Kinder der Zeit - Rudolf Stratz - E-Book

Kinder der Zeit E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Eine heitere Liebesgeschichte im Berlin der Zwischenkriegszeit.Gerade hat Asta von Oderwolff noch Schwäne gefüttert, als sie von einer wütenden Volksmasse mit roten Fahnen fast überrannt wird. Astas Retter in der Not wird ein gut aussehender Leutnant, der sie wohlbehalten nach Berlin, zu ihren Eltern, bringt – und kurz darauf auch ein Zimmer bei ihren Eltern bezieht. Weil Leutnant Felleitner nicht erkennt, wie sehr Asta sich in ihn verliebt hat, beschließt sie schließlich das Heiratsangebot eines reichen Geschäftsmann anzunehmen... Wird es ein Happy End für Asta und Leutnant Felleitner geben? -

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Rudolf Stratz

Kinder der Zeit

Saga

Kinder der ZeitCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1924, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507209

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

I

Asta ging neben ihrer Prinzessin. Sie trug deren Mantel über dem Arm und eine blaue Tüte in der Hand. Vor einem Säulenrondell des Schlossparks schaute ein vermooster, nasenloser Landesvater aus Sandstein leutselig von seinem schiefen Postament auf die beiden jungen Damen — das rosige Püppchen von kaum achtzehn und ihre grosse, schlanke, sechs Jahre ältere Begleiterin — dunkelblond — mit grossen blauen Augen unter dem von der Novemberkühle von 1918 bereiften Schleier.

„Ach . . . liebe Oderwolff . . .“

„Hoheit befehlen?“

Die unruhigen schönen Züge sammelten sich rasch aus ihrer Geistesabwesenheit zu dem aufmerksamen Ausdruck der Hofdame.

„Will you kindly give me the bread!“

Das Fräulein von Oderwolff reichte dem Prinzesschen stumm die Tüte mit Brotkrusten. In dem offenen Säulentempel spie eine Kirchweih von steinernen Tritonen, Delphinen, Schildkröten, Fröschen, Reihern ihre Wassergüsse in das Gesprudel der Springbrunnen. Leeräugige nackte Nixen aus Stein verschlangen unter der kalten Dusche ihre Fischschwänze. Verschnupft schwang der bärtige Flussgott den triefenden Dreizack über seinem Harem. Dazwischen ruderten die wirklichen weissen Schwäne. Prinzess Stefaniechen fütterte mit offenem Mund, die Unterlippe wie eine kleine Schippe hängen lassend, andächtig ihren Liebling, das grosse Schwanenmännchen.

„Ach — das goldene Tier . . . So . . . Der letzte Brocken . . .“ Der letzte? Der Vogel kletterte erbost ans Land und fuhr flügelschlagend auf die Prinzess zu. Sah mit dem langgereckten zischenden Schlangenhals und den breiten Schwimmpadden plötzlich abscheulich hässlich aus.

,,Schnell weg, Hoheit! Das Biest ist stärker als wir!“

Hundert Schritt Flucht! Die Damen blieben atemlos stehen.

,,Ach — das böse Geschöpf! Bisher war es immer so zutraulich und sanft.“

„Ja. So sind die Tiere, Hoheit!“ sagte Fräulein von Oderwolff mit einer seltsamen Betonung.

„Der Klotz hätte doch auch . . . Überhaupt: Wo stecket er denn?“

Ja — wo war die alte, treue Seele geblieben, die vorhin noch zehn Schritt hinter der Prinzess gegangen? Weit und breit kein Lakai . . .

„Warum läuten denn die Glocken in der Stadt . . . liebe Oderwolff? . . . Alle Glocken . . . Ist denn ein Begräbnis?“

Das schöne Fräulein von Oderwolff fuhr aus ihren Gedanken auf. Gewann wieder die liebenswürdige, lächelnde Dienstbereitschaft ihres Berufs.

„Verzeihung! Was geruhten Hoheit . . .?“

„Vous êtes mal disposée aujourd’hui, ma chère! Pourquoi donc cette mauvaise humeur?“

„Warum ich heute so langstielig bin? Hoheit halten zu Gnaden! Man hat manchmal so Stimmungen! Wir sollten machen, dass wir nach Hause kommen, Prinzess!“

Die Glocken aus der Stadt . . . Die Glocken . . . Die Glocken . . . Ganz nahe da drüben nun schon die Türme und Kuppeln des Residenzschlosses. Die Prinzess zog ein Mäulchen.

„Sie sind heute wirklich wenig amüsant, liebe Oderwolff! Alle Leute im Schloss sind seit ein paar Tagen so komisch! Warum denn? Warum rennen Sie denn auf einmal so? Ich kann ja gar nicht mit!“

„Ich kann mir nicht helfen, Hoheit! Ich krieg’ es immer mehr mit der Angst! . . . Rascher . . . Ich bitte untertänigst! . . . Da . . . Gott im Himmel, steh’ uns bei!“

„Sie werden ja totenbleich, liebe Oberwolff! . . .“

Das Fräulein von Oberwolff war stehengeblieben und deutete in die Ferne. Sie sagte, plötzlich ruhig:

„Es ist so weit, Hoheit! Es hilft nicht mehr, länger den Kopf in den Sand stecken! Da kommt es . . .“

„Es . . . Es . . .? Was denn? . . .“

„Hoheit sehen es ja selbst . . .“

Diese Unmasse Menschen . . . schwarze, wimmelnde Ströme . . . kein Ende . . . Nette Massen nach . . . Dieser tosende Jubel . . .

„Was tragen sie denn da in dem Zug?“

„Rote Fahnen, Hoheit!“

„Ja — erlaubt denn das die Polizei . . .“

,,Vielleicht hat man sie nicht gefragt!“

„Wohin ziehen die Leute?“

„Vor das Schloss!“

„Hui! — Da wird Papa schön böse werden! . . . Liebe Oberwolff . . . Wo ist denn nur das Volk?“

„Da . . . Da . . .“, sagte Asta halb geistesabwesend.

„Das wirkliche Volk! Das wirkliche Volk ist doch gut und treu!“

„Vor allem aus der Menge hier ’raus, Hoheit!“

Aber das schob. Das drängte. Das strudelte. Das wirbelte. Das dampfte. Das jubelte. Das johlte. Das pfiff. Das trommelte. Das riss einen mit fort. Siebzehnjährige Rekruten. Halbwüchsige Fabrikbengel. Junge Granatendreherinnen. Ernste, starr blickende Männer und Frauen. Sträflinge, noch in Gefängnistracht, breitgrinsende russische Kriegsgefangene, Matrosen, Gassenjungen, elegante Herren mit roten Fahnen . . . überall rote Fahnen . . . in dem Treiben, in dem Massengesang, in der Sturmflut. Nach dem Schloss . . . nach dem Schloss . . . Viel tausend Bienen summten, wirrten, schwirrten, schwärmten vor dem Riesenschloss der kleinen Residenz, hingen in dunklen Klumpen an den offenen Portalen, wimmelten und krabbelten geschäftig aus und ein. Auf den Balkonen standen barhaupt Männer und schrien mit fuchtelnden Armen in das kochende Gewoge unten auf dem weiten Platz. Kling . . . Klang . . . die zeternden Sturmglocken, ertrinkend in einem aufdonnernden Massenschrei. Ein Gewirbel von schwarzen Männerhüten, ein Taubengeflatter von weissen Tüchern der Frauen. Auf dem flachen Dach des Schlosses lief etwas wie eine rote Maus den leeren Flaggenmast empor, entfaltete sich. Im pfeifenden Novemberwind flatterte die rote Fahne über der Hauptstadt.

„Liebe Oberwolff . . .“Die kleine Prinzess hing verängstigt wie ein verirrtes Schwälbchen an der Brust der Hofdame. „Was bedeutet denn das?“

„Schluss, Hoheit!“ sagte Asta Oderwolff. Ihr Gesicht war Herb in seiner regelmässigen Schönheit. ,,Schluss mit allem, was wir beide uns überhaupt vorstellen können, Prinzess!“

„Aber ich war doch immer so nett zu den Verwundeten! . . . Immer hab’ ich ihnen Blumen gebracht und meine Ansichtspostkarte geschenkt! Wie lange hab’ ich keine Butter mehr gekriegt! Ist das nun der Dank?“

„Wir haben lang genug unter der Glasglocke gesessen, Hoheit! Nun ist sie entzwei! . . . Nur rasch ins Schloss! Grosser Gott! Ich bin ja für Euer Hoheit verantwortlich!“

Alle die geschnörkelten Gittertore offen. Ein Gewusel von Gott weiss was für Leuten über die Marmortreppen. Unbekannte in schmutzigen Stiefeln auf dem Parkett. Rauchende Matrosen unter dem Baldachin des Thronsaals. Toll lachende Munitionsmädel auf den Damaststühlen im gelben Appartement. Burschen mit dem Hut auf dem Kopf im Rittersaal. Im Arbeitskabinett, auf den schweren Eichensesseln um den Ministertisch, in deren grösstem sonst Papa gethront, sassen bärtige Männer, schrieben, unterzeichneten, befahlen durch den Fernsprecher, schickten Boten fort, regierten.

„Liebe Oderwolff, wachen wir oder träumen wir?“

„Wir wachen auf, Hoheit!“

Schreibmaschinengeklapper. Diktat: „Der Aktionsausschuss erklärt sich in Permanenz. Um sechs Uhr werden alle Strassen geräumt. Das Schloss sofort.“ — „’raus alles, was hier nichts zu suchen hat . . . Marsch, an die frische Atmosphäre, junge Frau!“

„Das gilt mir! Nun werden wir hier auch noch ’rausgeschmissen, Prinzess.“

Das Fräulein von Oberwolff starrte ratlos, vom Strom der Hinausflutenden geschoben, um sich. Nirgends ein vertrautes. Gesicht. Da ein Stossseufzer der Erlösung . . . ein alter Herr, der wie ein greiser Geistlicher im Alltagskleid aussah, irrte, ängstlich nach allen Zeiten spähend, durch das Gewühl.

