Heimliche Ehe - Rudolf Stratz - E-Book

Heimliche Ehe E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Als unverheiratetes Paar in den Dreißigern in Berlin haben Anne und Alfred es nicht einfach. Nur heimlich können sie sich sonntags am Müggelsee treffen. Aber Heiraten geht leider noch nicht. Denn eine gemeinsame Wohnung ist aussichtslos, Anne würde als verheiratete Frau sofort aus der Probezeit ihres Referendariats als Lehrerin entlassen und Alfreds Stelle reicht nicht für beide. Aus einer verrückten Idee heraus beschließen beide, heimlich zu heiraten, mit den Brüdern von Alfred als Trauzeugen. Der Photograph Friedrich schlägt die Bitte seines Bruders nicht ab, aber kann es nicht lassen, über die Ehe als solche zu lästern. Vergnügt lebt er mit seiner Assistentin Linda in einer von ihm so getauften "Kameradschaftsehe". Auch Bruno kommt extra aus Holstein für die Eheschließung angereist. Der moralische Mann findet Friedrichs Einstellung nicht gut. Er weiß noch nicht, dass die Freundin aus Lazarettzeiten, die er zufällig während des kleinen Hochzeitsschmauses wiedersieht, ihm gehörig den Kopf verdrehen wird, obwohl sie verheiratet ist. Nur Schwester Käthe lebt mit dem gutsituierten Otto und Sohn Hermann in glücklicher Ehe. Doch der Schein trügt. Das duldsame Schweigen seiner Frau lässt den lebhaften Geschäftsmann heimlich in die Arme einer Hamburger Witwe mit drei Kindern fliehen. Auch Linda hat längst eine andere Einstellung zur freien Ehe. Und die heimliche Hochzeit bringt Anne und Alfred kein Glück. Ein Roman über die Ehe!-

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Rudolph Stratz

Heimliche Ehe

Saga

Heimliche Ehe

Copyright © 1931, 2018 Rudolf Stratz und SAGA Egmont

All rights reserved

ISBN: 9788711507322

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1

Das Boot, in dem sich Anne und Alfred küssten, schwankte im Wellenschlag eines vorbeifahrenden Dampfers. Querab hinter ihm lief ein Segelboot auf. Der dicke, nackte Herr in roter Schwimmhose darin rief dröhnend :

„Gesegnete Mahlzeit!“

Alfred Giebisch war gross, brietschulterig und hüftschlank gewachsen. Er drehte den krausen, dunklen Rundkopf. Die schwarzen Augen darin waren gefährlich.

„Ich komm’ gleich ’rüber zu Ihnen — in Ihre Mucke=pinne!

„Seien Sie doch nicht so unzart!“ sagte auch Änne sanft. Sie sass jetzt am Steuer — blond, weich, schlank — aufrecht in blauer Bandmütze, weisser Leinenjacke, weissen Hosen, Strohschuhen wie ein Schiffsjunge. Der weisse Nacktfrosch lachte fett. Alfreds bartlose Züge eines braunen, jungen Römers röteten sich vor Zorn. Änne hob die feinen, mageren Hände gefaltet vor die Brust.

„Lass ihn doch, Alf! Es ist ja nur der pure Neid.“

Der Dicke segelte ab. Er spreizte auf dem Rückzug über die Schulter weg fünf dicke, rote Wurstfinger nach hinten.

„An jedem Finger könnt’ ick ein Verhältnis haben, Fräulein!“

Nun waren die beiden wieder allein. Allein auf dem Müggelsee. Überall weisse Segel, menschenschwarze Dampfer, Ruderboote, Motorgeknatter, Musik. Die fernen Ufer Weiss und bunt von Badenden. Blauer Himmel. Sonntagnachmittag. Fern Berlin.

„Berhältnis . .“ sagte Änna nach einer Weile schwermütig.

„Lass doch den Stiesel!“

„. . . wo wir beide uns doch durchaus heiraten wollen! Gott sei Dank bist du darin so furchtbar anständig . . . !“

„Nee — so wie’s die andern machen,“ Alfred Giebisch legte die Beine auf den zweiten Rudersitz und schob sich eine Zigarette zwischen die trotzig und energisch geschmungenen Lippen, „so machen wir’s nicht. Ich will vor meiner künftigen Frau Achtung haben — schon wegen der Kinder!“

„Ich bin darin ja auch so wahnsinnig rückständig!“ sagte Änne. „Man kommt sich ja fast komisch vor heutzutage. Aber ich denke genau so wie du.“

„Augen hast du . . . “Alfred sah sie träumerisch an und liess das Boot treiben, eine Hand im Wasser „. . . so blau wie der Müggelseel“

„Das sagst du jeden Sonntag . . . “

„Und jeden Sonntag kommen wir hier heraus . . . “

„Und kommen nicht weiter!“

Der Nachen näherte sich dem Ufer. Es war voll von Badenden. Geplansche. Gelächter. Gequietsche. Eine Damenstaffel schwamm prustend nach einem Gummitier in den Wellen um die Wette.

„Die im schwarzen Trikötchen macht’s, Änne!“

„Sie krauelt unrein . . . Alf! Das muss ich als Turnlehrerin im Nebenamt wissen!“

„Na und ich? Ab Uhrer viere Leichtathlet . . . “

„Aber verdienen tust du nichts damit!“

„Das ist’s ja eben. Es ist das viele Held, das man nicht hat!“ Alfred warf seine Zigarette ins Wasser. „Grossjährig sind wir. Ich sechsundzwanzig. Du zweiundzwanzig. Aufs Standesamt könnten wir gleich. Der Onkel dort segnet uns ohne viel Umstände.“

„Aber dann?“

„Du wohnst bei deiner Mutter, ich bei meinen Eltern. Woher eine Bleibe kriegen und nicht stehlen!“ Alfred Giebisch legte sich verbissen in die Ruder. „Wohnungsamt! Schwarz kannst du dabei werden! Und wenn mal nach Jahr und Tag, dann ‘ne Wohnküche! Bon Kindern keine Rede!“

„Und wovon die Einrichtung zahlen?“

„Stottern? Schön! Aber wie lange geht dann das noch mit mir bei Strömich und Merz?“ Die Ruderschläge klatschten in das spritzende Wasser. „Ich strampele mir hier als Vertreter die Stiebel schief und mache glänzende Geschäfte! . . . Und in der Fabrik in Sachsen — nu hären Sie . . da schlafen die Kutesten! — da geht alles den Krebsgang. Eines schönen Morgens machen die Dussel hier die Bude zu, und ich bin abgebaut!“

„Und dann?“

„Gott — ’ne Stelle wie die krieg’ ich schliesslich schon wieder! Ich kann ja zusehen! Aber da werden wieder die Kräfte von ’nem Kerl wie mir kaum zu zehn Prozent genutzt. Es ist ja zum Stiefelausziehen: da hat man nun ’nen Schwager, der klotzig verdient — mit ‘nem Riesenwirkungskreis . . . Jeden Augenblick könnte er mich bei sich unterbringen . .“

„Wenn du . . . “

„Nein! Ich gehe nicht zu Herrn Vögeding! Ausserdem gibt er mir ’ne Zigarre und schmeisst mich leutselig ‘raus! Ich kann’s ihm nicht mal verdenken, wenn er’s bis zum Hals hat! Vater und die Brüder haben da schon alles verkorkst, mit ihrem ewigen Gedrängele um Geld! Die empfängt er gar nicht mehr!“

„Ja — und nun erst ich!“ Änne schlug kummervoll mit der Hand nach einer vorbeischillernden Libelle: „Eben erst Studienreferendar . . . auf Probe — da und dort — mal in dem Mädchenlyzeum Germanistik, mal in dem Französisch! Bis zu dem Studienassessor in zwei Jahren krieg’ ich so gut wie nichts!“

„Das einzige, was man erschwingen könnte, wäre ein möbliertes Zimmer mit zwei Betten! Essen im Wirtshaus. Schauderhaft! Aber das tun ja viele junge Ehepaare in unserer herrlichen Gegenwart!“

„Als ob es darauf ankäme —, ob wir als möbliertes Ehepaar in einer Stube oder in ‘ner Kulturwohnung am Kurfürstendamm wohnen! Das eigentliche Unglück ist doch . . . “

„Ach ich Weiss!“

„Sowie ich mich in der Probezeit verheirate, flieg’ ich! Ein für allemal! Meine Laufbahn ist futsch! Wo Mutter ihr Letztes in meine Ausbildung gesteckt hat! Was Machen wir dann? Dann langt es nur als Turnlehrerin höchstens noch zum Tillergirl! Herrogott . . . schmeiss nur nicht das Boot um!“

Alfred war wild aufgesprungen. Er hielt breitbeinig Gleichgewicht. Seine schwarzen Augen loderten. Der ganze, grosse, südlichbräunliche Kraftmensch kochte.

