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Während unter Metternichs Spitzel die deutschen Fürstentümer vor sich hin schlafen, als habe es die Französische Revolution nie gegeben, haben sich die Studenten aller Universitäten politisiert. Mitten unter ihnen der Raufdegen Ellerbrook, der auf dem Wartburgfest gegen den Spion des russischen Zaren Kotzebue seine glühenden Reden hält. Doch die Versammlung der über fünfhundert Studenten und Professoren, die gegen die reaktionäre Politik und Kleinstaaterei und für einen Nationalstaat mit eigener Verfassung demonstrieren, gerät aus dem Ruder. Die Verunglimpfung Kotzebues hat auch für Ellerbrook Folgen – er wird vom Studium ausgeschlossen. Als er trotz der Fürsprache Goethes auch in Berlin die Universität nicht betreten darf, dringt der temperamentvolle junge Mann bis vor die Haustür des Geheimrats von Römhild, der das Verdikt gegen ihn unterzeichnet hat. Dort tritt ihm die blonde Male Römhild, selbstbewusste Tochter des pommerschen Rittergutbesitzers, frech entgegen und schaut sich den bürgerlichen Draufgänger genauer an. Und der gefällt ihr, trotz des Standesunterschieds – gefällt ihr sogar sehr. Als die Ermordung Kotzebues durch Karl Sand Ellerbrooks Leben in Deutschland endgültig unmöglich macht, hat er ein ungewöhnliches Mädchen hinter sich.-
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Seitenzahl: 456
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Rudolf Stratz
Roman
Saga
Sturm des Herrn
Copyright © 1934, 2018 Rudolf Stratz und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711507353
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
Der Morgen der neuen deutschen Welt hat begonnen!‘ hat unser Turnvater Jahn voriges Jahr in das Stammbuch der Wartburg da oben geschrieben. ‚Wir haben Unglaubliches erlebt und erlitten‘, hat er geschrieben, und Schlachten geschlagen, wie sie keine Geschichte kennt!‘ ‚So werden wir nun endlich an die Herrlichkeit des deutschen Gemüts glauben‘, hat er da oben auf der Wartburg geschrieben, und die Ausländerei verbannen!‘ Hört es, ihr Burschen, was er geschrieben hat: ‚Überall, wo die deutsche Zunge redet, sehnt man sich nach einem neuen deutschen Reich!‘ . . .“
Der Markt zu Eisenach war ein hundertfaches Gewimmel von jungen Gesichtern und altdeutschen schwarzen Röcken. Längs der Häuser standen in Massen die Bürger und ihre Frauen und Töchter mit wehenden Tüchern. Die Glocken der Georgenkirche läuteten. An der Ecke der Predigergasse hielt ein Reiter im Wettermantel mit dreifachem Kragen und grauem Zylinder auf dem hageren lippenfreien Kopf. Die Bartstreifen an den Wangen gaben ihm das Aussehen eines ehrbaren Kaufmanns. Er konnte durch das Gewühl nicht weiter. Er neigte sich verbindlich von seinem mageren Klepper herunter zu den Bürgern:
„Ich bin hier fremd, wie Sie sehen! Ein Musterreiter in Nankingstoffen für Sinai und Sohn in Frankfurt am Main! Wer ist wohl der junge Herr, der da auf dem Marktplatz predigt?“
Es war ein schlanker, ranker, junger Mannskerl, über die Mitte der Zwanzig, auf den der Finger des Handlungsreisenden wies. Dunkle Augen brannten über dem kleinen, dunklen Theodor-Körner-Schnurrbart in dem feurigen, bräunlichen Gesicht. Lange, dunkle Haare flatterten ihm nach neuer deutscher Burschenart um den blossen Hals, den ein breit übergelegter weisser Spitzen-Hemdkragen umschloss. Auf seinem kurzen, schwarzen, mit Goldfransen besetzten deutschen Rock schimmerte an schwarz-weissem Band das Eiserne Kreuz der Freiheitskriege. Schwarz-weisse Federn wehten von seinem Samtbarett. Die schwarzen Hosen staken in gespornten Halbstiefeln. Am Ledergürtel um die Lenden hing ihm an eiserner Kette ein Dolch mit Ebenholzgriff und silbernem Totenkopf.
„Hört, Ihr Burschen“, schrie er, „was unser zweiter Vater Ernst Moritz Arndt vor zwei Jahren gesagt hat: ‚Es sind leider gar zu wenige Menschen mit vollem festem Willen! Sonst hätten wir die Bösen jetzt so, dass wir uns vor ihren Tücken Sicherheit verschaffen könnten!‘ hat er gesagt. „Es ist besonders jämmerlich, dass Österreich bisher noch so matt ist und durchaus nicht gross in die Zeit einzuschreiten wagt!“
„Ich kenne den Studiosus nicht!“ sprach ein Bürger zu dem Musterreiter empor. „Er ist mit zweihundert andern aus Jena hierher zum Wartburgfest gekommen. Von allen Universitäten sind sie gekommen!“
„Sogar welche aus Würzburg!“
„Zwei aus Genf!“
„Vor der Stadt stehen überall auf den Strassen die Bauern in ihren blauen Hemden und winken! Die Damen fahren aus der Stadt mit Blumen den Studenten entgegen!“
„Da kommen wieder welche!“
Mit feierlich ernsten Gesichtern zogen die Kieler Studenten über den Marktplatz zum Hauptquartier, dem Gasthof „Zum Rautenkranz“. Ihr Marschgesang klang in das Glockenläuten: ‚Ein’ feste Burg ist unser Gott!‘
„Und was bezwecken diese vielen hundert jungen Herren in ihren schwarzen Röcken heute hier in Eisenach?“ frug der Musterreiter.
„Wir schreiben heute den achtzehnten Oktober 1817“, sprach gewichtig der Bürger. „Zum vierten Mal jährt sich der Haupttag der Völkerschlacht bei Leipzig. Sein Gedenken soll gebührend oben auf der Wartburg von der deutschen Burschenschaft begangen werden!“
„Der Demant“, sagt Vater Jahn, „wird nur durch den Demant geschliffen!“ hallte wieder vom Marktplatz die wilde, junge Männerstimme. „Das Volk nur durch das Volk erzogen.“ Unser Wartburgfest soll ein Fest des teutschen Volkes sein! „Ihr sollt Euch nicht knechtschüchtern im Winkel berauschen!‘ spricht der Turnvater, ‚Ihr habt auf Freude ein öffentliches Recht, wenn Ihr sie aus dem Irrgarten der Verkünstelung in einfache Lebensverhältnisse zurückführt!‘“
„Wo möchte man wohl den Namen dieses Herrn Studiosus mit dem Eisernen Kreuz erfahren?“ frug neugierig der Nankingreisende aus Frankfurt. Er sah sich und seinen mageren Klepper zur Seite gedrängt. Ein anderer Reiter lenkte mit der Sicherheit des vornehmen Herrn seinen Halbblüter auf den Markt hinaus. Zu Anfang der Dreissig hatte er das glattrasierte, verbindliche Antlitz eines jungen Hofmannes. Seine angenehme Erscheinung war von einem dunkelblauen, weiten Matin umhüllt. Unter diesem Wettermantel trug er, zu einem steifen, mit schwarzer Wachsleinmand überzogenen Rundhut, einen hellgrauen Frack, schwarze Hosen und schwarze Weste. Er überschaute aus dem Sattel das Gewoge der Federbaretts und blanken Klingen, stieg rasch ab, gab die Zügel dem nächsten ehrerbietig herbeieilenden grossherzoglich Weimarischen Polizeidiener und drängte sich zu dem wilden Sprecher auf dem Marktplatz.
„Ellerbrook — Freund — lasse Dich umarmen!“ rief er und, in seiner höfisch eleganten Kleidung zu den schwarzen Burschenwämsern um ihn, „wir sind Blutbrüder aus dem grossen Kriege — der da und ich!“
„Waren Sie auch wie der Christian bei den Lützowschen Jägern?“
„Als Herr von Helmich und ich uns im Felde trafen, war es schon 1815 und aus den Lützowschen Jägern das 6. Ulanenregiment geworden!“ sagte Christian Ellerbrook, „dunkelblau mit roten Aufschlägen statt unsrer schwarzen Todestracht!“
„Und ich ritt in der elbischen National-Kavallerie!“ meldete der von Helmich. „Wir attakierten nebeneinander vor Sonnenuntergang bei Ligny. Vater Blücher selber mit gezogenem Säbel neben unserem Lützow allen voraus, bis er stürzte. Unser Lützow gefangen! Plötzlich sehe ich selbst um mich nur noch Rossschweifhelme der französischen Kürassiere. Ein Hieb über den Kopf blendet mir mit Blut die Augen. Da hat der Ellerbrook da mir Luft gemacht und Freiheit und Leben gerettet. Dabei brauchte er sich gar nicht um den Krieg zu kümmern. Er war ja nicht Preusse, sondern aus Köln . . .“
„Aber mich hat’s zu den Preussen getrieben!“ Der Jenaer Studiosus und Lützower Leutnant lachte. Sein brünetter Rundkopf wirkte mit den feurigen Augen, der kühn geschwungenen Nase, dem festgewölbten Kinn wie der eines Römerenkels am Rhein.