„Gott sei Dank . . . Gerke . . . Wo sind die Herrschaften?“

„Die höchsten Herrschaften . . .,“ der Haushofmeister lispelte mit klappernden Zähnen, „die höchsten Herrschaften sind schon vor einer halben Stunde, gleich nach Unterzeichnung der Abdankungsurkunde, in Autos fort.“

„Wohin?“

Nach Hubertusgnad! Dort wartet man auf die Prinzess! Unten am Apothekector steht ein Auto bereit!“

„Laufschritt, Hoheit! . . . Die Küchentreppe ’runter. Der Gerke weiss Bescheid . . . Stossen Sie sich nicht in dem finstern Flur . . . Da vorn wird’s hell . . . Da hält das Schnauferl!“

„Gott, wie klein! Und alles sitzt ja schon voll!“

Eine greise, winzige Mumie, die neunzigjährige, anfangs in der Aufregung vergessene Prinzess Friederike, freundlich lächelnd, mit den Knochenhändchen huldvoll dem lachenden Volk zuwinkend. Gegenüber, bitterlich in das Spitzentuch schluchzend, ihre auch schon siebzigjährige Hofdame und die Oberhofmeisterin. Deren drei kleine Kinder vorn, neben dem Führersitz. Am Steuer der diensttuende Generaladjutant.

„Rasch ’rein, Hoheit! Sonst beschlagnahmen sie uns das Auto.“

„Ja, aber . . .“

„Schnell . . . schnell . . . Prinzess . . .“

„Aber . . .“

“Bitte untertänigst einzusteigen! So!“

„Ja, aber die Oderwolff!“

„Für Fräulein von Oderwolff ist kein Platz mehr.“

„Die Oderwolff kann doch nicht hier allein . . .“

„Beim besten Willen nicht, Hoheit . . .“

„Auf dem Trittbrett . . .“

„ . . . fahren Bewaffnete zum Schutz mit!“

„Aussteigen! Die Blase!“

„. . . ’raus aus der Schatulle! Wollt ihr wohl!“

„Wir müssen fort! Sie sehen die Stimmung des Volkes, gnädiges Fräulein!“

,,So fahren Sie doch schon, Exzellenz! Was liegt denn an mir?“ rief Asta Oberwolff ungeduldig und stampfte mit dem Fuss. Der Generaladjutant gab den knatternden Motor frei. Der Wagen schoss durch die stiebenden Gruppen, flog surrend um die Ecke, war verschwunden.

Nur noch ein bisschen Benzingestank in der Luft . . . Asta Oderwolff stand . . . fuhr sich mit der Hand über die Augen . . . sah sich um . . . ein sonderbares Gefühl . . . plötzlich mutterseelenallein . . . Sie ging mechanisch über die Gasse nach dem Apothekertor zurück.

„Sachteken, Fräulein! Kein Eingang! Befehl: Alles ’raus, niemand ’rein!“

„Aber ich wohne doch da oben im Schloss!“

„Kann jeder sagen! Haben Sie ’nen Ausweis vom Arbeiter- und Soldatenrat? Sind Sie dort bekannt? Nee? Also nischt zu machen! Mahlzeit, Krause! . . . Marsch, ’rin mit dir, Mensch! Sie warten schon auf dich, oller Dussel!“

Asta Oberwolff schritt langsam um das Schloss herum, schaute lange auf die Armbanduhr. Komisch: Vor fünfzig Minuten hatte man noch den grossen Schwan gefüttert. Da stand die Welt noch. Inzwischen war sie untergegangen. Alles weg mit einem Schlag.

Rote Fahnen über den ineinandergekeilten Hüteknäueln vor dem Schloss. Von den Prellsteinen gellende Kehltöne der Volksredner. Drüben dumpfer Massengesang. Ein paar kurze, laute Hammerschläge. Aufschreie.

„Handgranaten!“

„Ein M. G.“

„Ach, Quatsch!“

„Schauen Sie lieber, dass Sie hier wegkommen! Das ist nichts für Sie!“ riet hinter Asta Oderwolff eine Stimme. Als sie sich umdrehte, war der Warner verschwunden in der Menge.

Weg von hier? . . . Aber wohin? . . . Obdachlos . . . Ein kalt rieselnder Schrecken. Es begann schon zu dämmern. Um sechs musste alles von der Strasse. Dann stand man da . . . auf dem Pflaster. . . Zum Glück dunkel angezogen . . . Aber festgenommen wurde man womöglich . . . Und wenn nicht . . . wo blieb man die Nacht? . . .

Wohin? . . . um Himmels willen: wohin? Das Fräulein von Oderwolff rannte durch die Gassen. Da war das Viertel der schönen Welt. Feierliche Häuser . . . aber überall . . . fast überall herabgelassene Vorhänge . . . Haben es die Leute denn schon alle vorher gewusst? . . . Waren nur wir blind, die’s am ersten anging? . . . Zum Landstallmeister! Ja, zum Landstallmeister! Da ist sein Palais. Der lässt die Freundin seiner Töchter nicht vor der Tür stehen . . . Wie lang das dauert, bis sie die Tür aufmachen! Wie? Herr Baron sind mit Familie schon gestern hinaus nach dem Gestüt Heidekamp? Ach so! Danke . . .

Gegenüber ins Generalkommando . . . der Kommandierende, ein dicker Freund von Papa, wenn auch Papa viel jünger ist und als Feldherr im Osten steht . . . Der Kommandierende? . . . Ein dröhnendes Gelächter der Feldsgrauen in der Torwache: Die Exzellenz hatte die laufenden Geschäfte dem Soldatenrat übergeben und war still davongegangen . . .

Nun graute der Herbstabend schon drohend. Nur schnell . . schnell . . . Im Laufschritt längs der Häuser hin. In die Fürstenstrasse. Da kann man lange an den eleganten Billen läuten . . . Es regt sich nichts. Aus dem Nebenhaus schrillt eine Weiberstimme: Frau Kommerzienrat Siegstorff ist doch in die Schweiz . . .

Immer finsterer die Schatten . . . Grosser Gott . . . Grosser Gott . . . Es ist keine Zeit mehr zu verlieren! Man muss sich zu den Behörden flüchten! Zum Staatsminister . . . Zu Exzellenz Ölmüller . . . Vorige Woche erst sass ich links von ihm an der Marschalltafel. Wie aufsässig das öffnende Mädchen lächelt: „Ölmüllers sind heute mittag zu Fuss auf die Bahn! Die Damen haben selber ihre Handtaschen getragen . . .“

Die Strassen so unheimlich . . . dämmerig-drohend . . . Nur noch hie und da ein Mensch . . . Und der sputet sich . . . Bald ist das Pflaster ganz leer . . . Die Nacht kommt . . . Die schwarze Nacht . . . Irgendwohin muss ich doch . . . Da: der Turm der Hofkirche. Der Hofprediger muss doch dageblieben sein. Die Fenster seiner Dienstwohnung sind hell. Menschenschatten dahinter . . . Menschen in allen Zimmern. Feldgraue. Matrosen. Zivilisten. Offene Schränke. Verstreute Papiere. Haussuchung. Der Superintendent völlig verfallen, halb geistesabwesend, im Sessel.

„Bei mir finden Sie nichts, meine Herren! Weder Waffen noch Butter! . . . Wer? Ach, Sie, Fräulein von Oderwolff! . . . Unterkunft? Kind . . . . Sie sehen ja . . . Meine Damen? . . . Schon lange aufs Land . . .“

„Ja, aber was soll ich denn machen? Ich wach’ ja morgen tot auf!“

„Nach Hause fahren, Kind! Nach Berlin! Zu den Ihren! So schnell wie möglich! Ihr Vater, der General, ist ja jetzt auch auf Urlaub dort!“

„Aber wie hinkommen?“

„Wenn Sie die Beine unter die Arme nehmen, Fräulein,“ schrie ein bärtiger Landsturm-Unteroffizier aus dem Nebenzimmer, „dann erwischen Sie noch den Abendzug! Ist ja nur ’ne Minute bis zum Bahnhof!“

Krieg ich denn ’ne Fahrkarte?“

„Da! Ich geb’ Ihnen ’nen Ausweis mit! Den zeigen Sie am Schalter! Aber nun marsch, marsch!“

Den ohnedies Knöchelkurzen Rock gerafft! Drei Treppenstufen auf einmal. Atemlos auf die Gasse. Sprünge über die Pfützen im holperigen Pflaster vor dem Bahnhof. Schon stockfinstere Nacht. Der Zeiger auf der grossen, gelben Uhrscheibe auf drei Minuten vor sechs. Der Schalter . . . Eine Karte dritter . . . Hinaus in die grosse, beinahe dunkle Halle . . . Ist der Zug noch da? . . .

Ja . . . Ja . . . Da steht er. . . endlos lang . . .

Das Fräulein von Oderwolff lief wie ein gescheuchter Hase an den Wagen dahin. Kein Gedanke an einen Platz! Alles von lärmendem Feldgrau bis zum Bersten überfrachtet. Bündel geröteter Köpfe aus den Fenstern, Trauben von Matrosen auf den Plattformen, baumelnde Nagelschuhe vom Dach, die Trittbretter von Zaungästen garniert. Reiter auf den Puffern. Turner durch die zerbrochenen Scheiben in das Innere — in ein Chaos von Ellenbogen, Tornistern, Rucksäcken, gerollten Mänteln, Menschendunst, Tabakblau, Witzen, Gelächter, Pfeifen auf zwei Fingern: Abfahrt! . . . Nach Hause! . . . Hurra, hurra! Und hundertfach, schon beinahe drohend: Abfahrt! . . . Kolonne marsch . . .

