Und wenn die Welt voll Teufel wär - Rudolf Stratz - E-Book

Und wenn die Welt voll Teufel wär E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Ein spannender historischer Roman, der die Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Weimarer Republik unterhaltsam einfängt!Als Bruno Lotheisen im November 1918 aus russischer Gefangenschaft nach Berlin zurückkehrt und sich voller Freude auf den Weg zu seiner Frau und Tochter macht, erfährt er, dass er inzwischen für tot erklärt wurde. Das Leben des jungen Mannes scheint aus den Fugen, als er nach und nach das durch den Krieg vollkommen veränderte Leben seiner Frau, die aufgeheizte politische Stimmung und die Unruhen der noch jungen Weimarer Republik zu begreifen versucht. -

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Rudolf Stratz

Und wenn die Welt voll Teufel wär

11. bis 20. Tausend

Saga

Und wenn die Welt voll Teufel wärCover Bild: Shutterstock Copyright © 1923, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507193

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

I.

Er stieg aus dem von Königsberg her eingelaufenen Zug. Er stand auf dem Charlottenburger Bahnhof in Berlin. Er schaute geistesabwesend um sich. Er strich sich mit der Hand über die Stirne. Er dachte sich: Also jetzt träume ich . . .

Sechshundertmal hast du’s geträumt, Nacht für Nacht, du armer, lebender Leichnam fern in Sibirien. Sechshundertmal bist du in bleierner Finsternis aufgewacht, vom nahen Donnerknall des berstenden Eises der Lena, vom Sturmheulen um verschneite Kegelhütten, von Jakutengekrächz aus stinkenden Renntierpelzen — Nacht — ewige Winternacht des Kriegsgefangenen. Deutschland hast du in der jahrelangen Nacht der russischen Kriegsgefangenschaft geträumt — Weib und Kind — Deutschland — mein Deutschland . . . .

Ein Rippenstoss. Unter dem fremden Ellbogen die Aktenmappe eines rosigen, jüngeren, auf Kriegsdauer reklamierten Herrn. Ein gereiztes: ,,Na — sehen Sie sich doch jefälligst vor!“ Ohne hinzusehen weiter. Der Mann aus dem Osten fühlte den Puff. Er sagte sich tiefaufatmend: Gott sei dank! Ich bin wach. Ich bin im lieben Vaterland. Ich lebe. Ich lebe. Ich lebe . . .

Niederknien . . . Beten . . . Weinend den verstaubten Boden der Bahnhofshalle küssen. — Es ist Deutschlands heilige Erde . . . Vater im Himmel: Dein Sohn preist Deine Gnade! Du gabst mir das Leben wieder . . . Deutschland . . . mein Deutschland . . . Weib und Kind . . .

Der Fremde stand und kämpfte gegen die Tränen. Umsonst. Sie liefen ihm aus den hellen blauen Augen in den wirren Vollbart, der krausgelockt und blond den weichen, künstlerisch feingeschnittenen Mund umrahmte. Er hörte neben sich eine Frauenstimme: „Nu kieken Se man bloss, Krausen: Heut loofen die Russkis schon wild herum!“

Eine Schlafwagen-Schaffnerin, eine lange junge Person in schief sitzender Dienstmütze und Pumphöschen, sagte es zu einer stämmigen, pluderbehosten Gepäckträgerin. Der heimkehrende deutsche Kriegsgefangene fragte sich: Ich ein Russe? — Und nickte dann: Nun ja: Die hohe schwarze Lammfellmütze aus Irkutsk — die langen Transtiefel aus Moskau, der dicke rote Frauenschal um den Kragen des verschlissenen, nach innen gedrehten Schafpelzes . . . das war Asien in Berlin.

„Nein. Nein. Ich bin ein Deutscher“, sagte er freundlich zu den beiden Beamtinnen. Er hatte ein gutes, herzliches Lächeln und eine warme Stimme. Sein Gesicht war leidend, müde, abgezehrt, aber kindlich offen, arglos, von Heimatsglück durchleuchtet. Eine einzige kleine Narbe aus der Studentenzeit sass links in der geraden, regelmässigen Nase. Er schritt langsam den Bahnsteig entlang, ohne irgendwelches Gepäck, steifbeinig von der langen Fahrt und ungebeugt, straff in der Spannkraft seiner fünfunddreissig Jahre.

Er fragte sich dabei verdutzt: Warum tragen denn die beiden Frauen eben Hosen? Seit wann ist das in Deutschland Brauch? Und die Polizei verbietet es nicht. Niemand wundert sich darüber. Da, überall in der Bahnhofshalle, tummeln sich Frauen in Hosen und preussischen Beamtenmützen und schleppen schwere Koffer und knipsen Fahrkarten und schlagen die Eisenbahntüren zu. Und plötzlich begriff er: Warum? Weil keine Männer mehr da sind! Nur noch Grauköpfe und Greise. Nur noch Knaben. Ich bin der einzige Mann hier, weit und breit . . .

Am Ende träume ich doch, dass mich das ferne Asien ausgespien . . .? Öffne die Augen in eisigem Dunkel unter der Schneewucht der Jakutenhütte . . .? Herrgott im Himmel: Lasse mich nicht wahnsinnig werden!. . . Nein . . . nein! . . . Dort drüben schwimmen Häuserreihen durch das Novembergrau. Dort ist Berlin. Deutschland. Weib und Kind. Dort ist die Heimat . . . Engelszungen jubeln es mir zu, durch Lokomotivgeschrill und Kesselgekeuche und Rädergerolle . . . ich falte die Hände, ungläubig vor Glück. Ich stammele es den Stimmen von oben nach: Heimat . . . liebe Heimat . . .

Ich bin daheim, aus der weissen Hölle. Die Bahnhofuhr drüben zeigt gerade die Mittagstunde. Aber an welchem Tag? Wer kümmerte sich am Nördlichen Eismeer um die Zeit? In Russland gilt ein anderer Kalender als hier . . .

Er kaufte sich auf dem Bahnhofstand von einem halbwüchsigen Mädchen die nächstbeste Zeitung. In Riesenlettern stand auf deren erster Seite: „Noch immer keine Entscheidung!“

Er kümmerte sich nicht darum, was das für eine Entscheidung sein sollte. Er forschte nur nach dem Datum. Er las: „Morgenausgabe. Berlin, den 9. November 1918.“

Er prägte sich andächtig den Tag seiner Heimkehr aus Kriegsgefangenschaft ein: Den 9. November 1918. Er steckte das Blatt in die Tasche und wiederholte sich mit feuchten Augen: Am 9. November 1918, mittags um zwölf, hab’ ich zum Himmel aufgeschaut und hier im Bahnhofsgewühl der Frauen und Kinder und Greise inbrünstig im Geist gebetet: Herr, der du mir das Leben zum zweitenmal gegeben — Dank aus des Herzens tiefstem Grunde . . .

Nun war sein Gang flott und federnd. Seine aus befreiter Brust gereckten Schultern trugen nicht mehr die Last Sibiriens. Ein kräftiger Mann über Mittelgrösse, trat er durch die Bahnhofssperre und stieg die Treppe hinab, stattlich trotz der abenteuerlichen Östlichkeit seines äusseren Menschen, von staunenden Blicken gefolgt.

Um ihn, mit ihm flutete eine stumme, trübe, matte Menschenwelle abwärts. Frauen, Mädchen, Kinder. Einzelne ältere Männer. Ein weissköpfiger Sechzigjähriger arbeitete sich schnaufend dem Strom entgegen. Er trug einen kostbaren Biberpelz und ein schlotternd leeres Marktnetz in der Hand. Sein Gesicht war faltig, als sei es über Nacht abgemagert, seine Backen schlaff, Tränensäcke unter den Augen. Diese Augen weiteten sich plötzlich bei dem Anblick des Mannes aus Russland. Der alte Herr prallte zurück, als hätte er einen Geist gesehen. Der Fremde von Osten, in schwarzer Lammfellmütze und hohen Transtiefeln, trat auf ihn zu und streckte ihm freundlich die Rechte entgegen.

„Schönen guten Tag, Herr Geheimer Oberbaurat . . .“

Dann ein Stutzen, ein verwundertes Lächeln unter seinem blonden Bart.

„Haben Sie Angst, mir die Hand zu geben, Herr Geheimrat?“

„Ja aber . . . um Gottes willen . . .“

„Was denn?“

„. . . Sind Sie’s, oder ist es Ihr Geist . . .“

„Na . . . ich selbst . . . natürlich . . .“

„Bruno Lotheisen . . . der Architekt . . .“

„Wer sonst?“

„Der berühmte Architekt . . . der Kirchenbauer?“

„Wir kennen uns doch seit zehn Jahren, Herr Geheimrat!“

„Aber Sie sind doch tot! . . .“

„Was?“

„Sie sind doch schon vor zwei Jahren als Landwehrhauptmann in Polen gefallen!“

„Wer sagt das?“

„Alle Welt. Jeder Mensch ist überzeugt.“

„. . . dass ich tot bin?“

„Die Militärbehörden haben es gemeldet! Ich habe Ihre Nachrufe in allen Blättern gelesen.“

Bruno Lotheisen rang nach Atem. Wieder griff Sibiriens Knochenhand nach seinem Herzen. Ein Schüttelfrost des Grauens: Am Ende träumst du nur Heimkehr und neues Leben . . .

„Es war eine Gedächtnisfeier für Sie in der Sing-Akademie. Ich selbst war dabei. Hunderte Ihrer Freunde.“

. . . und liegst in Wahrheit in asiatischer Unterwelt, nahe dem Eismeer, dicht beim Polarkreis, im Ausdunst des sturmzitternden Jakutenzelts und schläfst . . .