„Also: gehst du nur so mit einer und hustest aufs Standesamt — dann heulen sie: da haben wir die heutige Jugend — den Richter Lindsan — die Unmoral . . . Verzeihen Sie, meine Herrschaften: Ich meinte nicht Sie!“

Er verbeugte sich höflich gegen zwei Paddler in einem vorbeigleitenden Eskimo, beide mit Stoppelköpfen, mit weissen Armen und Beinen in schwarzen Trikots. Aus nächster Nähe sah man, dass sie verschiedenen Geschlechts waren.

„Und hat man Grundsätze und will heiraten,“ Alfred Giebisch schmiss sich wieder auf die Ruderbank, „dann geben sie einem zum Dank keine Wohnung und jagen dich aus Amt und Brot! Wie soll man’s den zum Donnerwetter der Gesellschaft heutzutage recht machen?“

„Die Menschen sind zu abscheulich!“ sagte der blonde Studienreferendar.

„Aber wir lassen uns nicht unterkriegen!“ schrie Alfred erbittert. „Nach Casanova gehen wir nicht!“

„Nach Canossa – um Gottes willen!“ Änne faltete entsetzt die hände.

„Meinetwegen Canossa!“

„Alfred: ich sag’ dir immer: Nimm dich mit den Fremdwörtern in acht! Die beizzen!“

„Volksschule . .“ sprach der junge Mann . ."mal ’n Hauslehrer in der Inflation, wie Papa im Geld pladderte . . . nischt gelernt und krumme Beine . . . “

„Du bist Gott sei Dank wundervoll gewachsen!“ sprach die junge Turnlehrerin warm. „Du bist überhaupt ein sehr schöner Mensch! Darüber sind sich die Gelehrten einig!“

„Danke. Gleichfalls. Na – meinen Plauener Tüll werde ich auf der Tour auch ohne Bildung los!“

„Ach — Bildung!“ sagte der Studienreferendar innig und schaute sich um, ob der Dicke in der roten Badehose wieder angesegelt käme. Nein. Alfo küssten sie sich. Dann nahmen sie jeder ein Ruder und pladderten aus dem Müggelsee hinaus in die schmale Spree.

2

Es wehten reichlich viel schwarze Schilfkolben im Sommerwind über der kleinen Uferbucht, in die sie das Boot stehend mit den Rudern hineinstakten. Die Stechfliegen summten. Seitlings hatte die träge Strömung einen gesegneten Berliner Strand von leeren Konservenbüchsen, Stullenpapier und faulem Tang angeschwemmt. Es roch muffig in der hitze. Aber hinter dem grünen Röhricht wurzelte ein Dutzend Krüppelkiefern im weissen Sand, und unter dem spärlichen Schatten der Kuscheln stand freundlich, die Front nach dem Wasser, den Blick noch bis zum Müggelsee, das Weekendhäuschen.

Das Weekendhäuschen war nur winzig. Es glich — innen ein Raum für alles, aussen auf Tragpfosten aus rohen, moosverstopften Längsbalken gezimmert, — dem Wigwam eines Pelzjägers. Aber die flache Wellblechdachung, die niedere Türe, die Läden der beiden kleinen Fenster waren munter froschgrün gestrichen. Der farbige Wimpel des Leichtathletenklubs „Eintracht 1920“ wehte von einer himmeleblauen Stange. Im grünen Geranke um die Holzlatten der Laube nebenan flammten die roten Bohnenblüten.

Alfred Giebisch stand davor am Ufer und betrachtete still zufrieden sein Heim, die muskelstarken blossen Arme auf der Brust über dem blauweiss gestreiften Trikot gekreuzt. Sonst hatte er nur noch ein paar leinene Kniehosen an. Die haut seines halbnackten, kraftvollen Körpers glänzte goldbräunlich wie warme Bronze in der Sonne. Der Studienreferendar stand neben ihm, einen halben Kopf kleiner, zart, auch nur in Trikot und Höschen, Wassertropfen an den blossen Waden, auch braungebrannt, so dass ihr kurzes Haar noch heller blond ihr schmales Gesicht mit der Stupsnase und dem eigenwilligen Mund umwuschelte.

„Dass du das ganze haus so allein zusammengezimmert hast . .“, sagte sie andächtig.

„. . so gut es in der Eile ging . . . wenn der Mensch acht ganze Tage Urlaub im Jahr hat . . . “

„Was du so alles kannst . .“

„Ich könnte ganz andere Sachen! Wenn man mich nur liesse! Aber Pinke-Pinke braucht man . . . ’nen Wirkungskreis!“

Er sprang mit einem grimmigen Satz bis zu den Knien in das Wasser, zog das Boot dicht an das Ufer und auf zwei runden Fichtenhölzern über den Sand nach dem niedrigen Schuppen hinter dem Weekendhaus, wo schon das zweisitzige Motorrad angekettet lehnte. Dann setzte er sich auf die holzbank in der Laube. Änne war in das Haus gegangen. Bald kam aus ihm der Geruch von Kaffee und dann sie selbst, mit Tassengeklappeer, und deckte hausfraulich das windschiefe Tischchen in der Laube. Er schraubte inzwischen behutsam mit seinen grossen, sportschwieligen Händen die Nadel ins Reise-Grammophon ein. Sie sassen Arm in Arm vor den Kaffeetassen und rauchten und schauten still auf die weite Welt hinaus, und am Boden spielte die Platte:

„Kennst du das kleine Haus am Michigansee?“

Änne legte sich lang auf den Sand, die Hände im Nacken verschränkt, und blinzelte zum blauen Himmel über sich in die Höhe und sang mit dünner, hoher Stimme:

„Dahin fuhren wir zwei — einst im Mai –“

„Und lag . . . “, Alfred streckte sich bronzebraun neben sie, „auch noch der Schnee . . . “

„Alf — du singst furchtbar falsch . .“

„Egal! . . . auf dem kleinen Haus am Michigansee . . . “

Gemeinsam sangen sie beide halblaut, gefühlvoll:

„schuf die Liebe und zwei — ew’gen Mai . . . “

Dann surrte die Platte und verstummte.

„Ach ja . . . “ sagte Änne nach einer Weile. Es klang wie ein Seufzer. „Gut, dass wir wenigstens das kleine Haus am Müggelsee haben!“

Alfred Giebisch riss verdrossen einen Grashalm aus dem mageren Boden.

„Es ist auch immer eine Hetze: —Sonntag morgen immer erst heraus und um fünf am Abend wieder heim! Wenn wir Mann und Frau wären . . . “

„ . . . dann könnten wir immer schon Sonnabend mittag hier sein und erst Montag mit den Hühnern wieder nach Berlin. Das wäre erst das richtige Weekend!“

Beide wurden still. Schauten sich an. Wieder weg.

„Ich Weiss, woran du jetzt denkst, Änne . . . “

„Du auch . . . “

„Wir haben ja schon sooft Davon geredet . . . .“

„Fang’ nur nicht wieder davon an . . . “

„Eigentlich ist das doch das Ei des . . na — wie hiess der Kerl?“

„Des Kolumbus!“

„Da ist doch eine Möglichkeit, sich zu heiraten . . . .“

Änne legte ihm rasch und ängstlich die Hand auf den Mund. Liess fie wieder sinken. Schwieg. Versank in Träume.

„Ein Glück, dass erst Juni ist!“ sagte sie dann. „Da haben wir noch den ganzen Sommer vor uns. Den langen, langen Sommer . .“

„Aber so geht das nicht weiter. Das halten wir gar nicht aus!“

„Was sollen wir machen?“

„Änne — ich komm’ wieder auf das zurück, an das wir beide schon seit Monaten denken . . . “

„Sprich nicht Davon . .“ Änne rührte schnell und verstört in ihrer Kaffeetasse. Ihr Gesicht wurde unter der Sonnenbräunung blass. „Wenn man immer wieder davon redet, dann tut man’s schliesslich . . . “

„Donnerwetter: tut man denn unrecht, wenn man sich heiratet . .?“

Änne stand landsam auf.