Da qualmten schon funkensprühend die beiden Lokomotiven. Asta Oderwolff kehrte um. Flog den Zug entlang zurück. Musik aus den Fenstern. Eine Ziehharmonika . . . Gesang: In der Heimat, in der Heimat . . . da gibt’s ein Wiedersehn! . . . Kindergesichter unter schiefen Mützen — Stummelpfeifen in Landwehrbärten, braune Matrosenstirnen . . . Nirgends eine Frau. Nur Männer — Männer. Lachen und Spässe hinter ihr her! . . . „Na — wo haste denn deinen Schatz?“ . . . Sie blieb atemlos stehen. Rang mit Tränen. Viele Stimmen: Abfahrt . . . Abfahrt . . . Gleich ging der Zug ab . . . Ohne sie! . . . Dort in dem Wagen verstauten sie die letzten Nachzügler. Eine durchdringende Befehlsstimme gelte: „Ordnung! Zwei rechts in die Gepäcknetze! Zwei links! Vier auf den Boden! Rest ans Fenster! He? zu eng? Du warst wohl nie verschüttet, Junge — was? Das merkt man.“

„Ist der Kunde vom Soldatenrat?“

„Weiss nicht! Die grosse Schnauze hat er . . .“

„Gegen sölleren kannst nix machen!“ tröstete ein versprengter Bayer.

Asta Oderwolff sah verstört auf die sich Hineinpfropfenden. Nur mitkommen! Nur mitkommen! Was tat man denn sonst

heute nacht? Es ging um Sekunden. Der lange, hagere Feldgraue, der den Betrieb leitete, schob eigenhändig die Nachzügler hinein wie Brote in den Backofen. Ein Zigarettenstummel glimmte schief in dem spöttisch verzogenen Mund. Die Nase sprang hart und herrisch über die bartlosen dünnen Lippen und die willenskräftige Kinnwölbung vor. Jetzt trat er voll in das Laternenlicht. Ein Kopf, trocken, nur aus Knochen, Haut und Sehnen. Wirres Blondhaar unter der kokardenlosen Mütze. Tiefliegende, grau-verwegene Augen. Ein Schützengrabengesicht. Feine Falten von vier Jahren Front. Nicht mehr ganz so jung, wie es im Halbdunkel zuerst erschienen. Schon in der ersten Hälfte dreissig . . .

„Abfahrt . . . Abfahrt!“

Die rote Mütze eines Stationsvorstehers tauchte zwischen den roten Fähnchen und Armbinden auf. Signaltriller, Laternenschwenken. Die Räder rollten . . .

„Ich muss mit!“ schrie das Fräulein von Oberwolff verzweifelt. „Ich hab’ ’ne Karte . . .“

„’rin mit dem Märchen!“ Aufmunterndes Gejohle. Burschen mit rotbewimpelten Filzhüten und blutroten Krawatten grinsten aus dem Abteil über ihr. „. . . ’rin in die Hochzeitskutsche . . .“

Sie schrie auf. Sie flüchtete. Die Wagen bewegten sich schon. Sie hastete nebenher, blind auf den hageren Feldgrauen zu, der eben als Letzter gelassen sein langes Bein auf das Trittbrett schwang. Sie streckte die Hände nach ihm aus.

„Retten Sie mich! . . . Sie sind ein deutscher Krieger . . . Ich werd’ ja sonst hier umgebracht heuť nacht . . .“

Der Feldgraue beugte sich von dem Trittbrett zu ihr nieder. Es lachte in seinen zwinkernden Augen. Sie keuchte:

„Ich bin Hofdame! Der Hof ist aufgeflogen! Ich muss zu meinen Eltern nach Berlin!“

,,Aber nicht in dem Abteil drüben! In dem reisen die Herren vom Deserteur-Rat!“

„Irgendwo! Nehmen Sie mich unter Ihren Schutz . . . Herrgott . . . Die Räder rollen ja schon . . .“

„Dableiben . . . Die Dame!“ gellte von fern der Stationsvorsteher mit plötzlich erwachter, alter Schneidigkeit.

„Nanu? Hier befehle ich! Verstanden?“ schrie der lange Feldgraue ihm zu. Er hatte plötzlich unheimlich stählerne Augen. Gleich darauf zuckte es humoristisch um seine Mundwinkel. Er zog Asta Oderwolff, einen Arm um ihre Taille, mit einem Schwung zu sich empor. Sie hing noch in der Schwebe, halb schwindelig, an ihm. Unten donnerten die Räder. Er bugsierte sie vorsichtig von rückwärts in das Abteil. Kein Weiterkommen. Alles knüppelvoll. Ein Männergewühl . . . Ein Sturm von Heiterkeit und Ärger . . .

„Mensch . . . Nu ist das Ende von weg! Wen haste denn da?“

„Lass doch, das ist ja gerade was Schönes!“

„Frauenzimmer brauchen jetzt überhaupt nicht zu reisen!“

„Na — wie du siehst, reist die Dame doch! Was du dazu denkst, ist ihr ganz schnuppe!“ sagte Astas Beschützer. Er stand noch windumpfiffen in der offenen Türe vor dem vorüberfliegenden Nachtdunkel und machte sie vorsichtig hinter sich zu. Drinnen schimpfte einer:

„Hierinne ist’s Gott Strambach schon voll genug! Wo willste denn mit ihr hin?“

„Wirst schon sehen!“

„Was geht denn dich überhaupt die Dame an?“

„Na — ich werd’ doch wohl noch meine Frau mit nach Hause nehmen dürfen“, sagte der lange Feldgraue trocken. „Komm nur dreist bei, Mariechen! Die Herren tun dir nichts.“

„So, nun setz’ dich mal dahin, Kind, und verpust’ dich!“ Er zwängte sie auf das kleine, freie Edchen Holzbank zwischen zwei Feldgrauen und trocknete sich die Stirn. „Uff! Das war die höchste Eisenbahn! . . . Das kommt von deiner ewigen Trödelei, Mariechen! Immer in der letzten Sekunde! . . . Na — macht nichts! Da sind wir!“

Asta Oderwolff fiel auf die harte Bank, völlig ausser Atem. Vorläufig glücklich, dass sie sass und der Zug rollte. Der Kopf drehte sich ihr. Sie zog die Knie an sich, soweit sie konnte. Aber trotzdem stiess und quetschte sich daran der schwankende, ineinandergepresste, vor ihr stehende Haufen der Feldgrauen.

„Nee — das geht nicht, dass du auch noch stehst!“ keuchte einer zu Astas Beschützer. „Wir können so schon kaum jappen!“

„Du musst dich setzen!“ schrien die anderen.

„Wohin?“

„Auf deinen Allerw . . .“

„Picht! Die junge Frau . . .“

„Auf deinen Platz sollste dir setzen, den wir dir mit Müh’ und Not aufgehoben haben!“

„Da sitzt doch meine Frau!“

„Herrgott — Mensch — da nimmste deine Eheliebste auf den Schoss! Hätt’ ich gleich getan an deiner Stelle!“

„Meine Olle is nich so propper!“ brummte ein bärtiger Landsturmmann hinter seiner Stummelpfeife. Aber der lange Feldgraue wehrte.

„Ja — du Etappenhengst! . . . Ihr habt euch dick gefuttert! Aber wir Dummen im Schützengraben! Mir stehen alle Knochen aus dem Leib. An meinen Kniescheiben — da kannst Du Wäsche dran aufhängen!“

„Muss sich die deinige dran gewöhnen! Setz’ dich! Ich hab’ das Geknuffe hier satt!“

„Setzen! Setzen!“ schrie alles. Der Mann mit der Pfeife fasste Asta ungeniert an den Händen.

„Stehen Sie mal auf, junge Frau . . . hoppla . . . So . . . Nun setz’ du dich mal zuerst, du Ehekrüppel!“

Der Feldgraue wurde mehr auf den Platz gedrängt, als dass er sich darauf niederliess. Der Wagen schwankte. Zugleich liess der Mann mit der Pfeife treuherzig Asta los. Sie stand in dem Gedränge ohnedies unsicher auf den Beinen, verlor das Gleichgewicht und sass im nächsten Augenblick ihrem Mann auf dem Schoss. Der qualmte seine Zigarre, sah sie freundlich an und sagte nur: „Na — Schatz! Da bist du ja!“ Auch die anderen schienen gar nichts an dem Vorfall zu finden. Die einzige, die sich innerlich wunderte und sich nicht recht klar war, was geschah, war das Fräulein von Oderwolff. Wohlwollende Blicke richteten sich auf sie. Aus dem Gepäcknetz plumpste ein Rucksack. Fiel unten einem auf den Kopf. Alles fuhr in die Höhe. In dem Durcheinander sagte der lange Feldgraue leise zu Asta, und die Augen zwinkerten ihm dabei lustig in dem tiefernsten, bartlosen Gesicht:

„Seien Sie nicht böse! . . . Es ging beim besten Willen nicht anders. Schützen kann ich Sie nur, wenn ich mir ein Anrecht darauf geb’! Na — und Schwester oder Cousinchen — dos glaubt einem ja kein Mensch!“

Asta schwieg und wandte den Kopf nicht nach der halblauten Stimme hinter ihr. In der klang bei aller Vergnüglichkeit ein freundlicher Respekt. Dieser einfache Mann aus dem Volke mit schäbigem, feldgrauem Musketiermantel besass einen natürlichen Takt, der sie beruhigte. Sie seufzte nur leise und rührte sich nicht. Der Rucksack war wieder in dem Gepäcknetz verstaut. Aus dem forschte von oben ein tiefer Bass:

„Na — Sie sind wohl heilsfroh, junge Frau, dass Sie ihn wiederhaben — was?“

„Ja“, sagte Asta Oderwolff beklommen, auf dem Knie des Unbekannten sitzend. „Sehr . . .“

„Sind ihm wohl entgegengefahren?“ erkundigte sich ein Kleiner ihr gegenüber.

