Was wollt ihr? - Peter Kleine - E-Book

Was wollt ihr? E-Book

Peter Kleine

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Beschreibung

Im Kurort Bad Pyrmont kommt es zu Verwirrungen und Verwicklungen um den Arzt Dr. Nedal Macaron, der in Wahrheit eine Ärztin ist. Als diese aus dem vom Bürgerkrieg gebeutelten Libanon flüchtete und in Deutschland ankam, entschied sie sich, die Rolle eines Mannes anzu- nehmen, um ihre Karrierechancen zu verbessern. Nun steht sie zwischen der Chefärztin Rosa Melchers, die sich in den vermeintlichen Mann Dr. Nedal verliebt hat, und ihren eigenen Gefühlen für den Bäderdirektor Orsino, der in ihr aber auch nur einen männlichen Kollegen sieht. Und als ob alles nicht schon kompliziert genug wäre, taucht Karim, Nedals verschollener, tot geglaubter Zwillingsbruder in Deutschland auf. Karim weckt die Begehrlichkeiten eines Mitarbeiters des Ausländeramts in Hannover. Dieser sorgt deshalb in Bad Pyrmont für weitere Verwirrungen. Dr. Nedal steht nun vor der Entscheidung, ob sie weiterhin die Rolle eines Mannes spielen oder eine erneute "Geschlechtsumwandlung" zur Frau vornehmen will. Ähnlich wie in Shakespeares Original "Was ihr wollt" entwickelt die Handlung von "Was wollt ihr?" amüsante Konstellationen um den Vertausch der Geschlechterrollen und der Identitäten. Peter Kleine, der schon mehrere Shakespeare-Adaptionen veröffentlicht hat, wird auch diesmal seine Leserschaft brillant unterhalten.

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Inhaltsverzeichnis

VORWORT

PERSONENREGISTER

TEIL I

TEIL II

TEIL III

TEIL IV

TEIL V

TEIL VI

TEIL VII

TEIL VIII

TEIL IX

TEIL X

TEIL XI

TEIL XII

TEIL XIII

TEIL XIV

TEIL XV

TEIL XVI

TEIL XVII

TEIL XVIII

TEIL XIX

TEIL XX

TEIL XXI

TEIL XXII

TEIL XXIII

TEIL XXIV

TEIL XXV

TEIL XXVI

TEIL XXVII

TEIL XXVIII

TEIL XXIX

TEIL XXX

TEIL XXXI

TEIL XXXII

TEIL XXXIII

TEIL XXXIV

TEIL XXXV

ANHANG

LITERATUR

VORWORT

Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um eine Adaption der Komödie Was ihr wollt von William Shakespeare.

Schauplatz der Originalhandlung ist Illyrien, eine Region im Bereich der dalmatinischen Küste im heutigen Kroatien. Naturgemäß gehören die Hauptcharaktere des dramatischen Geschehens dem Kreis des Hochadels und seines Hofstaats an.

Die vorliegende Bearbeitung verlagert das Geschehen nach Deutschland und in den Libanon. In Deutschland sind es vorwiegend die Schauplätze des niedersächsischen Staatsbads Pyrmont und der Stadt Hannover. Im Libanon bewegt sich das Geschehen im Wesentlichen um die vom Bürgerkrieg heimgesuchte Stadt Beirut sowie das angrenzende Schuf-Gebirge.

Dementsprechend ist der Personenkreis auf die bürgerliche Ebene verlagert worden, die vom Betrieb eines Kurorts in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts geprägt ist.

Zum leichteren Verständnis der Adaption werden vor jedem Kapitel namentliche Hinweise auf die nachfolgenden Personenkreis wie auch die Schauplätze des Geschehens gegeben. Zuvor erfolgt ein Überblick über den bei Shakespeare aufgeführten Personenkreis sowie seine Entsprechung in der vorliegenden Adaption.

Die Fotos des vorliegenden Romans zeigen ausnahmslos den Kurbereich des Staatsbads Pyrmont.