„Ja. Aber heimlich heiratet . . . “ sagte sie mit grossen Augen, ganz leise, mit zitternder Stimme. Auch er erhob sich.

„Na natürlich Heimlich . .“ Er bemühte sich, möglichst unbefangen zu reden. „Was bleibt einem denn übrig, wenn die Menschen so blödsinnig sind?“

Sie traten in ihrer Erregung vor die Laube. Sie gingen draussen mit schnellen, kurzen Schritten in der heissen Sonne auf und ab, immer von den Konservenbüchsen zum Schilf und zurück.

„Wenn uns der Standesbeamte vier Wochen in den Kasten hängt, kümmert sich bei mir kein Mensch in Berlin darum!“ versetzte er. „Und dein Schulkollegium erfährt nicht die Bohne Davon. Du musst nur dem Standesbeamten nicht sagen, dass du Lehrerin bist, sondern Haustochter bei deiner Mutter. Fräulein Bender gibt es in Berlin viele. Freilich: Deine Mutter..“

„Das wäre das Geringste . . . “

„Nanu?“

„Das hab’ ich mir schon überlegt. Da hatt’ ich ’ne Idee von Schiller: Der Mutter kann ich einfach sagen, ich sei in die Damenriege des Ruderklubs — irgendeines Ruderklubs hier — eingetreten und übernachtete da mit anderen im Damenraum des klubhauses. Das täten viele, um nicht erst nach Berlin zurückzumüssen!“

„Und das glaubt sie?“

„Du ahnst nicht, wie weltfremd die alte Generation ist! Natürlich glaubt sie’s! Sie glaubt mir alles!“ sagte Änne. „Aber es tut mir weh!“

„Ach – das ist eine fromme Lüge!“

„Ich meine auch nicht das — da heiligt wirklich der Zweck die Mittel, wenn ich heimlich als Ehefrau auskneif’ . . . aber dass ich der Mutter nicht sagen dürfte, dass ich Ehefrau bin — das ist schrecklich!“

„Wenn du ihr strengstess Stillschweigen . .“

„Mutter und stillschweigen! Da kennst du sie flach! — ? Mutter kann nichts bei sich behalten. Sie ist viel zu gut. Sie traut allen Menschen und vertraut ihnen blindlings alles an!“

„Ich danke.“

„Sie würde sofort geheimnisvolle Andeutungen machen — bei Tanten und Verwandten . . . ‚Kinder — wenn Ihr wüsstet!‘ — und ihre Sorge um unseren Streich unter dem Siegel der Verschwiegenheit ihren Freundinnen beichten! Und in kurzem Weiss es Gott und die Welt, und Fräulein Meinhold erfährt es, die Direktorin — na — und alles Weitere kann man sich ja denken!“

„Schrecklich mit so alten Damen . . . “

„Du wirst Mutter nicht ändern! Nachher erinnert sie sich gar nicht, wem allen sie’s erzählt hat, und stellt es entrüstet in Abrede! Nein – da muss man schweigen, wie das Grab! Und wenn einem das Herz blutet.“

Beide waren blass und ernst. Alfred Giebisch nickte entschlossen.

„An sich wäre die Chose auf die Weise furchtbar einfach! Du bleibst bei deiner Mutter wohnen und ich bei meinen Eltern. Wir brauchen keinen Pfennig für Wohnung und Aussteuer und Möbel, auch wenn ich abgebaut werde. Du behältst deine Stellung. Und zwei Tage fast in der Woche — da haben wir uns, Änne!“

„Hier im Häuschen . .“

„Das ist doch alles so furchtbar einfach!“

„Aber wenn es herauskommt — dann bin ich perdü!“

„Es darf eben nicht herauskommen!“ Alfred Giebisch riss zornig einen Schilfkopf vom Stengel, betrachtete ihn aufmerksam und warf ihn weg.

„Das sagst du so!“

„. . . wenigstens so lange nicht herauskommen, bis ich eine seriöse Position hab’ und dich ernähren kann! Das kann über Nacht kommen, auch ohne dass ich zu meinem grossen Schwager Vögeding lauf! So gut, wie der mit Geduld und Spucke — na — eigentlich über Nacht — von einem kleinen Mann zum Reichmeier geworden ist, so sicher werd’ ich auch ’mal Millionär! Wetten dass . . . ?“

„Ach – lass nur jetzt die Zukunftsmusik – ja?“

Alfred Giebisch legte Änne leise die Hand auf den blossen Scheitel.

„Ich will dich nicht drängen, Änne!“ sagte er weich. „Die Entscheidung steht bei dir!“

„Und die Verantwortung!“

„Die trage ich mit dir! Sage ja oder nein — ich werde tun, was du willst! Aber wenn es geschehen soll, dann nicht erst lange gefackelt! Dann gleich! Das Warten hat gar keinen Zweck!“

Er liess Änne stehen und ging zur Seite. Er hatte nur ein paar Schritte getan, da hörte er hinter sich laufen. Zwei weiche Arme schlangen sich um seinen Hals. Er sah in ein blasses, tränenbeperltes, glückselig lachendes Gesicht.

„Änne — wollen wir . . . ?“

„Ja.“

„Heimlich?“

„Ja! Ja! Ja! Wir riskieren’s! Jch hab’ dich zu lieb!“

3

Ein paar Studen später war die Landstrasse nach Berlin eine einzige kilometerlange Staubfahne. Die sinkende Sonne schien rötlich durch die grauen Schleier. In ihnen hupten die Autos, knatterten die Krafträder, bimmelten die Radler. Seitlings zogen die Wandervögel, die Familien, die Vereine. Dann stockten die Kolonnen, geblockt vom Anprall eines Kühlers an den Tank vor ihm. Alfred und Änne standen neben ihrem Rad in einem heissen Brodem von Staub, Schweiss, Benzin, Zigarren. Er entzündete, jetzt vom Sturzhelm bis zu den Schnürschuhen in dattelgelbem Sportleder, eine Zigarette zwischen den zusammengepressten Lippen.

„Also es bleibt dabei, Änne: Wenn schon, denn schon! Ohne langes Gefackel! Wir heiraten gleich!“

„Ja. Wir wollen doch den Sommer draussen nutzen!“ sagte Änne. Sie sah jetzt, mit der grossen Brille vor den Augen, fremdartig und hochmütig aus, streng wie eine Lehrerin. Das Schwarz der Brille machte ihre schmalen Wangen blass. Sie vertrat sich die steifgewordenen Beine, die in Breeches und Wickelgamaschen staken, passend zu dem hochgeknüpften Lederjäckchen und der Lederkappe.

„Morgen vormittag, Änne, geh’ ich zu dem Standesbeamten! Der Onkel traut uns mit Wonne!“

„Du — aber wir sagen’s wirklich keinem Menschen!“

„Keiner Seele! Das heist: wart’ einmal! Zwei Trauzeugen brauchen wir doch!“

„Um Gottes willen — wen denn?“

„Wozu hat der Mensch Brüder? Den Friedrich habe ich hier sofort in Berlin greifbar! Den stökere ich jetzt gleich ’mal in seinem Photographenatelier drinnen auf!“

„Und der Bruno?“

„Dem schreib’ ich auf seine Gutsstelle in Holstein, dass wir seinerzeit hier auf ihn rechnen! Der Oberinspektor beurlaubt ihn schon für einen Tag von seinen Kühen und Schafen! Er kann ihm sagen: ’ne olle Erbtante sei abgekratzt..“

„Dass der Bruno es nur nicht als Junggeselle zu leicht nimmt und etwas ausschwasst — von unserer heimlichen Ehe!“

Der Studienreferendar brachte die beiden Schicksalsworte aufgeregt und geheimnisvoll, mit schwankender Stimme über die Lippen. Ihr Bräutigam legte ihr die hand auf die Schulter.