„Ja. Das bin ich.“

„Wo wohnt ihr denn nachher?“

„In Berlin.“

„Wie lang’ denn schon?“

Herrgott, wie lange bin ich denn schon verheiratet? frug sich Asta Oderwolff . . . Mit vierundzwanzig? „Vier Jahre!“ sagte sie.

„Also gerade kriegsgetraut!“

„Ja.“

„Beim Ausmarsch!“ bestätigte ihr Mann. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und stützte sie in dem Schaukeln des schlecht verkuppelten Wagens. Der war nur dämmerig erleuchtet. Aber die Soldaten hatten eine Stallaterne angezündet und an die Dede gehängt. Sie schwankte wild wie in einem Schiff auf hoher See durch die Luft und warf unstete, im Zickzack zuckende Lichtstreifen in jähem Wechsel von Helle und Finsternis über die vielen Männer. Die Soldaten hatten die Fenster fest geschlossen. Die Luft wurde stickig und menschenheiss — grau und trübe von einem Nebel von Tabaksqualm.

Asta Oderwolff sass still und bocksteif da. Sie wagte kaum zu atmen. Sie hielt die Hände im Schoss und schaute vor sich hin und fühlte, wie der Arm des Feldgrauen sie zuweilen beim Schleudern des Wagens in den Geleiskurven schonend fester stützte, dass sie nicht herunterrutschte. Nie mehr als nötig. Er hatte etwas unausgesprochen Achtungsvolles gegen sie. Seine Ritterlichkeit rührte sie. Wenn es nur so blieb . . . Er fragte:

„Sitzt du auch bequem, Mariechen?“

Sie begriff, dass er etwas Liebevolles zu ihr sagen musste, ein Ehemann nach seiner Heimkehr aus dem Felde. Sie zwang sich zu einem innigen Lächeln und antwortete: „Danke! Sehr!“ und fragte sich dabei: Wie heisst er denn nur? Ich muss doch seinen Vornamen kennen . . .

„Möchtest du dich nicht mehr anlehnen?“

„Danke! Es ist nicht nötig . . . Karl!“

Sie brachte es glücklich heraus. So. Nun heisst er Karl. Die Feldgrauen fingen an schläfrig zu werden. Lehnten sich zurück. Pafften. Einer meinte schmauchend:

„. . . ’ne seine Frau haste . . . Die schöne Kluft . . .“

„Hat sie sich alles selber verdient . . . im Krieg . . .“, lobte sie ihr Mann.

,,Als was denn?“

„Damenschneiderin. In den feinsten Häusern.“

„Das sieht man ihr an!“ bekräftigte der Bass aus dem Gepäcknetz.

„Geschmack hat sie . . . Donnerwetter.“

Asta Oberwolff konnte zum Glück, aus Übung der Hofzeit, lächeln, wann sie wollte. Sie tat es auch jetzt und schwieg und fühlte den warmen Atem ihres Gatten von der Seite an ihrer Wange. Sie sah ihn nicht an. Sie dachte sich: Eine reizende Situation für eine Hofdame . . . Wenn das die Oberhofmeisterin sähe . . . die rührte, auf der Stelle der Schlag . . .

Fräulein von Oderwolff musste plötzlich gegen einen innerlichen Lachkrampf ankämpfen, der sie fast erstickte. Sie holte ihr Taschentuch heraus und hielt es vor das Gesicht, um ihre Heiterkeit zu verbeissen — eine ganz unpassende Heiterkeit —, und entsetzte sich dabei vor sich selber: War das schon der Geist der neuen Zeit? Steckte der so schnell an?

Nein. Sie sagte sich: Es war mehr Galgenhumor. Es war so ein tolles Gefühl, dass alles drunter und drüber ging und auf einmal alle Etikette aufhörte und die Leute vor dem Schloss auf den Rasenbosketten laufen durften, ohne dass die Polizei sie aufschrieb, und man hier auf den Knien eines unbekannten Vaterlandsverteidigers thronte, während drüben der angestammte Thron leer und verwaist stand.

Sie bekam es plötzlich mit der Angst: Nun wird er allmählich aus sich herausgehen — den zärtlichen Ehemann spielen. Mich liebevoll schaukeln und tätscheln. Oder gar zu knutschen anfangen, um mir auf seine Weise seine Zuneigung zu bezeigen . . . Grässlicher Gedanke . . . Ich bin ja ganz wehrlos. Ich muss stilhalten. Er kann mit mir machen, was er will.

Aber nichts davon geschah. Der lange Feldgraue sass ganz ruhig da und trug förmlich ehrerbietig seine Last. In einer stillen Achtung. Schonend. Er nutzte seine eheherrliche Gewalt in keiner Weise aus. Er hielt seine Eheliebste auf seinen Knien nur ganz zart, sanft, mit der Hand auf ihrem ungewohnten, etwas knochigen Sitz. Er schien mehr Übung als sie in derlei zu haben. Man fühlte das, trotz seiner Zurückhaltung, Gott weiss wie. Er hatte so eine weiche Art, mit Frauen umzugehen — ganz anders, als er vorhin die Männer angewettert hatte.

„Nicht weinen“, sagte er ihr sanft ins Ohr und sah dabei trotz ihres abgewandten, in das Taschentuch vergrabenen Kopfes, an dem verräterischen Zucken ihrer Wangen, dass ihr der letzte Rest von unterdrückter Lachlust um die Lippen spielte, und lachte vergnügt mit, und beide platzten heraus.

„Immer munter!“ lobte aus dem Gepäcknetz der Bass.

„Alte Eheleute, und tun noch, als seien sie verlobt!“ sagte wohlgefällig der Mann mit der Pfeife.

Das Fräulein von Oderwolff wurde sehr gemessen und das bei dunkelrot und sah dadurch sehr hübsch aus. Sie sass steil aufgerichtet, wie es sich für eine Hofdame gehörte, auf den Knien ihres Mannes, ohne ihn anzuschauen, so wie auf einem Koffer beim Zugwechsel auf dem Bahnsteig. Er lachte immer noch herzlich.

„Sie tun mir ja leid! Aber ich kann’s nicht ändern!“ sagte er leise. Die Soldaten hörten es nicht. Da wandte sich wieder der Landsturmmann von gegenüber zutraulich qualmend an sie:

„Wieviel Kinder habt ihr denn?“

„Drei!“ entschied der Gatte. „Den Georg, das Lisettchen und den kleinen Karl! Du musst nicht so verängstigt dasitzen, Schatz! Die Kameraden tun dir nichts!“

„I wo werden wir denn!“

„Mögen Sie Schokolade?“

Eine braune Hand vom Bocken bot treuherzig an. Asta Oderwolff schüttelte scheu den Kopf: „Danke . . .“

„Es ist ihr halt ungewohnt!“ meinte ihr Mann. „Müde ist sie auch! Nun wärm’ dir mal ein bisschen die Augen, Mariechen! Ruh’ dich aus.“

Er rückte sich mit einem lächelnden Mitgeführ zurecht. Seine Stimme war gut wie die eines besorgten Gatten.

„Flink, Mariechen! Du kannst nicht immer so steif wie ein Ladstock dasitzen! Das hältst du auf die Dauer nicht aus. Nun zier’ dich mal nicht! Kuschel dich mal mollig an meine Schulter! Die Kameraden nehmen das nicht krumm!“

„Nich ’ne Bohne, liebe Frau!“

Er berührte ganz sanft mit der Hand ihren dunkelbraunen Haarknoten und schob ihr den Kopf zurück, dass der seine Brust berührte. Sie liess es geschehen. Sie war so erschöpft von der Aufregung dieser Stunden, dass sie froh war, eine Stütze für ihre hämmernden Schläfen zu finden. Sie liess ihr Haupt da, wo er es hingebracht. Sie legte es an das graue, fadenscheinige, entlauste Tuch des Soldatenmantels, in dem gerade vor ihrer Backe ein geflicktes Schutzloch sass. Sie hörte mit matt geschlossenen Augen, wie ihr Mann rauchend den Nebensitzenden ihr Lob verkündete und sie dabei schützend mit den Armen umfangen hielt.

„Eine Perle von einer Frau! Jetzt ist sie ja ein bisschen schlapp. Aber die solltet ihr mal zu Hause sehen! Ich sag’ euch: Ich bin mächtig unter dem Pantoffel.“

„Iloob’ ich!“ brummte aus den Tabakswolken vom Gepäcknetz her der Bass. „Sind Sie mit Ihrem Ollen auch so zufrieden, Frau?“

„Ja. Es ist ein guter Mann!“ versicherte das Fräulein von Oderwolff.

Der Zug rumpelte donnernd über holperige Schienen, ruckte, hielt. Ein grosser, schattenhafter Bahnhof. Ganz dunkel. Ganz leer. An den Ausgängen nächtige Umrisse von Sturmhauben und Gewehren.