An der Ecke der Predigergasse war der Musterreiter in Nanking nicht mehr zu sehen. Er hielt auf dem menschenleeren kleinen Platz dahinter und kritzelte im Sattel etwas wie Aufträge seiner Kundschaft in sein Taschenbuch: „Vorzüglich heute unter den jungen Demagogen des berüchtigten Jena zu nennen ein gewisser Christian Ellerbrook der einstigen sattsam bekannten Lützowschen irregulären Schar, der aus der Campagne überspannte vaterländische Ideen und auch sonst eine aufrührerische Gesinnung mitgebracht hat.“ Ein Punkt davor. Der hiess: An das Geheime Polizeicabinett am Ballhausplatz in Wien, zur Vorlage bei Seiner Durchlaucht dem Herrn Staatskanzler Fürsten Metternich . . . persönlich!
„Je nun — ich habe seit zwei Jahren, nach dem grössten Krieg, der je da war, den Schwarzrock mit den Totenköpfen an den Nagel gehängt und traktiere in Jena die Naturkunde. zu Füssen unseres herrlichen Oken!“ sagte inzwischen Christian Ellerbrook zu dem Waffenbruder. „Du weisst, mein Vater besitzt die alte kurfürstliche Apotheke zu den Heiligen Drei Königen in Köln, die ich ihm jetzt, unter der preussischen Herrschaft, abnehmen soll. Und Du, Karl — Du lebst wohl als Mann von Stande und weiter nichts?“
„Ich bin bestallter Assessor beim Minister-Collegio in Weimar,“ Karl von Helmich sah sich um und dämpfte die Stimme. „Dir im Vertrauen: ich bin hierher geschickt, um unauffällig Eure Feier auf der Wartburg zu beobachten und darüber zu berichten.“
„Wir feiern den Sieg über den welschen Tyrannen öffentlich und vor aller Welt“, schrie Christian Ellerbrook, und seine Augen glühten. „Seit Monaten ist unser Fest in allen Zeitblättern verkündet!“
„Und lächelt nicht unser Grossherzog, der weiseste aller Fürsten, gnädig Eurer Feier? Lässt Karl August nicht zu Eurer Speisung auf der Wartburg grossmütig seine Fischteiche öffnen, spendet er nicht zu den Freudenfeuern heute Abend freigiebig das Holz aus seinen Wäldern? Hat er nicht seinen Eisenacher Bürgern befohlen, Euch Studiosen heute um Gottes Lohn zu beherbergen?“
„Wir Bursche singen ja auch immer in Jena, wenn der Grossherzog hinkommt, unter seinen Fenstern: ‚Landesvater — Schutz und Rater — Karl August lebe hoch!‘ Aber wie ist es mit seinem Herrn Minister, unter dem Du dienst, Bruder?“
„Nun: der Herr Geheimrat von Goethe liebt an sich keine lärmenden Gassen! Aber Seine Excellenz lässt Euer wunderliches deutsches Wesen, wie er lächelnd zu sagen pflegt, gern gewähren . . . Nur: im Namen der weitherzigen Weimarer Regierung gesprochen: Lasst Euch nicht heute von irgendwelchen jungen Solonen zu unbesonnenen Taten hinreissen!“
„Da sei Gott vor! Der Lieb Pfand ist in uns mächtig, und Liebe zu Fürst und Vaterland kann nur Gutes zeugen! Erlaube, Du hoher Herr aus Weimar, dass ich Dir einige der namhaftesten Jenaer Burschen präsentiere! Hier haben wir gleich einen aus dem brandenburgischen Franken!“ Christian Ellerbrook deutete auf einen jungen hochgewachsenen Mann zu Anfang der Zwanzig in seiner Nähe. Dem fielen lange schwarze Locken vom Samtbarett bis zu den Schultern. Helle, wenig ausdrucksvolle Augen wohnten in einem bartlosen, länglichen, gegen das Kinn hin spitz zulaufenden Antlitz mit einem kleinen und hartnäckigen Mund. Er trug ein loses blaues Fuhrmannshemd mit übergeschnalltem Ränzchen. In einem eingenähten Schlistz des linken Rockärmels stak handlich ein Dolchmesser.
„Karl Sand ist uns erst dieser Tage aus Erlangen zugerpandert, wo er sich schon weidlich in der Burschenschaft getummelt hat“, erklärte der Studiosus Ellerbrook. „Wir nennen ihn den Spukmeier, weil er immer Gespenster sieht. Du siehst schon seinem ernsten Wesen, seinem schwärmerischen Blick den Gottesgelahrten an. Dann weise ich Dir weiter hier noch eine Rotte tüchtiger Kerle, die Du in Weimar rekommandieren magst . . .“
Rings um Christian Ellerbrook standen die Schwarzröcke. Ernste junge Gesichter unter den Federbaretten. Gläubige Augen, die sich auf den heissblütigen Rheinländer richteten. Der Assessor von Helmich merkte: der hatte Macht über die stürmenden Geister von Jena. Der war Einer der Führer der deutschen Burschenschaft, die sie dort im Gasthof zur grünen Tanne, am Ufer der Saale, im vorigen Jahre des Heils 1816 gegründet hatten.
Ulle Glocken von Eisenach fielen in plötzlichem Geläute Ellerbrook ins Wort. Die Bürgermädchen holten Eichenlaub aus ihren Körben und bekränzten das halbe Tausend schwarzer Burschenbaretts auf langwallenden blonden und dunklen Strähnen. Die Musik rauschte auf. Der Chorgesang schwoll an: ‚Der Gott, der Eisen wachsen liess, der wollte keine Knechte!‘
„Der heilige Zug ordnet sich!“ Christian Ellerbrook wies nach der Wartburg empor, die in der feindunstigen Silberluft der achten Morgenstunde herbstklar vor dem blassblauen Himmel ragte. „Melde es den hohen Herrn in Weimar, Kriegsbruder! Sieh — da trägt Graf Keller die teutsche Burschenfahne voraus! Die Frauen und Jungfrauen von Jena haben sie uns gestickt!“
Lang und langsam der Zug hinauf zur Wartburg. Paarweise die Schwarzröcke. Die Geistlichen. Die Professoren. Die Bürger. Die Frauen. Laubbekränzt der mächtige Rittersaal oben, und durch die Stille der Tausende die Helle Stimme des der Theologie beflissenen jungen Riemann, des Helden von Waterloo.
„Das deutsche Volk, sonst geehrt und gefürchtet, musste zum Gespött dienen dem Gemeinen — dem Edleren zum Gegenstand des tiefsten Mitleids und der Trauer. Wir wurden geknechtet und seufzten Jahre lang in schmählichen Ketten. Da allmählich ward die Sehnsucht rege nach Herstellung des zertretenen Vaterlandes.“
„Was das erwachte Volk zu opfern versprach, im Gefühl der erlittenen Schande, im Bewusstsein der verjüngten Kraft und im Vertrauen auf den allmächtigen Gott, des zeugen die Blutgefilde, wo des alten Feldmarschalls Donnerstimme den Wälschen die Flucht gebot. So seien uns gesegnet alle, welche für des Vaterlandes Wohl erglüht sind, dafür leben und mit Wort und Tat wirken. Verderben und Hass der Guten allen denen, die, um ihre Erbärmlichkeit und Halbheit zu verbergen, unserer heiligsten Gefühle spotten, Begeisterung und vaterländischen Sinn und Sitten für leere Hirngespinste, für überspannte Gedanken eines krankhaften Gemüts ausschreien. Ihrer sind noch viele, möchte bald die Zeit kommen, wo wir sie nicht mehr nennen dürfen!“
„Ewiger, allgütiger Gott, der Du Dein treues Volk erweckt hast — sieh gnädig herab auf unser deutsches Vaterland, lass es gedeihen in Freiheit und Gerechtigkeit, in Einigkeit und Treue! Amen!“
Christian Ellerbrooks heisse, dunkle Augen waren feucht, als er im Schwarm der ergriffenen schweigenden Schwarzröcke aus dem Pallas auf den sonnenhellen Hof der Wartburg trat. Er schämte sich, es den Andern zu zeigen. Er ging allein für sich ein paar Dutzend Schritt nach hinten.
Da hockte auf den Steinstufen neben der Cisterne Einer — der heulte auch. Ein Mann zu Anfang dreissig, in einem abgeschabten langen, schwarzen Kragenmantel und einem vorn geschweiften schwarzen Schifferhut, der ihm das Unsehen eines Geistlichen gab. Aber die glattrasierten Züge waren weltlich, weichlich, weinerlich. Kummervolle Fältchen um die ironischen Mundwinkel. Trübe, vertrunkene Augen. Beim Nahen des Jenensers schob er rasch ein engbeschriebenes Blatt in die Manteltasche.
