Hoffnung auf ein Wiedersehen - Peter Kleine - E-Book

Hoffnung auf ein Wiedersehen E-Book

Peter Kleine

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Beschreibung

Am Ende des Zweiten Weltkriegs wird Familie Baran bei der Flucht aus Ostpreußen auseinandergerissen. Martin Baran und Zwillingssohn Wilhelm sowie Zögling Ludwig landen in West-Berlin, während es Marielle, Martins Ehefrau, und Wilm, den anderen Zwillingssohn, nebst Zögling Luggi nach Ost-Berlin verschlägt. Die beiden Familienhälften haben sich aus den Augen verloren. Doch Martin Baran gibt nicht auf. Er macht sich Anfang der Siebzigerjahre wie auch Sohn Wilhelm und Zögling Ludwig nach Ost-Berlin auf, um nach der anderen Hälfte der Familie zu suchen. Die Spur führt nach Köpenick und Prenzlauer Berg. Allerdings geht jede Menge schief. Martin verletzt die DDR-Grenzbestimmungen und bekommt es mit der Volkspolizei zu tun. Wilhelm und Ludwig stellen sich zwar schlauer an, dennoch erwarten sie heftige Turbulenzen, als Wilm und Luggi aufkreuzen. Vorhang auf für eine Verwechslungskomödie, die, frei nach Shakespeares Theaterstück "Komödie der Irrungen", bei den Protagonisten für allerlei Aufregungen sorgt und sie vor dramatische Situationen stellt. Wird es den Barans gelingen, sich wieder in die Arme zu schließen? Auch wenn die Orte der Handlung und die Epochen andere sind, hält sich "Hoffnung auf ein Wiedersehen" an die Shakespeare'sche Vorlage und verspricht ein ebensolches anspruchsvolles Lesevergnügen.

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Die Abbildungen sind dem Katalog „Die Shakespeare-Illustration (1594-2000)“, hg. von Prof. Dr. Hildegard Hammerschmidt-Hummel, entnommen. Die dreiteilige Sammlung ist erschienen im Harrassowitz-Verlag, Wiesbaden 2003, im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz. Die vorliegenden Abbildungen sind erschienen im zweiten Band des Katalogs.

Die eingestreuten Zitate stammen aus William Shakespeares „Die Komödie der Irrungen“ / „The Comedy of Errors“ in der deutschen Übersetzung von Wolf Graf Baudissin (Schlegel/Tieck-Ausgabe), hg. von Anselm Schlösser, Berlin 1975.

Illustration Nr. 1: 0381, „The Comedy of Errors”, Figuren: Luciana, Adriana, Antipholus of Syracuse, Dromio of Syracuse, Holzschnitt, 1873

PERSONEN

Herzog Solinus

Major Gerhard Rehwald, Volkspolizei (Ost)

Ägeon von Syrakus

Martin Baran, Vater, früher Landstallmeister (West)

Antipholus (E.)

Wilm Baran, Konsum Oberspree, Vorgesetzter von Luggi (Ost)

Antipholus (S.)

Wilhelm Baran (West)

Dromio (S.)

Ludwig, Angestellter von Wilhelm (West)

Dromio (E.)

Luggi, Mitarbeiter von Wilm im Konsum Oberspree (Ost)

Balthasar

Balthasar, Lebensmittelhändler der Handelsorganisation (Ost)

Angelo

Goldschmied Engel, genannt Angelo (Ost)

Ämilia (Ehefrau von Ägeon), Äbtissin

Marielle Baran, Mutter, Direktorin des Vorderasiatischen Museums (Ost)

Adriana

Adriana, Frau von Wilm Baran, Leiterin des Frauenkollektivs (Ost)

Luciana

Luzie, Schwester von Adriana, Mitarbeiterin im Konsum (Ost)

Kurtisane

Patrizia Wuhlisch, Inhaberin des Lokals

Einsame Herzen

(Ost)

Doktor Zwick

Dr. Reinhard Zwack, Oberlehrer im Ruhestand, jetzt ehrenamtlicher Kurator des Kunstgewerbemuseums in Köpenick (Ost)

VORBEMERKUNG: LESEHILFE

Um die komplexe Handlung der Komödie überschaubar zu halten, werden in Ergänzung zu der Szenenführung des Dramas entscheidende Orte sowie die jeweiligen Hauptpersonen des nachfolgenden Abschnitts in Form einer Lesehilfe stichwortartig benannt.