„Der Bruno! Der nimmt doch das Leben so Ernst! Er und seine jungen Leute vom Lande da oben starren ja von Grundsätzen. Der gibt sein Ehrenwort und schweigt sich aus! Und der Friedrich auch!“

„Eben wird der Weg frei!“

„Vorwärts! Aufgesessen!“

Das Gerolle und Gestrampel und Getute wälzte sich weiter, achtlos an dem seitlings auf das Feld geschobenen blessierten Wagen vorbei, nach Berlin. Berlin riss seinen Rachen auf. Berlin verschluckte hungering die heimkerenden Millionen. Alfred Giebisch und Änne Bender sausten mit vorgebeugten Köpfen und hämmernden Herzen und einem feierlichen, beklommenen Lächeln auf den blassen Gesichtern wie Goldaten vor der Schlacht, im Gewühl der Unzähligen, in Donner und Glut Berlins hinein. Nahe dem Brausen und Tosen des Alexanderplatzes lud er in einer kleinen Seitenstrasse den blonden Sozius vor einem Mietshaus ab.

Sie standen am Haustor, die Hände ineinander, und schauten sich stumm ins Gesicht und küssten sich mit den Augen. Überall in den Hausgängen und Höfen standen jetzt in der Dämmerung die Paare, die Strasse entlang, in ganz Berlin, in Deutschland, auf der ganzen Welt.

„Ich töffe nachher noch ’mal rasch wieder hierher zurück und melde dir, was der Bruder gesagt hat!“

Alfred Giebisch knatterte davon. Hoch im Norden, in der Welt der Fabriken, legte er im Flur einer Miestkaserne die Sicherheitskette vor sein Rad und stieg die ausgetretenen Treppen empor, vier Stockwerke hoch, bis zu einem Schild: Friedrich Giebisch, Photograph..

„Ist er zu Hause, Linda?“ Er gab der jungen Frau, die auf sein Klingeln öffnete, die Hand. Sie sah in dem Zwielicht wie ein schlankes, langes Gespenst aus, in dem weissen Leinenkittel vom Hals bis fast zu den Knöcheln. Sie gähnte und hielt, ihre Rechte in seiner, die tadellos manikürte, langfingerige weisse Linke vor den etwas grossen und etwas rot getönten Mund.

„Na klar! Als Photograph — bei dem Prachtwetter!“ Sie hatte eine helle, schnelle Berliner Stimme. Berlinisch intelligent, mit beweglichen braunen Augen, war auch ihr sehr hübsches, schon etwas faniertes und leicht gepudertes Gesicht. Es paste sich, mit der langen, geraden ein wenig nach den Sternen gerichteten Nase, den hochangestetzten Nasenflügeln, der kurzen Oberlippe und schnippisch gerundeten Unterlippe dem neuen mondänen Typ der Modeblätter an. Das kurze Braunhaar wellte sich sorgfältig onduliert um die kleinen, von falschen Riesenperlen umpendelten Ohren. Sie ging, mit der Uebung eines Empfangsfräuleins, dem Besucher durch das dürftige, dämmernde Vorstadt- Atelier voraus und rief:

„Du, Fritze! Der Alfred ist gekommen!“

„Er soll wieder gehen!“ tönte von hinten eine starke, warme Männerstimme

„Fritze — benimm dich! Ja? — Mir jibt er — mir gibt er deb, Guten Ton in allen Lebenslagen’ und ‚Mir oder Mich?’ in die Hand! Und er selber? — Du hast allein mit Fritze zu redden? Bitte — bedien’ dich!“

Alfred Giebisch trat, an der Dunkelkammer und den Arbeitstischen vorbei, in das abgeschrägte Dachzimmer — Wohn-, Schlaf- und Essraum in einem. Auf einem Schemel in der Mitte stützte ein mittelgrosser Mann nahe den Vierzig den glattrasierten, ausdrucksvollen Charakterkopf dumpf in die Hände. Sein gefurchtes und leidenschaftliches Antlitz mit der Hakennase, den grossen, grauen Augen, dem bitteren, starkfaltig ausgeprägten Mund erinnerte an einen älteren Provinzmimen. Aber die unzähligen Furchen auf der Stirn, die grüblerischen Krähenfüsse um die Tränensäcke deuteten auf den Denker. Er blickte auf und fuhr sich heftig mit der hand durch die genialischen, langen, grauen Stirnsträhnen.

„Setz dich!“ sagte er. „Es ist heiss hier. Im Sommer. Im Winter um so kälter. Linda und ich frieren um die Wette!“

„Kriegt ihr denn keine andere Wohnung?“

„Wir?“ Der Photograph lachte wild auf. „Für Unverheiratete, mein Sohn, gibt es möblierte Zimmer. Aber in getrennten Häusern. Sonst kommt der Hausverwalter!“

„Ach so!“

„Da kann ich zehnmal auf dem Wohnungsamt feierlich vor Gott und den Menschen erklären: ‚Linda und ich sind ein freies Paar! Wir leben in Kameradschaftsehe!’ Der Beamte blättert: ‚Ich finde da nur eine unverehelichte Luise Knieriem, die bei Ihnen als Assistentin angestellt ist!’ Hier oben lassen einem die Banausen wenigstens ungeschoren! Was bringst du? Viel Zeit hab’ ich nicht! In einer halben Stunde kommen die Adelphen!“

„Verbessert ihr immer noch die Welt?“

„Es tut not!“ sagte der Mann mit dem verwüsteten Charakterkopf leise und fest. Aus dem Atelier rief Linda mit ihrer scharfen Kehle: „Wegen mir können die Brüder“ — sie sagte mehr: „die Brieder“ — „kommen!“

Sie hatte die photographischen Apparate beiseitegerückt, Stuhl, Tisch und Wasserglas darauf hingestellt und aus ein paar Plättbrettern über Stühlen zwei Reihen Sitzbänke hergerichtet. Sie streifte ihren weissen Atelierkittel ab. Ein Sonntagnachmittag-Kleid aus himmelblauem Crêpe de Chine veränderte plötzlich ihr Menschenbildnis. Der hauchdünne Stoff verfloss mit dem mondän frisierten Kopf darüber zu einem Ausschnitt neurer Berliner Eleganz der unteren Hunderttausend. Sie wirkte in ihrer interessanten Blässe fast damenhaft, als sie über die Schwelle trat. Man sah jetzt erst, wie schlank und flott sie gewachsen war. Sie blickte selbst befriediat auf das Faltenspiel des halbdurchsichtigen Gewebes um ihre Knie nieder.

„Richtige, lange, dünne gerade Filmbeine — was?“ sagte sie stolz unbefangen. „Du, Männe: Ich geh’ jetzt in die Englische Stunde!“ Sie reichte Alfred die Hand. „Nicht schlecht braun gesotten is er! Du hast natürlich heute wieder ’n ganzen Tag mit deiner Kleinen auf dem Wasser gelegen?“

„Das ist keine Kleine, sondern eine Lehrerin der Kleinen! — Ein Studienreferendar!“

„Verzeihung! Ich wollte der Iräfin-Braut nich zu nahe treten!“ Linda ging. Sehr leichtfüssig. Schmalhüftig. Schmalschulterig. Sehr bewusst Nur ein schwacher Parfümhauch blieb von ihr in der Luft übrig

4

Friedrich Giebisch, der Photograph, blickte seiner freien Frau nach. Ein andächtiges Leuchten lief über seine gefurchter, vom Lebenskampf verwüsteten Züge, wie Sonnenschein über ein Schlachtfeld.

„Diese Seele hab’ ich gerettet!“ sprach er feierlich. „Das versöhnt mit manchem in Dasein! Wenn ich denke, woher sie kam..“

„Gott — ‘ne Bolle aus der Invalidenstrasse!“ sagte der Bruder ziemlich gefühllos.

„. . . der Vater ein Säufer, die Mutter lungekrank, sechs Kinder in der Kellerwohnung . . . Mit vierzehn Iahren Laufmädel in einem Abzahlungsschäft im Osten.s Dann an den Hausvogteiplatz — mitten in die Konfektion . .“

„. . da krabbelte sie sich doch schon in die Höhe . .“

„Frage mich nicht, wie . . . . — . . . .:Tippen und Kurzschrift und Buchführung hat sie ja in der Zeit im Fortbildungsunterricht mit der ihr eigenen Energie gelernt! Aber sonst . . . . Ich kam diesem Kind als ein Erlöser! Ich riss sie aus den Klauen eines dicken Ranonchefs, neben dem sie auf seinen Einkaufsreisen verwilderte.“

Der Merschenfeind schloss halb die Lider. Er summte, still lächelnd, andächtig vor sich hin.

„Sie war ein Kind des Volks und schön!

Sie trug das Glück in kalte Höh’n . . . . .“

Dann schlug er mit der Fraust auf den Tisch, jugendliches Feuer in den Augen.