PERSONENREGISTER

Orsino, Herzog von Illyrien

Orsino Bechthold, Kurdirektor Bad Pyrmont

Valentin, Edelmann beim Herzog

Valentin, Angestellter der Bädergesellschaft

Viola, verkleidet als Cesario

Dr. Nedal Macaron, Ärztin/Arzt, Geflüchteter aus dem Libanon

Sebastian, ihr Zwillingsbruder

Dr. Karim Macaron, Arzt, Flüchtling aus dem Libanon, Maronit

Schiffshauptmann

Holger Weisheit, Ausländeramt Hannover

Antonio

Julian Schwarzkopf, Vertrauter von Sebastian, Sozialpädagoge in der Lebenshilfe Emmerthal

Olivia, Gräfin

Dr. Rosa Melchers, Chefärztin in der Reha-Klinik Fürstenberg

Maria, Kammerfrau

Maria Sydow, Sekretärin in der Reha-Klinik Fürstenberg im Vorzimmer Dr. Melchers

Malvolio, Olivias Haushofmeister

Malvolio Volle, Concierge (Hausmeister) in der Reha-Klinik Fürstenberg

Junker Tobias von Rülp

Tobias Sögel, Vetter von Dr. Melchers, Palmengärtner im Kurpark

Junker Christoph von Bleichenwang

Christoph Seimer, Gärtner im Kurpark

Hausnarr Feste, im Hause Olivias

Fabian Wilke, Handwerker in der Klinik Fürstenberg

Zeit:1987 – Bürgerkrieg im LibanonOrte: Beirut, Hannover, Bad Pyrmont

Ich liebe deine Augen, die bedauernd, Weil ja dein Herz mich quält mit Sprödigkeit, In schwarzer Tracht wie liebe Freunde trauernd, Mit reizendem Erbarmen schaun mein Leid. Mir scheint, dass nicht die Sonn’ im Morgenrothe Des Ostens grauer Wange schöner lässt, Noch jener volle Stern, des Abends Bote, Nur halb so stolz verklärt den ernsten West. Wie dein Gesicht die trauernden Augen schmücken, So schmück’ um mich die Trauer auch dein Herz; Das Trauern steht dir einmal zum Entzücken, Drum trag des Mitleids Farben allerwärts! Dann will ich schwören, dass die Schönheit schwarz sei Und garstig, wer nicht deiner Farb’ und Art sei.

(William Shakespeare, Sonett 132, zitiert nach Jürgen Klein,My love is as a fever, S. 273)

NEDAL MACARON, HOLGER WEISHEIT

Seit mehr als drei Monaten hielt sie sich schon in der Flüchtlingsunterkunft in Hannover auf. Nedal war mit dem Flugzeug über Athen und Frankfurt nach Hannover gelangt, nachdem sie sich schweren Herzens entschlossen hatte, ihren Wohnsitz und ihre Praxis in Beirut aufzugeben. Sie befand sich in Lauerstellung, denn Holger Weisheit vom Ausländeramt Hannover bemühte sich sehr intensiv darum, ihr eine Stelle als Ärztin in dem Staatsbad Pyrmont zu vermitteln. Sie waren bereits in der niedersächsischen Kleinstadt gewesen, und Nedal hatte Feuer gefangen, in einem Kurbetrieb tätig zu werden, nachdem sie zu Hause in Beirut als niedergelassene Internistin gearbeitet hatte.

Im Austausch mit ihrem Bruder Karim, der wie sie Facharzt für Innere Medizin war, war der gemeinsame Entschluss gereift, das vom Bürgerkrieg erschütterte Land zu verlassen und den Weg nach Europa zu suchen. Ihr Wohnhaus war zwar noch unversehrt – Nedal besaß die rechte Hälfte des Hauses, Karim die linke –, aber ihre Praxis war von Artilleriegeschossen und Granathagel so stark beschädigt worden, dass sie unter diesen Umständen gar nicht mehr arbeiten konnten. Karim und Nedal waren Zwillinge, beide von ihnen sprachen neben Englisch auch Französisch und Deutsch. Arabisch war natürlich ihre Muttersprache, doch auch mit der deutschen Sprache kamen sie recht gut zurecht, da ihr Vater Hubertus Macaron seinerzeit als Bankangestellter des Crédit Lyonnais aus Karlsruhe nach Beirut gegangen war, um dort die Frau für’s Leben kennenzulernen.

Hubertus Macaron war zwar deutscher Staatsbürger, hatte jedoch französische Vorfahren, die aus dem Elsass kamen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er aus Colmar nach Karlsruhe gezogen, um für den Crédit Lyonnais die neue Filiale zu konsolidieren und auszubauen.