„Weshalb ich Zähren vergiesse?“ sprach er. „Ich seufze nicht um Teutschland — ich seufze um mich — ich — der ewige Kandidat der Theologie — der weggejagte Hofmeister in hochgräflichen Häusern, der Harlekin für Euch Burschen, bei Fuchskommerschen in der „Tanne“ und beim Bierhock in Lichtenhain, der Euch um ein Stübchen Bier Grimassen schneidet und Schelmenlieder singt . . . wehe — was wird aus mir werden? Die Kinder singen schon hinter mir auf den Strassen in Jena: ‚Mummenthey — Mummenthey! — Rock und Hosen sind entzwei!“
„Raffen Sie sich auf!“ Der Undere riss den verbummelten Kandidaten mit kräftigem Faustgriff auf die Beine. „Am heutigen Tag wirkt Gott Wunder! Für Sie hat Vater Jahn geschrieben: ‚Das Vaterland muss Hochgefühle wecken, Hochgedanken erzeugen, ein Heiligtum sein und Heldentum werden‘!“
„Vorhin — im Rittersaal — da hab ich das Heiligtum in mir gespürt!“ Der Kandidat Mummenthey schüttelte bekümmert den unzuverlässigen Trinkerkopf. „Aber das ist bei mir Strohfeuer. Der alte Adam kehrt wieder! Ich bin ein armes Luder vor Gott und den Menschen!“ Ein plötzliches, breites, niederträchtiges Lächeln. „Bruder — pump’ mir ein paar Bauergroschen! Das Wartburgfest macht Durst! — — Was? . . . Er geht ohne Antwort weg? . . . Wartet nur, Ihr schwarzen Schreier — Ihr werdet nicht lange in Deutschland Vorsehung spielen!“
Der Studiosus Ellerbrook war sporenklirrend, straff, elastisch — in der Haltung noch der Leutnant in der Schwarzen Schar der Totenköpfe, nach dem Hauptturm hinübergeschritten. Hunderte von deutschen Burschen — vollbärtige mit dem Kreuz der Freiheitskriege und begeisterte Milchgesichter — scharten sich um ihren Oken, ihren Lehrer und Lenker. Aus ihrer Mitte schollen, leicht österreichisch gefärbt, die Worte des Jenenser Professors:
„Deutschland ruht nur auf sich selbst, auf dem Ganzen! Jede Menschenzunft ist nur ein Glied am Leibe, der Staat heisst! Ihr habt nicht zu bereden, was im Staate geschehen oder nicht soll! Nur das geziemt Euch zu überlegen, wie Ihr einst im Staat handeln sollt und wie Ihr Euch dazu würdig vorbereitet!“
Und als der Studiosus Ellerbrook am späten Nachmittag mit dem Assessor von Helmich auf dem Markt von Eisenach auf und ab wandelte — um sie die Gruppen von Burschen, die Turnerspiele übten — die Scharen aus Stadt und Land, die des Aufleuchtens der nächtlichen Freudenfeuer auf den Höhen harrten, da sprach er, in Erinnerung an die Okenschen Worte:
„Dem Staat zu dienen — wo wird dieser Vorsatz einem Jüngling deutschen Geblüts leichter und freudiger gemacht als hier in Eisenach, in Jena und Weimar, unter der gesegneten Vaterhand eines Karl August? Ich bin in Köln unter dem Krummstab geboren und unter der Franzosenherrschaft aufgewachsen. Um so mehr beuge ich mich in Ehrfurcht vor diesem Trefflichsten der deutschen Fürsten! Hat er nicht als Einziger von ihnen allen das Versprechen gehalten, das man uns Kriegern in blutigen Tagen gab, und seinem Land eine freiheitliche Verfassung verliehen! Warum können es die Andern nicht?“ Plötzlich brach der heisse Burschenzorn los. „Weil bei ihnen nicht der Genius zur Seite steht und rät wie der Herr Geheimrat von Goethe, sondern sie hausen mit Meindeutschen und Siemännlein, wie Vater Jahn sagt, umgeben sich mit Wettergänsen und Kuppelpelzen, Schürzenkrebsen und Vorgemachshasen und hören die Stimme Germaniens nicht!“
Der Assessor von Helmich hatte angenehme und offene Züge. Aber es spielte doch auf ihnen etwas von der Behutsamkeit des jungen Weltmanns und Hofmanns.
„Auch ein Karl August hat es nicht leicht!“ sprach er. „Er kann so manchem Luftzug nicht wehren, der von Spree und Newa und Donau heranweht. Sein Land ist klein. Und in der eigenen Nuss sitzt der Wurm. Es gibt Einen unter des Herzogs eigenen Landeskindern . . .“
„Ha — ich weiss, worauf Du abzielst! . . . Dieser Kotzebue . . .“
„Der Herr von Rotzebue, der schmählicher als irgend ein anderer deutscher Litterator seit Jahrzehnten sein Talent . . .“
„. . .zu feiler Lüsternheit missbraucht . . .“
„. . . ist in Weimar geboren, war Advokat in Weimar. Es zieht ihn immer wieder dorthin. Auch jetzt lebt er wieder in unsrer Mitte.“
„Mit fünfzehntausend Rubeln im Jahr als Judaslohn!“ schrie Christian Ellerbrook. „Als Spion des Zaren!“
„Als russischer Staatsrat! Jedenfalls seid auf der Hut, Ihr Jenenser!“ sprach der von Helmich, leiser und bedeutsam. „Der kaiserliche Staatsrat von Kotzebue hat den Auftrag, über alle Dinge in Deutschland geheim nach Petersburg zu berichten. Und von seinem Wohnsitz Weimar aus natürlich besonders über das so nahe Jena!“
„. . . und welchen Hass atmet er gegen uns, Deutschland liebende Burschen!“
„. . . er hat seine Zuträger da und dort! Er wäre pflichtvergessen gegen seinen Brotherrn, den Zaren, hätte er nicht auch heute eine seiner Kreaturen unter Euch gemengt . . .“
„Wehe ihr, wenn diese Faust sie zu fassen kriegt!“
„Bleibt auf dem Boden des Gesetzes, Christian, und der guten Sitte! Dann können Euch Metternich und der Zar und die Berliner Hausvogtei nicht schrecken! Aus mir spricht Weimar, Zeltbruder! Es ist der Wunsch von uns Redlichen allen an der Ilm!“
„Auf uns Burschen könnt Ihr Euch verlassen! Es wird nichts Ungeschicktes geschehen! Unsere gerechte Sache braucht keine ungerechten Mittel!“
Über den Markt vor der Georgenkirche brauste ein hundertfaches Hoch. Der Eisenacher Landsturm und die deutsche Burschenschaft standen im Halbkreis und liessen die Bürger Eisenachs leben. Durch den Musiktusch sprach der Studiosus Ellerbrook, und es war ein tiefer Ernst auf seinem gebräunten, kühn geschnittenen Jungmannskopf.
„Du gehörst zur Schönen Welt von Weimar und zu denen, die uns regieren! Sag ihnen, dass sie uns begreifen sollen! Sag ihnen, dass wir nicht die Jünglinge von ehedem find, an die sie gewohnt waren, im Saufen und Raufen und Prügeleien mit den Jenaer Knoten. Wir sind Männer trotz unserer jungen Jahre. Wir kommen nicht von der Schulbank, sondern vom Schlachtfeld. In uns waltet allmächtig das Erlebnis von drei Jahren des grössten Krieges, der je über die Welt gekommen, von der Affaire bei Bautzen bis zur Gottesschlacht zum Schönen Bunde! Wir haben Deutschland befreit. Dafür hat man uns die Freiheit versprochen. Wir wollen frei in Deutschland sein.“
„Sagt es den Fürsten, Ihr vom Adel! Wir wollen nicht mehr gehorsame Untertanen sein, sondern getreue Bürger in einem neuen heiligen deutschen Reich. Sein heiliger Geist wohnt auch in den Jüngeren unter uns Burschen, die nicht mehr, wie wir beide, den Kalk zu seinem Gemäuer mit unserem Blut anrührten. Auch sie haben in sich den welschen Teufel überwunden und beten zu einem deutschen Gott!“
Christian Ellerbrook hielt inne. Eine Rotte Jünglinge kam vom „Rautenkranz“ her, langhaarig, kahlhalsig, in grauen Jacken und Hosen von ungebleichtem Drillich, so, wie sie bisher auf dem Markt den Nachmittag über die Kippe und die Wippe und das Nest gezeigt hatten.
Affenartig flink sprang ihr Führer ihnen voraus über den Rinnstein. Er war ein kleiner, schmächtiger Mensch mit einer Stupsnase in dem bartlosen, humoristischen, beweglichen Gesicht.
„Was in dem Bündel ist, das wir unterm Arm schleppen, Bruder Ellerbrook?“ sprach er lächelnd: „Makulatur! Fünf Ries Makulatur, so wahr ich Fritze Schellhase heisse. Alte Predigten, Ritterromane — eben für zehn gute Iroschen vom Buchhändler Bärecke gekauft!“
„Und was wollt Ihr mit dem Zeug?“
„Ihr werdet’s ja sehen! Heute Abend noch! Es gilt unserem Feind, dieser vielköpfigen Otter! Gott segne den König und mehre die Deutschheit!“
Der Berliner lief geschäftig mit den Seinen weiter. Der Jenenser schaute ihm nach.