„Aber auch ich habe sie dafür in die höheren Regionene des Lebens getragen! Ach — das tut einem einsamen Menschen wie mir wohl, einem Menschen etwas zu sein! Es füllt erst mein eigenes Ich! Sie ist so willig — so dankbar! Sie lechzt ja nach Bildung!“

„Ietzt treibt sie Englisch?“

„Ja. Es ist rührend von Herrn Höltl — an seinem freien Sonntagabend! Herr Höltl ist der Damenfrieseur unten im Hause. Er hat sich erst vor kurzem selbständig gemacht. Er war lange Frieseur auf einem Llonddampfer nach New York. Daher sein Englisch. Linda lernt da ‘ne Masse! Aber — Herrgott . . . “ Ein Blick auf die Uhr. „. . . die Adelphen! . . Du wolltest was? Mach’s kurz, Alfred!“

„Also: die Linda ulkte da eben mit ihrer Berliner Schnauze über meine Gräfin-Braut! Gräfin ist Unsinn. Aber Braut — das stimmt! Wir wollen Heimlich heiraten, Fritz!“

Der Photograph hörte mit einem sardonischen Zucken der Mundwinkel zu. Als der Iüngere geendet, umspannte er mit seinen grossen, trockenen, nervös heissen Händen dessen braune Sportfaust. Sein Charakterkopf legte sich in feierliche Furchen:

„Tu’s nicht, Alfred! Wozu? Mahce es wie ich! Lebe in freiem Bund!“

„Nein. Das wollen wir gerade nicht!“

„Warum nicht?“

„. . . weil wir uns dafür zu lieben!“

„Liebe ist Feriheit!“ sagte langsam durch die Dämmerung Friedrich Giebisch, der Photograph. „Sie ist eine innere Notwendigkeit. Sie duldet keinen äusseren Zwang. Und Ehe ist die höchste Liebe. Also ist Ehe höchste Freiheit! Deswegen heirate ich nicht: Aus Ehrfurcht vor der Ehe! So, wie ich unter dem Wort ‚Ehe’ den Bund zweier Menschen verstehe!“

„Weisste — das ist mir zu hoch!“

„Seit zwei Iahren lebe ich jetzt mit Linda zusammen. Ich könnte mich jeden Augenblick vor ihr trennen. Ich tue es nicht. Ich werde es nie tun. Gerade weil ich fessellos bin, bin ich gebunden — durch höhere Gewalten als der Bürokrat auf dem Standesamt und das Bürgerliche Gesetzbuch, das für eine Hnpothek auf eine Seigenfabrik gut sein mag, aber nicht für die letzen Dinge dieser Welt!“

„Und die Rinder? . . . “

„Haben wir welche?“

„Nein. Aber wenn alle so denken, stirbt die Welt aus!“

„Wäre das ein Unglück?“ Der Menschenverächter stützte den Kopf in die Hand. „Dann stirbe sie in Schönheit!“

„Nein — auf diese Rutschbahn im Lunapark folge ich dir nicht! Dazu bin ich nicht gelehrt genug — für deine Spintisierereien!“ Der junge Kaufmann lachte. „Ich will heiraten und ‘ne richtiggehende Frau haben und Kinder und ‘mal Enkelkinder, damit ich Weiss, wofür ich mein Leben lang schufete und wem ich ‘mal das grosse Vermögen, das ich mir sicher zusammenkratzen werde, hinterlass’!“

„Siehst du — das ist’s: Du denkst rein wirtschaftlich!“ Der Weltverbesserer sties dem anderen leidenschaflich den gereckten Zeigefinger vor die Brust. „Du bist genau wie unser Schwager, der verfluchte Vögeding! Dem sein fauler Witz: ‚Je Dollar, je besser!’ ist kennzeichnend für den ganzen Mann. Na — mich sieht der Gemütsmensch nicht mehr wieder!“

„. . . weil er dich in seiner gemütlichen Art gefragt hat, ob die Gemeinde Dalldorf wirklich ihren Namen geändert hat, wie du von ihm Geld haben wolltest . . . “

„Nicht für mich, sondern für die Adelphen!“

„Na eben! Adelphen ist doch Griechisch? Das heist doch, Brüder’ — sagst du? . . . Otto Vögeding und brüderliche Liebe — der Witz ist gut!“

„Na — und du? Bift du anders? Du denkst wie all ihr smarten jungen Kerle jetzt nach dem Krieg denkt: Geld machen und ‘nen neuen Hut für die Frau und ein Auto auf Abzahlung: Schluss! Pudelwohl fühlt ihr ein Auto auf Abzahlung: Schluss! Pudelwohl fühlt ihr euch in einer Welt ohne Götter! Halbe Amerikaner seid ihr und wisst nicht, dass Deutschland ein Geist ist!“

„Na — — und du?“

Ein Strich der mächtigen Hand drüben quer durch die Luft.

„Ich leugne alles! Alles!“

„Auch ‘ne Beschäftigung!“

„Du warst zu jung! Du hast den Krieg nicht mehr mitgemacht!“

„Hast du jemals die Front geziert?“

„Ich war vier Jahre Krankenpfleger im Lazarett!“ sagte Friedrich Giebisch grüblerisch. „Wenn das alles möglich war, was ich in den vier Jahren mit diesen Augen gesehen hab’, dann haben alle Grundlagen der menschlichen Gesellschaft versagt. Dann müssen wir die Welt aus dem Schutt heraus auf einer ganz neuen, freieren und sittlicheren Ordnung wiederaufbauen. Deswegen lebe ich Kameradschaftsehe. Deswegen habe ich die Gemeinschaft der Adelphen gegründet. Da nebenan kommen übrigens schon die ersten . . . . .“

„Dann willst du also auch nicht unser Trauzeuge sein?“ Alfred Giebisch erhob sich.

„Warum nicht? Was schiert mich fremde Torheit? Wenn du wüsstest, wie menschlich veredelt es ist, nicht verheiratet ze sein — ‚wenn du frei sein kannst, so gebrauche dess doch viel lieber!’ steht schon in der Schrift . . . “

„Sei so gut und missbrauche nicht auch noch die Bibel — ja?“

„Aber sei rücktändig — renne in dein Unglück! Mein Bratenrock ist noch gut! Ich erscheine zu deinem Begräbnis! Ich meine: auf dem Standesamt.“

„Danke! Und zu Linda kein Wort! Nicht wahr?“

Alfred Giebisch ging. In dem dämmerigen, kahlen Atelier versammelte sich auf den Holzbänken schon die Gemeinde. Er konnte den paar Dutzend stiller Gesichter nichts Besonderes ansehen. Es schienen alles kleine Leute — Handwerker — ältere Frauen — ein Strassenbahnschaffner — ein Briefträger — einige junge Menschen, die wie Studenten und Studentinnen aussahen. Als er die Treppe hinabstieg, hörte er schon von oben die leidenschaftlich dröhnende, blutwarme Predigerstimme seines Bruders. Er schüttelte den Kopf, kettete unten sein Rad los und fuhr Davon, dem Berliner Zentrum zu.

5

Dort, in der kleinen Strasse nahe dem Alexanderplatz, sass Änne Bender, die Studienreferendarin, mit ihrer Mutter zusammen im Wohnzimmer. Es war ein noch ganz altmodischer Raum, mit einem weissen Kachelofen und bläulichem Gasstrumpflicht von der Decke. Aus den vier Fenstern der Gartenwohnung der Ausblick auf zwei lebensmüde Birken im Vorderhof. Auf dem Tisch am Febster, an dem Änne mit gesenktem Blondkopf in ein Heft schrieb, brannte eine Petroleumlampe. Ihre Mutter sass hinten im Zwielicht auf dem Wandsofa und strickte. Mitten in der Stube trug ein Rundtisch zwei schwarzeingerahmte Photographien — zwei lustige junge Leute in Feldgrau — blutjung — fast noch Rnaben — der eine 1918 gefallen am Kemmel, der andere nachträglich erst 1919 in Rurland. Aber die beiden Söhne waren nicht tot. Sie gingen seit vielen Iahren neben der Mutter weiter burchs Leben.