In Beirut arbeitete Hubertus Macaron mehrere Jahre, bis er in derselben Bank Mariam kennenlernte. Mariam war Christin, 1957 heirateten sie in der Maronitischen Kathedrale St. Georg, ein Jahr später kamen die Zwillinge Karim und Nedal zur Welt. Sie besuchten die Deutsche Internationale Schule in Beirut (DISB), die erst in den Fünfzigerjahren gegründet worden war. Nach dem Abitur studierten beide von ihnen Medizin in Beirut und Straßburg.

Nachdem sie anfangs in dem staatlichen Hospital Karantina gearbeitet hatten, machte sich das Geschwisterpaar selbstständig und richtete eine eigene Praxis im Beiruter Stadtteil Jdeideh ein. Möglich wurde dieser Schritt durch den finanziellen Rückhalt des Vaters, der mittlerweile zu einem bescheidenen Wohlstand gelangt war. Karim und Nedal wurden Fachärzte für Innere Medizin, Rheumatologie und Arthrosekrankheiten. Ihre gemeinsame Praxis betrieben sie über mehrere Jahre, bis die Einschläge des Bürgerkriegs auch für sie immer bedrohlicher wurden.

Die unterschiedlichen Volksgruppen und Religionsgemeinschaften hatten mittlerweile einen kompromisslosen Hass und brutale Aggressivität untereinander entwickelt, dass es schlechthin unmöglich war, mit Argumenten eine schlichtende Funktion übernehmen zu wollen. Die Regierung unter dem maronitischen Phalangisten Amin Gemayel bemühte sich zwar um Friedensgespräche mit den verfeindeten ethnischen Gruppen, doch als sich die christlichen Einheiten auch noch spalteten, schien überhaupt keine Perspektive für das Ende des Bürgerkriegs mehr absehbar. Drusen und Schiiten, Palästinenser, Soldaten der südlibanesischen Armee, muslimische Sunniten und christliche Phalangisten schlugen unerbittlich aufeinander ein und bombten sich zu Tode, dass es schließlich für viele Bewohner des Landes und insbesondere der Hauptstadt Beirut keine andere Möglichkeit mehr gab, als das Land zu verlassen und einen sicheren Platz in Europa oder Amerika aufzusuchen.

Karim und Nedal, die bereits ihre Mutter in den Kriegswirren verloren hatten, rangen lange mit sich, ob sie sich dem Flüchtlingsstrom anschließen oder im Land bleiben sollten. Ihre Mutter war schon vor Jahren Oper eines Sprengstoffanschlags geworden, doch als schließlich auch der Vater bei einem Einkaufsgang von einem Mörsergeschoss tödlich getroffen wurde, wurde für sie klar, dass sie das Land verlassen wollten. Dennoch taten sie sich schwer trotz der widrigen Umstände, ihre vertraute Umgebung aufzugeben. Ihre Freunde, KollegInnen und PatientInnen waren ihnen sehr ans Herz gewachsen und hatten ihnen Beistand und Trost nach dem Verlust ihrer Eltern gewährt.

Aufgrund der deutschen Herkunft beschlossen sie, nach Deutschland zu fliehen und um Asyl zu bitten. So wandten sie sich an die deutsche Botschaft und ließen sich über die Situation für Flüchtlinge informieren. Sie erhielten dort den Rat, die Nationalität des Vaters zum Anlass für eine Ausreise nach Deutschland zu nutzen. Da sie neben ihrem libanesischen auch einen deutschen Pass besaßen, bestand für sie die Möglichkeit der Ausreise nach Deutschland.

Glücklicherweise wurde ihnen auch schnell diese Option angeboten, wobei der Flug über Athen nach Frankfurt gehen sollte. Dort werde sich die Ausländerbehörde um sie kümmern und ihnen eine erste Anlaufstation für den Aufenthalt in dem Gastland anbieten. Für ihre Flucht trafen die beiden Geschwister alle möglichen Vorbereitungen, die sich allerdings auf das Nötigste konzentrierten, denn sie wussten, dass sie gleichsam ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen mussten.

Der Flug nach Athen war für Mittwoch, den 15. August, geplant. Zwei Tage vorher ging Karim noch einmal zur Bank, um zu regeln, was zu regeln war. Er verließ dazu gegen 14.00 Uhr das Haus, um mit seinem Citroën zum Crédit Lyonnais zu fahren. Nedal erwartete ihn gegen 17.00 Uhr zurück, aber Karim kam nicht. Sie ließ sich noch nicht aus der Ruhe bringen und war weiterhin damit beschäftigt, neben den Koffern zwei große Rucksäcke zu packen, die sie mitnehmen wollten. Karim war allerdings am Abend immer noch nicht da, was sie nunmehr ungeheuer beunruhigte. Sie ging in seine Wohnung, um zu klären, ob er eine Nachricht für sie hinterlegt hatte. Vergeblich, sie fand nichts. Karim war nicht aufzufinden.