„Aber . . . aber . . . da stehen Sie doch in Lebensgrösse leibhaftig vor mir! Da sind Sie ja doch, Herr Lotheisen . .“

„Ja, da bin ich.“

Tastende, abgezehrte Finger nach seiner Hand.

„Gottlob, da sind Sie also am Leben . . .“

„Ja. Ich lebe!“

Dies Wort: „Ich lebe!“ belebte Bruno Lotheisen wie starker Rheinwein, während er es aussprach. Eine prachtvolle innere Wärme stieg in ihm auf, vom Herzen zum Haupt. Die Nebelwelt draussen schien ihm hell. Er sagte mit lauter Stimme: „Die Russen haben mich allerdings für tot aufgelesen. Aber ich hab’ eine zähe Natur. Ich kam zu mir. Zwei sibirische Winter haben mich ganz auskuriert. Die neuen Moskauer Machthaber gaben alle Kriegsgefangenen frei. Seit vielen Monaten, seit dem Frühjahr, bin ich unterwegs. Es ist ein weiter Weg von Werchojansk nach Charlottenburg.“

Der vergrämelte, vom Fleisch gefallene Geheime Baurat drückte lange und innig, aufrichtig gerührt, die Rechte des anderen.

„Gratuliere . . . gratuliere . . . Ihnen und uns . . . Mal eine Herzensfreude in dieser monströsen Zeit . . . Eine wahre Herzensfreude . . . Liebster, was sagen Sie zu der Lage? Noch immer keine Entscheidung! Es ist nachgerade schrecklich! Es reisst an dem letzten Rest von Nerven, den man noch hat.“

„Ich weiss von nichts . . .“

„Wie . . .?“

„In Russland hörte man von nichts. Gestern abend kam ich in Königsberg an und fuhr die Nacht durch hierher und hab’ die ganze Nacht geschlafen. Ich hab’ nichts hören wollen! Nur heim! Nur heim!“

„Augenblicklich ist ja Berlin noch unheimlich ruhig. Aber wissen Sie, dass man munkelt, Prinz Max würde in wenigen Stunden . . .“

„Nur daheim sein“, wiederholte Bruno Lotheisen, ohne auf den anderen zu hören, Glückzittern in der Stimme. Beben der Hoffnung. „Seit zwei Jahren habe ich nichts mehr von meiner Frau und unserem Evchen gehört! Herr Geheimrat: Haben Sie eine Ahnung, ob meine Frau noch in unserer alten Wohnung am Kurfürstendamm wohnt?“

„Die Gattin?“ Der Oberbaurat sammelte auf seinem faltigen, ungesund grauen Gesicht mühsam die Gedanken. „Natürlich: Meine Tochter hat vor vier Wochen, bei ihrem grossen Krach auf der Brotkommission, Ihre Frau dort getroffen! Das ist der elfte Bezirk! Stimmt: Ihre alte Wohnung! Sagen Sie mal: Was gab’s denn bei euch in Russland noch zu essen?“

Bruno Lotheisen überhörte den Schlusssatz. Seine Hände falteten sich in stummem Dank. Sonnig leuchteten seine blauen Augen. Seine Lippen lachten.

„Dann seh’ ich sie in zehn Minuten! Ich möcht’ in die Luft springen, Geheimrat, und mit der Lonny durchs Zimmer tanzen und mein Töchterle an den Händen nehmen und im Kreis schwenken . . .“

„Erschrecken Sie nur die Gemahlin nicht zu sehr! Sie hält Sie für tot!“

Eine Sekunde schattete eine Wolke auf dem freimütig offenen, wie bei einem vergnügten Jungen strahlenden Antlitz des blonden Kirchenbauers. Dann wehrte er lachend ab: „Dieser erste glückselige Schrecken ist schon vorüber, wenn ich komme! Ich habe der Lonny auf alle Fälle von Königsberg aus nach unserer alten Wohnung telegraphiert!“

„Na hören Sie: Wenn das nur angekommen ist . . .“

„Warum denn nicht?“

„. . . weil der Telegraphenverkehr wahrscheinlich schon unterbrochen ist!“ schrie der Geheimrat weinerlich. „Weil die Welt untergeht . . . mit Schuhen und Strümpfen . . .

Heuť noch . . . spätestens morgen . . . Kommen Sie denn vom Mond?“

„Nein: Aus dem fernsten Sibirien! Was ist denn eigentlich hier in Berlin . . .?“

„Da kommt mein Zug! Entschuldigen Sie! In der Mommsenstrasse gab’s keine Harzer Käschen mehr! Man möchte heulen! Nun muss ich mal in der Joachimsthaler Strasse hamstern . . . Im zweiten Zigarrengeschäft — im Hinterraum natürlich . . . aber sagen Sie’s keiner Menschenseele — da gibt’s noch . . .“

„Was denn?“

„Butter! Butter! Butter!“ rief der alte Herr gequält, Leiden in den Augen. Ein Druck seiner abgemagerten, abgeschilferten Rechten, an deren Goldfinger der zu weit gewordene Ehering schlotterte. Er lief davon, mit unsicheren Knien, raubgierig, wie eine Rothaut auf dem Kriegspfad. Er machte auf Bruno Lotheisen plötzlich einen geistesgestörten Eindruck: Wunderlich — dieser freiwillig verhungernde, würdevolle Geheimrat! Da, auf einmal, durchzuckte ihn ein Schrecken: Er sah plötzlich denselben erschöpften Blick, dasselbe stille Elend auf allen Gesichtern und Gestalten rings um ihn her. Die vielen jungen Mädchen mit ihren Geschäftsmappen hatten bleichsüchtige, wachsgelbe Wangen, die Schulkinder spitze Nasen und vorstehende Backenknochen und altkluge, sorgenvolle Augen, die älteren Leute gingen matt, gebückt, stumm in sich gekehrt. Alle diese verschiedenen Menschen hatten eine merkwürdige Ähnlichkeit miteinander wie eine grosse Familie. Eine stumpfe, unendlich geduldige Ergebung lastete auf ihnen gemeinsam.

Unten, in dem Durchgang ins Freie, stand feldmarschmässig ein kleiner sächsischer Infanterist und schwadronierte in eine aufmerksam lauschende Menschengruppe hinein: „Nee! Hier gam mer’sch nich mehr gefallen! Ich mach’ heeme! Wir alle missen Sie heeme machen!“

Der Sachse dachte nicht daran, einen vorüberkommenden, kaum dreissigjährigen Major, mit einem Dutzend Schwerterorden auf der Brust, zu beachten, geschweige denn zu grüssen. Der Offizier schien es auch gar nicht mehr zu erwarten. Er und seine junge, verschwenderisch elegant gekleidete, mit kostbarem Schmuck behangene Frau schleppten mühsam zwischen sich einen schweren Feldkoffer eigenhändig zu Fuss nach Hause. Dabei berichtete die Weltdame dem heimkehrenden Gatten halblaut aufgeregt: „Da hat sie mir nun damals das Pfund Butter geborgt, und nun drängt sie mich und drängt und telephoniert jeden Tag, ich soll es ihr wiedergeben.“

Butter . . . Butter . . . die Welt in Flammen . . . Europa ein Massengrab . . . Berlins stöhnender Notschrei: Butter . . . Butter . . . Und Kaninchenwürste. Da hängen sie in dem Holzschuppen vor dem Bahnhof. Menschen aller Stände drängen sich um sie. Werfen Zwanzigmarkscheine auf den Schragen. Keine Goldstücke. Wo sind nur die Goldstücke und Taler von früher? . . .

Und die Droschken? Die Autos? Ein Gelächter auf Bruno Lotheisens Frage. „Droschken? Pferdefleisch — dat können Sie vielleicht noch kriegen! Dort drüben ist die Rossschlächterei . . .“

Bruno Lotheisen ging zu Fuss weiter. Hinter ihm der Ruf einer heiseren Männerstimme: „Du! Wann kommen denn die russischen Brieder?“ Er wandte nicht den Kopf. Alle Fibern seiner Seele bebten inbrünstig Weib und Kind entgegen. Dort . . . dort fern . . . um die Ecke lacht und winkt das Glück. Er fühlte sich lebensfrisch und hoffnungsjung und liebesstark. Und konnte doch nicht mit ausgebreiteten Armen, stürmend in die Arme seiner Lieben dahineilen. Er schritt langsam. Schlang sich den dicken Schal fester um den Hals. Fröstelte. Er sagte sich: Diese Stadt hier wirkt lähmend. Diese Menschen sind nicht mehr normal. Sie sind erschöpft, ausgehungert, überreizt. Berlin ist krank. Berlin lastet bleiern auf mir.

Komisch, wie einem plötzlich die Erinnerung kommt — die Hochzeitsreise nach Italien — mit Lonny — vor sieben Jahren. Die Piazzetta Venedigs im Mondsilber. Die vielen stehenden, mit umgeworfenen Mänteln raunenden Menschengruppen. Harmlose, die Abendkühle geniessende Leutchen, die Verschwörern glichen. Solche Menschenhaufen standen jetzt in Berlin, dem ameisenfleissigen Berlin, wo sich sonst kaum jemand Zeit liess, einmal stehenzubleiben, am hellen Tag überall beisammen — vor den Haustoren, an den Strassenecken, mitten auf dem Fahrdamm, in blossem Kopf, in Hemdsärmeln, in Pantinen, in der Küchenschürze, aus den Portierstuben, von den Höfen, über die Hintertreppen, aus den Grünkramkellern zusammengelaufen. Sie standen, steckten die Köpfe zusammen, wisperten aufgeregt . . . Dass die Polizei das duldet! . . . Aber es ist ja gar keine mehr da! Weit und breit kein Schutzmann mehr zu sehen. Was ist das nur? . . .