Illustration Nr. 2: 0369, Figuren: The Duke of Ephesus, Aegeon, the Merchant of Syracuse and others, Stich, 1709

Inhaltsverzeichnis

TEIL I

GRENZÜBERGANG OBERBAUMBRÜCKE: MARTIN BARAN

TEIL II

FLUCHT AUS OSTPREUßEN

TEIL III

TOD ZWEIER SOLDATEN

TEIL IV

VERHÖR MIT AUFLAGEN

TEIL V

WILHELM BARAN UND LUDWIG

TEIL VI

WILHELM UND LUGGI

TEIL VII

ADRIANA UND LUZIE

TEIL VIII

LUDWIG UND WILHELM

TEIL VIII

LUDWIG, WILHELM, ADRIANA, LUZIE

TEIL X

LUDWIG ALS TÜRWÄCHTER

TEIL XI

LUGGI UND WILM

TEIL XII

WILM UND LUGGI MIT BALTHASAR

TEIL XIII

ADRIANA, LUZIE UND WILHELM

TEIL XIV

LUDWIG UND WILHELM, NELLE UND ANGELO

TEIL XV

LUDWIG UND WILHELM

TEIL XVI

BALTHASAR, PATRIZIA, WILM

TEIL XVII

ADRIANA UND LUZIE

TEIL XVIII

WILM, BALTHASAR UND ANGELO

TEIL XIX

LUDWIG, WILM, BALTHASAR

TEIL XX

WILM, ANGELO

TEIL XXI

ADRIANA, LUZIE UND LUDWIG

TEIL XXII

WILHELM UND LUDWIG

TEIL XXIII

WILHELM, LUDWIG, ANGELO

TEIL XXIV

ANGELO, POLIZEI

TEIL XXV

PATRIZIA, ADRIANA

TEIL XXVI

PATRIZIA, ADRIANA, DR. ZWACK

TEIL XXVII

WILM UND LUGGI AUF DER POLIZEIWACHE

TEIL XXVIII

LEUTNANT BUNSE, DR. ZWACK , ADRIANA, PATRIZIA, WILM, LUGGI

TEIL XXIX

WILHELM UND LUDWIG AUF DER FLUCHT

TEIL XXX

RÜCKBLICK: MARIELLE BARAN IM VORDERASIATISCHEN MUSEUM BERLIN

TEIL XXXI

WETTERLEUCHTEN IN GETHSEMANE

TEIL XXXII

RÜCKBLICK: MARIELLE IN OSTPREUßEN

TEIL XXXIII

WILM UND LUGGI

TEIL XXXIV

MARTIN BARAN

TEIL XXXV

RÜCKBLICK: MARTIN BARAN

TEIL XXXVI

AUFLÖSUNG UND KATHARSIS

EPILOG: VON DER ELISABETHANISCHEN KOMÖDIE ZUM ZEITGENÖSSISCHEN ROMAN

WECHSEL DER SCHAUPLÄTZE

VOLKSTHEATER

TRAGIKOMÖDIE

ZUSAMMENFASSUNG DES ORIGINALS

TEIL I

Ägeon:

O schwerste Pflicht, die du mir auferlegt,

Dir auszusprechen unaussprechlich Leid!

Doch, dass die Welt bezeuge, Vatersehnsucht,

Nicht niedrer Frevel, wirkte meinen Tod, –

Erzähl’ ich dir, so viel mein Gram erlaubt.

(William Shakespeare, Die Komödie der Irrungen, 1. Akt, 1. Szene)

GRENZÜBERGANG OBERBAUMBRÜCKE:MARTIN BARAN

Am Übergang Oberbaumbrücke war es bereits zu Ende: Martin Baran hatte geglaubt, mit seinem Berliner Pass die Grenze zum Osten passieren zu können, ohne in Schwierigkeiten zu kommen. Tatsächlich war es ihm möglich geworden, die ersten Kontrollstellen ohne Probleme zu passieren. Er hatte im Sender RIAS erfahren, dass Reisen in den Berliner Osten nun erleichtert würden und Westberliner die Möglichkeit erhalten sollten, sich für eine bestimmte Zeit in Ostberlin aufhalten und Verwandte besuchen zu dürfen. Die ersten beiden Checkpoints konnte er passieren, indem er die Papiere den Grenzbeamten vorhielt, die Lichtbild und Gesicht miteinander verglichen und ihn durchwinkten. Doch am dritten Posten der Passkontrolleinheit wurde er erstmals richtig kontrolliert und scharf darauf hingewiesen, dass seine Papiere nicht in Ordnung seien.