„Na — ich steig’ hier aus.“ Astas feldgrauer Nachbar stand auf und reckte gähnend die Fäuste. Sie wollte gleich hastig unter seinem erhobenen Arm auf den anderen Platz hinüberschlüpfen, besann sich dann, dass diese Fahnenflucht ihren Mann, auf dessen Knien sie sass, vor den Augen der anderen kränken musste, und wartete, bis er sie vorsorglich in der Fenstereckte verstaute.

„Da mummel’ dich mal hinein, Mariechen! Die Nacht wird kalt“, sprach er geschäftig und wickelte sie in einen heftig nach Pferdeschweiss riechenden Woilach, den er sich von einem Dragoner aus dem Gepäcknetz geborgt. Es fiel ihr auf, was er für merkwürdig kultivierte Hände hatte. Spitze Finger mit sauberen Nägeln. Er war wohl schon etwas Besseres von Haus aus: Mechaniker, Optiker, Kaufmann. Offenbar mit einiger Bildung.

„Kommen wir weiter?“ fragte sie ihren Mann. Sie sass jetzt ganz behaglich und zufrieden neben ihm im Schatten der Ecke.

„Aber feste, Schatz! Da pfeift’s schon!“

Das Abteil war fast dunkel. Die ausgestiegenen Krieger hatten ihre Stallaternen mitgenommen. Der Zug holperte eintönig durch die Finsternis. Die begann sich jetzt dämmerig zu erhellen, seitdem das Auge innen nicht mehr durch Licht geblendet war. Fräulein von Oderwolff konnte auf ein paar hundert Schritt weit hinaus die vorbeifliegenden Fluren und Felder erkennen. Auf denen wanderten und wanderten, trotz der Geisterstunde, auf den Landstrassen, den Ackerwegen, schattenhafte Gestalten in Feldgrauen Mänteln und Mützen, Pakete mit ihren Habseligkeiten unter dem Arm, Knotenstöcke in der Hand. Das deutsche Heimatheer löste sich in viele hunderttausende auseinanderrinnende Wassertropfen auf.

„Reserve hat Ruh!“

„Ost oder West — daheim ist’s am best!“ sagte, müde, mit gefalteten Händen vornübergebeugt dasitzend, der bärtige Landsturmmann mit der Pfeife. Ein paar junge Matrosen rekelten sich und spuckten Tabakssaft aus den vom Priem geschwollenen Backen. Die Streichhölzer ihrer Zigaretten flogen wie Brandfackeln durch das Dunkel.

„Sekt ist’s draussen alle!“

„Die Österreicher sind umgepurzelt! Die Kümmeltürken haben schlapp gemacht! Die Bulgaren sind zu Muttern?“

„Mensch — wir in der Etappe sind doch keine Streikbrecher! Wir legen die Arbeit nieder! Det müssen die an der Front begreifen, die immer noch wie voll kämpfen!“

„Ja — und der Feind . . .?“ rief Asta Oberwolff entsetzt. Alles fuhr auf beim Klang der hellen, jungen Frauenstimme aus der Ecke.

„Der Feind, Mariechen — na der bleibt am Rhein stehen! Einfach so stehen . . . weisst du . . .“

„Muss er ooch!“ rief der Bass.

„Und wenn er sich das Gewässer genug bekiekt hat, macht er linksum kehrt, und eines schönen Morgens ist er weg! Auf Nimmerwiedersehen!“

„Der hat’s auch dicke, liebe Frau!“

„Lassen Sie sich nur von Ihrem Mann belernen!“

„Der Feind will nichts wie Frieden!“ sagte Astas Gatte kurz auflachend. „Bitter wird der Friede nicht — jetzt, wo wir alles getan haben, was der Wilson will! Da kannst du Gift drauf nehmen, Mariechen. Wir kommen mit ’nem blauen Hühnerauge davon!“

„Aber . . . Karl . . .“, begann das Fräulein von Oderwolff mit widerstrebender Zunge. Ihr Mann liess sie nicht zu Wort kommen.

„Die Feinde sind doch schliesslich auch gute Kerle!“ versetzte er hart und laut. „Die sagen sich doch auch: ̦Wozu die vier Jahre Mord und Totschlag’ — ich weiss nicht, wieviel Millionen um die Ecke, und halb Europa zerteppert . . . Stellen wir die narre an die Wand und geben wir dem deutschen Michel die Hand! Reben wir nicht weiter von der dummen Geschichte! . . . Nee . . . nee . . . nee . . . Nur immer unbesorgt! Uns Deutschen krümmt keiner ’n Haar!“

„Gott geb’s!“ nickte still und andächtig der Landsturmmann. Er hielt die Photographie seiner Kinder beim Lichtpunkt seiner Zigarre zwischen den mahagonibraunen Fingern.

„Nun kommen doch die Staatsmänner drüben beim Feind zu Wort!“ sprach der hagere Feldgraue. „Das sind doch lauter milde, abgeklärte, menschenfreundliche Greise! Die fahren schon säuberlich mit dem Knaben Benjamin als wie mit uns! Jetzt wivd sich erst zeigen, wieviel Freunde Deutschland auf der Welt hat! Ich kenn’ das bisschen Welt wie meine Westentasche. Ich bin, wie’s losging, aus Mexiko ’rübergekommen!“

„Was du nicht sagst . . .“, sprach der eine Matrose.

„Jawoll — du alter ehrlicher Seemann . . . Und in Gibraltar abgeklappt . . . und aus dem dreckigen Camp auf der Insel Man ausgekniffen . . . und über Holland ’rin und als Kriegsfreiwilliger eingetreten . . . Nee — genau, so wahr ich hier mit meiner lieben Frau sitze, genau so wahr ist’s, was man euch sagt: Das mit dem Deutschenhass war nur dummes Kriegsgetue! Jetzt kommt bald überall wieder die alte Liebe zu Deutschland ans Tageslicht! Ihr werdet noch staunen! . . .“

Asta Oderwolff konnte besser als die anderen im Dunkel das harte, verbissene Profil des neben ihr sitzenden Feldgrauen sehen. Hohn und Verbitterung zuckten drüber hin. Stürmisch ausgepaffte Rauchwolken umwirbelten die spöttisch herabgezogenen Mundwinkel.

„Um die Feinde brauchen wir uns keinen Deut mehr zu kümmern!“ sagte er aus den Schwaden heraus. „Das sind jetzt stumme Hunde! Darüber sind sich die Gelehrten in Deutschland einig. Das ist klar wie dicke Klossbrühe!“

„Stimmt!“ schrie der eine Matrose.

„Daheim . . . die Strasse! Das ist jetzt die Hauptsache! Immer feste: Umzüge — jeden Tag — Versammlungen . . . Und Reden — vor allem Reden! Reden! Reden! Was das Zeug hält! Nur immer reden, wer in Deutschland reden tann . . .“

„Kann ich!“

„Glaub ich dir unbesehen!“ sprach der lange Feldgraue zu dem meuternden Schiffsartilleristen und verfiel plötzlich das hagere Haupt in die Hand gestützt, in düsteres Schweigen. Asta Oderwolff neben ihm sass stumm. In die allgemeine plötzliche Stille donnerten unter ihnen die Räder und rissen den Zug blind hinaus in tiefe, deutsche Nacht.

Astas Mann berührte sie leise am Arm und wies schweigend hinaus in die Dämmerung der Geisterstunde. Durch deren Helldunkel schritten wieder die verschwommenen Gestalten in Mänteln und Mützen auf allen Wegen und Stegen, zerteilten sich weit, weit hinaus, soweit man im Geist durch deutsche Gauen sehen konnte, verloren sich in Millionen von Atomen über das Land. Morgen, übermorgen, in wenigen Wochen, war das deutsche Heer gewesen . . .

Die beiden Gesichter des Mannes und des Mädchens waren einander im düsteren Dämmern des Abteils zugewandt. Sie sagten nichts. Sie fühlten beide dasselbe. Wieder knarrten die Bremsen. Kreischten die stoppenden Räder. Der Zug verschnaufte sich von seinem Donnergepolter durch die Nacht. Krieger krochen steifbeinig heraus, stapften verschlafen davon. Immer nur heraus. Es stieg niemand mehr ein. Es war schon spät. Fast schon früh. Zwischen Mitternacht und Hahnenruf. Rotgardisten schritten mit dem Schaffner, Ordnung haltend, die Wagen entlang, spähten in das Abteil. In dem schwang der Mann mit dem Bass Nagelschuhe und Wickelgamaschen über den Rand des Gepäcknetzes, plumpste wie eine reife Pflaume herab und krabbelte — ein kleiner Kerl — schwerbeladen hinaus ins Freie. Die zwei matrosenblauen Schläfer in den Ecken waren bei dem Krach aufgeschreckt, rieben sich die Augen: „Dunnerschlag — da sind wir ja schon!“ — Fix, dass wir noch klar abkommen!“ Raus — während schon die Räder rollten! Es waren die letzten Mitfahrenden gewesen. Als der Zug weiter Berlin entgegenkeuchte, sassen Asta Oderwolff und der lange Feldgraue plötzlich allein im Abteil.

Ihr Herz hämmerte. Sie dachte sich: Was wird der grosse Unbekannte nun mit seinem Mariedien anstellen? Endlich allein . . . da macht er schon eine unternehmende Bewegung . . . Nein! . . . Er steht nur leise, ganz leise auf, setzt sich schweigend mir gegenüber in die Fensterecke, so wie es sich gehört — ganz still — denkt, ich schlafe, und bewacht meinen Schlaf . . .

Eine Weile liess sie ihn in dem Glauben. Dann war sie zu gerührt von seinem Zartgefühl. Sie richtete sich auf und streckte ihm die Hand hin.

