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Ich will mein Bestes geben. Nicht für meinen Vater, den Fürsten. Sondern für Victoria, deren Herz ich erobern möchte. Gibt es eine zweite Chance für die Liebe? Sebastien, Prinz von Blanchebourg, will seiner Verpflichtung – und vor allem seiner Vergangenheit – entfliehen. Weil seine Skandale dem Ruf des Fürstenhauses zu sehr schaden, schickt ihn sein Vater als Praktikant an jenen Ort, an den Sebastien nie zurückkehren wollte: das Schlosshotel in Greifenstein. Dort hat Sebastien sein Herz als Jugendlicher an Victoria verloren und wurde von ihr bitter enttäuscht. Doch jede Geschichte hat zwei Seiten. Auch Victoria, mittlerweile Managerin des Hotels, ist alles andere als erpicht darauf, Sebastien wiederzusehen. Zu tief sitzt der Schmerz seines Verrates. Und dass beide nach über zehn Jahren immer noch Gefühle füreinander haben, macht ihr erneutes Aufeinandertreffen nicht einfacher. Eine romantische Wohlfühlgeschichte mit großen Gefühlen und einer wichtigen Frage: Kann Liebe alles überwinden?
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Copyright © 2023 by Lilly Autumn
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
www.lillyautumn.at
Umschlaggestaltung: Nina Hirschlehner
Lektorat&Korrektorat: Julie Roth
Satz: Bettina Pfeiffer
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle Königinnen des Alltags da draußen. Ihr seid wundervoll und königlich.
1. Sebastien
2. Victoria
3. Sebastien
4. Victoria
5. Sebastien
6. Victoria
7. Sebastien
8. Victoria
9. Sebastien
10. Victoria
11. Sebastien
12. Victoria
13. Sebastien
14. Victoria
15. Sebastien
16. Victoria
17. Sebastien
18. Victoria
19. Sebastien
20. Victoria
21. Sebastien
22. Victoria
23. Sebastien
24. Victoria
25. Sebastien
26. Victoria
27. Sebastien
28. Victoria
29. Sebastien
30. Victoria
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Danksagung
Über den Autor
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Mit einem Murren wende ich mich von dem grellen Licht ab, das in meinen Augen brennt. Ich ziehe die Decke über den Kopf. Jemand reißt sie herunter, entblößt meinen beinahe nackten Körper.
»Es ist kalt«, brumme ich und taste um mich. Aber die Decke ist fort.
Ich liege alleine im Bett. Sicher noch nicht lange. Die Nacht war … heiß. Und erst in den frühen Morgenstunden vorbei. Meine Eroberung hat sich diesmal ohne Diskussionen von meinem Personal hinausbegleiten lassen. Wenn ich sie in einem Club anspreche und sage, dass ich nur eine einzige Nacht mit ihnen möchte, sind die Frauen gewöhnlich einverstanden. Sobald wir aber fertig sind, ändern sie ihre Meinung oft. Die letzte hat zu ihrem Wort gestanden.
»Dann zieh dir etwas an!«, donnert die Stimme meines Vaters durch den Raum.
Etwas landet auf meinen Beinen. Kalt und schwer fühlt sich die Zeitung an, die er fallen lassen hat. Dass es eine Zeitung ist, weiß ich, weil es nicht die erste ist, die er bei einem unangekündigten Besuch in meiner Stadtwohnung mitbringt.
»Es ist noch ziemlich früh.« Ich reibe mir über die Augen.
»Es ist verdammt noch mal Mittag«, fährt mein Vater mich an.
Mit einem tiefen Atemzug setze ich mich auf und werfe einen Blick auf die Uhr. Tatsächlich, kurz vor zwölf.
»Es wäre mir aber auch egal, wenn es sieben Uhr morgens wäre«, tobt mein Vater weiter. Er packt die Zeitung, die vom Bett gerutscht ist, und hält mir das Titelbild hin.
Es dauert einen Moment, bis ich etwas darauf erkenne. Da, auf dem größten Foto einer beliebten Klatschzeitung des Fürstentums Blanchebourg, befinde ich mich in inniger Umarmung mit einer Blondine. Jener Blondine, mit der ich gerade die Nacht verbracht habe. Die Überschrift muss ich nicht lesen. Vermutlich steht dort etwas wie Wie viele Affären hat der Prinz noch diesen Monat? oder irgendetwas extrem Kreatives wie Die nächste unglückliche Cinderella Blanchebourgs?.