„Das sind Jünger der ars tornaria — die Massmannschen Turner an der Spree, Freund Helmich“, sagte er. „Dort lebt ein verwegener Menschenschlag beisammen. Hat schon Euer Geheimrat gesagt . . .“
Und in einem plötzlichen neuen Aufleuchten der dunklen Augen sich zu dem Freund wendend:
„Der Herr Minister von Goethe hat es seinem Sohn verboten, wider den korsischen Höllensohn zu fechten. Wir lagen für Vater und Sohn draussen auf der Beimacht. Unsre Verehrung für den grossen Mann ist darum nicht minder, auch da, wo wir seinen Wegen nicht folgen können. Aber sage ihm — Du bist ja durch Deinen Vater des Zutritts bei ihm gewürdigt — sage Seiner Excellenz: In uns Burschen ist eine grosse Liebe. Die kommt nicht vom Weibe. Die kommt von Deutschland und die heisst Deutschland!“
Es war kühl geworden. Der Oktoberabend dämmerte. Durch die Massen auf dem Markt lief ein Brausen. Fern auf einer grossen kahlen Bergkuppe ob der Stadt, gegenüber der Höhe der Wartburg, erglomm eine Reihe von feurigen Punkten und wurden zu lodernden Zungen. Unten auf dem Platz flackerten Hunderte von Pechflammen auf. Jeder Bursche nahm seinen Feuerbrand zur Hand. Je zu zweit geordnet wand sich in unabsehbaren Windungen die glühende Schlange des Fackelzugs zu den achtzehn nebeneinander zum Nachthimmel schlagenden Freudenfeuern empor, die auf den Höhen des Wartenbergs zum Gedächtnis der Völkerschlacht lohten.
Die Flammentürme flackerten hin und her. Sie sprühten Funken. Sie überglühten in wechselndem Licht die Tausende von Burschen, Landsturmmännern, Professoren, Bürgern, die sich um sie scharten. In brausenden Stössen fegte der Nachtwind über die kahle Hochfläche. Christian Ellerbrook breitete die Arme aus und bot die Brust dem kalten Flügelschlag der Luft. Begeistert klang seine Stimme mit in dem Jubelgesang um ihn her:
„Die Feuer sind entglommen
auf Bergen nah und fern!
Ha — Windsbraut — sei willkommen!
Willkommen, Sturm des Herrn!“
„Die Zeit ist gekommen, wo sich niemand entschuldigen muss, wenn er vom Heiligen und Wahren spricht! Wir geloben, eines hoffenden Volkes Lehrer, Verwalter seiner heiligen Sache zu sein! So wollen wir denn tun, was bei uns steht! Du aber wirft es gut verwalten, Du über den Gestirnen!“
Die Worte des Redners verhallten in Sturm und Flammen und Nacht. Und Christian Ellerbrook rief lachend: „Burschen! Das ist wie im Felde! Rings Beiwachtfeuer und Gruppen gelagert und Becher in der Runde und Gesang!“
Um ihn waren die Schwarzröcke. Wo er ging und stand, war um ihn, den Führer, der Kometenschweif von Freunden und Brüdern. Nicht nur Jenenser. Sein Ruf ging über alle Hochschulen, durch die ganze deutsche Burschenschaft. Er erhob sich aus seiner Ruhestellung und überschaute lang und straff, wie einst als Schwarzer Jäger, die nächtige Fläche.
„Es ist wie ein Biwak vor Morgengrauen!“ sagte er. „Die Lagerfeuer verlöschen. Es wird kalt. Der Wartenberg hat sich geleert. Die meisten sind schon wieder hinunter in die Stadt. Die Professoren alle. Ich denke, auch wir gehen heim!“
„Aber dort drüben kommt ein ganzer Haufen jetzt erst aus der Dunkelheit angerückt!“
„Da ist doch der Schellhase dabei — der Berliner — und die Massmannschen Turner!“ Der Studiosus Ellerbrook schützte die Augen mit der Hand gegen den Glast eines plötzlich wieder hochflammenden Scheiterhaufens. „Da verbrennen sie doch die Makulatur, mit der sie sich heute nachmittag geschleppt haben!“
„Es ist keine Makulatur, Bruder Ellerbrook“, rief der kleine Berliner dem Heraneilenden zu. „Es ist ein Sinnbild für die Erbärmlichkeit Teutschlands!“ Er warf an einer Heugabel einen verschnürten Papierstoss in die Flammen. Rings lohte und prasselte es von verflackernden Druckbogen. „Sieh, Bruder: Auf jedem Packen steht mit fernscheinenden Buchstaben auf schwarzem Zettel der Name des Verdammten! Wir überliefern alle undeutschen Bücher der verzehrenden Flamme!“
„Vergehe, Saul Ascher, und Dein Schandwerk ‚Germanomanie‘.“ Das Feuer lohte im Wurf des Papierballens.
„Verende, Wadzek und Scherer — ihr Neidlinge der edlen Turnkunst!“ schrie Fritze Schellhase. Ein Triumphgesang hinterher: „Nicht zecken und nicht scheeren — soll uns ein fauler Bauch!“
„Nieder mit Ancillon, dem preussischen Halbfranzosen!“ Von allen Seiten strömten die Burschen herbei. Höher schlugen die Flammen. Christian Ellerbrook drängte sich mit Rippenstössen in die vorderste Reihe.
„Her mit undeutschem Geschreibsel!“ schrie er begeistert. Ein flüchtiger Blick auf den Leuchtzettel: „Von Kamptz, Codex der Gensdarmerie!“ Ein Handschwung nach dem Feuerzauber.
„Kosegartens Festrede zum Napoleonstag!“ Verklärte junge Gesichter im weissleuchtenden Flammenschein. „Wehe dem Wicht, der redekünstlich den Zwingherrn abgöttisch verehrt!“
„Der Code Napoleon! . . . Schmach, ihr Brüder: Welsche Gatzungen am deutschen Rhein!“
„Der Schmalz! . . . Der Schmalzgesell. Wider den redlich strebenden deutschen Tugendbund!“ Und wieder der Chor: „Gänse-, Schwein- und Hundeschmalz — aber alles ohne Salz!“
„Reinhard! Wider Bundesstände und gelobte Freiheit!“ Der wilde Ellerbrook schwenkte mit weissrollenden Augen ein Paket Druckbogen. „Der Gesell muss brühwarm gepfeffert und gesalzen werden!“
„Fahr’ hin, du böser Feind und Widersacher der edlen Jugendfreiheit!“
„Nun aber der Beelzebub selber — der Kotzebue, der Russenknecht, und seine Geschichte des deutschen Reiches!“. Eine Mistgabel mit Makulatur reckte sich über den Flammen. „Soll er ins Feuer?“
„Ins Feuer!“ Ein hundertstimmiger Aufschrei. „Ins Feuer!“
„Ins Feuer mit allen undeutschen Büchern!“ Flammenüberflackert stand Christian Ellerbrook da, breitbeinig, das Burschenbarett in erhobener Rechten. Die weissschwarzen Federn flatterten, die langen dunklen Haare wehten ihm um den erhitzten, bronzebraunen, jungen Römerkopf vom Rhein. Die Feuerzungen bäumten sich in sprühendem Funkenregen und überhuschten mit purpurnem Lichtspiel seine gläubig-verklärten, in diesem Augenblick jünglingsschönen Züge. Dann lachte auf ihnen plötzlich, mit zwei weissen Zahnreihen, ein weltliches Kraftburschentum des Erkennens. Er breitete die Arme aus.
„Til! . . . Kerlchen — bist Du’s bei Gott?“
Um den lohenden Scheiterhaufen herum trat aus den bläulichen Rauchwirbeln ein kleiner, schmächtiger Geselle. Er trug die schwarze Burschentracht. Die Strähne hingen ihm um das spitze, abenteuerlichunruhige Gesicht, mit den schmalen Wangen und den wilden grauen Augen. Der Studiosus Ellerbrook zog ihn stürmisch an sich.
„Das ist der Til Gustapfel! Unser kleiner Trommler vom Lützowschen Corps. Er war zu schwach, den Flamberg zu schwingen. Aber allen voraus Sturmschlagen — das konnt’ er! An dem blutigen Abend bei Kitzen — da hat er uns versprengten Jägern mit seinem Getrommel noch den Ausweg zwischen den Hausgärten rechts von der Strasse gewiesen. Brüderchen — warum sieht man Dich erst jetzt? Die Feuer brennen schon nieder! Der Berg liegt schon fast verödet!“
„Ich konnte erst heute früh mit der zweiten Bei-Chaise aus Leipzig weg!“ sagte der kleine blasse Trommler von Kitzen. „Ich brauchte erst einen Reise-Permess, um es mit meinen Gönnern nicht zu verderben. Ich habe doch eine Freistube im Alten Paulinum und einen Freitisch im Konvikt. Ich habe nichts als das königliche Stipendium von dreissig Talern im Jahr!“
„Und was traktierst Du da in der Finkenburg, Bruder Till?“
„Weltliches und kirchliches Recht! Mein seliger Vater war doch Hof- und Justizienrat. Vielleicht bringe ich es auch einmal zum Geheimen Cabinetts-Sekretarius. Das ist der Traum meiner Mutter! Aber höre, Christian! Lass Dich warnen!“ Der kleine Leipziger fasste den langen Waffenbruder von einst am Arm und führte ihn ein paar Schritte beiseite. „Drüben, hinter unserm Scheiterhaufen der Gerechten, siedet die Hölle! Dort sitzt der Gottseibeiuns selber im Gras!“
„Wie schaut er aus?“
„Der Bösewicht ist ein Kerl in den Dreissig. Er trägt einen dunklen Radmantel und einen schwarzgeschweiften Schifferhut. Er vermerkt sich beim Feuerschein jeden Feuerspruch, den Ihr hier den Schmalzgesellen verkündet, in seine Schreibtafel!“
„Hört, Ihr Burschen!“ sprach Christian Ellerbrook halblaut zu den letzten Gruppen von Studenten, die sich um ihn drängten. Denn die meisten stiegen schon mit Gesang von der dunklen, mit verflackernden Feuern leer im Nachtsturm verschwimmenden Bergfläche zu Tal. „Der Zwingherr der Hölle, der diabolus antiburschicus, hat seinen Flügelmann zu unserer Weihestunde entsandt. Hinter uns hockt ein Spitzel! Lasst mich allein mit dem Gesellen verhandeln!“
Mit langwiegenden Katzenschritten kreiste der Jenenser so eng um das Rauchgewirbel und Feuergeprassel, dass die Funken der verbrannten Schriften wie Glühwürmchen um seinen Schwarzrock stoben.