„Ich wollte Ihnen nur danken!“ sagte sie schnell und fühlte, wie sie im Dunkeln heftig rot wurde.

Der Mann im Schatten drüben drückte ihr herzhaft die Rechte. Es war ein Händedruck aus dem Schützengraben. Die Finger taten einem nachher weh. Trotzdem . . .

Das Fräulein von Oderwolff atmete beruhigt auf. Sie schloss die Augen. Sie versuchte zu schlummern. Aber die körperliche Ermüdung war jetzt überwunden, und die seelische Aufregung Gieb. Wuchs mit ihren Gedanken in dem stillen Abteil und der dunklen Nacht. Der verflossene Tag drehte sich vor ihr. Rote Fahnen. Zivilisten mit Flinten. Lachende Leute im Thronsaal. Wie im Fieber . . . Wenn man sich jetzt ins Ohrläppchen kniff . . . Um Ende träumte man das alles und sass mit der Prinzess am Nachmittag im Schlosspark auf der Bank und war ein bisschen eingenickt, die Hände im Schoss. Es schickte sich nicht für eine Hofdame. Aber das Prinzesschen war nur mal langstielig zum Sterben . . .

Plötzlich schnellte Asta von Oderwolff von ihrem Sitz empor und fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. Ihr Gegenüber war eilig aufgesprungen, versuchte sie zu stützen.

„Was haben Sie denn?“

„Das ist doch nicht wahr . . .“

„Was denn?“

„Alles . . .“ Sie stammelte. Dann schrie sie verzweifelt auf. „Alles, was heute passiert ist . . . das ist ja alles so . . . so . . . das kann ja gar nicht wahr sein! . . . Sagen Sie: Bin ich verrückt geworden?“

„Sie nicht.“

„Wie komm’ ich denn auf einmal hierher, mitten in der Nacht . . . mutterseelenallein . . .?“

„Stimmt schon, gnädiges Fräulein!“

„Ja — was wird denn aus uns allen? Was wird aus Deutschland?“

„Das wissen die Götter!“

Das Fräulein von Oderwolff war in ihre Ecke zurückgefallen. Sie konnte sich nicht helfen. Sie brach in ein krampfhaftes Weinen aus. Sie schluchzte verzweifelt, den Kopf auf den Knien, die Hände vor die Stirn geschlagen.

„Ich kann das gar nicht fassen! Ich kann’s einfach nicht . . .“

„Ich glaub’s!“

„Ich bin sonst . . . sonst . . . gar nicht so, dass ich gleich heule! . . . Aber das ist unbegreiflich. Es wird einem erst allmählich klar, was passiert ist! Nein — nicht klar. Das geht einfach über meinen Horizont . . .“

„Das geht jedem so!“ sagte der Feldgraue. Er stand auf und schaute durch das Fenster. Draussen verfärbte sich allmählich das bleischwere Schwarz der Novembernacht in fahles Zwielicht. Morgenfrösteln. Schweigen. Asta Oderwolff trocknete sich die nassen Augen. Sie fragte erschöpft:

„Sie sagten vorhin, Sie seien aus Mexiko?“

Der Fremde drehte sich zu ihr um. Er nickte. Plötzlich lief die Abenteuerlust über seine bartlosen, hageren Züge.

„Ich war zufällig gerade in Mexiko, als die Bombe platzte!“ sagte er. „Ein paar Monate vorher erst aus Südamerika herübergegondelt.“

„Da waren Sie auch schon?“

„Von China her.“

„Sie kennen, scheint’s, die ganze Welt?“

„Gross ist sie ja nicht.“

„Sie waren doch nicht . . .“ Fräulein von Oderwolff kämpfte mit dem Wort, doch nicht etwa Matrose?“

Der Feldgraue lachte.

„So hoch verstieg sich — heutzutage in Deutschland gesprochen — mein Ehrgeiz nicht! Nein, gnädiges Fräulein, nur ganz gemeiner Ingenieur.“

„In deutschen Diensten?“

„In meinen eigenen . . . als Deutscher. Ich richtete gerade so nette Filialen drüben für die Fabriken meines alten Herrn in Deutschland ein. Die hat wahrscheinlich schon wieder der Teufel geholt.“

Ein Ingenieur . . . Der Vater Grossindustrieller . . . Fräulein von Oderwolff schaute betreten aus ihren grossen blauen Augen unter den dunkelbraunen Brauen zu dem schlichten Krieger im Soldatenmantel empor. Sie hatte Schatten unter den Augen. Sie war bleich und übernächtig und zerzaust. Sie sah so unvorteilhaft aus wie möglich — dachte sie sich im stillen und merkte trotzdem die ganze Zeit, dass sie dem Feldgrauen sehr gefiel.

Er blickte an ihr vorbei durch das Fenster. Im Kot der Landstrasse wanderten ein paar Krieger, hochbepackt, auf Knotenstöcke gestützt, frisch, blond, rüstigen Schrittes der Heimat zu.

„Bleibt, zum Donnerwetter . . . bleibt . . .!“ murmelte er zwischen den Zähnen. Die Heimkehrenden schauten nicht nach dem Zug. Marschierten weiter . . . weiter ins Land. Er zuckte die Achseln.

„Da gehen wir!“ sagte er heiser zu dem Fräulein von Oderwolff. „Und die Feinde kommen!“

„Es ist doch jetzt Waffenstillstand . . .“

„Weiss ich . . .“

„Und bald Frieden . . .“

„Weiss ich auch . . .“

„Die Männer haben doch so Furchtbares durchgemacht. Sie haben gefochten wie die Helden. Sie können doch einfach nicht mehr . . .“

„Weiss ich alles! Besser als Sie! Ich hab’s mitgemacht. Drei Jahre. Die ganze Hölle. Todmüde sind wir. Verhungert sind wir. Hoffnungslos sind wir! . . . Zehn gegen einen kommt uns die Menschheit übern Hals . . .“

„Nun eben . . .“

„Gerade deswegen dürfen wir doch jetzt nicht auseinandergehen. Ja: Über den Rhein zurück! Gut! . . . Keinen Schuss mehr! Schön! Kein Blut mehr! Nein!“

„Ja, also . . .“

„Aber beisammenbleiben, bis der Friede unterzeichnet ist . . .“, schrie der Feldgraue wild durch das Rasseln der Räder Asta Oderwolff ins Gesicht. „Eine Macht bleiben — im Rücken unserer Unterhändler — und den Kerlen das Rückgrat steifen — Gewehr bei Fuss — Handgranaten am Koppel. Das fleckt! Die drüben haben eine Mordsangst vor uns — immer noch — wissen wohl, warum . . .“

„Da braucht man Sie nur anzusehen!“ sagte Fräulein von Oderwolff unwillkürlich.

„Die wissen, solch ein Heer wie das deutsche war noch nicht da! — Und wenn sie wissen, es ist noch da — dann wissen sie auch, dass sie Deutschland nicht mit ’nem Tritt vor den Bauch erledigen können! Dann kriegen wir mit Gottes Hilfe noch ’nen menschenmöglichen Frieden! Aber wenn wir jetzt uns trennen, dann können sie mit uns machen, was sie wollen! Dann begehen wir Selbstmord! Nein: wir bleiben leben! Aber fragt mich nur nicht, wie!“

Der Feldgraue warf sich in seine Ecke. Auf seiner Stirn ballten sich Gewitterwolken. Es wetterleuchtete in seinen tiefliegenden Augen. Fräulein von Oderwolff sass schweigend und blass da. Sie sah ihm verstohlen wieder auf die Hand. Da war kein Trauring. Sie dachte sich: Er ist nicht verheiratet. Die anderen wollen heim zu Weib und Kind . . .

Das erste Zwinkern von Galgenhumor plinkerte drüben über das Schützengrabengesicht. Er sagte gutmütig:

„Nun hab’ ich Sie schön erschreckt! Sie sind ganz bleich geworden.“

„Es ist ganz gut, dass man endlich mal hört, wie ernst die Zeit ist! Bis heute mittag hing uns ahnungslosen Gemütern ja noch der Himmel voller Geigen!“

„Na — in Berlin werden uns die Augen erst aufgehen! Wir sind gleich dort.“ Er stand auf und ordnete seine Habseligkeiten. Dabei öffnete er seinen Mantel. Asta Oderwolff machte grosse Augen. Der Waffenrock, den der Feldgraue unter dem zerrissenen Unterfutter trug, war in knappem Taillenschnitt gearbeitet. Auf der linken Brustseite hafteten noch die aufgenähten Ösen für eine lange, unsichtbare Ordensbänderspange, auf den Schultern die leeren Halter für die Achselstücke.

„Sie tragen ja einen Offiziersrock . . .“, sagte sie.

„Schon seit zwei Jahren . . .“

„Sind Sie denn Offizier?“

„Sogar Kompagnieführer! Wundert Sie das so?“

„Nein. Nur . . . Dazu der Gemeinenmantel und eine Feldmütze ohne Schirm . . .“

„Ich habe nicht die geringste Lust, als viermal verwundeter Offizier in der Heimat von eben eingekleideten Lausbuben gewaltsam meiner Abzeichen beraubt zu werden! In Berlin stürze ich mich kopfüber in Zivil!“ Er verschnürte seinen Rucksack und knöpfte den von Entlausungsdämpfen dünnen Soldatenmantel zu. „Machen Sie sich fertig, gnädiges Fräulein! Wir fahren ein!“

Der Vormittag des zehnten November war hell und trocken. Die Strassen des westlichen Berlin, wo sie den Zug verlassen hatten, lagen menschenleer in sonntäglicher Stille. Ferne Kirchenglocken brummten. Nirgends war etwas Ungewöhnliches. Nur einmal, wie ein Blutstropfen in einem friedlichen Gesicht, eine kleine rote Fahne über einem Hauseingang. Matrosenblau darunter. An den Litfasssäulen ein Anschlag des Kasernenrats der Elisabether. Dann wieder gassenweit Feiertagsfrieden.