Gibt die Litfasssäule da Auskunft? Auf Marke N ein Päckchen Süssstoff. 250 Gramm Haferflocken, Krankenkost auf Buchstaben A bis M bei der Brotkommission. Zehn Pfund Kartoffeln auf Abschnitt IV der Brotmarke. Ein Jahr Gefängnis. Zehntausend Mark. Zweihunderttausend Mark Strafe. Wieder ein Jahr Gefängnis. Riesengross, über den kleinen Hungerplakaten, weiter oben an der Säule, in schreiendem Grün und Rosa die Anzeigen liederlicher Lokale: Das Rattenschloss. Die Fledermaus. Die Mäuschendiele . . . Der Kriegsbericht? Nein: Für den Kriegsbericht war nirgends Platz . . .

Berlin . . . Berlin . . .

Die graue Luft . . . der stille Himmel . . . die fiebernde Stadt . . . Ein tiefes Summen über den Dächern. Kreisende Flugzeuge. Ein dröhnendes Hornissenbrummen: Ein silbergrauer, fliegender Walfisch — ein Zeppelin. Niemand schaut hinauf. Die Menschen unten summen und brummen selber. Sammeln sich überall in dunklen Klumpen wie schwärmende Bienen. Abgerissene Worte . . . Kiel . . . Die Gardeschützen . . . Kiel . . . immer wieder: Kiel . . .

Gedränge vor einer Kohlenhandlung. Frauen aller Stände bücken sich. Raffen die zerstreuten Kohlenstückchen vom Strassenpflaster in ihre Schürzen. Eine Dame in

Reiherhut und Sealcape schiebt einen Kinderwagen voll Briketts und winkt triumphierend zu einer langen, herrschaftlichen Fensterreihe im ersten Stock empor . . . „Uffjepasst!“ Auf dem halbleeren Bürgersteig rempelt ein halbwüchsiger Fabrikbengel die ängstlich ausweichenden Frauen und Kinder und alten Leute an die Hauswände und auf den Fahrdamm. Die ganze Strasse entlang stehen und sterben die kleinen Läden — mit Brettern verschlagen — die Scheiben übertüncht. Hinter den Fenstern der grossen Geschäfte allerlei: Pyramiden von norwegischen Fischpudding-Dosen im Stiefelladen, Warschauer Bonbons beim Schneider, Ölgemälde in der Seifenhandlung. Das lärmende Klappern der Holzfohlen an den Pappschuhen einer eiligen Krankenschwester. Ein feldgrauer zitterer am Boden . . .

Deutschland . . . . Deutschland . . . Was ist aus dir geworden?

Bruno Lotheisen ging rascher. Sein Herzschlag läutete: Ich lebe! Ich lebe! Läutete trotzig: Ich lebe . . . trotz alledem . . . Läutete jubelnd: Ich lebe . . . dort lebt mir Frau und Kind . . . dort, an der Ecke des Kurfürstendamms . . . das ist mein Haus . . .

Auch da stand wieder ein flüsternder Menschenhaufen auf der Prachtstrasse des Westens. In seiner Mitte ein langer blauer Matrose, die Mütze im Genick. Um ihn Dienstmädchen mit Herrschaftshäubchen und weissen Schürzen, junge Briefträgerinnen mit umgehängtem Postbeutel, erkältete, hustende Strassenbahn-Schaffnerinnen in Pumphosen und Schaftstiefeln, die Portierfrau. Sie war neu. Bruno Lotheisen kannte sie nicht. Sie hatte das Tor der hochherrschaftlichen Mietskaserne offengehalten. Sie kümmerte sich nicht darum, dass er eintrat und die Treppe hinaufstieg.

Auf dem Absatz des ersten Stockwerks, auf der Messingtafel rechts, stand sein eigener Name: Die Flurtür war nur angelehnt, das Hausmädchen offenbar eben einmal rasch auf die Strasse zu dem Matrosen hinuntergesprungen. Bruno Lotheisen trat in seine Wohnung, drückte mechanisch, als Hausherr, die Tür hinter sich ins Schloss, stand auf der Diele. Damenmäntel hingen an den Kleiderhaken, ein Herrenhut und Paletot. Er hörte Stimmen aus dem Salon. Fremde Stimmen. Seine Frau war nicht allein . . .

Er dachte sich: Also hat sie meine Depesche nicht erhalten . . . Er dachte sich weiter: Ich kann nicht so plötzlich bei ihr eintreten, als mein eigener Geist! Sie erschrickt ja zu Tode.

Und welch ein Wiedersehen unter fremden Menschen! . . .

Kling! Über ihm an der Wand schrillte die Flurglocke. Er hatte die Tür geschlossen. Nun stand irgendwer draussen und begehrte Einlass. Gleich kam von hinten jemand, um zu öffnen, Menschen . . . Über Bruno Lotheisen fiel, jäh die grosse Einsamkeit Sibiriens. Die Angst vor fremden Gesichtern — in dieser Stunde. Die Tür dicht neben ihm, zu seinem Arbeitszimmer, stand halb offen. Da trat er hinein, hastig, leise, wie ein Dieb in der Nacht. Da hatte er Zeit, zu überlegen: Wie mache ich es, dass Lonny, wenn ich vor ihr stehe, mir jubelnd, weinend, lachend in die Arme fliegt, statt sich vor der Gestalt meines Doppelgängers zu entsetzen? Wie meistere ich diese Stunde unerhörten Glücks, um die ich, ein gläubiger Christ, durch zwei lange Jahre, Tag für Tag, auf den Knien den Allmächtigen anflehte, diese Stunde, von der ich Nacht um Nacht vielhundertmal im Brüllen des asiatischen Steppensturms träumte, diese Stunde, die durch die Gnade Gottes alles, alles gutmacht, was ich ergeben von seiner Vaterhand, erlitt: Schmerz und Wunden, Gefangenschaft und Mühsal . . .?

„Vor allem müssen wir jetzt an Wilson glauben“, sagte nebenan eine kühle, selbstbewusste Männerstimme. Dann eine Damenstimme, Bruno Lotheisen unbekannt: „Gott sei Dank — dass auch Sie das meinen — ein Weltmann und Weltkenner, wie wir leider viel zu wenige in Deutschland haben!“

„Die Parole: ,Mit Wilson durch dick und dünn!’ wirkt ja allerdings auf manche Leutchen bei uns wie das rote Tuch auf den Stier.“ Die Männerstimme klang lässigironisch, gereizt und spöttisch-mitleidig zugleich. Nur immer blind alles auf die Hörner nehmen, was wir sehen! Sonst sind wir ja nicht glücklich.“

„Kennen Sie Wilson persönlich?“

„Nein, gnädige Frau! Ich hatte nie ein Bedürfnis nach einem Shakehands mit dem alten, guten Professor. Aber ich weiss genug von ihm! Ich war ja fast jedes Jahr in Amerika und oft genug in den übrigen Weltteilen. Mein alter Herr hat ja auf der halben Erdkugel Vertretungen unseres Magdeburger Stammhauses. So wie ich die Welt kenne, sah ich vom ersten Tage ab das Unheil für uns kommen.“

„Warum haben Sie denn nicht schon rechtzeitig Ihre Stimme erhoben?“

„Ich habe seit Jahren in Deutschland gepredigt, dass wir uns lieber heute als morgen mit den Feinden an den Verhandlungstisch setzen müssten, und dass wir auch heute noch — davon bin ich überzeugt — dann mit einem blauen Auge davonkommen würden.“

„Ein Jammer, dass man nicht auf Sie hörte!“

„Ich beging dass Verbrechen, mit der gesunden Vernunft bei unseren Gegnern zu rechnen! Ich musste deswegen schliesslich vor einem Jahr in die Schweiz flüchten! Ich hielt es jetzt, wo der grosse Krach da ist, für meine Pflicht, zurückzukommen und in letzter Stunde für die Verständigung zu wirken. Jetzt Wilsons rettende Hand zurückzustossen, wäre mehr als ein Verbrechen! Es wäre eine Dummheit!“

Der Unbekannte drinnen sprach lässig, langsam, aber unbeirrbar — ein Mann, der sich gerne reden hörte und der gewohnt war, gern und oft angehört zu werden. Eine selbstverständliche Überzeugungskraft lag in seiner selbstbewussten, weichen und kühlen Stimme. Er schloss gereizt und verächtlich: „Aber welche Dummheiten begehen wir nicht . . .?“

„. . . und dabei kämpfen wir seit Jahren siegreich gegen die Welt“, meinte etwas scharf die eine Damenstimme.

„Falls das auf mich zielt, meine Gnädigste — haben Sie nicht bemerkt, dass mein rechtes Bein lahm ist? Ich wurde schon im ersten Kriegsjahr als Rittmeister der Reserve und freiwilliger Kompagnieführer bei der Infanterie schwer verwundet und dauernd dienstunfähig.“

„Verzeihung! Das wusste ich nicht!“

Nebenan stand Bruno Lotheisen, ohne sich zu rühren, im Dämmerlicht seines Arbeitszimmers. Die Fenstervorhänge waren herabgelassen. Das Schattendunkel des verstaubten Raumes erhellte sich nur nach den schweren, halbgerafften Portieren hin, die ihn von dem Salon schieden und zwischen sich einen breitgeschwungenen Spalt freiliessen.

Gerade in diesem Ausschnitt sah Bruno Lotheisen den Redner von vorhin. Er stand in der Mitte des Zimmers, inmitten einer Anzahl um ihn sitzender, eleganter, in kostbares Pelzwerk gehüllter Damen, auf deren kriegsblassen Gesichtern sich die Wirkung seiner Worte spiegelte. Irgendeine bedeutsame Erinnerung knüpfte sich für Bruno Lotheisen an die Erscheinung des Unbekannten. Sein erster blitzschneller Eindruck war: Dem bin ich schon einmal vor Jahren begegnet . . . draussen im Krieg. Aber wo? Der Krieg war weit. Der Krieg war gross. Tausend Gesichter drängten sich da im Gedächtnis . . . Tote standen neben Lebenden . . . Freund und Feind . . . Ost und West . . .