Drüben war der dämmernde Heideboden leer, schattenhaft wandelte schon ziemlich fern eine Gestalt dem jenseitigen Berghang zu. Sie verlor sich schon fast in der schützenden Nacht. Sie glich, in der dunklen Kleidung, mit dem langgeschweiften Hut, einem Landgeistlichen.
„Ha — Du! Kandidat des Teufels! Hofpfaffe der Hölle!“ Lange Sprünge des Studiosus Ellerbrook. „Steh’, Du Kreatur! . . . Glaubst Du, ich erkenne Dich nicht, Du Hofnarr von Lichtenhain? Heraus mit dem Judaszettel, den Du vollgeschrieben hast, wenn Dir Dein Leben lieb ist!“
Der abgedankte hochgräfliche Hofmeister Paulus Mummenthey drehte sich um. Die schlaffen, liederlich-wehmütigen Züge des verbummelten Kandidaten der Gottesgelahrtheit verkrampften sich im Zwielicht. Er fingerte rasch in seiner Manteltasche. Es kam kein weisses Blatt da heraus. Ein kurzer, dunkler Lauf.
„Lass Dein Pistolet im Sack! Nicht? Da!“
Schneller als der unbehilfliche, gewesene Theologe unter dem schwarzen Mantelfragen seine Waffe heben konnte, fuhr drüben in geübter Abwehr der Dolch mit Elfenbeingriff und silbernem Totenschädel aus der Scheide, gegen die pistolebewehrte Faust drüben. Die liess im Schreck die Waffe fallen und zuckte zurück. Der Stoss fegte über sie hin in die leere Luft. Er glitt in blinder Wucht weiter als Christian Ellerbrook wollte, durch den dicken Mantel in den Körper drüben.
Der Kandidat Mummenthey stiess einen weinerlichen Schrei aus wie ein getroffener Hase. Er fiel auf den Rücken und zappelte krampfhaft mit den Beinen. Der andere stand verstört vor ihm. Er rührte sich ein paar Sekunden nicht. Er fuhr sich nur mit der Hand über die Stirne, als wollte er sich aus einem dummen Traum aufwecken. Dann drehte er sich um und rannte in langen Sätzen über die Hochfläche zurück, an den letzten paar Schattenrissen von Burschen fern vor dem letzten Flammenschein vorbei, das Gänsetal hinab nach Weimar.
Ein paar Männer in flachen, breitkrämpigen Hüten, langen blauen Leinenhemden, gelben Kniehosen und Halbstiefeln kamen ihm entgegen. Bauern aus der Umgegend. Er schrie ihnen im Vorüberrennen zu: „Schaut nach dem Kerl, der verwundet oben auf dem Wartenberg liegt!“ und lief weiter.
Der Marktplatz von Eisenach war noch hell. Zwischen Kirche und Gasthof stand die Burschengemeinschaft in Gruppen. Aus ihnen eilte der Weimarer Assessor Karl von Helmich in seinen dunkelblauen Übermantel gewickelt auf den Studiosus Ellerbrook zu. Er schüttelte halblachend den weltmännisch-klugen, menschenkundigen Kopf unter dem steifen schwarzen Rundhut.
„Was habt Ihr denn noch alles da oben verbrannt, Ihr jungen Weltverbesserer? Das stand doch nicht im Programm! Es hat ja nichts weiter auf sich! Aber seht, dass nicht zuviel Staub aus den Perücken fliegt!“
„Es ist mehr geschehen, Bruder!“ sprach der schwarze Studiosus. Der andere hörte hilfsbereit zu. Als jener schloss: „Der schiefe Kerl hatte sich Courage angesoffen! Sonst hätte er’s nie gegen mich gewagt!“ forschte er: „Tot ist der Theologus nicht?“
„Nein. Ich habe es deutlich gefühlt: Mein Dolch glitt, nachdem er Mantel, Frack und Gilet zerschnitten hatte, an etwas Festem ab — vielleicht an einer Rippe — und fuhr nach links ins Leere. Dieser Schuft, Bruder, ist nur blessiert. Vielleicht schwer, ich muss aus Weimarschen Landen flüchten.“
„Das wäre das Dümmste!“ sagte der Hofmann. „Dann sind die geheimen Auftraggeber des Spitzels Mummenthey gegen Dich Meister! Im Gegenteil: Du muss sofort nach Weimar und dort selber melden, dass Du irgendeinem Kerl, der seine Fauströhre gegen Dich zückte, in Notwehr einen Denkzettel gegeben hast. Alter Waffenbruder — die beste Deckung für uns Reitersleute ist doch ein rechter Schwadronshieb!“
„Aber wer von den grossen Herren in Weimar lässt einen ehrlichen Jenenser Burschen ohne weiteres vor sich? Ich werd’ im Vorgemach heimgelöffelt, Bruder!“
„Ich amtiere doch selbst im Ministerium und habe das Ohr des Herrn Ministers von Fritsch. Sein humaner und poetisch veranlagter Geist ist aller Billigkeit zugänglich. Wir werden Dich schon herauspochen, Freund! Hast Du ein Pferd da? Eure Jenaer Philisterpferde taugen kaum für den Schinder!“
„Ich reite noch den besten aus Jungfer Saupens Marstall!“
„Dann wollen wir gleich selber aufzäumen und ohne Zeitversäumnis abreiten. Es sind neun Meilen, Bruder! Wir dürfen uns dazu halten, dass wir morgen zur Kirchenzeit in Weimar sind . . .“
„. . . ehe dort der Universitäts-Aktuarius von Jena seinen Bericht einschickt!“
„Grüsse Jungfer Saupen in Jena von mir.“ Der Assessor von Helmich stieg auf dem Markt in Weimar steifbeinig aus dem Sattel. „Und sie soll dem Klepper, den sie Dir vermietet hat, künftig das Gnadenbrot geben! Wir sind die Nacht durch gekrochen wie die Schnecken. Es nimmt mich Wunder, dass uns nicht der Jenaer Postwagen unterwegs überholt hat!“
„Immerhin: Wir sind vor Protokoll und Siegellack und Streusand an Ort und Stelle!“
„Und Du trittst am besten gleich hier im ‚Erbprinz‘ ab, bis es an dem ist, Dich hohen Ortes zu präsentieren!“
Aus seinem Gasthofstübchen schaute Christian Ellerbrook auf das feine Regengeriesel hinaus. Die Dachspeier des Cranachhauses drüben trieften. Um den Neptun auf dem Marktbrunnen schützten mächtige Regendächer die schwarzbebänderten, hohen Federhauben der Bäuerinnen und ihre Körbe voll roter Äpfel und weisser Eier. Der Assessor von Helmich ging unruhig die sandgescheuerten, knarrenden Dielen auf und nieder. Er blieb sinnend stehen.
„Um die Zeit zu kürzen, Bruder, will ich Dir ein Geständnis ablegen! Ich hätte es gestern schon getan! Aber im lauten Burschentrubel war dazu nicht der Ort! Wisse denn: Ich bin so gut wie versprochen! Mit dem himmlischsten Mädchen, das die Erde trägt! Friderique heisst die Göttliche!“
„Ich danke Dir für Deinen Händedruck, Christian!“ fuhr er fort. „Ich weiss, er kommt vom Freund zum Freund! Und eben als Freier kann ich mich Dir als Freund erweisen: der Vater meines Mädchens lebt hier als Major im Ruhestand der grünen Grossherzoglichen Husaren, die Ihr in Jena respektlos die Laubfrösche nennt! Er ist ein eifriger Kunstfreund und Kunstsammler und hat als solcher Zutritt zu dem grossen Mann, zu dem Herrn von Goethe selber. Da wäre für Dich als Lesstes, wenn alle Stricke reissen, die Fürsprache Seiner Excellenz!“ Er unterbrach sich. „Habe ich’s nicht gesagt: Gleich hinter uns kommt doch schon die Hauptkutsche aus Jena an! Da hält der Postwagen vor dem Stadthaus!“
„Und wer steigt da aus?“ schrie der Studiosus Ellerbrook durch das Schmettern des Posthorns und deutete auf das Gervirr von Menschen, Koffern, Gäulen um den gelben Kasten. „Da — zwischen den Philistern der fahle, übernächtige Mensch im Radmantel und Schifferhut . . .“
„Das ist . . .“
„Das ist des Teufels Kandidat! Das ist der Mummenthey! So was backt der Böse nicht zweimal! Er lebt! Er lebt!“
„Sei froh!“
„Er ist auch nicht blessiert! Der Saufbruder kann heren! Na warte!“
„Halt! . . . Halt! . . . Wohin?“ Der Herr von Helmich hielt von rückwärts mit beiden Armen den Jenenser auf seinem Sprung nach der Türe umschlungen.