Sie hatte am Nachmittag die Raketeneinschläge im Bankenviertel vernommen und machte sich große Sorgen. In den späten Abendstunden legte sie sich zu Bett, konnte aber nicht einschlafen in der Hoffnung, am nächsten Morgen mehr Klarheit zu gewinnen. Doch auch am Dienstag vernahm sie kein Lebenszeichen von ihrem Bruder. Sie rief am Flughafen, bei der deutschen Botschaft, bei der Polizei an, aber niemand konnte ihr eine Auskunft geben. Sie versuchte ihr Glück bei „Ärzte ohne Grenzen“, die ihr lediglich mitteilen konnten, dass einige der Raketeneinschläge auch in der Nähe des Crédit Lyonnais verzeichnet worden waren. Sie machte sich auf den Weg zum Bankenviertel und ging den ganzen Bezirk zu Fuß ab. Der Schaden an vielen Gebäuden war unübersehbar, sodass sie langsam geneigt war zu glauben, dass Karim etwas zugestoßen war. Voller Panik wandte sie sich noch einmal an die MitarbeiterInnen der Botschaft, die sie zu beruhigen versuchten. Man versprach, sie zu informieren, sobald etwas Neues eingetreten sei. Mehr könne man ihr leider nicht sagen.

Nedal war am Boden zerstört. Sie wusste, dass sich alle Bewohner der Stadt ständig in Lebensgefahr befanden. Der Verlust ihrer Eltern war genügend Beweis für diese Einschätzung. Sie war nicht verheiratet, hatte aber eine enge Bindung an ihren Bruder, der ihr eine riesige Stütze in allen Lebenslagen bedeutete. Durch ihn war es ihr auch möglich, in der männerdominierten Gesellschaft des Landes zu bestehen, wo sie sich im Gegensatz zu den muslimischen Frauen ohne Kopftuch und verhältnismäßig frei bewegen konnte. Doch was konnte sie tun ohne seine Protektion? Sie wusste, dass ihr Leben in Beirut ohne Karim völlig anders verlaufen würde und sie nicht mehr so unbeschwert arbeiten konnte. Mit Leib und Seele war sie Ärztin, doch sah sie augenblicklich und auf absehbare Zeit überhaupt keine ernsthafte Möglichkeit mehr, weiter zu praktizieren. Eine Frau, die eine Arztpraxis betrieb, musste immer mit einem enormen Patientenschwund rechnen, der die Fortsetzung ihrer Arbeit erschwerte, wenn nicht gar unmöglich machte.

In Abwägung der Gesamtlage im schwer gezeichneten Beirut wurde für sie zusehends klar, dass sie als alleinstehende Frau beruflich und sozial überhaupt keine Chance hatte, ein Leben nach westlicher Kultur und Lebensweise zu führen.

Am Mittwoch machte Nedal sich daher schweren Herzens in aller Herrgottsfrühe auf den Weg zum Flughafen, wohlwissend, dass all ihre Pläne inzwischen zu Makulatur geworden waren. Sie hatte lange Zeit mit sich gehadert, ob sie den Flug überhaupt noch antreten sollte. Sie wog ab, welche Entscheidung grundfalsch, welche vielleicht falsch, welche erfolgversprechend sein könnte, und kam zu dem Ergebnis, dass Karim entweder nachkommen würde, wenn er noch lebte, oder aber ein weiteres Opfer der Familie zu beklagen sei, was sie mittlerweile nicht ganz auszuschließen wagte.

Als sie die Maschine bestieg, die sie nach Frankfurt bringen sollte, waren ihre Füße schwer wie Blei.