„Ist das aber komisch . . .“, sagte Asta von Oderwolff, während sie nebeneinander auf dem Bürgersteig dahingingen. „Ich dachte, hier sieht’s aus wie Kraut und Rüben, und nun . . . Ach Gott . . . Sind die Leute am Ende wieder zur Vernunft gekommen? . . .“

„Ich glaube, sie machen eher eine Kunstpause. Aber immerhin haben wir Dusel, dass ich Sie auf einem ganz gemütlichen Sonntagsbummel nach Hause bringen kann . . .“

„Da, gleich um die Ecke, ist’s schon!“

Vor dem Tor der eleganten Mietkaserne streckte sie ihm dankend die Hand hin. Aber er wehrte.

„Nee — nee — die Ihrigen könnten abgereist sein . . . Nachher stehen Sie oben wieder da . . . allein auf weiter Flur! . . . Ich bin erst beruhigt, wenn ich Sie wirklich bei Ihren verehrten Herrn Eltern weiss!“

,,Von Oderwolff“ stand im zweiten Stock auf der Messingplatte neben dem Glockenknopf, auf den Asta drückte. Flüchtige Schritte liefen innen. Ein grosses, dunkles Auge spähte misstrauisch durch das Guckloch.

„Das ist meine Schwester!“ Fräulein von Oderwolff klatschte ungeduldig in die Hände. „Mach’ auf, ja! Herrgott — du Hasenfuss . . . ich bin’s!“

,,Also alles in Ordnung! Adieu!“ rief der Feldgraue durch das Rasseln der Sperrkette. Er schüttelte Asta schnell die Hand. Sie kam gar nicht dazu, ihm zu danken. Er war schon den Treppenabsatz hinab. Hörte oben die helle Damenstimme: „Asta! . . . Die Asta ist da! Papaaa, die Asta!“ Er lächelte vor sich hin, während er vor das Haustor trat. Dann bog er um die Ecke. Sein Gesicht wurde hart und finster.

II

Regentriefen über nassglitzernden Berliner Dächern . . . vereinzelte Schneeflocken im Wind . . . Klack! Durch den Nachmittagsnebel die Kugel eines Dachschützen, das Auffpritzen einer Pfütze. Ein paar Frauen wie gescheuchte Hühner um die Ecke: „Rasch, Schlögl! Da schiessen die Brüder schon wieder!“ Der Matsch auf dem menschenleeren Asphalt schleuderte Schlammgüsse hinter den Gummirädern einer nagelneuen Limousine. Der Herr innen trommelte mit dem Stock an die Vorderscheibe:

„Stopp, Mensch! Da ist ja Nummer siebzehn!“

Klack! Wieder irgendwo ziemlich weite Unsichtbar. Der grosse, breitschulterige junge Mann kletterte aufgeräumt aus dem Luxusauto, stand behäbig, in flatterndem Mantel, die Zigarre im Mund, das Blondbärtchen in dem blühenden, rosigen, runden Gesicht unternehmend aufgedreht. Er schüttelte missbilligend den Kopf mit dem schrägsitzenden, modischen Filzhut.

„Hier schmeissen sie wieder mit harten Gegenständen! Schlögl: Warum machen Sie so missvergnügte Naslöcher?“

„Ich hab’ von der Front noch die Näse voll von dat Jeknalle!“ murrte der Chauffeur. „Ick fahr’ nach Hause!“

„I wo! Hiergeblieben, alter Kronensohn . . .“

„Und in ’ner Stunde Jeneralstreik!“

„Jeht Sie doch nischt an! Stechen Sie sich man das Kraut da in die Visage!“ Der Herr bot seinem Chauffeur kameradschaftlich die Zigarrentasche. „So! . . . Nanu . . .?“

Klack! . . . In der Nähe.

„Der Betrieb ist gut!“ sagte der junge Mann gemütsruhig. Ein offenes Lastauto sauste heran. Stahlhelmgewimmel. Ein Stachel-Igel von Gewehrläufen. Wie Bullenbeisser vorn die M.G. Nuf von der Ecke: Wohin? Handbewegung: Strassenkampf im Norden! — Na — und wir hier? — Keine Bange! Ein halbes Dutzend Soldaten war vom Auto gesprungen und spähte schussbereit von den Bürgersteigen nach den Mansardenfenstern. Mäuschenstille plötzlich dort oben überall . . .

„Die sind vom Freikorps Windeck!“ sagte der Chauffeur verdrossen. Der grosse junge Herr lachte wohlgelaunt. Er rieb sich die nasskalten Hände. Er hatte an dem Haus geklingelt. Er summte im Warten: „Berlin — du bist ein Juwel!“ Er trat fröstelnd von einem Bein aufs andere. Drückte ungeduldig wieder auf den Knopf: „Na, endlich!“ Er trat ein. „Fräulein, Ihre Zeit möchť ich haben.“

Eine braune Cléofrisur unten am Boden, aus dem Fensterchen der Portierwohnung. Ein hübsches, berlinisch helles Mädchengesicht mit intelligenten braunen Augen. Eine scharfe Berliner Stimme:

„Wohin — der Herr?“

,,Wäsche auf’m Boden stehlen!“ sagte der Herr stehenbleibend und aufrichtig. „Tu ich immer in fremden Häusern! Vereidigter Flatterfahrer! Auf mich sind sie scharf in Moabit . . .“

Er kitzelte freundlich mit dem Stock nach unten in das Portierfenster.

„Kille! Kille! . . . Nur nicht gleich tückisch, Fräulein! Nu denkt sie nämlich: ,Oller Stiesel!’ Ja? Na — sehn Sie! Ich kenn’ die Menschen und die Mächens!“ Er musterte, breitbeinig dastehend, leutselig die hübsche Berliner Pflanze zu seinen Füssen: Onduliert, manikürt. Die Bluse noch Friedensseide. „Sagen Sie mal, Fräulein; Haben Sie denn nischt Besseres zu tun, als dazusitzen und die Strippe zu ziehn?“

„Ich vertrete bloss mal Muttern!“ sagte die junge Dame fühl von unten und zugleich sehr von oben herab. „Im übrigen haben wir jetzt den Freistaat — haben Sie vielleicht auch schon in der Zeitung gelesen? — Nich? Arbeit ist jetzt ’ne Ehre!“

„Dabei denkt sie sich nämlich: Schieber!“ Der grosse, junge Mann lachte herzlich. Er trug einen streng modernen, zimtbraunen Riegelulster. Im grünen Schlips einen unwahrscheinlichen Diamanten.

Die junge Dame hob nüchtern prüfend den braunen Scheitel zu seiner Länge über ihr.

„Na — aus’m Irafenschloss sind Sie wohl nicht entsprungen!“

„Nee! Budikersohn aus Berlin C! Aber kesser Junge! Gemütsmensch dabei, Fräulein!“

„Lassen Sie doch das dämliche Kille-Kille mit Ihrem Stock!“ sagte die kleine Berlinerin unten. Ich bin nicht kitzlich!“

„Und was machen Sie, wenn Sie nicht die Strippe ziehen?“

„Mich nützlich!“

„Wo denn?“

„Bei der Hydrag!“

„Wat? Bei den faulen Köppen? Wenn ich man bloss von den Brüdern höre! Das glaub ich, dass Sie sich da gesund gemacht haben, Fräulein Die Bande lag immer richtig! Da wurden Sachen gedreht — na — das wissen Sie ja besser als ich!“

„Was wünschen Sie hier im Hause, mein Herr?“

„Die Hydrag! Na — ich will nischt gesagt haben, aber ich möchte kein silberner Löffel sein, wenn einer von der Blase ins Zimmer kommt! Unkollejial, Fräulein!“ Der grosse, junge Herr beugte sich, auf den Stock gestützt, vorwurfsvoll zu dem hübschen Mädchenkopf unten. „Die feinsten Nummern haben sie einem aus Futterneid verkorxt! Ich war um ein Haar mal drauf und dran, mir die Angströhre aufzuklemmen und zum Staatsanwalt zu gehen!“

„Aber dann haben Sie’s doch lieber jelassen!“ sagte die junge Dame unten spitz, mit einem eigentümlichen Zug um den Mund.

Ein Achselzucken oben: „Gott — man ist ein guter Kerl! Ich hab’ schliesslich Mitleid mit so kleinen Leuten! Mögen sie bei der Hydrag in Gottes Namen ihre Iroschens zusammenkratzen! Bei mir geht’s um harte Daler . . .“

„Wo denn?“ fragte das Cléo-Fräulein unten neugierig.

„Na — raten Sie mal! Nenn mir deinen Namen, und ich sage dir, wie du heisst! Mit ,B‘ fängt’s an . . . Nu weiter? ,A‘ wie Affe . . . ,R‘ wie Rhinozeros . . . ,T‘ wie Trottel . . . ,U‘ wie Unfug . . . was? Jawoll, mein Kind, da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich: Als wie icke! Zeigen Sie mal, was Sie können! Buchstabieren Sie mal zu Ende: ,Bartu . . .‘“

Die kleine Berlinerin unten stiess das Fenster weit auf und schaute mit achtungsvoll aufgerissenen, glänzenden Augen zu dem fremden jungen Mann empor.