„Haben Sie schon einmal einen Blick auf das Datum geworfen?“, wurde er in scharfem Ton gefragt. Martin Baran gab sich unwissend und sagte, es sei doch alles in Ordnung.

„Nichts ist in Ordnung“, gab der Uniformierte zurück. „Sie sind überhaupt nicht befugt, sich in der Hauptstadt der DDR aufzuhalten. Die Papiere gewähren Ihnen das Recht zu einem eintägigen Aufenthalt im Dezember, nun haben wir erst Oktober.“

Der andere Grenzsoldat fuhr Baran scharf an: „Wie sind Sie überhaupt durch die Kontrollposten gekommen? Sie haben versucht, die Kollegen zu hintergehen. Das ist ja wohl eine Frechheit!“

Baran spürte, dass die Lage für ihn bedrohlich werden konnte, und antwortete: „Ich habe bei der Westberliner Niederlassung im Wedding im Juni einen Antrag gestellt, um so schnell wie möglich nach Ostberlin zu kommen. Noch nie zuvor war ich in diesem Teil der Stadt. Durch das Rote Kreuz habe ich erfahren, dass im Zuge des Suchdienstes der beiden deutschen Staaten Verwandtenbesuche im Osten möglich sind. Da habe ich einen Antrag auf Einreise gestellt, der auch positiv beschieden wurde.“

„Aber erst im Dezember, lieber Freund, und nicht am heutigen Tag. Warum sind Sie denn schon heute hierhin gekommen?“

Baran hatte kaum Zeit zu antworten, da ihm erneut in scharfem Ton entgegengehalten wurde: „Da haben Sie sich gedacht, Sie könnten nun machen, was Sie wollen. Termine interessieren Sie wohl nicht. Und das Territorium der Hauptstadt der DDR steht Ihnen jederzeit frei.“

Baran versuchte sich zu rechtfertigen und antwortete schüchtern: „Man hat mir ja keinen Termin innerhalb der nächsten drei Monate in Aussicht gestellt. Und so habe ich mich entschlossen, heute schon auf die Suche zu gehen.“

„Was veranlasst Sie denn, unabhängig von dem Ihnen zugewiesenen Datum auf eigene Faust hierhin zu kommen?“, wollte sein Gegenüber wissen.

Baran fasste sich ein Herz und antwortete tapfer: „Mein Sohn Wilhelm und sein Begleiter Ludwig haben am heutigen Tag auch die Grenze passiert, sodass ich keinen Grund sah, noch länger zu warten.“

Die Grenzbeamten berieten sich für einen kurzen Moment und wandten sich wieder Martin Baran zu: „Ihr Familienklüngel interessiert uns gar nicht. Sie haben eine schwere Grenzverletzung begangen, indem Sie die beiden ersten Kontrollen trotz ausdrücklicher Hinweise einfach ignorierten. Zudem scheint Ihnen die Datierung der Zulassung zum Betreten der Deutschen Demokratischen Republik egal zu sein. Dies stellt eine schwere Straftat dar und wird einige Konsequenzen nach sich ziehen.“ Unisono sagten beide Grenzsoldaten: „Sie sind vorläufig festgenommen.“

Als Martin Baran das Wort „festgenommen“ vernahm, fuhr ihm ein fürchterlicher Schreck in die Glieder, und er sah all seine Vorbehalte und Vorurteile gegenüber dem Regime der SED bestätigt. Die beiden Grenzbeamten forderten ihn auf, mit ihnen in ein kleines Büro zu kommen, wo er Platz nehmen sollte.

Ein weiterer Grenzwächter betrat den Raum und blieb mit einem Kollegen zu seiner Bewachung zurück, ohne mit ihm ein Wort zu wechseln. Einer von ihnen verließ das Büro und kündigte an, den Genossen Major Rehwald zu informieren, der das Verhör vornehmen werde.