Während des Fluges hatte sie viel Zeit, um über die vergangenen Tage nachzudenken. So plötzlich, so brutal hatten die Ereignisse der letzten Tage sie berührt, dass sie immer noch nicht richtig wusste, was sie tat. Sie war sich auch nicht mehr sicher, ob die Entscheidung, das Land zu verlassen, richtig war. Hätte sie doch in Beirut bleiben sollen, bis sie Klarheit über das Schicksal von Karim hätte? Vielleicht ja. Sie hätte Gewissheit in einer sie quälenden Frage bekommen. Hätte ihr das genützt? Ihr war klar, dass in den Zeiten des Bürgerkriegs Frauen verstärkt Opfer sexueller Belästigung wurden. In dem bislang so weltoffenen und aufgeschlossenen Land waren sie besonders hart getroffen. Die Berichte ihrer weiblichen Patienten ließen an dieser Beobachtung nicht den leisesten Zweifel aufkommen. Musste sie in diesem Fall daher nicht sogar ihr Land verlassen? Sie wusste es nicht und ließ sich von der kleinen Hoffnung leiten, dass Karim doch vielleicht nachkommen würde, wenn er dazu die Möglichkeit hätte. Aus diesem Grund hatte sie ihm ja auch Nachrichten in ihrer Wohnung hinterlegt, die Mitarbeiterinnen ihrer Praxis gebeten, falls möglich, Herrn Dr. Karim Macaron über ihre Entscheidung und Flugdestination zu informieren. Im Übrigen würde sie versuchen, sofort nach ihrer Landung in Deutschland ihren Bruder telefonisch zu erreichen.

Für Nedal bestand das große Problem zudem darin, ihre weitere Zukunft zu überschauen, denn die gemeinsamen Pläne waren hinfällig geworden. Wahrscheinlich musste sie in dem Land, das sie in ihrem Leben nur zweimal gesehen hatte, alleine fertigwerden. Privat wie beruflich würde sie ihre Fühler ausstrecken, um das Leben in Deutschland kennenzulernen. Sie wollte gerne weiter als Ärztin arbeiten und hoffte, dass sie die Möglichkeit dazu in der neuen Heimat finden werde. Da ihre männliche Protektion nun nicht verfügbar war, gingen ihre Hoffnungen dahin, in einem Krankenhaus oder einer Klinik eine Anstellung zu finden – wenn immer möglich, unter einer weiblichen Leitung oder Begleitung.

Oftmals hatte sie in der Vergangenheit mit ihrem Schicksal gehadert und immer wieder den Wunsch geäußert, lieber ein Mann als eine Frau in der patriarchalischen Gesellschaft des Orients zu sein. Für sie war es klar, dass Männer in der arabischen Welt alles tun und lassen dürfen, was sie wollen, eine Frau hingegen nur das, was der Mann ihr gestattet. Dabei empfand sie die Umstände häufig als entwürdigend und verletzend, denn wenn sie sich an ihre Schul- und Studienzeit, besonders aber an ihre berufliche Tätigkeit erinnerte, wusste sie in voller Überzeugung und mit Stolz, dass sie den Männern fast immer ebenbürtig, oftmals überlegen gewesen war.

Mit ihrem Zwillingsbruder Karim hatte sie sich immer gut verstanden. Ja, sie beneidete ihn ein wenig, weil er sich als Mann erheblich mehr als sie herausnehmen konnte und trotzdem ein liebenswerter Mensch geblieben war, mit dem sie gerne getauscht hätte. Überhaupt war das Thema Mann-Frau für sie schon seit jeher existentiell von Bedeutung, da sie sich als Frau immer als Mensch zweiter Klasse gesehen hatte. Die liberale Erziehung in ihrem Elternhaus führte zu einer Emanzipation der Kinder – auch die Mutter, die ja arabischer Abstammung war, unterstützte den freiheitlichen Ansatz des Vaters –, die aber leider in starkem Kontrast zu der gesellschaftlichen Umgebung stand. Zwar waren viele ihrer maronitischen Freunde von westlichem Gedankengut infiziert – man fuhr nach Paris oder London zum Einkaufen –, aber auch hier war das patriarchalische Denken immer noch sehr stark ausgeprägt. An die muslimische Umgebung mochte sie gar nicht denken, denn da war es sonnenklar, wer zu sagen und wer zu dienen hatte.

Nedal hatte überhaupt keine Probleme mit ihrer biologischen Weiblichkeit. Biologisch sah sie sich voll und ganz als Frau und freute sich, wenn sie beim anderen Geschlecht ankam und Männer ihr in stilvoller Haltung die Aufwartung machten. Das Problem lag im kulturellen Sektor, wo die objektiven Unterschiede zwischen Frau und Mann aus ihrer Sicht völlig überhöht wurden und sich klar eine Hierarchie der Geschlechter eingestellt hatte. Diesen Widerspruch zu ertragen, bedeutete schon seit jungen Jahren ein großes Problem für sie und gewann immer mehr an Bedeutung, als sie Teil des Arbeits- und Gesellschaftslebens in Beirut wurde.