„Herr Bartuschke? . . .“

„In Lebensjrösse!“

„Wirklich Herr Bartuschke . . . Einer von der jrossen Familie?“

„Da sehen Sie, Kindchen, was aus ’nem armen Mann alles werden kann!“ sagte der fremde Herr wohlgefällig. „Aus ’nem armen Mädchen ooch! Halten Sie man die Ohren steif!“

„Tu ich doch! Muss ich ooch! Herr Bartuschke . . . verzeihen Sie nur ’nen Momang! Ich komm’ flugs zu Ihnen ’rauf!“

Gleich darauf stand die Portiertochter vor ihm auf dem Flur. Atemlos von drei Sturmsätzen über die Kellertreppe. Das hübsche, gerissene Berliner Mädelgesicht erhitzt unter der sittig-kindlich über die Ohren gewellten Cléo-Unschuldsfrisur. Eine falsche Perlenkette. Kurzer Rock. Florstrümpfe an den dünnen Beinen. Ganz neue Stiefelchen . . . Niedlicher Käfer . . . Der fremde, junge Mann nahm freundlich die Zigarre aus dem Mund . . . nervös ineinander spielende, sehr weisse, spitze Fingerchen drüben . . . ein seelenvoller Augenaufschlag . . . na — du kannst so bleiben! — Die Berliner Stimme jetzt nicht mehr scharf, sondern weich bittend:

„Herr Bartuschke!“

Einer von den drei Bartuschke! Papa und zwei ausjewachsene Söhne!“

„Gott — wer kennt Sie nicht? Die Bartuschkes! Die jewaltigen Geschäftsleute von Berlin! Herr Bartuschke . . . Sie können doch alles! Sie machen doch alles! Sie verdienen Millionen! Nu seien Sie doch mal nett!“

Der junge Mann kniff vergnüglich das linke Auge zu.

„Na . . . Mieze?“

„Herr Bartuschke: die Hydrag — da, wo ich bin — jeht doch in Liquidation!“

„Hat allen Grund, sich in Wohlgefallen aufzulösen!“

„Nu muss ich mich doch verändern! Vorteilhaft — versteht sich — Herr Bartuschke — Sie schickt mir doch der liebe Gott: Nehmen Sie mich doch in Ihren Betrieb hinüber! Bitte! Bitte!“

Das Cléo-Fräulein stand flehend wie ein Kind, mit vor der Brust gefalteten Händen. Ihre kecken, braunen Augen schmeichelten.

„Sie denken wohl, Fräulein — das geht bei uns so aus dem Wuppdich? Bilden Sie sich man keine Schwachheiten ein! Bei uns ist es wie auf dem ,Amt Steinplatz’! Da heisst es immer: ,Besetzt!’“

„Ach — wenn Sie nur wollen . . .“

Aber er liess sie zappeln.

„Überkomplett! Ich hab’ so schon mehr Damens, als mir lieb ist!“

,,Dann schmeissen Sie eine raus und jeben Sie mir die Stelle!“

„Jemütsmensch!“

„Was kann denn die! Päh! Nehmen Sie da doch nur keine Rücksicht, Herr Bartuschke!“

„Ich sag’s ja. Es geht nicht über ein goldenes Herz!“

,,Denken Sie lieber an mich! Ich leiste doch im kleinen Finger mehr wie die! Ich hab’ ja manchmal ein bissken ’ne Berliner Schnauze . . .“

„Kriegen Sie eins druff!“

„Na eben! Macht nicht! Aber ich arbeit’ wie ein Jaul! Ich bin verschwiegen wie’s Irab! Ich bin pünktlich wie ’ne Ilashütter Uhr!“

„Helles Köppchen . . .“

„Sagt man alljemein, Herr Bartuschke!“

„Vielleicht zu helle — wat?“

„Für die Firma kann man jar nicht helle genug sind! Für die Firma jeh’ ich durchs Feuer! Bange machen is nicht! Ich komm morgens zum Dienst, und wenn die Dachschützen rechts und links knallen. Jede Kugel trifft ja nicht. Das wissen die Herren ja . . .“

„Dabei lacht sie innerlich wie ’n Maikäfer und denkt sich: Im Krieg waren die Bartuschke Schulter an Schulter reklamiert! Na ja . . . war dringend nötig . . .! Auch im Dienst fürs Vaterland!“

„Ich weiss doch, Herr Bartuschke!“ sagte die Kleine ehrerbietig und strich sich erwartungsvoll den Rock glatt. Kurze Fragen zwischen Zähnen und Zigarre.

„Was tippen Sie?“

„Remington.“

„Stenographie?“

„Gabelsberger.“

„Wieviel Silben?“

,,170 spielend!“

„Doppelte Buchführung?“

„Deutsche und italienische, bilanzsicher, Herr Bartuschke!“

„Sprachen?“

„Ja Gotte doch . . . Ich bin doch man bloss ’ne Portiertochter. Volksschule . . .“

„Ich bin auch nur bei Pfeiffern in die Abendschule gegangen. Stört heutzutage die Liebe nicht, Fräulein!“

„Aber ’n bisschen Französisch und Englisch hab’ ich mir schon eingepaukt. Ich lerne rasch. Nu heisst’s ja, Spanisch fluscht besser. Ich lern auch Spanisch, wenn Herr Bartuschke es wünschen. Ich will bloss vorwärts!“

„Wie alt, Püppchen?“

„Zweiundzwanzig! Jesund wie ’n Fisch! Jar nicht bleichsüchtig von der ollen Kriegsernährung. Mutter is vom Lande. Wir konnten immer feste hamstern, Herr Bartuschke. Nun müssen Sie aber auch Ihr Versprechen halten!“

„Mein Versprechen? . . .“

„Mich zu engagieren.“

„Nanu?“

„Wann soll ich morgen antreten?“

„Ja — und die Hydrag?“

„Kann mir gewogen bleiben! Ich lass den Monatsjehalt schiessen. Ich hab’ es dem Chef schon schonend mitjeteilt: Wenn ich was Besseres krieg’, schnapp ich ab! Sieht er auch ein — der Olle — wo er doch sowieso im Verduften is!“

„Und keine Träne des Abschieds von der Hydrag?“

„Päh — was ich mir davor koofe!“

„Und wenn den Bartuschkes nun mal was Menschliches passiert und wir werden schliesslich auch aufgelöst . . .?“

„Tun Sie sich doch am nächsten Morgen als stille G. m. b. H. im Handelsregister wieder auf! Die Leute von der Branche können ja nichts gegen euch machen. Die müssen mit. Ihr kennt ja durch die Kriegswirtschaft alle ihre Jeschäftsjeheimnisse. Da wird im Frieden noch grob verdient werden, Herr Bartuschke.“

„Woher haben Sie denn all das Verstehstemir, Schnuteken?“

„Gott: man hört doch so ’rum . . .“

„’n Köppchen . . . ’n Köppchen . . . Kind: Sie bringen’s noch weit!“

„Hoff’ ich doch! Nu ist doch mal die Zeit für unsereinen! Was hab’ ich mich als kleine Bolle in der Volksschule über die höheren Töchter im Privatinstitut nebenan jeärgert! Nu können die anderen Damen mal die Mangel drehn und Kohlen tragen. Herr Bartuschke — Sie sind doch so’n jrosser Mann . . .“

„Nicht wahr?“ sagte der junge Mann geschmeichelt.

„Sie sind doch ein Sohn des Volks! Sie helfen jewitz einem armen Kind aus dem Volk wie mir.“

Das blutrote Schleifchen der Zeit an der Spitzenbluse hob und senkte sich unter erwartungsvollen Atemzügen. Bartuschke holte bedächtig seine Visitenkarte heraus.

„Haben Sie englische Tischzeit — ja? Dann stellen Sie sich morgen nachmittag — so um Uhre fünfe — bei meinem Bruder im Kontor vor. Ich sag’ ihm heut noch Bescheid. Nee — nee — nicht bei mir! Nee, Sie sind mir zu helle!“

„Aber Herr Bartuschke . . . Ich mach’ doch alles mit! Ich bin doch ’n anständiger Mensch!“

„Das heisst natürlich: Unser Betrieb in allen Ehren! Uns kann keiner an die Wimpern klimpern! Wir blühn wie junger Flieder! Unschuldig wie die Waisenknaben . . . Aber sehen Sie: Was mein Bruder ist — der Jotthold — der is doch ’in jebildeter Mensch. Auf dem seine Erziehung hat Papa mehr spendiert — ich war ja immer mehr ’n bissken leichtes Tuch. Stadtreisender in Sodawasser und so . . .“

„Weiss ich doch, dass der andere Herr Bartuschke Rechtsanwalt ist . . . Ich les’ doch auch die Strafprozesse in Moabit.“

„Der hat dort schon die schwersten Jungens losjeeist! Dabei ein Mensch wie ’n Kind — der Jotthold! Von dem Jerichtssaal — da hat er nun so den Sprechanismus. Dadurch ist er jetzt in die Politik gekommen. Jetzt haben wir noch die Rätewirtschaft. Aber wenn’s erst ans Wählen geht — der Jotthold kommt ins Parlament. Der Mann wird jross aufgenommen. Der steigt wie ’ne Aktie. Der wird noch Minister. Also halten Sie sich ran, Fräulein! Klettern Sie mit! Wie heissen Sie denn eigentlich?“

„Zwicknagel!“

„Au! Das piekst einen förmlich! Und der Vorname?“

„Alwine.“

„Bong! Also Fräulein Alwine . . . Alwinchen . . . Cousinchen . . .“

„Herr Bartuschke, eins muss ich vorher sagen: Ich heisse Fräulein Zwicknagel! Ich bin ein durchaus solides Mädchen!“

„Weiss ich doch! Weiss ich doch! I wo werd’ ich denn . . .“

„Na — Sie plinkern so mit dem linken Ohr . . .“