Nach etwa 5 Minuten betrat Major Rehwald, der wachhabende Offizier, das Büro. Er war ein hochgewachsener Mann im Alter von ca. 40 Jahren mit vollem Haar und breiten Schultern, trug eine Brille, die ihn ernst und gewichtig aussehen ließ, und stellte sich mit knappen Worten vor: „Major Rehwald, ich bin Leiter des Kontrollpunkts Oberbaumbrücke und zuständig für Grenzverletzungen durch Einreisende aus der BRD und Westberlin.“

Er bot Martin Baran, der die ganze Zeit gestanden hatte, an, auf einem Stuhl am zentral positionierten Tisch im Büro Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich auf die andere Seite des Tisches und wies seinen Kollegen an, die Schreibtischlampe einzuschalten und so einzustellen, dass der Schein direkt auf das Gesicht des völlig verängstigten Baran fiel. Bis auf den Protokollanten wurden die anderen Kollegen aufgefordert, den Raum zu verlassen.

Rehwald eröffnete das Gespräch: „Beantworten Sie mir folgende Fragen: Wie ist Ihr Name? Wo wohnen Sie? Was hat Sie dazu bewogen, mit ungültigen Dokumenten den Herrschaftsbereich der DDR zu verletzen?“ Seine Stimme war fest. Er fixierte sein Gegenüber mit klarem Blick.

Baran schüttelte den Kopf, nahm Anlauf zu einer ersten Erklärung und begann mit brüchiger Stimme: „Mein Name ist Martin Baran. Ich wohne in Berlin-West in Kladow, Waldstraße 23.“ Hier unterbrach er seine erste Erklärung und bat um ein Glas Wasser, da er einen trockenen Mund habe.

Rehwald griff zum Telefon und veranlasste, etwas zu trinken zu bringen. „Nun erzählen Sie weiter, Herr Baran!“, nahm Rehwald das Verhör wieder auf, als sich die Tür öffnete und ein uniformierter Grenzwächter ein Glas Wasser auf den Tisch stellte.

Baran nahm einen Schluck und fuhr in etwas gefassterer Haltung fort: „Ich wollte nach Ostberlin, um meine Frau und meinen Sohn zu suchen.“

„Das klingt ja reichlich abenteuerlich“, entgegnete Rehwald, „Berlin weist ja nicht viel mehr Menschen auf als Ihre Frau und Ihren Sohn. Wie wollten Sie das denn machen?“

Dazu erklärte Baran: „Die wohnen vielleicht in Köpenick, das liegt ja am Rande der Stadt, und in Prenzlauer Berg.“

„Ist aber immer noch kein Dorf“, erwiderte der Major. „Wie wollten Sie denn vorgehen?“

„Ich habe vom Roten Kreuz einige Adressen und wollte dort fragen, wo Marielle Baran und unser gemeinsamer Sohn Wilm wohnen.“

„Wann haben Sie denn Ihre Verwandten zuletzt gesehen?“

„1944 vor unserer Flucht aus Ostpreußen.“

„Wie bitte“, rief Rehwald aus, „Sie haben die beiden seit 28 Jahren nicht gesehen?“

TEIL II

FLUCHT AUS OSTPREUßEN

„Ja, genau. Denn bis vor kurzem habe ich nicht gewusst, ob sie überhaupt noch leben. Wir sind seinerzeit aus Gumbinnen geflohen und haben uns auf den Weg nach Pillau gemacht, wo die Schiffe Flüchtlinge aufnahmen und in den Westen brachten. Wir wollten alle gemeinsam mit einem Fischdampfer fahren, als es plötzlich hieß, das Schiff könne nicht alle Personen aufnehmen. Wir hatten uns ursprünglich vorgenommen, gemeinsam mit dem Schiff, es hieß Stargard, in den Westen zu fliehen. Als es Schwierigkeiten gab, entschieden wir, dass notfalls meine Frau mit zwei kleinen Kindern – wir hatten vier Kinder bei uns – das Schiff nimmt und ich mit den beiden anderen nachkomme. Und so kam es: Wir hatten keine andere Wahl, denn es durften nicht mehr als drei Personen einer Familie das Schiff besteigen, das wohl nach Dänemark auslaufen sollte. Ob es da aber angekommen ist, weiß ich bis heute nicht.“

Baran legte eine Pause ein und nahm erneut einen Schluck Wasser. Seine Erregung durch die Erzählung von der Flucht war deutlich zu spüren. Rehwald setzte die Befragung fort: „Wieso kommen Sie denn nun nach über 20 Jahren auf die Idee, Ihre Angehörigen zu suchen?“ Die Stimme klang ruhig und verständnisvoll, denn die Betroffenheit seines Gegenübers war ihm nicht entgangen.