„Lass mich! Ich muss hinunter! Der Verräter hat ja den Zettel mit unseren Feuersprüchen von gestern Abend bei sich — mit unsern Namen.“ Christian Ellerbrook rang ungebärdig mit dem Freund. „Er soll ihn herausgeben oder verrecken . . .“
„Du bleibst hier in der Stube!“ Der von Helmich und der Jenenser taumelten atemlos im Ringkampf über die Diele. Ein Blick des Assessors dabei durchs Fenster: „Gott sei Dank! Da steigt der Kerl über den Marktplatz!“
„Er biegt um die Ecke!“ stöhnte Christian Ellerbrook und setzte sich dumpf und erschöpft auf die Bettstelle. „Nun ist der Schelm einem ehrlichen Burschen wie mir wieder entronnen!“
„Um so besser! Mit desto reinerem Gewissen kann ich Dich jetzt, nachdem ich meinen vorläufigen Bericht über das Wartburgfest im Ministerium abgelegt habe, Friderique präsentieren.“ Der Assessor lugte nach der Windischen Gasse hinüber. „Aber sei vor diesem verloffenen und versoffenen Theologus auf der Hut! Seine Wegrichtung ist verdächtig. Ich kann mir schon denken, bei wem der Judas mit seinen Waren hökern wird! Wir Weimarer haben wie die Trojaner den Feind in den Mauern!“
An einem vornehmen Bürgerhaus der Altstadt zog der Kandidat Mummenthey die Klingel. Ein Diener machte auf, nickte ihm zu und öffnete ihm schweigend die Türe zu einem weiten Wohnraum. In ihm sass ein mittelgrosser Mann am Schreibtisch, über Papierblätter gebeugt. Beim Knarren der Angel liess er den Gänsekiel sinken und wandte sich nervös um. Dichtes fahles Haar eines hohen Fünfzigers krauste sich ihm über dem bartlosen, weichlichen und schalkhaften Faunsgesicht, dem die dunklen Augen doch einen bedeutenden, weltkundigen Ausdruck gaben. Eine Art von Schwermut in ihnen widersprach dem geniesserischen Leichtsinn auf den sinnlich geformten Lippen und die noch vom Schreiben her frivol zuckenden Mundwinkel.
„Ich habe meinen täglichen Druckbogen vor dem Frühstück noch nicht fertig!“ sprach er mit hoher Stimme zu dem Diener. „Warum störst Du mich?“ Jetzt erst erkannte er den Besucher und erhob sich. Er trug unter einem vorn offenen, bis zur halben Wade reichenden Schlafrock eine schwarzseidene Weste und lange dunkle Hosen. Zwischen hohen, weissen, spiss zulaufenden Vatermördern richtete sich sein Blick neugierig auf den Kandidaten. Ein Wink an den Diener, das Zimmer zu verlassen. Ein Lächeln:
„Nun — wie war es mit den jungen Jakobinern auf der Wartburg?“
„Ach — Herr Staatsrat . . .“ Der Kandidat Mummenthey sank auf einen Sessel. Der andere trat belustigt näher.
„Tränen, mein Bester . . .?“
„Ach, Herr von Kotzebue! Ich bin ein unwürdiges Subjekt!“
„Nun — was macht denn das?“
„Mein Herz steht allem Hohen und Heiligen offen!“ heulte der Kandidat.
Der Weimarer Bürgersohn und Kaiserlich russische Legationsrat August von Kotzebue lächelte nachsichtig:
„Dafür apanagiere ich Sie nicht!“
„Ich weiss, ich gelte für einen geschickteren Säufer als Patrioten. Aber die Weihestunden gestern auf der Wartburg haben mich ins Tiefste erschüttert. Unter Zähren gelobte ich mir, künftig Teutschland zu dienen!“
Kotzebue schaute mit einem interessierten Ausdruck des Komödiendichters auf den reuigen Mann, so als spielte ihm der eine wirksame Bühnenszene vor.
„Weiter, mein Allerbester!“
„Am Nachmittag . . .“ Ein ersticktes Schluchzen, „kam bei mir die Wahrheit in der Tiefe der Flasche! Ich bekam Mut! Ich steckte eine Pistole zu mir. Ich schlich mich im Dunkel zu den Scheiterhaufen auf der Wartburg. Hier die Liste der Schriften, die öffentlich verbrannt wurden — auch von Ihnen, Herr Staatsrat, mit dem Wolfsgeheul: Wehe über Kotzebue, den arglistigen Erzknecht! . . . den grausamen Verräter!“
„Ah — sehr gut!“ Der Agent des Zaren nahm geschäftig das Blatt an sich und legte es auf den Schreibtisch.
„Ich wurde entdeckt und verfolgt!“ stöhnte der Kandidat Mummenthey. „Einer der Wildesten von Jena — und das will etwas heissen — zielte mit dem blanken Dolch nach meinem Herzen! Gottlob: Ich war durch Ihre hohen Verbindungen in Esthland, Herr Staatsrat, ein Jahr dort Hauslehrer und habe mir ein Koller aus gegerbtem Elenfell mitgebracht, wie man es in jenem Lande trägt. Dies Leder fängt jeden Stoss auf. Ich hatte es der Herbstkälte wegen untergezogen. Es hat mir das Leben gerettet!“
„Kennen Sie den jungen Ideologen, der sich so unschicklich an Ihnen vergriff?“
„Ich werde ihn dem Herrn Staatsrat in persona hiesigen Orts weisen können, denn der Monsieur ist noch vor mir heute Nacht mit einem Freund nach Weimar durchgeritten. Der Postmeister in Erfurt, der ihn kennt, hat es mir berichtet. . . .“ Ein tränenreicher Augenaufschlag. „Wie ist es mit meinem Schmerzensgeld, Herr Staatsrat?“
Als der Kandidat Mummenthey eine Viertelstunde später das Haus des Dichters Kotzebue verliess, hatte er noch feuchte Augen der Zerknirschung, aber er trällerte schon wieder liederlich vor sich hin und klingelte, auf dem Weg zu Kneipe, im Hosensack mit dem Schock harter Taler, in die sich in deutschen Landen die rollenden Rubel des Zaren gewandelt hatten.
Und drinnen schritt der Staatsrat von Kotzebue in wehendem Schlafrock auf und nieder und diktierte seinem Schreiber den eiligen Geheimbericht nach Petersburg.
„Particulièrement c’est un nommé Chrétien Ellerbrook . . .“ Er unterbrach sich. „Wenn Sie mit dem Französischen nicht so rasch ins Reine kommen, so übersetzen Sie es nachher!“ Er fuhr auf deutsch fort: „Unter den verführten Jünglingen ist vorzüglich ein gewisser Christian Ellerbrook, ehedem kurfürstlich kölnischer Untertan und schon als ehemaliger Lützower einer üblen Gesinnung verdächtig, um so eher zu nennen, als er in dem berüchtigten Jena, diesem Schlupfwinkel aller freiheitlichen Verworfenheit, studiert und sich zum Überfluss nicht entblödet, zur Zeit, in der ich dies schreibe, unmittelbar nach den politischen Saturnalien auf der Wartburg, herausfordernd das Weimarer Pflaster zu treten. Auf sotanen Ellerbrook wäre, nach meinem untertänigsten Ermessen, ungesäumt von Petersburg aus die Aufmerksamkeit einer hohen österreichischen und preussischen Central-Polizeibehörde zu lenken!“
Der Studiosus Ellerbrook wanderte inzwischen an der Seite seines Freundes Helmich in seiner verwegenen schwarzen Burschentracht mit blossem Hals und langen Haaren über weissem Umlegekragen durch die Gassen von Weimar dem Graben zu. Er schwenkte das Samtbarett mit den schwarzweissen wehenden Federn und begrüsste mit einem: „Heil, Ihr Burschinnen!“ die kichernden Bürgermädel. Er runzelte grimmig die Stirne.
„Bruder: dort kommt ein Schnürling in polnischem Rock nach welscher Mode und einem schwarzen Seidenlappen um den Hals. Ich will über die Strasse und den Gecken fragen, ob er ein Deutscher ist!“
„Du wirst hier keine Händel mit der Noblesse anfangen.“ Der Assessor und Kammerjunker zog den Widerstrebenden weiter. Christian Ellerbrook sang laut und wohltönend zu den alten Bürgerhäusern empor:
„Türme und Stürme sind wir, die Zügel und Flügel!“ . . .
„Still!“
„Es ist ein altes Vorrecht der Jenenser Burschen, mit Gesang in Weimar einzuziehen!“
„Du bist aber schon in Weimar!“ Der Assessor blieb vor einem schmalen, hochgiebligen Bürgerhaus stehen. „Wir sind am Ziel. Hier wohnt die Göttliche. Zusammen mit ihrem verwitweten Vater! Poltere vor ihm nicht, wie Ihr es pflegt, gegen Gamaschendienst und Korporalstock. Der Herr von Laubisch ist, bei aller Liberalität seines Kunstsinns, ein abgedankter Major.“ Er trat mit dem Freund ins Haus. „Ich höre Stimmen aus dem blauen Salon. Es ist schöne Welt um sie. Wir wollen sie überraschen!“ Er blieb stehen und wies verklärt durch die offene Flügeltüre —: „Da sieh!“
Es war ein halbrunder, blaugetünchter Raum, dessen hohe Fenster sich auf den herbstbunten Garten und das weithin dahinter gewellte, regengraue Thüringer Land öffneten. Sparsam und steif die weissgoldenen Empiremöbel längs der schwarzen Scherenschnitte an den Wänden. Ein halbes Dutzend junger Damen sass da beisammen, hochgegürtet, in duftig wallenden dünnen Gewändern, den Blumenaufputz der grossen Schutenhüte über Stickrahmen und Häkeleien gebeugt.