Wo habe ich nur diesen mittelgrossen, schlank gewachsenen Mann in meinen Jahren, so um die Mitte der dreissig, schon einmal gesehen? Diese lebensklugen, beweglichen, überlegen lächelnden Züge eines Gesichts, dessen Regelmässigkeit die Frauen sicher schön finden? Man merkt es an der stummen Andacht ihrer Blicke. Wo diesen kurzen, dunklen Schnurrbart? Das dunkle, gewellte Haar? Auf dem Schettel den schwachen Schimmer einer Glatze? Den Ansatz einer Lebemanns-Tonsur?

Dabei das Erstaunliche: Ein jüngerer Mann in Zivil . . . in Deutschland . . . jetzt . . . Offenbar nach der neuesten Herrenmode des Auslands gekleidet . . . die taubengraue Weste unter dem eleganten schwarzen Cutaway, die scharfgekniffene Bügelfalte in den lichtgrauen, schwarzgestreiften Beinkleidern, die schwarz-weiss gerippte Binde um den hohen, vorn umgeklappten Stehkragen, die Knöpfschuhe aus Lackleder . . . ein Mann der Mode . . . jetzt . . .wo es in dem keuchenden, verblutenden Europa seit Jahren nur noch eine einzige Männermode, das Feldgrau und Feldbraun und Feldgelb, gab?

Der Fremde tat einen Schritt auf dem Teppich. Er stützte sich dabei auf einen Ebenholzstock mit Silberkrücke und einem Gummiknopf am unteren Ende. Er hinkte nicht eigentlich. Aber sein rechtes Bein war um einen Zoll zu kurz. Bruno Lotheisen, der mehrfach Verwundete, wusste: Beckenschuss, Hüftgelenk-Resektion. Glück, wer dabei mit dem Leben davonkam.

Der Unbekannte sprach wieder. In eine Ecke des Salons hinein, wo unsichtbar irgend jemand sass. Aus seinem Mund klang alles nachlässig, aber eben darum selbstverständlich, merkwürdig überzeugend.

„Ich bin als Deutscher geboren“, sagte er. „Ich habe also die Pflicht, ein guter Deutscher zu sein. Ich bilde mir ein, diese Pflicht zu erfüllen — so, wie ich sie verstehe — um ein geflügeltes Wort unserer gigantischen gegenwärtigen Staatsmänner zu gebrauchen. Über den Begriff des guten Deutschen — oder, was dasselbe ist — des guten Europäers, gehen allerdings die Ansichten sehr auseinander.“

Im Flur schrillte die Glocke.

Er fuhr fort: „Wenn man mich hätte gewähren lassen — statt mich mundtot zu machen und schliesslich in die Schweiz zu hetzen — bei meinen Beziehungen zu Gott und der Welt im Ausland . . . Wenn ich und meine Freunde hätten dürfen, wie wir wollten — das furchtbare Missverständnis, das wir den Weltkrieg nennen, gehörte vielleicht jetzt schon längst der Vergangenheit an.“

Stille Bewunderung war um ihn. Ernst aufgeschlagene Wimpern. Gläubiges Schweigen. Durch die lautlose Ergriffenheit klingelte zum zweiten Male die Türglocke im Flur. Dann klang aus der unsichtbaren hinteren Ecke des Salons eine helle Frauenstimme. Bruno Lotheisen zuckte zusammen. Das Herz stand ihm still. Er schloss die Augen. Er spürte das heisse Wasser in ihnen . . .

„Wo steckt denn nur wieder die Minna?“

Das waren alltägliche Worte. Aber das war die Stimme seiner Frau. Die seit Jahren nicht mehr gehörte junge, klare Stimme, die so weich klang, wenn sie sprach, so süss, wenn sie sang, so silbern, wenn sie lachte. Das Rücken eines Stuhls. Leichte Tritte. Er konnte Lonny nicht sehen. Sie ging offenbar auf den Flur hinaus, um selbst aufzumachen. Sie begrüsste eine draussen harrende Freundin. Man hörte den geschäftigen Wortwechsel beim Ablegen. Im Salon sprach inzwischen der Flüchtling aus der Schweiz weiter zu den Damen und hielt sie dabei im Bann seiner weichen, grossen, dunklen, weib- und welterfahrenen Augen, deren einschmeichelnde Wärme in merkwürdigem Gegensatz zu der weltmännischen Kühle seiner Züge stand.

„Jetzt herrscht auf der Welt das Faustrecht. Steckt man die Faust in die Tasche, so bleibt das Recht übrig. Wilson ist Professor des Rechts. Wenn Recht gleich Macht ist, so hat er die Machtfülle des Präsidenten eines Erdteils. Er versöhnt das Recht mit der Macht. Er hält in seinen Händen die Wage der Welt. Ist er Idealist — um so besser! Dann hilft uns einmal bei ihm die deutsche Ehrlichkeit, die uns sonst im Ausland nur schadet!“

Die Damen sassen hoffnungsvoll, die Hände verschlungen, und sahen mit blassem, schwachem Lächeln dankbar zu dem Tröster empor und dachten an ihre Männer, ihre Verlobten, ihre Herzensfreunde draussen im Feld. Eine kleine junge Frau in rehbraunem Schneiderkleid, die Bruno Lotheisen nicht kannte, fegte von der Diele in den Salon und haschte nervös nach der Rechten des Fremden.

„Endlich lerne ich Sie kennen! . . . Ich war so kolossal gespannt! . . . Sie brauchen sich nicht erst vorstellen zu lassen! . . . Erstens: Die Weltfirmia Grimm kennt jedes Kind . . .“

„Das ist mein Vater, gnädige Frau! Ich selbst befasse mich wenig mit der Industrie und dem Geldverdienen . . .“

„. . . sondern mit der Politik! Mit Auslandspolitik! Mit Flüchtlingspolitik! Natürlich! Brrr! Das ist so angenehm gruselig, jemandem die Hand, zu drücken, hinter dem die Polizei . . . Pscht! Ich verrate niemand, dass Sie schon seit vier Wochen heimlich in Berlin sind! Ich weiss, dass Sie davon die tollsten Unannehmlichkeiten haben könnten.“

„Höchstens bis heute früh noch, gnädige Frau! Wir schreiben heute den neunten November. Vielleicht wendet sich heute schon die Welt. Vielleicht morgen! Die Hähne krähen schon durch ganz Deutschland — von Kiel bis München! Es will Tag werden . . endlich . . . bei uns . . .“

Dr. Werner Grimm sagte es ruhig. Er setzte sich. Er. besass, trotz der steifen rechten Hüfte, die ungezwungenen, leichten Bewegungen eines Mannes von Welt. Er war ein auffallend schöner Mann mit der strengen Regelmässigkeit seiner Züge und dabei dem verräterischen Spiel von Laune und List unter dem weichen, dunklen Schnurrbart. Hahn im Korbe. Auch wenn andere Männer dagewesen wären — die Frauen hätten doch auf ihn gesehen. Er kannte genau seine Macht über sie. Und ihre über ihn. Er lächelte mit den Augen, während sein Mund ernsthaft blieb. Spielte mit den Frauen. Fing sie im Spiel. Das alles halb zerstreut, nebenher, aus Gewohnheit — inmitten des fernen Donnergrollens der Zeit.

„An diesem Sonnenaufgang des gefunden Menschenverstandes habe ich in der Schweiz mitgearbeitet;“ sagte er, „dank meinen vielseitigen Verbindungen auf unserem guten, toll gewordenen Planeten. Es gibt viel mehr Friedensfreunde in allen Lagern, als unsere Maulkorbweisheit ahnt. Der Grund zu einer Liga der guten Europäer ist bereits gelegt. Übergeschnappte Pazifisten und Utopisten, flaumweiche Versöhnungsspiesser und wehleidige Weltverbrüderer rechne ich allerdings nicht dazu, sondern vernünftige Menschen aller Nationen wie ich, die ihr eigenes, wohlverstandenes, gegenseitiges Interesse über die Granatentrichter zum grünen Tisch führt.“

Ein schlanker, hoher Schatten fiel plötzlich über ihn. Die Gestalt einer jungen Frau. Dünn, biegsam, rank wie eine Gerte hob sich ihr Umriss von dem trüben Novemberlicht der Scheiben. Ein zarter, weisser, leicht vorgebeugter Hals mit mattschimmernder Perlenkette. Strahlendes Blond über dem schmalen, oval geformten Längsrund des schönen, lebhaften Kopfs. Bruno Lotheisen faltete nebenan die Hände. Ihm war zum Beten zumut, zum Schluchzen, zum Jubeln, zum Niederknien — nein — zum Aufspringen — Hineinstürzen — sein Weib an sich reissen — umhalsen — küssen — mit Küssen ersticken — unter Tränen stammeln Lonny — . . . da bin ich . . . da hast du mich wieder . . .

Aber dabei stand der Kirchenbauer Lotheisen, ohne sich zu rühren, in dem dämmerigen Nebenraum. Irgend etwas lähmte ihn. War es der Geist dieser hungernden, fiebernden, unheimlich veränderten Stadt da draussen? Das dumpfe, drohende Hornissensummen auf den Gassen? Die fremden Menschen da nebenan? Die Angst vor Lonnys Schreckensschrei, wenn er jäh über die Schwelle trat? Ihre unwillkürliche Abwehr des Entsetzens: Du bist ja tot . . .