„Du — Änne —“, sagte die verwitwete Sanitätsrätin sinnend nach langem Schweigen, „ich glaube, der Paul ist jetzt dicht am Amtsrichter!“

„Na sicher, Mutter — bei seinen Gaben!“

Änne Bender sann über den nächsten Satz in ihrem Heftchen. Sie trug jetzt, nach des Tages Hitze, ein jungenhaftes, gestreistes Pnjama und hatte eine Zigarette im Mund. An den feinen, weissen Fingern blühten zwei rote Tintenfleckchen.

„Ach Gott — und der Emil jetzt bald als Baurat! . . . as könnte Häuser geben, Kind!“

„Na — kolossal!“

Das Kritzeln der Feder. Das Klappern der Nadel. Iregendwo da draussen wehte der Wind um flandrische Gräber und kurischen Sumpf.

„Korrigierst du Hefte, Änne?“

„Nachher! Jetzt führe ich mein Tagebuch!“

„Ich möchte nur wissen, was du jeden Tag so Merkwürdiges hineinzuschreiben hast!“

„Ich fetze mich mit mir und meiner Stellung zur Welt auseinander!“ Änne Bender neigte grüblerisch das hübsche Profil, in dem die Nase neugierig, erwartungsvoll gegen das Leben, ein bisschen als Stupsnase, hochging, dicht über das Papier.

„Ich Weiss nicht — zu meiner Zeit — Änne — da nahm sich ein junger Mensch nicht so furchtbar wichtig . . . “

„Es gibt nichts Wichtigeres als den Menschen, Mutter!“

„Aber es kann sich doch nicht um jeden Menschen die Welt drehen!“

„Jeder Mensch ist die Welt!“

„Kind — Kind — wir haben doch auch gelebt!“

„Wir leben vielleicht einfacher als ihr!“ Änne wandte nicht den Kopf beim Schreiben. „Aber wir leben schwerer. Denn wir müssen uns unseren Weg durch das Leben selber suchen! Wir erben ja nichts von euch.“

„Nun mach’ auch noch Vorwürfe..“

„Ich meine doch nicht, dass Vater mitten im Krieg gestorben ist und wir unser Geld nachher in der Inflation verloren haben! Aber vor uns liegt lauter Neuland. Wir müssen uns Deutschland und das Leben erst neu entdecken, wie der Kolumbus Amerika! Glaub’ mir: die Besseren unter uns machen as sich nicht leicht!“

„Wenn man euch nur helfen könnte . . . .“

„. . . nur indem man uns zu verstehen sucht! Ich suche mich selber ja auch erst zu verstehen! Deswegen geb’ ich mir in dem Tagebuch Rechenschaft — nicht aus Grössenwahn, sondern aus Verantwortungsgefühl. Das gab’s zu deiner Zeit nicht. Da hat man uns das alles abgenommen. Aber dann war auf einmal der Kladderadatsch da . . und nun . . . Herrgott — da bimmelt’s!“

Der Studienreferendar sauste in drei Jagdsprüngen hinaus, warf sich draussen ein Mäntelchen über Jacke und Hose und flog der dunklen Gestalt auf der Schwelle in die Arme. Küsse. Stille. Endlich:

„Na — Alf — was hat dein Bruder gesagt?“

„Mies hat er gemacht!“

„Der muss es ja wissen! Dem seine sogenannte Ehe . . . “

„Aber er hilft uns trauen!“

„Na — Gott sei Dank!“

„Er hat’s auch nicht leicht im Leben! Er macht sich’s noch unnötig schwer! Er käme ja nie zu was! Herrgott: Wenn ich nur mal ordentlich Spielraum hätte im Leben!“

„Ja — wenn . . wenn . . Und dem Bruno schreibst du! Auf den kann man sich verlassen — als Trauzeugen! Uff! — Wie, Mutter? Störe jetzt nicht! Herr Giebisch steht hier draussen!“

„Ich hab’ nämlich ‘ne Idee! . . Wozu hab’ ich denn eigentlich ‘ne Schwester, die an einen Schwerverdiener wie den Vögeding verheiratet ist?“ Der braungebrannte, hochgewachsene, lederne Kraftfahrer beugte den dunklen Krauskopf zu dem blonden Haupt nieder. Die schwarzen Augen flackerten hoffnungsvoll in dem verwegen lächelnden, bartlos-energischen Gesicht. „Ein Federzug von dem Kerl und ich bin gemacht! Weisst du: Ich geb’ meinem Herzen einen Stoss und such’ doch mal den teuren Schwager heim! Jetzt gleich — ehe es mich reut — und frage ihn, ob er wirklich an ‘ner Kraft wie mir vorübergehen will!“

„Der wird dir ‘was malen! Der geniesst schon längst die Familie seiner Frau nur aus angemessener Entfernung! Das weisst du so gut wie ich!“

„Er hat mich ja seit vier Jahren nicht mehr gesehen! Vielleicht imponiere ich ihm jetzt!“

„Ein ganzer Kerl bist du!“ Änne musterte ihn mit andächtig zusammengelegten Händen. „Schön bist du. Das muss dir der Neid lassen. So denk’ ich mir die alten Griechen! . . Aber ob das auf den hartgesottenen Sünder wirkt? — Deinen Grips kann er dir doch nicht ansehen!“

„Ich probier’s!“

„Aber doch nicht in dem ledernen Wildwest mit den Ölflecken und dem Staub?“

„Ich zieh’ mich fix daheim um!“

„Also . . . Wie, Mutter? Nein: Herr Giebisch kann nicht ’reinkommen und mit uns Tee trinken! Er muss fort! Also in Gottes Namen, Alf! Ich bin skeptisch!“

Alfred Giebisch lief mit dem letzten Kuss auf den Lippen die Treppe hinab und fuhr davon. Die Fläche vor dem Stettiner Bahnhof kribbelte Schwarz von heimkehrenden Ausflüglern. In hundertfachem, eintönigem Grau standen endlos lang die alten Häuser der Invalidenstrasse. Eine Türe ging, in einem von ihnen, unmittelbar auf den Treppenabsatz. Das war seine Bude. Drinnen langte er in Eile seinen graukarierten Sonntagnachmittagsanzug aus dem Schrank — der kurze Rock knapp auf Taille gearbeitet, die Hose so scharf in der Bügelfalte gekniffen, dass sie fast von selbst stand. Er trat prüfend vor den Spiegel. Er sah im Glas den grossen, kräftigen Jungmännertyp des Deutschland nach dem Kriege, der in seiner angelsächsischen, bartlosen, sportlichen Gepflegtheit alle früheren Unterschiede von Rang und Beruf verwischte. Er öffnete auf dem Treppenabsatz mit einam Drücker die Flurtür neben seiner Stube, zur Zweizimmerwohnung seiner Eltern.

„Ich futtere heute nicht daheim, Vater!“

Der alte Giebisch hob im Sitzen, hinter einem Wust von Schriftstücken, den gesträubten, weissen Kakaduschopf. Über der Hakennase und dem weissen Spitzbart funkelten in dem feinen, rosig gefältelten Gesicht die hellblauen, unruhigen Augen. Er war klein und zart von Gestalt, aber sehr beweglich für seine Mitte der Sechzig.

„Mutter is doch noch aus Potsdam retour!“ sagte er heiter und schon mit einem Schwung die Papiere zurück. „Siehste mir nichts an, mein Sohn? . . . Mit euch jungen Kerlen is ja nischt los! Hoho — wenn wir Alten nicht wären! . . . Wenn det halbwegs jlückt — mit der Transaktion —, dann bin ich in den nächsten Tagen Aufsichtsrat!“

„Vater — lass doch das ewige Projektemachen! Das ist je Mumpitz!“

„So?“ Der Alte zuckte belustigt und überlegen die Schulter. „War ich schon ’mal Millionär oder nicht — hä?“

„’n papierener, Vater! In der Inflation! Das waren viele!“

„Haben wir nich ’ne Reise in die Schweiz jemacht — damals, die janze Familie? . . . hab’ ich nich ’ne pikfeine Villa jemietet . . hab’ ich euch Jungens nich zwei Jahre ’nen Hauslehrer jehalten?“

„. . . bis plötzlich die Stabilisierung ausbrach!“

„. . . mach’ ich’s eben künftig mit der Deflation! Ich komm’ wieder hoch!“ Der alte Giebisch nickte siegesgewiss. „Wenn der Mensch einmal im Leben schon so weit war . . . “

„Na ja — Armut macht nicht immer glücklich!“ sagte der junge Mann. „Aber manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wir hätten gar nicht erst Blut geleckt mit dem Geldverdienen, sondern das kleine Drogenlädchen von vor dem Krieg behalten, statt dass du in der Kohlrübenzeit mit deinen Ersatzmitteln . . . “

„Hast du nicht selber als Bengel geholfen, die Millionen bündeln?“ rief der Alte triumphierend. Seine blauen Augen leuchteten.