Baran nahm das Glas in beide Hände und drehte es nervös auf dem Tisch: „Vor einigen Wochen machte mich mein Sohn, der in Westberlin wohnt, darauf aufmerksam, dass die Suchdienste des Roten Kreuzes der Bundesrepublik und der DDR eine neue gemeinsame Initiative gestartet hätten, um Familien und Verwandte, die als vermisst gelten, noch einmal zu registrieren. Mein Sohn hatte sich bereits damit abgefunden, seinen Zwillingsbruder nicht mehr zu sehen, zumal er den nie gekannt hat. Mich hat der Gedanke aber nie losgelassen zu prüfen, ob meine Frau und unser zweiter Sohn bei der Flucht ums Leben gekommen sind oder vielleicht noch hier leben.“

Rehwald, der nach dem Krieg ebenfalls mit seiner Familie geflüchtet war, entwickelte Verständnis für Barans Problem und fragte: „Wieso kommen Sie denn auf die Idee, hier im Osten Berlins zu suchen, wenn die drei Personen doch nach Westen gefahren sind?“

Baran erklärte: „Wir hatten vor unserer Trennung vereinbart, dass wir nach Berlin flüchten wollten. Dabei hatten wir Berlin-Treptow als Ziel ins Auge gefasst, ohne uns allerdings genau festzulegen. Ich habe dann nach 1945 versucht, etwas zu klären, aber bin völlig ohne Ergebnis geblieben.“

„Und warum sind Sie dann nicht in den Ostteil der Stadt, die heute Hauptstadt der DDR ist, gezogen?“

Hier zögerte Baran und schaute hilflos zur Seite. „Das kann ich hier wohl nicht erzählen“, setzte er vorsichtig ein.

Rehwald wurde hellhörig und witterte Unbilden: „Ich fordere Sie unmissverständlich auf, mir mitzuteilen, was Sie mit der letzten Bemerkung meinen. Sie haben sich hier bereits einer Grenzverletzung schuldig gemacht und sind daher verpflichtet, alles zu sagen, was zur Klärung Ihres Rechtsbruchs beiträgt. Also?“

Baran rang um Fassung und setzte an zu erzählen: „Ich war bis zu meiner Flucht als Landstallmeister Leiter des staatlichen Gestüts der Trakehner-Pferde in Gumbinnen. Während des Krieges, schon beim Einmarsch in Polen 1939, besonders aber während des Russland-Feldzugs, wurden wir von der Wehrmacht beauftragt, gute Pferde für die Kriegführung im Osten bereitzustellen. Ich galt als zuverlässiger Verwalter, war seit 1937 Mitglied der NSDAP gewesen und später vom Kriegsdienst freigestellt worden. 1943 musste ich nach Königsberg und erhielt durch Speer das Goldene Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern.“

„Sie meinen Albert Speer, den Architekten des NS-Regimes, der später für lange Zeit in Berlin-Spandau inhaftiert war?“, unterbrach ihn Rehwald. Letzterer wusste, wovon Baran sprach, denn ihm war der Cursus Honorum der Militärhierarchie durchaus bekannt. Schon im Ersten Weltkrieg war sein Großvater im August 1914 für den besonderen Einsatz bei der Schlacht von Tannenberg, sein Vater im Zweiten Weltkrieg als Wehrmachtsoffizier mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet worden.

„Ja, genau“, fuhr Baran fort, „den Rüstungsminister. Er hatte uns nach Königsberg eingeladen, wo wir geehrt wurden für die wertvolle Hilfe bei der erfolgreichen Kriegführung und die Verdienste am Vaterland.“

Baran berichtete weiter: „Gumbinnen war lange Zeit in der Lage, kräftige Schlachtrösser zu liefern, mit denen die Soldateska in Richtung Litauen und Osten ziehen konnte. In Berlin wusste man um die Schlagkraft der Armeeteile, die durch unsere Pferde gewaltig erhöht wurde. Wir unterstanden dabei direkt dem Oberkommando der Wehrmacht, ich selbst war persönlicher Ansprechpartner für die Generalität in Königsberg und Berlin.