„Setzen Sie sich doch Frau Lona!“

Lonny Lotheisen warf sich in einen Sessel. Ihr Mann sah ihr aus seinem Dunkel gerade in das schöne, kluge Gesicht mit den klaren, grossen Augen, deren Farbe, wie die des Meeres unter raschbewegtem Himmel, je nach Licht und Laune, zwischen Hellgrau und Hellblau wechselte. Ein glühender Nadelstich zuckte ihm durch das Herz: Was hat dieser Mann da nebenan meine Frau so vertraulich Lona zu nennen? Kein Mensch hat sie jemals so genannt. Ich am wenigsten. Den Namen hat er erst für sie ausgedacht. Und warum legt er so kameradschaftlich den Arm über die Lehne ihres Stuhls, dass der zarte, goldene Flaum ihres Nackens seine Hand streift? — Und ein Schrecken, eisig, wie aus der Kälte Sibiriens geboren, rieselte ihm durch Mark und Bein.

Eine Dame war hereingerauscht. Küsste Lonny, die im Sitzen zu ihr sagte: „ ’Tag — Wolfrade! . . . Da stehn die Zigaretten! . . . Schiessen Sie los, Wölfchen: Wie steht’s im Ministerium?“

„Alles sitzt auf’m Proppen!“ Die junge, zu Besuch gekommene Exzellenz wickelte sich mit nervösen, abgemagerten Fingerchen eine Papyros. Dr. Werner Grimm reichte ihr Feuer. In ganz selbstverständlicher Höflichkeit. Trotzdem wurden ihre Augen unruhig unter dem Blick der seinen. Das waren Augen für Frauen. In diesen dunklen Männeraugen wohnte die Frau. Fühlte sich erkannt. Verstanden. Geliebt.

„Doll wird’s heute noch zugehen!“ Die Exzellenz aus der Wilhelmstrasse schüttelte sich in einem angenehm gruseligen, aufgeregten Schauer. „Kinders . . . ich bibbere an allen Nerven!“

„Ihr kommt zuerst daran!“

„Wir alle! Heute noch fliegt die ganze Kiste auf, meint mein Mann! Sie packen schon überall Koffer und schicken nach dem Anhalter Bahnhof und der Friedrichstrasse, ob noch Züge gehen! Übrigens, Dr. Grimm — unter uns: Man weiss jetzt höheren Ortes ganz genau, dass Sie heimlich in Berlin sind!“

„Höheren Ortes ist man bereits völlig machtlos“, versetzte Werner Grimm gleichgültig. Lonny Lotheisen verwandte kein Auge von ihm. Die Exzellenz feuchtete das Mundblättchen ihres Zigarettenwickels mit der rosigen Zungenspitze und dankte ihm mit einem seelenvollen Augenaufschlag für das Benzinflämmchen seines Taschenfeuerzeugs. Dann hob sie die gerungenen Hände: „Machtlos? Wem sagen Sie das? Meinen Mann haben sie heute früh schon im Büro einfach ausgelacht! Die Staatskarre steht still . . .“

„Sie wird schon wieder in Gang kommen!“

„Warum sitzen Sie denn hier, Dr. Grimm? Gehen Sie doch hinaus! Helfen Sie! Jetzt kommt doch Ihre Zeit!“

Werner Grimm hatte ruhig Platz behalten. Er legte die Hand halb über die verführerischen Augen. Nun wirkte der untere Teil des Gesichts fest, bestimmt — bedeutend.

„Ich bin nur für die äussere Politik da“, sagte er. „In die inneren kommenden Verhältnisse mische ich mich grundsätzlich nicht. Das mögen andere ordnen. Ich bin da zu sehr Partei. Ich bin nun einmal, wie der Engländer sagt, mit einem silbernen Löffel im Mund geboren. Ich bin ein Sohn des Besitzes . . .“

„Des Reichtums!“

„Nun ja. Meine Familie ist sehr reich. Das weiss jeder. Ich stamme aus der Welt des Kapitals, das sich jetzt anschickt, sich mit der Arbeit auseinanderzusetzen. In diesem Prozess erkläre ich mich als Jurist für befangen. Niemand kann Richter in eigener Sache sein.“

„Sie sind zu ehrlich, lieber Freund!“

„Das ist kein unbedingtes Hindernis, mich nützlich zu machen, Frau Lona! Aber da mich nützlich machen, wo es jetzt am nötigsten ist, weil wir Deutsche da am schwächsten sind — in unserem Verkehr mit dem Ausland. Was haben unsere europäischen Nachtwächter da seit Jahren verkorkst! Es ist kein Spass, die heillos verfahrene Geschichte wieder ins Geleise zu bringen. Aber wir schaffen’s! Denken Sie an meine Worte: In vier Wochen haben wir die ersten lichten Augenblicke in Europa, und in einem halben Jahr rund um die Welt den Sieg der Göttin der Vernunft oder des Gottes der Vernunft: den Wilsonfrieden!“

Von nebenan beobachtete Bruno Lotheisen seine Frau. Sie nickte, mit gespanntem Interesse, wie eine gelehrige Schülerin und ein guter Kamerad zu den Worten ihres Freundes. Es war ein Zug um ihre lebendigen, halboffenen, auch im Schweigen ungeduldig zuckenden Lippen, der ihm ins Herz schnitt. Ihr bewegliches Antlitz schien ihm verändert. Merkwürdig gereift und durchgeistigt in den

Jahren der Trennung. Er ärgerte sich, dass er nicht anders konnte: aber er sah alle Äusserlichkeiten an ihr. Er sagte sich: Diese Frisur hat sie doch früher nie getragen! Das schöne blonde Haar in der Mitte gescheitelt und in kleinen Wellen flach seitlings bis halb über die Ohren hin angelegt. Hinten ein Knoten. Freilich: Ihre edle längliche Kopfform tritt noch mehr hervor. Die Stirne wird frei. Das Gesicht erscheint bedeutender. Das ist wohl auch ihre Absicht bei dieser Haartracht.

Lonny Lotheisen sprang stürmisch auf. In allen ihren Bewegungen war ein Ungestüm. Ein instinktives Zittern der Zeit. Sie kramte etwas aus einem Tischkästchen.

„Also . . . ich bin ein guter Kerl! Ich ring’ es mir von der Seele — heute — zur Feier des Tags, der Ihnen endlich die Aussicht gibt, aus dem Vollen für Deutschland zu wirken, lieber Freund! Ich hab’ noch ein Schächtelchen Cakes gehamstert! Da nehmt! Esst! Aber jeder nur ein Stück! Sonst langt’s nicht! . . . Nur der brave Schweppermann zwei! Der verdient’s!“

Ihre Stimme war warm und hell und stark. Sie bot stehend mit den langen, schlanken Händen ihren Gästen den Leckerbissen. Sie reichte selbst dem Dr. Werner Grimm trotz seiner Abwehr sein Doppe stück und schob ihm das eine, als er abwehrte, lachend in den Mund. Der Mann im Schatten des Nebenraums stöhnte leise auf und zuckte zusammen. Er begriff das da drinnen nicht und begriff sich selbst nicht. Er wollte in der Seele seiner Frau lesen und sah dabei, mit seinen weltentwöhnten Augen Sibiriens, ihr Kleid. Er fragte sich entsetzt: Wie kann eine ehrbare Frau das tragen? Dieser enge Doppelrock aus schwarzem Wollstoff, dieser weisse Brusteinsatz, aus dem ihr weisser Hals frei herauswächst — das da oben — gut! Aber nach unten — da reicht selbst das zweite, das tiefere Röckchen nur ein paar Handbreit über das Knie, so kurz wie kaum bei einem vierzehnjährigen Backfisch. . . .

Und dafür umspannen die Schaftstiefelchen aus schwarzem Chevreau nicht nur die schmalen Füsse und die zarten Knöchel, sondern reichen von dem feinen Ansatz der Wadenwölbung das Bein hinauf bis hoch oben unter den Rocksaum! Das ist der Krieg! Der Krieg und die Frauen! Der Krieg spricht aus der ungebundenen, kurzgeschürzten Tracht meiner Frau. Diese verwegene Tracht gibt den langen, schlanken, straffen Umrisslinien ihrer Gestalt etwas Feldmässiges, etwas von einer Marketenderin! Wie kann man nur so gehen! Die Leute bleiben ja auf der Strasse stehen . . . Aber dann sah er: Die anderen Damen waren genau so angezogen! Sie lehnten sich, alle mager und hungerblass, nachlässig, die Hände über dem Kopf, in den Sesseln zurück, schlugen die Beine übereinander, zeigten unbekümmert die Waden, rauchten, lachten laut und aufgeregt . . . Krieg . . . Krieg . . . vier Jahre Krieg . . .

Auch das tiefe Trauerschwarz der jungen Kriegswitwe, die hereinkam, endete flatternd hoch über dem Boden. Sie war gelblich bleich und hustete, während sie sich setzte. Lonny rief empört: „Wieder erkältet? Arbeitet ihr denn immer noch bei offenen Fenstern, in eurem elenden Schwarzen Kabinett?“

„Wir müssen doch! Auch im strengsten Winter. Sonst hält man die giftigen Dämpfe nicht aus, mit denen die Regierung die Briefe öffnet.“

„Heute öffnet sie sie noch. Morgen nicht mehr“, versetzte Dr. Werner Grimm gelassen. Es war ein tiefes Schweigen wie vor etwas Ungeheurem, nicht Ausgesprochenem, das langsam am Himmel draussen emporstieg. Dann sagte die Hauptmannswitwe: „Die Büros sind jetzt schon leer. Die meisten sind heute überhaupt gar nicht mehr gekommen oder jetzt mittags nach Hause gegangen. Es bricht alles zusammen!“

Die blonde Hausfrau nickte leidenschaftlich vor sich hin. Drei düstere Querfalten ungeduldiger Spannung standen auf ihrer weissen Stirn. Ihre seinen Nasenflügel bebten Ihr stummer Augenaufschlag suchte den Freund neben sich. Sie sprachen kein Wort. Die beiden waren ein Herz und eine Seele . . .