Sie wusste, dass es eigentlich fast unmöglich war, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern. Auch im Vorkriegszustand sah sie die sozialen Bedingungen als außerordentlich stabil, ja buchstäblich monolithisch an, sodass sie schon einmal damit geliebäugelt hatte, eine Geschlechtsumwandlung zu erwägen. Karim wusste von ihren Überlegungen, riet ihr allerdings dringend von dem Vorhaben ab. Das deutsche Arbeitsleben kannte sie zu wenig, um zu wissen, ob eine Frau auch in einer männlich dominierten Umgebung zu ihrem Recht kommen könnte.

Die Erfahrungen aus dem Libanon waren für sie eher negativ, obgleich die Familienverhältnisse der Macarons ihr auch andere Eindrücke verschafft hatten. Sie wusste, dass sie in Hannover von Vertretern der Hilfs- und Flüchtlingsorganisationen empfangen würde und hoffte, dort gute Ansprechpartner und kompetente Ratgeber zu finden. Da sie aber durch ihren Vater erfahren hatte, dass Ärzte in Deutschland sehr angesehen waren, vertraute sie auf das Bild, das sie und ihr Bruder über Deutschland entwickelt hatten.

In Frankfurt warteten bereits zwei Beamte der Bundespolizei auf sie, die natürlich zwei Personen erwartet hatten. Man teilte ihr mit, dass sie weiterfliegen werde nach Hannover, um dort in ein Auffanglager für Flüchtlinge aus Krisengebieten geleitet zu werden. Sollte ihr Bruder nachreisen, werde man dafür Sorge tragen, dass er in dasselbe Lager wie sie in Hannover komme.

Bei der Ankunft in Hannover wurde sie gleich von einem jungen Herrn des Ausländeramts begrüßt. Er sprach Nedal an und fragte sie, ob sie Deutsch sprechen könne. Natürlich konnte sie Deutsch sprechen, obwohl ihr die schriftlichen Grundlagen der Sprache nicht immer geläufig waren. Nedal erklärte ihm unter Tränen, dass sie völlig verzweifelt sei angesichts der jüngsten Ereignisse in Beirut.

Ihr Bruder habe wie sie die Flucht geplant, er sei aber plötzlich unauffindbar geworden. Es sei daher für sie ein harter Schritt gewesen, alleine nach Deutschland zu kommen, zumal sie in diesem Land eine Fremde sei. Sie hoffe für Karim immer noch das Beste, sei inzwischen aber im Zweifel, ob er die letzten Tage in Beirut gut überstanden habe.

Der junge Herr stellte sich namentlich als Holger Weisheit vor und erklärte ihr, dass sie nun in ein Wohnheim am Stadtrand von Hannover gebracht werde, wo sie übergangsweise ein paar Wochen verbleiben solle. Dort werde sie im Kreis anderer Flüchtlinge aus dem Libanon und anderer krisengeschüttelter Regionen begrüßt und in die Hausordnung sowie Besonderheiten der Lebensumstände in Deutschland eingeführt. So erreichten sie im Fahrzeug des Ausländeramts schnell das Flüchtlingsheim in Groß-Buchholz, wo die beiden sehr freundlich von Vertretern des Flüchtlingsrats und der Leitung des Hauses begrüßt wurden. Nedal wurde ein Zimmer zugewiesen mit der Bitte, sich schon einmal einzurichten und dann gegen 17.00 Uhr in den Aufenthaltsraum zu kommen.

In ihrem spartanisch eingerichteten Zimmer standen drei einfache Betten nebeneinander. Nedal traf dort auf zwei Mitbewohnerinnen, die vor einigen Tagen aus Afghanistan geflohen waren. Es handelte sich dabei um Mutter und Tochter, die einen Anschlag der Taliban überlebt hatten, allerdings schwer traumatisiert waren, da Vater und Sohn bei dem Feuergefecht ums Leben gekommen waren. Die beiden Frauen sprachen ein wenig Englisch und stellten sich namentlich vor: Samira war etwa 40 Jahre alt und zeigte eine sichtbare Verletzung an ihrem linken Unterarm, die Tochter Fasila war zum Glück unverletzt geblieben und erkennbar darum bemüht, durch tröstende Gespräche und liebevolle Umarmungen den Schmerz der Mutter etwas zu lindern.