Ein junges Mädchen las mit sanfter und seelenvoller Stimme aus einem goldbepressten roten Saffianbändchen vor. Sie war die einzige, die nicht, wie ihre zu Besuch gekommenen Freundinnen, im Hut war, sondern als Haustochter unter einem weissen Spitzenhäubchen wirre braune Locken sich um die weichen, einem Pastell des achtzehnten Jahrhunderts gleichenden Züge ringeln liess. Zart und mittelgross trug sie ein mit roten Rosen und grünen Blättern besticktes weisses Empirekleid nach Wiener Mode mit fünffach gepufften Ärmeln und Rosen in dem vorn gelockten und nach hinten griechisch geknoteten Haar. Die weissbestrumpften, in gemsenfarbenen, absatzlosen Bänderschuhen steckenden schmalen Füsse waren in bewusster, plastischer Anmut gekreuzt, während sie leise las.
„Euch drückte schwer das heimatliche Land.
Ihr trugt’s nicht mehr. Drum wandertet Ihr aus!“
„Das ist sie, Christian“, flüsterte der Weimarer Kammerjunker verklärt. „Urteile selbst, Bruder: Ein monniges Kind!“
„Verklärtes Blau! O hoffnungsgrüne Flut!
Die Wunde heilt und alles wird nun gut!“
Die feine Mädchenstimme schwang in Schmerz:
„Das Schiff auf Klippen treibt, dass es zerschellt!
Die Todesangst erfasst die eben Frohen —
Sei, Himmel, Du beseligend ihr Ziel,
Sie, deren Herz gestrandet wie ihr Kiel!“
Die schöne Friderique von Laubisch schloss ergriffen. Sie hob den kindlichen Kopf. Der braune Augenaufschlag war feucht, mit dem sie dem Fremdling eine kleine, klassisch geformte Hand hinstreckte.
„Nun — was sagen Sie, als Neuling in unserem Kränzchen, zu diesem Poem, Herr Studiosus?“
„Den Leuten geschieht es recht, dass sie ertrunken sind!“ Der Schwarzrock liess sich gestiefelt und gespornt, mit gefährlich funkelnden dunklen Augen auf einem Taburett nieder. „Warum haben sie ihr Vaterland verlassen wollen?“
„Um Gottes willen!“ Friderique von Laubisch fuhr ungläubig erschrocken zurück.
„Er kommt aus Jena!“ warnte ihr Verlobter.
„Doch dies erklärt nicht die Rauheit Ihres Urteils, mein Herr!“
„Nicht ich urteile, Demoiselle! Unser herrlicher, verklärter Fichte urteilt. „Der Begriff, in welchem der Mensch sein Leben als ein Ewiges erfasst’, hat er der deutschen Nation zugerufen, ‚ist seine Liebe zu seinem Volk! Liebe, die wahrhaftige Liebe sei!‘“
„Hier handelt es sich um eine höhere Geistigkeit, mein Herr!“
„Es gibt nichts Höheres, Demoiselle! ‚Volk und Vaterland, als Unterpfand der irdischen Ewigkeit, liegt weit über alles hinaus‘ hat uns Fichte vor vier Jahren gelehrt, ehe wir in den heiligen Krieg zogen. Dafür ist er selber gestorben. Dafür sind, an meiner Seite, unser Körner, unser Friesen gefallen. Und Schill. Und Scharnhorst. Aber ihre Heldenseelen leben!“
„Mein Gott: Man könnte sich ja vor Ihnen fürchten!“ Ein blondes junges Mädchen sprang kichernd auf und schnappte mitten im Wort ab, bei dem schneidenden Klang drüben:
„Lachen Sie nicht, Demoiselle, über feierliche Dinge. Wer vom Vaterland spricht, dem ziemt Ehrfurcht und Ernst!“
Donnere meine Schwester nicht so grimmig an, Christian!“ sagte der Assessor von Helmich. „Die Theora ist ja ganz blass geworden! Die Damen sind diesen rauhen Burschenton nicht gewöhnt!“ Er wandte sich, selbst doch wieder halb lachend, zu den andern Fräulein. „Das sind die Wilden von Jena! Und dabei sind sie dort noch zahm gegen die Haarscharfen in Giessen!“
„Wir sind schöne Geister, mein Herr!“ Das feine Antlitz der braungelockten Friderique war so gekränkt und erbittert, als seine gefühlvolle Weichheit es zuliess. Der ehemalige schwarze Lützower Jäger wandte ihr seine gebräunten Züge zu. Seine dunklen Augen blitzten über dem dunklen Schnurrbart.
„Wir wollen deutsche Geister und Leiber sein, Demoiselle — Mann und Weib — und ein neues starkes Geschlecht in die Zukunft fortpflanzen!“ Er schaute sich freimütig, die weissen Zähne zeigend, im Kreise um. „Dazu helfe uns Gott!“
Die Damen schauten betreten zu Boden. Nur das Fräulein von Laubisch warf den tränenschweren braunen Ringelkopf in den Nacken.
„Wir sind hier Weltbürger, mein Herr Studiosus aus Jena!“
Der blaue Rundraumn hallte von einem heissblütigen Lachen des Zorns.
„Dies teutsche Bunt hier, in dem ein Maikäfer in fünf Minuten auf der Landkarte fünf Fürstentümer bekleckert — das ist für Euch, auf zehn Postkutschenmeilen in der Runde, die Welt! . . . Fahnenflüchtlinge seid Ihr aus der deutschen Welt! Lieber will ich Jena in Asche verkehren, als mit Euch in Weimar hausen!“
„Oh, welch ein Blauermontags-Ton“, wandte sich Friderique in bangem Kummer zu den Freundinnen.
„Weltbürger!“ rief hochaufgerichtet, breitbeinig dastehend mit flammenden Augen der Student aus Jena. „Wir — der Bruder Helmich da und ich — wir sind Weltkrieger! Wir haben die Welt in Wahrheit gesehen — aber die Welt in Waffen! Und über ihr das apokalyptische Tier, das Korsica ausspie! Wir deutschen Jünglinge haben den Drachen vom güldenen Stuhl gestürzt! Soll ich meinen heiligen Schwarzrock aufreissen und Euch meine Narben zeigen?“
Die Damen erschraken noch mehr. Das Fräulein von Helmich legte in einem leisen Schauer die Hand vor die Augen. Friderique, die Haustochter, lief auf einen alten Herrn zu, der durch die Seitentür eingetreten war. Er trug einen grauen Knebelbart in dem feinsinnigen, verwitterten Gesicht. Seine straffe Haltung verriet auch in dem bräunlichen, auf Pikeschenart mit Quasten verschnürten Oberrock den alten Husaren.
„Vater! Er weiss nicht zu leben!“ wehklagte sie. Und drüben die heisse junge Stimme:
„Aber zu sterben haben wir gewusst — bei Leipzig und Waterloo! Ihr habt’s nicht gehört, das Brausen in unseren Reihen, als drüben die Carré’s der Alten Garde wankten und wir unsere Gäule in den Bajonettwald warfen, Vater Blücher voraus!“
„Bravo!“ schrie der alte Major George von Laubisch und sein künftiger Schwiegersohn, mit einem Blick auf Christian Ellerbrook:
„Er war im Feld ein Gesell, vor dem der Teufel den Schwanz einkniff, ohne Fladduse zu melden!“
„Und was habt Ihr inzwischen hier gemacht?“ sprach der schwarze Student plötzlich unheimlich ruhig. „Ihr habt, wie man uns heimgekehrten Burschen in Jena berichtet hat, Mummenschanz getrieben und Schäferspiele veranstaltet und Scherenbilder geschnitten . . .“
„Vater! Er kränkt mich mit Bedacht!“
„Christian: Die antikischen Silhouetten an den Wänden sind doch von dem Fräulein des Hauses!“
„Die Demoiselle hätte besser Verwundete gepflegt! Aber Eure Ohren waren taub für den Sturm des Herrn! Die zweitausend Kanonen, die bei Leipzig um Deutschlands Freiheit zum Himmel brüllten, die habt Ihr nicht gehört. Doch für das Gegacker eines wälschen Sängers habt Ihr Euch im selben Jahr hier in der Komödie die Hände wund geklatscht!“
„Vater! Er zerstört unsere ganze schöne Welt!“
„Die Franzosen galten Euch wie Deutsche! Ihr habt mit ihnen scharmutziert und getafelt. Euch hat das Herz nicht geblutet, dass unser Vaterland von ihnen ausgesogen und geplündert war — dass Danzig und Hamburg französische Städte waren — dass sie in meiner Vaterstadt, dem heiligen Köln, die Marseillaise gespielt haben und den ganzen deutschen Strom hinauf die von ihnen verbrannten deutschen Burgen stehen. Bis zur Elbe herrschte über deutsche Fürsten der Antichrist. Ihr nahmt ihn für einen gnädigen Herrn! Aber wir deutschen Jünglinge sind ungnädig geworden. Wir wollten nicht länger das Gespött der Völker sein!“
„Es ist nicht die Aufgabe des Frauenzimmers, sich mit Staatsaffairen und Kriegshändeln zu befassen!“ sprach das Fräulein von Laubisch blass und mit schwankender Stimme. Der Student von Jena nickte.