Und in dem erkältenden Grauen, das ihn durchschlich, klammerten sich Bruno Lotheisens Augen wieder an das Gewand seiner Frau. Das zeigte nur Schwarz und ein wenig Weiss! Halbtrauer! Ein Hoffnungsfunke leuchtete in ihm auf: Seit zwei Jahren hält sie mich für tot und trauert noch um mich! Das ist ein Wink vom Himmel! Das ist Gottes Finger und Trost: Ich wohne noch in ihrem Herzen!

Wieder ein neuer Gast nebenan. Eine kleine, spitze, quecksilberne Frau. Sie schüttelte allen die Hände, purzelte in den Klubsessel, klatschte befehlend, verwöhnt mit den Fingerspitzen: „Lonny — fix — meinen Macholl!“

Schon schenkte ihr Lonny Lotheisen behutsam die Stärkung ein — ein ganzes Weinglas voll — Schnaps, am hellen Mittag — eine Dame — aber das kleine Nervenbündel im Lederpfühl schluckte, es hinunter wie Wasser, wischte sich den Mund. Die Hausfrau erklärte: ,,Ihr Mann ist draussen im tollsten Feuer.“

Die andere lachte dazu. Hell. Aufgeregt. Niemand wusste, warum.

„Glaubt ihr, ich mach’ nachts noch ein Auge zu?“ sagte sie und lachte dabei immer noch weiter. „Bei Tag, wenn’s klingelt, schrei’ ich vor Schrecken: Da ist endlich die Depesche!“

Plötzlich schaute sie aufgeregt im Kreise. Mit fiebernden, irren Augen. Wütend. Wild. Empört. Mit geballten Fäusten . . .

„Vier Jahre ist der Mar glücklich durchgekommen . . . Sie sollen mir ihn nicht jetzt noch im letzten Augenblick . . . Leute . . . Habt doch Mitleid . . . Seid doch vernünftig . . . Wozu ist denn der Wilson auf der Welt?“

„Um unzähligen Frauen auf der Welt ihre Männer zurückzugeben“, sagte Werner Grimm.

Wilson . . . Das Zimmer war plötzlich hell. Die Sonne schien. Hoffnungsstrahlen fluteten herein. Wärme neuen Lebens. Das Licht von Westen. Wilson, der Erlöser der gequälten Menschheit. Wilson, der Schiedsrichter der zerfleischten Welt. Wilson, der Retter Deutschlands.

„Wer sind schliesslich die letzten und wirklichen Opfer des Krieges?“ Werner Grimın sagte es aus seinem Lehnstuhl, das steife Bein weit ausgestreckt. „Die Männer draussen? Im Kämpfen liegt etwas Befreiendes . . . Es geschieht doch was! . . . Aber tatenlos daheim sitzen und warten und zittern . . . Jahr um Jahr . . . Ich weiss nicht . . . Ich bin ja leider nicht verheiratet . . . Aber ich kann mir doch vorstellen, wie entsetzlich jede Frau geduldet haben muss — in dieser Zeit . . .“

Die Frauen um ihn machten grosse, dankbare, gläubige Augen. Erstaunen lag darin, dass man auch einmal an sie dachte! Noch niemals in den vier letzten Jahren waren die sachlichen Greise, die hüben und drüben den Kampf der Männermillionen lenkten, auf den Gedanken gekommen, Liebe, Leid und Angst der Frauen in ihre Kriegsberechnungen mit einzustellen . . .

Von der Strasse herauf drang ein schwaches, unbestimmtes Brausen eines vorüberziehenden, unordentlichen Gruppengewimmels von Arbeiterfrauen, von Halbwüchsigen, von vereinzelten Munitionsmännern und Matrosen. Werner Grimm sass neben der Hausfrau. Er hielt ihre Hand in der seinen und sagte, an ihr vorbei, zu den anderen blassen Damen: „Man spricht immer von Recht und Unrecht dieses Krieges. Aber das wahre Unrecht — und das überall — das geschah den Frauen auf der ganzen Welt. Denn, was geschah — das geschah gegen deren innerste Natur.“

Seine dunklen Augen waren verführerisch. Sie kümmerten sich nicht um das, was sein Mund sprach. Sie betörten inzwischen still für sich das Gegenüber. Von seinen Augen führte tiefer noch als von seinen Lippen ein Weg in die Weiberseele. Er schloss achselzuckend, Mitleid und Zorn in der sonst kühlen Stimme eines Weltmannes: „Ihr wart ja ausgeschaltet! Die Hälfte der Menschheit musste durch Jahre ihr ganzes, ursprünglichstes Empfinden und Denken dem der Männer unterordnen! Man verlangte Spartanertugend gerade von dem schwächeren Geschlecht! Es gab Gemütsathleten unter den Heimkriegern, die nahmen es den Witwen und Bräuten übel, dass sie Trauer trugen! Aber die Natur lässt sich nicht umkrempeln! Die Millionen Männer, die draussen auf den Schlachtfeldern modern, die sind eben doch vom Weibe geboren und dem Weibe entrissen. Aber die Frauen sind in dieser ägyptischen Finsternis mündig geworden. Sie stehen auf sich selbst. In Amerika verdankt Wilson seinen knappen Wahlsieg nur den Stimmen der Frauen. Darum ist er der Anwalt der Frauen, Frau Lona, wenn er der Anwalt des Friedens ist.“

Ein leises Aufatmen unter den Blusen und Spitzen und Stickereien, eine leise glückliche Färbung auf den blassen Wangen der jungen Frauen. Werner Grimm hatte sich, leicht auf seinen Stock gestützt, erhoben. Er stand mitten im Salon. Der schattenhafte Mann im Nebenraum sah ihn auf wenige Schritte vor sich. Er sah dies kluge und welterfahrene, im Verdruss über die Torheit anderer spöttisch. verzogene, vom ironischen Lächeln der besseren eigenen Einsicht beherrschte Gesicht. Er sah die elegante Gestalt in modischem, gepflegtem, Kriegeraugen ungewohntem Zivil. Er sah die andächtigen Blicke der Damen ringsum . . .

Aber dann sahen Bruno Lotheisens sich ungläubig weitende blaue Augen etwas anderes . . etwas Furchtbares.

Eigentlich war es gar nicht furchtbar. Niemand im Zimmer nebenan fand etwas daran. Jeder schien das schon zu wissen, für selbstverständlich zu halten . . .

Lonny war aufgestanden. Nicht in ihrem sonstigen, sprunghaften Ungestüm der Eingebung des Augenblicks, sondern mit einer weichen, weiblich sanften Bewegung. So trat sie auf den Flüchtling aus der Schweiz zu. Es war in dieser Sekunde etwas Mädchenhaftes, etwas Unberührtes um die schlanken Linien ihrer blonden Erscheinung in Trauerschwarz und Trauerweiss, die durch den kurzen Rock noch jugendlicher wirkte. Sie schlang sanft ihren Arm unter den ihres Freundes, legte über seinem Arm ihre Hände ineinander, stand mit ihm eingehängt, Ellbogen in Ellbogen, eng, vertrauensvoll an ihn gelehnt, zwei, die zusammengehörten . . .

„Was war denn das, da nebenan . . .?“

„Ein Seufzer . . .“

„ . . . als hätte jemand gestöhnt . . .“

„Nein. Ich glaube, es war draussen auf der Strasse . . .“

Lonny Lotheisen horchte ein paar Augenblicke. Unten dröhnte ein Triebwagen der Strassenbahn vorbei und verschlang jedes andere Geräusch. Dann war alles still. Auch nebenan. Sie trat auf die Schwelle des Arbeitszimmers und steckte den vorgebeugten schönen schmalen Kopf in dessen Dämmern hinein. Sie betrat das Zimmer selbst nicht gern.

„Da drinnen ist keine Menschenseele“, rief sie über die Schulter zurück.

Nein. Da war niemand mehr. Bruno Lotheisen war auf den Flur hinausgetaumelt. Nur fort! Nur fort! Er war sich selbst nicht klar, warum. Dann dachte er sich: Wenn ich jetzt da hineintrete . . . vor den beiden stehe — das gibt ein Unglück! Nur fort . . .

Die Flurtür war von den inzwischen gekommenen Damen wieder offen gelassen worden. Eben, als er in das Treppenhaus hinauswankte, kam das Hausmädchen die Stiege herauf. Erschrak beim Anblick des blondbärtigen Mannes mit russischer Lammfellmütze und dickem, rotem Schal und hohen Kniestiefeln.

„Jotte doch! Wat wollen denn Sie?“

„Nichts . . . nichts“, murmelte er und schleppte sich an ihr vorbei. Seine Knie waren träge. Knickten bei jedem Schritt. Es fiel ihm ein: Ich habe ja nicht nur eine Frau. Ich habe auch eine Tochter. Er blieb stehen. Er hielt sich an dem Geländer und schaute zu dem Mädchen empor, das ihm noch verdutzt von oben nachstarrte. Er fragte: „Wo ist denn das Kind?“

„Wat für ein Kind?“

„Das kleine Mädchen! Frau Lotheisen hat doch ein Töchterchen!“

„Nee.“

Er wurde zornig.