Als nun die deutschen Truppen im Jahre 1944 immer mehr nach Westen zurückgeschlagen wurden und die sowjetische Armee über die baltischen Staaten Kurs auf Ostpreußen nahm, ergriffen viele Bewohner, so auch meine Frau, die gerade Zwillinge bekommen hatte, im Dezember 1944 die Flucht in westliche Landesteile oder ins Ausland. Meine Frau und ich wollten zusammenbleiben, wurden beim Betreten des Schiffes Stargard in Pillau aber daran gehindert. Marielle durfte mit dem einen Sohn und einem zweiten Baby das Schiff betreten, den beiden anderen Kindern und mir wurde der Zugang versperrt. So brach die überfüllte Stargard – ein Fischkutter – in Richtung Dänemark auf. Ich selbst musste mit den beiden anderen Kindern wieder nach Gumbinnen zurückkehren.

Einige Offiziere der Wehrmacht erhielten Wind davon, dass wir einen Fluchtversuch unternommen hatten. So wurde mir bei Todesstrafe vorgeschrieben, das Land nicht zu verlassen und mich stattdessen um die Pferdepflege des Gestüts zu kümmern. Dort verbrachte ich einige Wochen, bemerkte allerdings, dass bereits riesige Kolonnen von Menschen und Tieren auf dem Landweg ihre Häuser verließen. So beschloss ich letztlich erneut, mich dem Strom der Flüchtenden anzuschließen, zumal ich wusste, mit welchen Pferden ich für einen Fortgang der Flucht rechnen konnte. Ich suchte vier meiner besten Hengste aus, spannte jeweils zwei vor einen Wagen und nahm die beiden Kinder mit auf die Flucht. Wir alle wussten nicht richtig, wohin es gehen sollte. Aber im Tross der Flüchtenden blieb unsere kleine Gruppe unentdeckt, und wir setzten uns ab in Richtung Westpreußen.

Es war ein bitterkalter Winter, und wir konnten einige Kilometer über das Frische Haff fahren, das zum Glück zugefroren war. Immer wieder sah man aber auch Pferdefuhrwerke, die in das Eis eingebrochen waren und vielfach in dem eiskalten Wasser erfroren. Wir kamen nur langsam voran, da der Zug der Flüchtenden, die oft zu Fuß unterwegs waren, keine Möglichkeit zuließ, schneller zu fahren. Es war für mich fast unmöglich, die beiden kleinen Kinder und die Pferde zu versorgen, doch schließlich erreichten wir Danzig.

In Danzig gab ich zwei Pferde ab, da ich die Not der anderen Flüchtenden sah, die teilweise zu Fuß ihre Leiterwagen ziehen mussten. Der Treck teilte sich dort auf, da einige den Weg nach Westdeutschland, insbesondere Schleswig- Holstein, suchten, andere – so auch wir – entschieden sich, in Richtung Berlin zu ziehen, da wir meinten, dort seien wir sicher. Da ich mit meiner Frau vereinbart hatte, wir wollten uns in Berlin wieder treffen, zog ich mit der Kolonne in Richtung Reichshauptstadt. Durch meine berufliche Tätigkeit war mir das Gestüt in Neustadt an der Dosse bekannt. Ich versuchte, mit meinen Kindern und den beiden Pferden bis dorthin zu kommen, um diese dort zu lassen. Ich hätte nicht gewusst, wo ich die Tiere in Berlin lassen könnte. Der dortige Landstallmeister war uns gegenüber sehr entgegenkommend, seine politische Einstellung deutete allerdings darauf hin, dass er überzeugter Nationalsozialist war, der tatsächlich immer noch an den Endsieg des deutschen Volkes glaubte. Ich konnte die beiden anderen Pferde im dortigen Gestüt zurücklassen und machte mich mit den beiden Jungen auf den Weg nach Berlin, wobei es uns glücklicherweise gelang, im Laderaum eines Militär- LKWs einen Platz zu finden zwischen flüchtenden Menschen, die wie wir auch nach Berlin wollten. Es waren fürchterliche Szenen, die wir unterwegs erlebten: Tote Menschen lagen am Wegesrand, zerstörte Häuser überall, die Tiere standen herrenlos auf den Wiesen, Kühe wurden nicht gemolken und brüllten mit prallen Eutern auf ihren Weiden. Die Schreie der Tiere waren herzzerreißend und markerschütternd für uns alle.“

Hier unterbrach Baran seinen Bericht und begann zu weinen. Er hielt die Hand vor Augen und wischte seine Tränen weg, musste aber immer wieder schluchzen und aufstoßen. Er nahm das Glas Wasser zur Hand und leerte es in einem Schluck. Der Major wies seinen Untergebenen an, ein neues Glas zu bringen und forderte Baran in ruhigem Ton auf, seinen Bericht fortzusetzen. Letzterer konnte sich wieder fassen, atmete tief durch und fuhr fort:

„Nach zwei Tagen erreichten wir schließlich Berlin und erlebten eine bittere Enttäuschung. Die Stadt war völlig zerstört und sah grausam aus. Niemand hieß uns willkommen, denn alle schienen nur mit sich selbst beschäftigt zu sein. Wir wurden angepöbelt und aufgefordert, nach Hause zurückzukehren. Niemand kümmerte sich um uns, und wir wussten bald selber nicht mehr, warum wir überhaupt dorthin gekommen waren. Als wir feststellten, dass wir als ungebetene Gäste angesehen wurden, löste sich allmählich unsere Gesellschaft auf, und wir alle gingen in verschiedene Richtungen. Da ich die Jungen bei mir hatte, orientierte ich mich auf ein Gebiet, das nicht unbedingt im Herzen der Stadt lag. So wurde uns empfohlen, unser Glück im Stadtbezirk Spandau zu versuchen, da dort nicht alles zerbombt sei. Wir klopften dann buchstäblich an jeder Haustür an und fragten, ob wir für ein paar Tage bleiben könnten. Die kleinen Kinder waren mein größtes Problem, aber auch meine beste Hilfe, denn schließlich wurden wir fündig in einer Niederlassung der Evangelischen Kirche in Kladow, wo man uns für ein paar Wochen aufnahm. Man half mir bei der Versorgung und Pflege der Jungen, und ich begab mich auf die Suche nach einer Arbeit.“

TEIL III

TOD ZWEIER SOLDATEN

Baran unterbrach seine Schilderung und schaute Rehwald an, um zu erfragen, ob er fortfahren oder eine Pause einlegen solle. Letzterer gab per Blickkontakt zu verstehen, er möge bitte weiter berichten. Baran schöpfte ein wenig Hoffnung aus dem Glauben, dass Rehwalds Interesse an der Geschichte vielleicht ein Vorteil für ihn sein konnte. So fasste er sich ein Herz und setzte fort:

„Nach den ersten Jahren als Gelegenheitsarbeiter gelang es mir schließlich, am Aufbau eines Reiterhofes in Spandau mitzuarbeiten und meine beruflichen Kenntnisse dort einzusetzen. Für die Versorgung der Kinder, unseren Sohn Wilhelm und seinen kleinen Freund Ludwig, konnte ich eine liebe Frau gewinnen, die im Krieg durch die alliierten Bombenangriffe ihre ganze Familie verloren hatte. Wir bewohnten eine kleine Zweizimmerwohnung in einer Gegend, in der es für die Kinder viele Grünflächen und Spielmöglichkeiten gab. Sie wuchsen in Kladow auf und gingen dort zur Schule. Später machte sich mein Sohn selbstständig als Immobilienkaufmann und stellte Ludwig als Mitarbeiter ein. Ich selbst blieb auf dem Reiterhof und übernahm schließlich die Leitung eines Reittherapiezentrums am Wannsee.“

An dieser Stelle unterbrach ihn Rehwald abrupt und fragte mit bohrender Stimme: „Warum haben Sie denn nicht bereits damals die Suche nach Ihrer Frau begonnen? Sie waren doch nun im Goldenen Westen, wo alles so herrlich nach Plan lief!“

„Ich hatte Angst“, entfuhr es Baran spontan.

„Wovor?“

„Vor der Polizei.“

„Erklären Sie das bitte mit kurzen Worten!“

„Seinerzeit in Ostpreußen wurde mir der Tod zweier russischer Soldaten zur Last gelegt.“

„Wie bitte?“, reagierte Rehwald sehr impulsiv. „Was war da los?“

Baran spürte, dass die Situation für ihn unangenehm wurde und wand sich in unbeholfener Gestik. Er blickte Rehwald ins Gesicht und fragte: „Muss ich das jetzt noch erzählen?“

„Die Frage ist wohl überflüssig.“ Und mit Blick auf seinen Protokollanten sagte er: „Wir schreiben mit!“

