pfanne und holte die Salztüte aus dem Kastl.

„Er hat mich net g’spannt, wie ich im Dunkeln vorbei bin.“ Der Loderer kniff listig das eine wässerige Auge zu. „Aber was i g’sehn hab’, hab’ i g’sehn!“

„So? Schleckt er sie schon ab — die ausg’schamte Hennen?“ Die Marei kam mit einer Kanne kuhwarmer Milch herein und stellte sie auf den Fichtentisch, dass es krachte und die weissen Tropfen ihr in das braune Gesicht spritzten. Sie wischte sie zornig mit dem Handrücken ab. „Da lässt sich der Vogl net lang bitten! Den kennt man auf zehn Stunden rundumadum — den Bauer! . . . Die Lall’n aus Minka — die hat uns gerad’ auf der Alm g’fehlt!“

Die Tür schmetterte ins Schloss. Die Marei schlurfte mit heissen, ein wenig feuchten Schwarzaugen in den Stall zurück. Dort rannte sie im Gang gegen eine dunkle Gestalt.

„Jesses — der Simon — was stehst denn du da den Leut’n im Weg?“