„Das muss ich doch wissen! Sie hat ein Töchterchen.“

„Sie hatte eins! Det stimmt!“

„Wo . . . wo ist das Kind hin . . .?“

„Ick war damals natierlich noch nich da. Aber die jnädige Frau trägt ja noch Trauer: — Es kann noch nich ein volles Jahr her sind . . .“

„ . . . seit . . . seit . . .“

„Na, seit det Kind jestorben is!“

„Tot . . .?“

„Ja, wovon sollen denn die Kinder leben . . . heutzutage? Sie kriegen ja nischt zu essen! . . . ’s ist ja nischt da . . . In dem Kohlrübenwinter sind sie jestorben wie die Fliegen . . . bei die englische Blockade . . .“

Gemordet . . . kaltblütig von den Engländern durch Hunger gemordet . . . Du süsses, kleines, wonniges Geschöpf . . . Du Geschenk vom Himmel, das noch seine Ärmchen um mich schlang, als ich mich zum letztenmal über dein Bettchen beugte, und das mir versprach, dass es auch jeden Abend zum lieben Gott für den Papa beten würde . . . Mein Evchen . . . mein Elfchen . . . gemordet . . . und nicht du allein! Tausende, Hunderttausende von Kindern sind mit dir zum Himmel aufgestiegen und verklagen ihre Mörder vor Gottes Thron . . .

Und da oben sitzen sie und träumen schon wieder von Völkerversöhnung . . . von Umarmungen mit den Briten und Welschen . . . Menschen ohne Hass und Glut . . . statt an Rache zu denken . . . Rache . . . Wut schüttelte ihn. Er wollte wieder hinauf. Blieb wieder stehen. Drehte um. Nein! Noch nicht! Ich muss erst ruhig werden! Ich muss erst zu mir kommen! Es ist zuviel. Es ist zuviel . . .

Frische Luft. Die Strasse. Keuchende Atemzüge. Wo ist denn eigentlich der Feind? Ist er draussen in Europa? Ist er in uns, dass wir immer wieder alles vergessen und verzeihen? Die Menschenansammlung vor dem Hause auf dem Kurfürstendamm hatte sich vergrössert. Der Matrose von vorhin stand auf einer Bierkiste unter einem Laternenpfahl. Er sprach laut und gut. Er schlug sich beteuernd an die trotz der Novemberkühle blosse, blau tätowierte Brust.

„Ich war doch noch vorgestern auf Wachboot in der Nordsee! Alle englischen bewaffneten Fischkutter und Torpedojäger zeigten die rote Flagge! Wir haben uns mit ihnen auf Englisch durch das Sprachrohr verständigt! Die ganze englische Kriegsflotte meutert! Bis in die Häfen hinein! Wie bei uns! Dort machen sie jetzt auch Schluss!“

Bruno Lotheisen sah die gläubigen Gesichter. Er ging die Strasse hinauf Er wusste nicht, wohin. An allen Ecken mehrten sich die Menschenhaufen. Strudelten um die Zeitungsverkäufer. Rissen ihnen die Extrablätter aus den Händen. Ihm war es gleich. Er lief mit leeren Augen geradeaus. Sah geistesabwesend um sich die letzten Gesichte des sterbenden Krieges. Frauen aus dem Volk schoben noch einen klirrenden Stoss voll messingener Ofentürchen zur Munitionsfabrik. Eine Dame in wehendem Witwenschleier brachte in einem Zeitungspapier-Päckchen ihr ausgekämmtes Haar zum Dichten der U-Boot-Fugen zur Sammelstelle, rechts und links ihre beiden Kleinen, jedes seine Sparbüchse für die Kriegsblinden in Fäustchen. Zwei riesige indische Elefanten zogen einen Frachtwagen mit einer mannshohen Kirchenglocke auf dem Weg zum Schmelzofen. Auf den Dächern schraubten Blusenmänner die Kupfernen Blitzableiter und Telephondrähte ab. Deutschland kämpfte seinen letzten unerhörten Heldenkampf.

Aber dort an der Ecke wieder Menschen. Die schneidige, durchdringende Stimme eines Vizefeldwebels. Er trägt einen Zwicker auf dem intelligenten Gesicht. Er streckt den Arm aus:

„Ich komm’ doch eben aus dem Westen! Überall schwenken die französischen Soldatenräte seit vorgestern die weisse Fahne zu uns hinüber. Die Franzosen haben auch genug! Die wollen auch nur noch nach Hause! Nun ist überall Ende!“

Und auf den bangen Gesichtern umher löst sich eine verzweifelte Spannung. Blicke wie von Schiffbrüchigen nach dem nahenden Rettungsboot. Bruno Lotheisen stürzte davon. Er bog in den Tiergarten ein. Die Parkwege waren leer. Deutschland schwand ihm. Er wusste nur: Meine Frau von mir. Mein Kind tot . . . Stille umfing ihn in dem Gehölz. Er schaute zu dem Nebelgrau des neunten November auf. Sein Kopf war wirr. Er fragte sich: Was ist das alles? Bin ich gestorben oder stürzt die Welt zusammen?

II.

Holzbraun und rostgrau gescheckt stand, ein starrer Koloss des Krieges, der Eiserne Hindenburg in der fahlen De Novemberluft. Niemand stieg mehr die Lauftreppen hinauf und nagelte. Es gab in der Sieges-Allee mehr grellweiss leuchtende Hohenzollern aus Marmor als dunkelgekleidete Menschen auf dem Sand vor ihren Sockeln. Nur von fern, vom Reichstag her, dämmerten schwarze Meere von Köpfen, grollte ein ungeheures Brausen.

Bruno Lotheisen achtete nicht darauf. Er lief durch den Tiergarten, gesenkten Hauptes, den Blick auf den modernden Blättern am Boden, in der Richtung nach dem Brandenburger Tor. Ihn füllte ein jammervolles Staunen: Meine Frau . . . meine Frau . . .

Wie war das möglich? Sie war doch nicht nur klug — viel klüger mit ihrem schnellen, hellen Verstand als andere Frauen —, sie war doch auch gut! Sie hat mich liebgehabt. Unsere Ehe war rein und klar. Wie konnte meine Frau, während ich in nächtiger Eiswelt für Deutschland litt, wie konnte meine Frau mich vergessen und verraten?

Deine Frau? Nein: Deine Witwe!

Es war kein Mensch in seiner Nähe. Und doch ging irgend jemand unsichtbar neben ihm und raunte ihm ins Ohr: Deine Frau? Nein! Deine Witwe!

Er blieb stehen. Griff sich an den Kopf: Ich bin ja tot! Ich bin vielleicht amtlich längst für tot erklärt. Das Leben ging über mich hinweg. Ich bin für meine Frau nur noch eine Erinnerung. Eine Wehmut. Sie ist jung . . .

Du, klein Evchen, mein Goldschnuck, mein Töchterle — du bist nicht vor einem Jahr gestorben, sondern erst heute. Bis dahin hast du gelebt. Für mich hast du gelebt. Aber ich, dein Vater, habe bis heute geglaubt zu leben, und bin doch schon lange vor dir, schon vor zweieinhalb Jahren, gestorben. Für deine Mutter und alle Menschen gestorben.

Bruno Lotheisen ging weiter. Der Wind trug vom Reichstag her ein gedämpftes vieltausendfaches Hurra an sein Ohr. Er hörte es nicht. Radfahrer rasten an ihm vorbei, Männer in Arbeitskleidern mit roter Armbinde und i umgehängtem Gewehr. Sie schwenkten ihre Kappen und riefen ihm etwas zu, mit atemlosen, jubelnden Slimmen. Er schaute nicht hin. Er hatte derlei zu oft in Russland gesehen, als dass es ihm aufgefallen wäre. Er blickte hoffnungslos vor sich ins Leere. Er sagte sich: Was will ich denn noch? Ich bin ja tot. Ich kann mich nicht unter den Lebenden zeigen. Es ist ja für beide Teile peinlich. Was habe ich denn eigentlich jetzt vor? Wohin laufe ich? Ich muss doch irgendein Ziel haben, seit einer Stunde. Richtig: Ich muss irgendwo jemand fragen, ob mich wirklich alle Welt für tot hält? Dann — ja dann ist Lonny entschuldigt. Dann ist sie gerechtfertigt, wenn sie nach zweieinhalb Jahren Witwenschmerz wieder ans Heiraten denkt! Ich habe es ihr selbst, damals, beim letzten Abschied, voll Todesahnungen gesagt: Lonny — du Liebste — du Beste — ich danke dir! Du warst mein alles und mein ganzes Glück im Leben. Wenn ich fallen sollte und du findest noch einmal dein Glück im Leben — ich will nur, dass du glück ich bist — dann denke nicht an mich . . .

Wen kann ich denn fragen, wie das mit mir ist? Ich wusste es doch, wen ich fragen wollte. Deswegen eile ich ja hier nach der Friedrichstadt. Richtig: Der Justizrat in der Mohrenstrasse, der alte Sachwalter meines Hauses. Ihm habe ich ja die Verwaltung aller meiner Angelegenheiten übergeben. Von ihm werde ich erfahren, ob ich gestorben bin . . .

Und wieder der graue Wurm in der Seele: Wahrscheinlich bin ich schon längst in Russland gestorben und bilde mir nur ein, dass ich noch lebe. Oder ich liege irgendwo drüben im unendlichen Russland krank und träume nur im Fieber, ich sei daheim in Berlin . . .