Nedal erfuhr durch eine Mitarbeiterin des Hauses, dass sie gegen 17.00 Uhr zusammen mit den anderen Migranten, die im Laufe des Tages in Buchholz eingetroffen seien, noch einmal in verschiedenen Sprachen willkommen geheißen und über den Ablauf der nächsten Tage informiert würden.

Wie vereinbart, fanden sich etwa zehn Personen, die zuvor in Buchholz eingetroffen waren, zusammen. Der Leiter der Flüchtlingsaufnahmestation begrüßte die Anwesenden mithilfe von zwei Dolmetschern in deutscher, englischer, russischer und arabischer Sprache. Ihnen wurde mitgeteilt, dass sie sich in einer Ersteinrichtung befänden, die für sie nur von vorübergehender Natur sein werde. Spätestens nach Ablauf von drei bis vier Monaten würden sie dorthin geschickt, wo sie sinnvoll in die deutsche Gesellschaft eingegliedert würden. Das könne in der Landwirtschaft, in der Industrie, im Computergewerbe oder Dienstleistungsbereich sein. Mit jedem von ihnen würden die Mitarbeiter der Einrichtung intensive Gespräche führen, um die Wünsche und Interessen der Migranten – soweit wie möglich – zu berücksichtigen. Zudem werde das Ausländeramt Hannover mit ihnen sprechen und ihnen beratend zur Seite stehen. So erhielten sie alle einen Termin für den nächsten Tag, um sich in Einzelgesprächen über den Ablauf der nächsten Tage sowie die weitere Entwicklung auszulassen. Dabei wurde ihnen ein weiterer Termin mit dem Vertreter des Ausländeramts mitgeteilt.

So wandte sich Nedal am nächsten Tag an einen der Mitarbeiter des Hauses und ließ sich über die Einzelheiten des Aufenthalts informieren. Zuerst werde in einem hochnotpeinlichen Verfahren alles Datenmaterial, was über den Migranten verfügbar sei, aufgenommen und registriert. Sodann gehe es darum, die Voraussetzungen zum Erwerb der deutschen Sprache zu ermitteln. Sollte diese bereits bekannt sein, werde man gefragt, ob man beim Sprachunterricht als Dozent mitarbeiten wolle. Dies werde sehr begrüßt, da es auf die anderen oftmals sehr motivierend wirke.

Nedal sagte, dass sie sich das durchaus zutrauen würde, denn ihr Vater sei Deutscher gewesen, und obwohl Arabisch ihre Muttersprache sei, habe der Vater immer darauf geachtet, dass die beiden Kinder auch die deutsche Sprache kennen. Zudem habe sie in der Schule auch Deutsch als Fremdsprache gelernt. Sie fragte den Mitarbeiter, ob er auch zuständig sei für die beruflichen Perspektiven der Migranten, worauf dieser allerdings auf die KollegInnen vom Ausländeramt verwies. Am nächsten Tag würden die Gespräche geführt, und Nedal möge sich bis dahin gedulden.

In der Tat wurden die Unterredungen diesbezüglich in den nächsten Tagen fortgesetzt, und es war Holger Weisheit von der Stadt Hannover, der sie bereits am Flughafen abgeholt hatte, der mit ihr über die beruflichen Pläne sprach. Weisheit begann das Gespräch mit dem Hinweis, er vermute, Nedal wolle in Deutschland gerne wieder als Ärztin arbeiten, was diese auch sofort bestätigte. Er stellte die medizinische Versorgung in Deutschland vor und erklärte, dass Ärzte allerorten dringend gebraucht würden. Zuerst böten sich natürlich die Akutkrankenhäuser landesweit an, zudem gebe es in Deutschland aber auch ein ausgeprägtes System von Sanatorien und Rehabilitations-Einrichtungen, kurz Reha-Kliniken genannt, wo der Bedarf an Medizinern ebenso groß sei.

Nedal ließ sich die Arbeitsweise dieser Einrichtungen von Weisheit erklären und bekundete ihr Interesse an solchen Kliniken. Weisheit, der selbst aus der Rattenfänger-Stadt Hameln stammte, stellte ihr schließlich den Kurort Bad Pyrmont vor, den er aus persönlicher Kenntnis sehr positiv einschätzte und durchaus als Arbeitsmöglichkeit in Betracht zog. Als Nedal über die dortigen Arbeitsbedingungen informiert war, fragte sie an, ob die Möglichkeit bestünde, die Stadt und die Kliniken einmal kennenzulernen.