„Gut, Demoiselle! Aber um Deutschland soll sich das deutsche Frauenzimmer sorgen! Habt Ihr Euch je, ausserhalb Eurer schönen Geister, Eurer Brüder und Schwestern im Volk entsonnen? War Euch der Bauer nicht ein Rüpel und der Handwerker ein Tölpel und Ihr wart in Griechenland und im Mond? Das ist bei uns anders. Wir sind im Krieg Bügel an Bügel in der Schwarzen Schar getrabt und haben den Nebenmann nicht gefragt: Bist Du ein Schneidergeselle oder ein Fürstensohn? Uns ist im Frieden jeder Deutsche ein Bruder, wenn er nur ein rechter Deutscher ist. Bei uns in Jena sagt jeder Bursch vom Grafen ab zum andern ‚Du’!“
„Eure Tempel stürzen zusammen!“ sagte der Kammerjunker von Helmich halblachend zu dem Hausherren. Der wandte den knebelbärtigen, durchgeistigten Kopf immer wieder besorgt nach dem offenen Seitenraum, aus dem ein dort neben aufgeblätterten Kupferstichen stehender Besucher ihm nicht über die Schwelle gefolgt war. Man hörte nur ein paarmal von dessen Lippen ein tiefes, unbestimmtes ‚Hm‘!
„Wir haben ihm unser Haus so willfährig geöffnet!“ Friderique schüttelte ihre braunen Locken. Tränen standen in ihren seelenvollen Augen. „Aber der junge Herr hat Manieren an sich, wie sie auf der Hauptwache üblich sind!“
Der Student von Jena sah sie freundlich, fast ermunternd an. „Das ist mein ständiges Missgeschick!“ sagte er. „Wo ich hinkomme, gebe ich den Gerechten und Selbstgerechten Anstoss und muss weiter. Ich kann meine Zunge nicht zähmen. Denn die Zeit spricht mit feurigen Zungen. Gestern Abend sind gegenüber der Wartburg die Feuer zum Himmel geschlagen, und wir Burschen taten Hand in Hand ein heiliges Gelübde zu Deutschlands Ehren!“
„Man hat an hohem Ort schon Rapport von Eurer Ketzerverbrennung erhalten!“ Wieder blickte der Major von Laubisch besorgt nach dem Gast im Nebenzimmer. Jetzt trat jener zu den Herren und Demoisellen in das blaue Gemach. Seine mehr als mittelgrosse, steif aufgerichtete Gestalt war in einen dunkelbraunen zugeknöpften Schossrock gehüllt. Um den Hals schlang sich ein weisses, kreuzweise durch eine goldene Nadel zusammengehaltenes Seidentuch. Darüber ragte das von kurzem weissgrauem Gelöckel bedeckte majestätische Haupt eines angehenden Siebzigers mit schmalen, eingefallenen Lippen und gebieterischer Hakennase. Unter einer mächtigen Stirn brannten zwei schwarze Sonnen von Augen.
Der Gast schritt in steiler Haltung, die Hände auf dem Rücken, durch das Zimmer nach der Flurtüre. Er nickte väterlich den schönen Kindern zu, die, wie ein farbiges Blumenbeet, in einem tiefen, stummen Knicks in sich zusammenblätterten. Im Vorbeigehen ein durchdringender Sonnenblick auf den Studenten von Jena. Noch einmal, in sich hinein, dies seltsame, halb wohlwollende „Hm‘. Dann draussen seine warm klingende, tiefe Stimme zu dem Hausherrn, der ihm ehrerbietig selbst die Türen öffnete.
„Die Gelegenheit des Einblicks in die junge Torheit war nicht so übel! Wenn nur die Alten keine solchen Esel wären! Denn die verderben eigentlich das Spiel! . . . Nun — den Rest der Kupferstiche, mein Bester, durchschauen wir morgen. Die Equipage? Nein — ich gehe zu Fuss.“
Es war, als wandelte der Landesherr selber, gemessen und bedächtig, die Hände immer auf dem Rüden, durch die Gassen von Weimar. Die Bürger dienerten ehrfurchtsvoll in ihren Ladentüren. Die Marktbauern rissen die Kappen vom Kopf. Die Stadtsoldaten standen stramm. Die Beamten nahmen von weitem den Dreispiss vom Kopf. Die Damen neigten zuerst zum Gruss die Blumenschuten. Fremde standen und starrten verklärt, wie im Mekka ihrer Pilgerfahrt angelangt, dem alten Herrn nach, bis Seine Excellenz der Grossherzogliche Staatsminister Freiherr Johann Wolfgang von Goethe auf dem Weg zum Schloss ihren Blicken entschwand.
Aus dem herbstbunten Parklaub des Ilmgeländes wanderte zu gleicher Zeit ein stämmiger mittelgrosser Mann von sechzig Jahren dem hohen, mittelalterlichen Schlossturm zu. Er hatte ein gefurchtes, bartloses Antlitz mit starker Nase, hoher Stirne, eingefallenem, willensfestem Mund mit breiten Kiefern und wuchtigem Doppelkinn. Abgetragen sein kurzer grüner Rock mit der schmal geknüpften, schwarzen Halsbinde und die langen grauen Hosen. Verschossen die preussische Soldatenmüsse auf dem dichten grauen Haar. Er hatte eine Cigarre im Mund. Ein paar mächtige deutsche Rüden sprangen bellend um ihn her. Er glich einem alten Forstmann oder Soldaten. Aber seine grossen Augen schauten seltsam selbstbewusst, innenstark in die Weite und sein Tritt war derb und fest wie bei einem, der über sein eigenes Land schreitet.
Zwanzig Schritte hinter ihm gingen zwei Leibjäger, den Hirschfänger zur Seite. Am Eingangstor des Schlosses erstarrten die wachehaltenden Husaren zu grünen, goldverschnürten Statuen mit präsentiertem, blankem Säbel. Der Landesherr stieg die steinerne Treppe zum zweiten Stock in das Bernhardzimmer empor, wo von der Wand zwischen Waffen des Dreissigjährigen Kriegs das Bildnis seines grossen Vorfahren Bernhard von Weimar auf ihn niederschaute. Ein Hauch von Wald und Feld wehte mit ihm, von feuchten Herbstblättern und in ewiger Urkraft dampfender Erde. Er warf formlos seine preussische Generalsmüsse auf den Tisch.
„Du bist doch ein närrischer Kerl!“ sprach Karl August von Weimar gemütlich zu der feierlichen Verbeugung seines Ministers von Goethe, setzte sich und griff, in der Gewohnheit rastloser Tätigkeit, nach einem Blatt Papier auf dem Tisch. Die kräftige, naturnahe Sinnlichkeit, die auf seinen derben Zügen spielte, verlor sich in das immer noch halb belustigte, halb bedenkliche Kopfschütteln des Landesvaters.
„Eine neue Niederkunft Monsieurs Oken in Jena?“
„Füglich wohl nur Einer der Paten!“ sprach Goethe gemessen. Auch er hatte Platz genommen. Aber er hielt sich kerzengrade, in der Strenge des Staatsdieners aufrecht. „Hier der erste Bericht von dem Wartburgfest gestern Abend!“ Ein leises Behagen. „Die unartigen jungen Leute haben unter anderem die Schriften des Herrn von Kotzebue öffentlich verbrannt!“
„Das gönne ich Deinem Feind!“ Der Grossherzog lachte herzlich und wurde wieder ernst, während er den kurzen Bericht beiseite legte. „Aber die Folgen? Wenn uns nun der Metternich wegen dieser jungen Feuercensoren schnickt? Du hast immer vor diesem Burschenfest gewarnt!“
„Aber nun ist es geschehen, und wir werden uns nun eben wunderlich durchdrücken müssen!“ Ein Lächeln um die Lippen des Olympiers, „Im Prinzip, Revolutionären vorzubeugen, stimme ich ganz mit den Metternichen überein, nur nicht in den Mitteln dazu; die nämlich rufen die Dummheit und die Finsternis zu Hilfe, ich den Verstand und das Licht!“
„Recht, lieber Alter!“
Und plötzlich verjüngten sich Goethes Züge in einer sonnigen Heiterkeit über das Wartburgfest.
„Es ist ein allerliebstes Wesen“, sagte er, „wie die Jugend überhaupt mit allen ihren Fehlern, von denen sie sich zeitig genug verbessert! Aber wir müssen jetzt niederschlagende Pulver anrühren, damit unseren lieben Brauseköpfchen nichts geschieht!“
„Es ist verdriesslich, Kriegsbruder Christian, dass ich Dir nicht vor Deinem Gasthof Adieu bieten kann, wenn Du heute Morgen wieder nach Jena abreisest. Aber es ist eine Session im ersten Departement des Staatsministeriums anberaumt, und ich bin protokollierender Assessor. Kannst Dir schon denken, worum es geht. Eure Burschenfeuer ob Eisenach machen hier uns verantwortlichen Staatsdienern seit Tagen die Köpfe heiss und werden es noch Wochen und Monate lang tun!