„Ja. Und das geht mir heut’ noch nach! Da hat man nun, mit dem Hauslehrer damals, ’n bisschen Manieren gelernt und ’n bisschen Bildung! Nun ist man nicht zufrieden! Nun will man immer höher hinaus!“

„Wart’ nur, bis ich in den nächsten Tagen wieder mang die Jründer jehe!“ Der alte Giebisch warf feurig den weissen Kakaduschopf ins Genick. „Na Mutter? Endlich! Wat — ‚schon wieder Luftschlösser!’ sagste? Nur für’n Jroschen Jeduld! Wie war’s denn in Potsdam?“

„Die Herrschaften waren so jnädig!“ Mutter Giebisch war noch atemlos vom Treppensteigen. „Sie, die alte Exzellenz, hat mir die Hand jedrück und jesagt: ‚Das vergesse ich Ihnen nicht, liebe Giebisch, dass Sie zur Taufe meines Enkelchens gekommen sund!’ Und ick hab’ fast jeweint und jesagt: ‚Wenn man dreissig Jahre in den hohen Häusern in Berlin und Potsdam als Kochfrau gekocht hat, dann verlässt man die Herrschaften auch im Unjlück nich! Denn kocht man wieter für sie, mit Gott für König und Vaterland!’. .“

Mutter Giebisch setzte sich. Sie war auch schon sechzig. Aber sie blühte rundlich, mit rotem, vollem Gesicht, in dem guten schwarzseidenen Kleid, das einen leisen Kampfergeruch verbreitete.

„Die jnädige Frau Jräfin Tochter und andere hohe Damens sind in die Küche jekommen und haben mir die Hand jejeben. Und der alte Herr Jeneral selber mit all seinen Orden. Und die alte Exzellenz war janz jerührt und hat jesagt: ‚Das ist doch noch eine alte treue Seele von rechtem Schrot und Korn!’ Und ick hab’ jesagt: ‚Ick versteh’ nichts von Politik. Ich bin ’ne alte Person! Ich bleib’ da, wo ick mein Leben lang jestanden hab’!’. . “

„Recht hat sie! Politik ist Quatsch!“ rief der alte Giebisch. „Det Jeld — is es! . . Heirate du dich nur mal hübsch warm ein, Alfred, in ein flott jehendes Jeschäft. Witwe ohne Anhang, mit Vierzimmerwohnung.“ Der Alte schnalzte geniesserisch mit der Zunge. „Schau’ nur, Mutter: Wenn der Bengel so dasteht — in der feinen Kluft — auf den müssen ja die Mächen fliejen!“

„Wie’n Jraf!“ Seine Mutter faltete mütterlich gerührt die herdroten Finger.

„Ach wat, Jraf! Mehr! Wie einer im Kino, wenn er so nongschalang vor seinem Schloss in sein Auto steigt . . . Wo willste heute abend noch hin? Was — zum Vögeding?“ Der Alte schnellte in die Höhe. „Na — mich sieht mein Herr Schwiegersohn nich mehr! Dat weiss ich!“

„. . . weil er dir durch das Mädchen hat hinaussagen lassen, er hätte die Blattern, wie du ihm mit deinen wilden Geschäften Tag und Nacht keine Ruhe gelassen hast! . . und er sei wegen wichtiger Sitzungen für den Rest des Jahrhunderts nicht mehr zu sprechen!“

„. . . sowenig wie für den ewig klammen Friedrich! Jhr habt den Vögeding ganz kopfscheu gemacht mit dem Geschnorre!“

„Hat er unsere Tochter zur Frau oder nich?“

„Na — jrüss’ die Käte!“

„Jedenfalls geh’ ich mal zu ihm in den Löwenkäfig!“ sagte Alfred Giebisch. „Gute Nacht!“

6

Draussen, im äussersten Westen Berlins, suchte Alfred Giebisch, vom Bahnhof Hohenzollerndamm her, beim Laternenschein in der breiten Prunkstrasse die Hausnummer seines Schwagers. Die sechs grossen ebenerdigen Fenster rechts in dem ragenden Mietspalast waren hell.

„Was? Herr Doktor Vögeding nicht daheim?“ sagte er zu dem öffnenden Dienstmädchen. „Liebes, verehrtes Fräulein — das Hamburger Häubchen steht Ihnen übrigens reizend — Sie gehen vielleicht heute noch über die Halensee-Brücke . . . Schade dann um so viel Schönheit und Jugend!“

„Es ist schon Uhrer zehne abends! Herr Doktor reist um Mitternacht nach Hamburg!“

„Und das sagen Sie so fristig? Lächeln Sie doch ’mal ’n bisschen! Ich bin überzeugt: Sie haben ein Paar Grübchen! Na — sehen Sie: ich auch! Ja — wir beide . . . Also — sagen Sie der gnädigen Frau, ihr Bruder Alfred sei da!“

„Nee! Denn geht’s nicht!“ Die Hausangestellte strich sich misstrauisch die Schürze glatt.

„Warum sind Sie eigentlich noch nicht beim Film? Bei Ihrem Äussern? Also melden Sie Frau Vögeding, es sei ein schöner, junger Mann draussen! Ihnen gefiele er . . . “

„Ich darf doch nicht!“

„. . . und Sie könnten seiner netten Art, zu bitten, nicht widerstehen . . . “

„Na — Sie sind aber auch einer!“ Das Mädchen lief halblachend, mit rotem Kopf, nach hinten. Gleich darauf kam von dort, mit weichen, leisen, Fast lautlosen Bewegungen, eine dunkeläugige, junge Frau. Sie war ein paar Jahre älter als ihr Bruder, mittelgross, vollschlank, in dunklem Kleid. Ihre vollen, runden Wangen waren blass, und ebenso blass der weiche, herzförmig geschnittene Mund. Um den spielte, als die beiden sich im Boudoir gegenübersassen, ein stilles, melancholisches Lächeln.

„Du hast wieder deine alte Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht bewährt!“ sagte sie mit ihrer sanften und umflorten Stimme. „Die Anna hat eigentlich von meinem Mann strikten Befehl, niemanden des Namens Giebisch in die Wohnung zu lassen. Der Vater und der Friedrich haben ihn zu sehr mit ihren Geldforderungen gequält. Für aussichtslose Sachen gibt Otto nun mal nichts! Dazu ist er zu sehr Geschäftsmann!“

„Ich will ihn auch gar nicht anpumpen!“

„Gott sei Dank! Dass ich die Eltern besuche und aus meiner Kasse unterstütze — dagegen hat der Otto ja nichts. Nur er will ungeschoren sein! Heute ist er leider Gottes noch ungemütlicher als sonst! Erstens hat er grässlichen Ärger im Geschäft, so das ser aus heiler Haut mit dem Nachtschnellzug nach Hamburg muss, und zweitens seit einer Stunde auch noch plötzlich Zahnweh. Ich warne Neugierige, Alfred!“

„Ich kann ihm nicht helfen! Nun bin ich schon mal da!“

Die junge Frau lachte plötzlich leise. Es belebte ihr sanftes Gesicht. Sie sah viel hübscher aus. Nur unter den langen, dunklen Wimpern blieb der resignierte Ausdruck der Augen.

„Worüber amüsiert du dich denn, Käte?“

„Heute nachmitttag hab’ ich euch, vom Auto aus, auf der Spazierfahrt mit Otto, auf der Chaussee gesehen!“ sagte die Schwester. „Ihr standet neben eurem Verhältnisrad. Du — die ist ’mal nett! Ich gratuliere!“

„Ein herrliches Mädchen . . . “

„Ihr habt’s gut! Ihr seid frei!“ Käte Vögeding wandte den dunklen Bubischeitel nach der Türe. Ein achtjähriger, kleiner, blauer Matrose rannte rabiat über die Schwelle, das Fräulein atemlos hinter ihm her.