Ich reibe mir über die Schläfen. Gestern habe ich es wohl mit dem Tequila übertrieben. Vermutlich ist mir deswegen nicht aufgefallen, dass meine Eroberung und ich beim Verlassen des Clubs abgelichtet worden sind. Das Bild zeigt mich auch sichtlich betrunken. Meine Gesichtszüge sind ein wenig entgleist, ich stützte mich auf die Blondine in dem hautengen Kleid, das nur knapp das Nötigste bedeckt, und mein Blick ist dabei auf ihre drallen Brüste gerichtet.
»Nicht das beste Foto von mir«, murmle ich.
Das war auch nicht die beste Aussage, die ich jetzt hätte machen können. Aber ich will das Donnerwetter, das ganz eindeutig auf mich wartet, lieber schnell hinter mich bringen. Mein Vater ist mindestens einmal im Monat hier, um mir die Leviten zu lesen. Ich nehme es stoisch hin, erkläre ihm, dass ich mich nicht einengen lassen will. Daraufhin grollt er mir, versucht, mich an meine Pflichten zu erinnern, und droht mir im schlimmsten Fall.
Aber ich habe keinen Bock auf die Pflichten, die er mir aufbürden will. Seine Drohungen sind außerdem zahnlos. Wieso sollte ich an meinem Leben etwas ändern, nur weil ich sein einziger Sohn bin?
Ich wappne mich für einen cholerischen Anfall meines Vaters. Doch er reagiert nicht auf meine Aussage. Unsicher drehe ich den Kopf, um ihn anzuschauen. Statt Wut sehe ich nur eines in seinem blassen Gesicht: tiefe Sorgenfalten.
Mit einem Seufzen setzt er sich auf die Bettkante und mustert mich eindringlich. Der erschütterte Blick trifft mich mehr, als seine Wut es je könnte. Er erinnert mich an eine Zeit, an die ich nicht denken möchte. Jene Wochen, in denen sich mein Leben in eine so katastrophale Richtung entwickelt hat, dass ich bis heute keinen Ausweg mehr finde. Und statt damals das Verständnis und die Zuwendung meines Vaters zu erhalten, wurde ich mit Schweigen bestraft. Und Einsamkeit. Weil etwas anderes immer wichtiger war als ich: die Krone Blanchebourgs.
»Sag mir, was ich tun muss, damit ich zu dir durchdringe.« Vaters Stimme ist leise und kratzig. So anders, als er sonst auftritt.
Thierry de Violet ist nicht nur der Fürst von Blanchebourg, er wird von den Menschen verehrt. Als Staatsvater bezeichnen sie ihn. Als Fürst ist er – anders als in vielen Monarchien – aktiv in der Politik verwurzelt. Er kann Gesetze einbringen oder kippen, hat Einfluss auf das Parlament. Mit seinem beträchtlichen Privatvermögen hat mein Vater außerdem viel Gutes getan. Er zeigt sich als stark und verlässlich, immer höflich und freundlich. Nur mir gegenüber nicht.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich habe dir gesagt, dass ich nicht bin, was du dir wünschst. Du wirst dir einen anderen Erben suchen müssen, den du freudestrahlend bei Festen präsentierst.«
»Du bist aber mein einziges Kind, Sebastien.« Seine Hand zittert, als er sie auf meine legt. Ich bringe es in dem Moment nicht über mich, sie wegzuziehen. »Ich habe dir viele Freiheiten gelassen.« Innerlich verdrehe ich die Augen. Einer der Gründe, warum ich bin, was ich bin, war seine unangemessene Strenge mir gegenüber, als ich in die Pubertät gekommen bin. »Habe oft weggeschaut. Nur jetzt kann ich nicht mehr wegsehen.«
Er legt die Zeitung auf meinen Oberschenkeln ab. Immer noch will ich die Überschrift nicht lesen. Diese Frau war vermutlich auf mich angesetzt. Ich hoffe, ich habe ihr nicht irgendwelche Geheimnisse verraten, die meiner Familie richtig Ärger einbrocken können.