Ja — ja! Ich träume! Das da vor mir — das ist freilich das Brandenburger Tor, und oben das Viergespann der Siegesgöttin. Aber solch ein Lastkraftwagen, wie er da unter ihm donnernd vorbeirollt — den sieht man nur in Moskau und Petersburg — diesen Wagen, vollbepackt voll lachender, stehender Soldaten und Zivilisten mit Gewehren in der Hand, voll von lachenden Frauen und Mädchen mit flatternden roten Bändern im Haar, vorn vielläufig glotzend das Maschinengewehr mit dem quellenden Eingeweide seines Ladestreifens. Sie haben glühende Gesichter, trunkene Augen, durch das Gerassel schreiende Lippen: „Es lebe die internationale Revolution!“ Sie rufen es, auf Deutsch. Ich träume. Ich träume. Neue Lastwagen rasen mit rotflatternder Fahne vorbei. Die Leute entblössen das Haupt. Ich nicht. Ich stehe und staune. Gleich werden sie mir jetzt den Hut vom Kopf schlagen und mich verhaftet wegschleppen. Nein. Die Menschen sind alle duldsam, merkwürdig sanft, ihre Züge halb ungläubig, mit weit offenen Augen, als ob ihnen vor ihrem eigenen Tun schwindelte. Ich träume. Ich träume.

Sonst könnte ich doch jetzt nicht mitten durch das Brandenburger Tor gehen, da, wo sonst nur der Kaiser und die Feuerwehr fuhr. Kein Schutzmann wehrt. Nirgends mehr ein Schutzmann. Keine Wache mehr, kein Posten da rechts am Seitenbau.

Und sonst könnte mir doch nicht da der alte zerlumpte Mann entgegenkommen, der zärtlich lallend auf ein Bündel abgebrochener Gewehrkolben wie auf einen Säugling in seinen Armen niederblickt. Und da die Linden! Rotflatternd auf der russischen Botschaft die Sowjet-Fahne. Die breite Riesenfläche der Siegerstrasse fast ohne Fuhrwerk. Nur Menschen überall auf den Bürgersteigen, Fahrdämmen, Neitwegen. Ein schütteres schwarzes Ameisengekribbel.

Gar nicht sehr viele. Weniger als sonst an einem Sonntagnachmittag.

Man kann bequem die Linden hinaufgehen. Im Traum. Im Traum. Bis zum Kastanienwäldchen. Da steht noch die ganze Wache stramm unter Gewehr. Schmucke junge Jäger. In weitem Halbkreis ein Rund von Hunderten von schweigenden, gespannten Menschen. Auf dem freien Raum davor einige Herren in Zivil. Sie reden leise, eindringlich mit dem Wachthabenden. Auf einmal macht die Wache, stramm wie auf dem Exerzierplatz, auf dem linken Fuss kehrt. Die Gewehre rasseln in die Stützen. Bleiben herrenlos stehen. Gleich darauf marschiert die Wache in Sektionen rechts nach Hause. Ein schwaches Hurra umher. Der Wachthabende führt sie, noch den blanken Säbel in der Hand, am Arm die rote Binde . . .

Hammerschläge, dumpf und laut in der gepressten Stille, in dem Palais gegenüber. Nein: Handgranaten! Die Menge tritt respektvoll zurück. Das Tor geht nicht auf. Ein junger Bursche Klettert auf einer Leiter vorn auf den Balkon. Der Alte Fritz sieht es von seinem ehernen Ross mit seinen Königsaugen. Als grauer Hintergrund drüben das Hohenzollernschloss, von dickgeballten, schwarzen Wetterschwaden von Menschen umlagert. Eine Bewegung wie Windstoss über den Wellen. Eine lange rote Schlange rollt vom Balkon des Schlosses hernieder. Hängt still in der Luft — blutfarben leuchtend.

Dabei die Läden offen. Drüben rollt die Stadtbahn. Das Leben geht seinen Gang. Nirgends Zank. Nirgends Streit. Alles so schattenhaft selbstverständlich. So huschendwesenlos, schnell und leicht. Ein merkwürdiger Traum, in dessen watteweiche, geheimnisvolle Stille nur die Lastautos keuchen, mit ihrem jauchzenden Massenruf durch Das Gerassel: Es lebe die Internationale! Es lebe die Revolution!

An Kranzlers Ecke hält ein solches Auto. Es hält überall, wo Feldgraue auf dem Bürgersteig kommen. Die Feldgrauen werden entwaffnet. Entwaffnen sich selbst. Fort mit den Achselklappen! Koppeln und Seitengewehre fliegen in weitem Bogen über die Köpfe der Menschen auf das Auto, häufen sich dort zu Stössen. Überall auf der Welt die Waffen nieder! Ein altes Mütterchen, barhaupt, in verschossenem Kaschmirschal, weint vor Glück: „Nu ist der olle Krieg zu Ende! Nu schmeissen alle ihr Mordzeug in den Dreck!“

Und Ordnung überall . . . merkwürdige Ordnung . . . Ruhe . . . Freundlichkeit. Wie aus der Erde gewachsen, statt der Schutzleute, alle hundert Schritt längs der Friedrichstrasse, ein bewaffneter Arbeitsmann mit rotem Ärmelabzeichen. Die Leute sitzen in den Kaffeehäusern wie sonst, kaufen sich Zigarren, mustern die Schaufenster. Bruno Lotheisen fuhr sich über die Augen. Wenn das ein Traum ist, dann ist das nicht Moskau, sondern Berlin. Unzweifelhaft Berlin. Ich bin in Berlin. Im Traum erlebe ich hier das alles, dass da in einer Stunde Jahrhunderte zu Staub werden . . .

Ein feldgrauer, mächtiger, achtzigpferdiger Kraftwagen einer hohen Heeresstelle fegte sausend um die Ecke. Zwei Matrosen auf dem Rücksitz hingelehnt, die freie Brust dem Wind entgegen. Die Bänder ihrer Mützen flogen. Es war der Schnittpunkt der Mohrenmit der Friedrichstrasse. Der Justizrat . . . der wohnte da . . . Bruno Lotheisen kam langsam zu sich. Ging schleppend zu einem der nächsten Häuser der Querstrasse. Er wusste immer noch nicht recht, was geschah . . .

Eine Gruppe Leute stand vor dem Haus. Hier sah er zum erstenmal finstere, drohende Gesichter. Sie richteten sich nicht auf ihn, sondern in den offenen Hausflur. In dem lehnte ein bleicher junger Mensch in Feldgrau. Er biss die Zähne zusammen. Er schüttelte den Kopf. Er hielt die Hand am Seitengewehr: „Nein. Ich gebe meine Waffe nicht her!“ Ein bärtiger, älterer Mann redete ihm gut zu.

„Nu mach’ keine Zicken, Kamerad — ’s hilft doch nischt!“ Und einer seiner Begleiter begütigte: „Wenn’s doch alle tun . . . Jetzt gehn alle nach Hause — wir und die Feinde drüben . . . Mensch . . . sei vernünftig . . .“

Aber von draussen, von der Strasse, klangen Rufe der Ungeduld. Entwaffnung! Entwaffnung! „Nu, wird’s? Na also: da schnallt er ja sein Koppel ab! . . . Los! Weiter!“

Bruno Lotheisen stieg die Treppe zum Büro des Geheimen Justizrats hinauf. Alle Türen standen offen. Das Personal war ausgeflogen. Er ging durch die aktengefüllten Vorderräume. Hinten, in seinem Arbeitskabinett, sass der alte Herr am Tisch. Ein feiner Kopf. Glatze. Hakennase unter der goldenen Brille. Langer, grauer Schnurrbart. Die rosig-runzelige Haut eines hohen Sechzigers. Im altväterisch hoch zugeknöpften, schwarzen Gehrock das vergilbte schwarzweisse Bändchen von 1870. Der alte Herr hielt den Kopf zwischen den Händen, starrte geistesabwesend vor sich hin, dann auf den Eintretenden.

„Herr Geheimrat . . . Kennen Sie mich?“

„Herr Lotheisen! . . . Nehmen Sie Platz . . .“

„Wundert es Sie denn nicht, mich zu sehen? Ich gelte doch für tot.“

„Wir alle sind tot“, sagte der alte Preusse. „Wir alle sind gestorben!“

„Ich lebe. Ich bin aus Russland zurück!“

„. . . und kommen hier gerade zurecht zum Jüngsten Tag . . . Nein . . . Ich staune nicht, dass Sie da sind! Mir ist das Staunen seit ein paar Stunden vergangen.“

Der Geheime Justizrat krampfte die Hände ineinander. Er beugte sich über den Tisch vor. Er flüsterte: „Wissen Sie, was eben geschieht: Ein halbes Jahrtausend wird zu Staub und Asche! Alles geht dahin! Alles, woran man geglaubt hat, wofür man gelebt hat, worauf man stolz war, was einem so selbstverständlich erschien wie das Sonnenlicht . . . Alles umgeweht wie ein Kartenhaus!“

Und dann dumpf: „Sie kommen aus Russland, Herr Lotheisen! Sie haben das dort wohl schon alles gesehen. Sie sind abgebrüht. Auf Sie macht es keinen Eindruck. Aber mir altem Mann ist es neu. Mir ist es zuviel!“

Der Justizrat schnellte verzweifelt von seinem Sitz empor. Er war trotz seines Alters straff, hager, sehnig. Er fasste den anderen. Schüttelte ihn krampfhaft.

„Wissen Sie denn, was geschieht? Der Weltbrand aussen und der Weltbrand innen! Achtzehnhundert Millionen Menschen gibt es auf der Welt. Fünfzehnhundert Millionen sind unsere Feinde. Sie kommen! Sie kommen! Unsere Mauern stürzen vor ihren ein . . .“

Bruno Lotheisen strich sich über die Stirne. Jetzt auf einmal war er erst völlig wach. Sein Augen wurden schrecklich klar: Er sah den flammenden Erdkreis und, von ihm umschlossen, eine mächtige Burg, aus der von innen, verderbenspeiend, helle Feuerzungen schlugen. Deutschland in Brand . . .

„Niemals, Herr Lotheisen, hatte noch ein Volk fast die ganze Menschheit wider sich und zündete dabei noch das eigene Haus an. Niemals noch stürzte sich ein Volk in solch fürchterliche Gefahr . . .“