„Ungebärdig ist er wieder, gnädige Frau! . . . Er sollte ja längst im Bett sein! Aber der Herr Doktor kann sich ja nicht von ihm trennen! Hermännle — sag’ schön gute Nacht!“

„. . . auch dem Onkel Alfred da!“ mahnte die Mutter. „Das ist ein wirklicher Onkrl!“

„Kommste aus Amerika, Onkel?“ Das Hermännle sass auf Alfreds Knien. „. . . . weil du noch nie da warst . . . “

„Ich komme von weit — weit her — aus Berlin!“

„Haste mir nichts mitgebracht?“

„Das nächste Mal! Meine Koffer sind noch nicht da!“

„Biste vorausgeflogen? . . . Au fein! Der Pappi fliegt auch bald ’mal mit mir! Pappi! Pappi! . . . “

Das Hermännle glitt von den Knien des Gastes herunter und stürzte nach der Portiere zum Nebenraum. Sie wurde mit zwei heftigen Rucken nach rechts und links geteilt. Otto Vögeding stand auf der Schwelle, ein gedrungener, breitschulteriger Vierziger, mit einem Ansatz zum Embonpoint, grosse Glatze, die Zigarre schief im Mundwinkel, Ungeduld auf dem glattrasierten, rötlich gedunsenen Gesicht mit der energischen, kurzen Nase und den starken Kiefern.

„Wo bleibt denn zum Kuckuck ver Wagen, Käte? Ich werde mit der ewigen Bummelei von dem Krause noch den Zug versäumen!“

„Du hast noch reichlich Zeit, Otto!“ sagte Käte Vögeding leise und scheu. Sie stand auf. Ihr Mann duckte sich in den Knien. Plötzlich strahlten seine herrischen Züge. Er breitete die Arme aus und fing das herantrabende Hermännle auf und schwenkte es begeistert hoch in die Luft und betrachtete es liebevoll von unten.

„Wo ist denn mein Kommerzienrätle — wo ist es denn?“

„Alleweil hoch über den andern, Pappi!“

„Erst kommt wer?“

„Ich!“ krähte das Hermännle aus der Höhe.

„Und dann?“

„Lange nix!“

„Recht so! Du bist mein Kommerzienrätle!“

„Er verzieht den Jungen masslos!“ sagte die junge Frau zu ihrem Bruder. „Ich kann nichts dagegen machen. Ich bin die reine Nebenfigur.“

Das Hermännle verschwand geräuschvoll an der Hand der Houvernante. Otto Vögeding blickte ihm zärtlich nach und griff sich dann an die Backe.

„Das Zahnweh wird immer toller! Natürlich ausgerechnet am Sonntagabend, wo weit und breit kein Zahnarzt — und wenn — nee — muss der Mensch auch noch gerade die Nacht durch nach Hamburg! Wenn sie mich dort morgen in der Sitzung belämmern . . . “

„Dich, Otto?“ Die junge Frau lächelte nur bei dem Gedanken.

„. . . dann ist mein hohler Zahn daran schuld!“ Otto Vögeding sah jetzt erst, dass noch ein dritter in dem dämmerigen Zimmer war. Er runzelte die Stirne. „Wen hast du den da, Käte?“ Er trat forschend mit schweren Schritten, die Zigarre in der Hand, näher. „Kenn’ ich ja gar nicht!“

„Doch, Otto!“ sagte seine Frau bittend und ängstlich.

„. . . und beinahe zu nachtschlafender Zeit . . . da bin ich doch neugierig!“

„Mein Bruder Alfred. Du hast ihn vier Jahre nicht gesehen, Otto! Ich weiss: Es ist dir nicht recht! Aber er hat sicher etwas sehr Dringenes. Er will kein Geld, Otto!“

„Ist er krank?“

„So seh’ ich aus!“ Alfred Giebisch’ braunes Gesicht lachte über dem grauen Sonntagnachmittagsanzug.

„Krank? Wieso — Otto?“

„Na — ’n Giebisch, der kein Geld will!“ Otto Vögeding zuckte freundlich-brutal die Achseln. Er setzte sich, steckte die Hände in die Hosentaschen und streckte die Beine aus. Dann musterte era us seinen kleinen, hellgrauen Augen, unheimlich-gemütlich lächelnd, den Schwager.

„Na — nimm schon Platz! Du siehst merkwürdig ansändig aus — für einen Giebisch!“

„Otto . . . “

„Na ja, Käte! Segen, dass ich auch bei Zahnweh sonniger Laune bin!“ Otto Vögeding sah nach seiner Taschenuhr. „Zehn Minuten hab’ ich Zeit! Nicht ’ne Sekunde länger . . . Betörend wirkt der Knabe! Findest du nicht auch, Käte?“

„Ja. Aber spiele nicht mit ihm, wie der Kater mit der Maus! Ach — ich kenn’ dich doch, Otto!“ Käte Vögeding sagte es gepresst und schnell und ging leise aus dem Zimmer. Ihr Mann seufzte.

„So wird man verkannt! Sogar von der eigenen Frau! Dabei bin ich ’n Mensch wie ’n Kind. Nur das eine: Ich bin Patentvertreter! Das weisst du.“

„Ein ganz grosser sogar!“

„. . . und nicht ’n Anwalt für finanzielle Schwulitäten kleiner Leute! Verstanden — ja?“ Es klang kurz und scharf. „Nicht so ’ne Pumpstation, wie auf den Dörfern, wo jeder kommt und seinen Tank — will sagen seine Taschen füllt! Das voraus — in aller Freundschaft! Nun schiess also los!“

7

Der Patentvertreter Otto Vögeding sass und drehte in den Tiefen seines Klubsessels die Daumen über der gewölbten Weste, die Zigarre schief zwischen den sarkastischen Lippen. Seinem Gast hatte er nichts zu rauchen angeboten. Der junge Mann langte sich aus dem Kasten eine Zigarre, entzündete sie und began zwischen den ersten Zügen:

„Offen gestanden, Schwager: Du bist mir ein Rätsel! Das wollte ich dir schon lange ’mal bei Gelegenheit sagen! Du bist ja reineweg mit Blindheit geschlagen! Merkst du den das nicht?“

Otto Vögeding nahm überrascht die Havannah aus dem Mund und schaute sein Gegenüber so schweigend und aufmerksam an, wie ein Irrenarzt einen bedenklichen patienten!

„Höflich ist es ja nicht von mir, dir das so unumwunden zu Gemüt zu führen. Aber du bist ja ein Mann, der die Wahrheit verträgt!“

„Immer munter so weiter!“ sprach der hausherr.

„Du giltst doch für so smart! Vor zehn Jahren noch ein kleiner Rechtsanwalt ohne Kundschaft! Und jetzt . . . “

Otto Vögeding griff nach dem Telephon neben ihm, horchte hinein und sagte gleichgültig in den Trichter:

„So? Eben kabeln die Amerikaner, dass sie in den Patentsachen von Wieses Erben nicht nachgeben? Schön. Also Kampf! Mir recht! In Wieses Erben stecken Millionen! Wie mir’s geht? . . . Lustlos! Zahnweh! . . . Langweiliger Mensch vor mir im Klubgestühl! Nacht!“ Er hängte ab. „Nu aber gefälligst zur Sache!“

„Du bist doch Familienvater!“ Alfred Giebisch streifte die Asche seiner Havannah ab. „Kannst du den das wirklich vor Weib und Kind verantworten?“

„Was den?“

„. . . dass du derart an deinem Glück vorbeigehst?“

„An welchem?“

„Na — an mir!“

„Der Kerl ist klassisch!“ Otto Vögeding faltete die Hände über dem Bauch.

„Ein kommender Mann von meinen Qualitäten! Dabei, als nächster Verwandter, absolute vertrauenswürdig! Ich versichere dich, mein lieber Otto — wer in Berlin die Verhältnisse kennt, versteht dich einfach nicht!“

„Aber sonst fühlst du dich wohl?“

„Ich spreche lediglich in deinem Interesse! Du bist ein älterer Herr zu Anfang vierzig. Du bist kurzatmig. Du rauchst Dreimännerzigarren! Du hast dir in den letzten zehn Jahren so viel zugemutet wie andere Zeit ihre Lebens. Du brauchst Entlastung! Eine mit Energie gelaene junge Kraft! Bitte, hier! Beiene dich!“

„Hast du öfters so Anfälle?“

„Ich sage das nicht wegen mir. Ich hab’ das nicht nötig. Ich stehe gross da — in bester, ungekündigter Position — in einem glänzend aufgezogenen Betrieb. .“