„Das ist kein Problem, Frau Dr. Macaron, da würde ich Sie sogar begleiten, denn die Verhältnisse sind mir dort durch Bekannte und Angehörige sehr vertraut. Bad Pyrmont ist ein Staatsbad des Bundeslandes Niedersachsen und wird von einer zentralen Betriebsgesellschaft des Kurorts geleitet. Träger der gesamten Kureinrichtungen ist die privatwirtschaftlich geführte Niedersächsische Bädergesellschaft, die allerdings zu 100 % dem Land gehört.“

Nedal war ganz Ohr während Weisheits weiterer Ausführungen und wiederholte, dass sie sehr daran interessiert sei, den Ort und seine Kureinrichtungen kennenzulernen.

„Wenn Sie sich für den Reha- und Kurbetrieb so interessieren, Frau Dr. Macaron, würde ich über die Verwaltung dort einen Termin ins Auge fassen, sodass wir vielleicht in zwei bis drei Wochen dorthin fahren könnten.“

Nedal war begeistert und erklärte, dass es für sie eine Freude sei, eine solche Einrichtung mit ihren medizinischen Möglichkeiten einmal zu erleben.

Zwischenzeitlich richtete sich Nedal auf die neue Umgebung in Hannover ein und war sehr stolz, dass sie mit ihren Deutschkenntnissen recht gut zurechtkam. Zusammen mit einigen Mitbewohnern besuchte sie des Öfteren den Innenstadtbereich von Hannover und half vor allem denen, deren Sprachkenntnisse nicht sonderlich gut waren. Sie wies die Mitglieder der Gruppe, die sie leitete, auf Besonderheiten in Deutschland hin: den Straßenverkehr, die Beschilderung, die Geschäftszeiten, den öffentlichen Nahverkehr und Dinge, die sonst im täglichen Leben eine Rolle spielen.

Sehr gerne ließ sie durchblicken, dass sie beruflich als Ärztin gearbeitet hatte, sodass sie oftmals von weiblichen Bewohnern der Unterkunft um Rat und Tat gebeten wurde. Die meisten männlichen Bewohner hielten sich sehr zurück und suchten bei Bedarf einen „richtigen“, das heißt männlichen, Arzt auf. Nedal blieb die Reaktion der Männer nicht verborgen, doch wunderte sie sich nicht sonderlich, da sie ähnliche Verhaltensweisen auch von ihrer libanesischen Heimat her kannte.

Nach drei Wochen trat Weisheit an Nedal heran und fragte sie, ob sie am übernächsten Tag zu einer Fahrt nach Bad Pyrmont bereit sei, wo ihm ein Termin bei der Kurverwaltung angeboten worden sei. Die Frage erübrigte sich, denn natürlich wartete Nedal schon die ganze Zeit auf einen solchen Hinweis. „Sie halten sich dann bitte übermorgen um 9.00 Uhr bereit. Ich warte auf Sie an der Eingangspforte“, ließ Holger Weisheit seinen Schützling wissen. „Wir fahren mit meinem Dienstwagen. Und Sie bereiten bitte die Papiere vor, die für Ihren beruflichen Einsatz von Bedeutung sind! Nehmen Sie bitte auch das zur Hand, was in arabischer Sprache ist, denn damit können die in Pyrmont durchaus umgehen!“

Nedal war außer sich vor Freude und durchsuchte all ihre Unterlagen, die sie zur Verfügung hatte, um sie für den großen Tag mitzunehmen. Gerne fuhr sie auch mit Herrn Weisheit, den sie in der jüngsten Zeit ihres Aufenthalts als einfühlsamen und kompetenten Gesprächspartner zu schätzen gelernt hatte.

Sie trafen sich am Morgen zur geplanten Fahrt nach Bad Pyrmont. Weisheit begrüßte Nedal im Foyer des Hauses und geleitete sie zu seinem VW Golf, der bereits vor dem Eingang geparkt war. Während der Fahrt ließ er sich von Nedal über das Leben in Beirut und ihre beruflichen Schwerpunkte erzählen. Die junge Frau bemerkte, dass sie sehr aufgeregt sei und sich auch ein wenig unsicher fühle. Immer wieder müsse sie an ihren Bruder Karim denken, der ihr bei Unternehmungen dieser Art mit Sachverstand und Einfühlungsvermögen zur