„Es war im Januar 1945, als die ersten Soldaten der Roten Armee auf unseren Hof fuhren. Sie sprangen von ihren Fahrzeugen und suchten mich sogleich auf. Durch ihren Dolmetscher erklärten sie mir, dass sie Fleisch zum Essen brauchten. Ich wies sie auf die Schweine und Rinder in der Nachbarschaft hin, denn ich wollte die Pferde schützen. Sofort machten sich die meisten Rotarmisten auf den Weg in das benachbarte Dorf – bis auf zwei von ihnen, die zurückblieben. Ich sah, wie sie auf die Pferdekoppel gingen und mit ihrer Kalaschnikow drei Pferde, die ich gut kannte, erschossen. Dies hat mich so sehr empört, dass ich sofort zu ihnen lief und schrie, dass sie dieses nicht tun dürften. Darauf erklärten sie mir in russischer Sprache, die ich nicht verstand, mit Händen und Füßen, dass ich den Mund halten und verschwinden sollte. Aber auch Bedienstete unseres Hofs hatten die Szene beobachtet. Plötzlich gab es eine kurze Gewehrsalve, und die beiden sowjetischen Soldaten fielen um. Ich lief sofort zu ihnen hin und stellte fest, dass sie beide tot waren. – In dem Moment erkannte ich, dass diese Schüsse schnell mir angelastet würden, da ich mich fürchterlich aufgeregt und zuletzt mit den beiden gesprochen hatte. Es wurde mir klar, dass ich mich in Lebensgefahr befand. Ich traf sofort alle Vorbereitungen zur Flucht, die ich ja bereits geschildert habe.“

An dieser Stelle stockte Martin erneut und begann zu schluchzen. Er vergrub seinen Kopf zwischen den Händen und erklärte, er könne nicht weitersprechen. Rehwald signalisierte seinem Protokollanten, der offenkundig durch die Schilderung auch sehr betroffen schien, dass man eine kleine Pause einlegen wolle.

Er wies den Protokollanten an, den Raum zu verlassen und zwei weitere Kollegen zu Barans Bewachung zu schicken. Als die Verstärkung anrückte, verließ auch Rehwald den Raum und überließ Baran den anwesenden Beamten, die schweigend an der Wand standen.

TEIL IV

VERHÖR MIT AUFLAGEN

Baran hatte keine Ahnung, was dieser Personalwechsel zu bedeuten hatte und malte sich in den grellsten Farben die möglichen Konsequenzen seines Berichts aus. Vielleicht würde nun die sowjetische Botschaft benachrichtigt, vielleicht würde er nun einem ganz anderen Verhör unterzogen werden. Vielleicht würde er auf Dauer inhaftiert werden und für seine Flucht aus Ostpreußen büßen müssen.

All diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, und er bemühte sich immer wieder, Fassung zu gewinnen und sich selbst zu beruhigen. Vielleicht würden sich die Dinge ja noch etwas anders als befürchtet erledigen, denn Rehwald wirkte auf ihn nicht wie ein Unmensch, sondern wie ein pflichtbewusster Beamter der Grenzbehörden. Dennoch hatte Baran große Angst, die in erster Linie daraus resultierte, dass er keine Ahnung hatte, wie sich seine Schilderung der Ereignisse, die ihn ja immer davon abgehalten hatten, sich in den Osten der Stadt aufzumachen, auswirken würde.

Es war ihm bewusst, dass er von nun an von zwei besonderen Umständen gequält wurde: Zum einen war es der illegale Grenzübertritt, der sein Verhalten nun ans Tageslicht gebracht hatte. Zum anderen war es die ungeklärte Vergangenheit, die ihn als Gegner sowjetischer Soldaten, die auch in der DDR ihren Dienst verrichteten, ausgewiesen hatte. Baran vergrub sein Gesicht in den Händen und dachte zurück an die Zeit in seiner alten Heimat, als er vor dem Krieg mit Marielle wunderbare Pläne schmieden konnte.

Seine Stellung als Landstallmeister in dem Trakehner-Gestüt hatte ihn zu einem angesehenen Mann gemacht, der durch seine hohe Qualifikation und die weltweit geschätzte Bedeutung seiner Tätigkeit viele Menschen zu überzeugen wusste. Gleiches galt auch für seine Frau, die erst in Gumbinnen, schließlich aber in der Hauptstadt Königsberg ihre geliebte Tätigkeit als Museumspädagogin ausüben konnte. Wenn er bisweilen auch dazu neigte, die Pferdezucht in ihrer Bedeutung über alles zu heben, gelang es ihr immer wieder, ihren ehrgeizigen Mann in die Tageswirklichkeit zurückzuführen. Unwillkürlich erinnerte er sich an ihr Lieblingslied von den wilden Schwänen: „Keiner ward mehr geseh’n. Schwäne, leuchtend weiß und schön …“.