»Du bist jetzt achtundzwanzig«, fährt mein Vater fort. »In deinem Alter hatte ich ein Studium abgeschlossen, war vermählt und habe mich auf deine Geburt gefreut. Ich habe mich darauf vorbereitet, die Krone von deinem Großvater zu übernehmen, und bin als Praktikant in jedem Ministerium gewesen, um mehr über den Staatsapparat zu lernen.« Er hält inne. Ein Hustenanfall schüttelt ihn durch. Als er vorbei ist, räuspert mein Vater sich. »Ich dachte, wenn du dich ausgetobt hast, wirst du schon selbst zur Vernunft kommen. Aber offensichtlich passiert das nicht.«
Sein Blick wandert zu dem Foto auf dem Titelblatt, bevor er mir in die Augen sieht. Die Härte ist in seine Miene zurückgekehrt. Er erhebt sich.
»Ob es dir gefällt, oder nicht, du bist der Erbprinz Blanchebourgs und du hast deine Pflichten zu erfüllen. Wenn du es nicht freiwillig machst, zwinge ich dich eben dazu.«
Ich springe auf. Die Zeitung klatscht auf den Boden. »Du willst mich zwingen? Da bin ich aber gespannt. Wie du bereits gesagt hast, bin ich achtundzwanzig. Und ich beuge mich deinen Strafen nicht länger.«
Papa sieht mich finster an. »Ja, das weiß ich, weswegen ich zu etwas drastischeren Mitteln greifen werde.«
Obwohl ich nur eine kurze Pyjama-Hose trage, hebe ich mein Kinn und straffe die Schultern. Übermütig grinse ich. »Da bin ich gespannt, wie du mich dazu bringen willst, dir zu vergeben und deinen Idealen zu folgen.«
»Du mir vergeben?« Er runzelt die Stirn. »Was könntest du mir vergeben müssen?«
Ich balle die Hände zu Fäusten. Weiß er wirklich nicht, wieso ich die Monarchie so verabscheue? Wieso es mir nichts ausmacht, dass ich als Party-Prinz verspottet werde?
Bevor ich die Worte, die ich schon so lange in mir verschließe, aussprechen kann, macht Papa eine wegwerfende Handbewegung.
»Das ist jetzt allerdings nicht der Punkt«, meint er. »Es geht mir nicht um Vergebung. Ich will, dass du ein würdiger Nachfolger wirst.«
»Die Monarchie wird mit dir untergehen«, knurre ich. »Dieses uralte Konstrukt ist alles andere als zeitgemäß. Wir sollten diesen unnützen Titel abschaffen und …«
»Das ist eine Tradition, die es seit Jahrhunderten gibt.« Seine Kiefer mahlen heftig. »Viele Familien sind von der Monarchie abhängig. Unser kleines Land zieht Touristen an wegen den Schlössern, die von den adeligen Familien in Schuss gehalten werden. Das ist unsere größte Einnahmequelle. Unendlich viele Jobs hängen davon ab. Und dir ist das alles egal, weil du mir grollst?«
Ich schlucke eine Erwiderung hinunter. Natürlich weiß ich, dass die Bevölkerung von Blanchebourg hauptsächlich vom Tourismus lebt. Zwar ist die größte Einnahmequelle meines Landes den Banken, die sich hier wegen der Steuervergünstigungen niedergelassen haben, geschuldet. Aber dieses Konstrukt wurde von meiner Familie erst ermöglicht. Deswegen ist mir bewusst, dass sich einige Menschen auf das Fürstenhaus verlassen. Trotzdem sehe ich keine Zukunft für mich in dieser Position.
»Ich mache es dir einfach, Sebastien.« Papa verschränkt die Arme vor der Brust. »Du wirst eine Reihe von Praktika durchlaufen, die ich für dich ausgesucht habe, und du wirst dir keinen Ausrutscher erlauben. Nach Beendigung der Praktika wirst du eine Frau heiraten, die ich entweder absegne oder für dich aussuche.«
»Vergiss es«, zische ich zwischen zusammengepressten Zähnen. »Ich werde da nicht mitspielen.«
Betont laut stapfe ich zum Kleiderschrank. Ich muss hier weg. In Pyjama-Hose komme ich aber nicht weit – auch wenn der Sommer bereits vor der Tür steht, will ich nicht beinahe unbekleidet durch die Stadt stürmen. Selbst ein Prinz kann wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen werden.
»Oh, du willst also nicht? Auch schön. Dann wirst du dir eben einen Job suchen, denn mit sofortiger Wirkung sind alle deine Konten gesperrt. Auch dein Handy.«
Ich drehe mich zu meinem Vater um. Immer noch hat er die Arme vor der Brust verschränkt, allerdings hält er jetzt ein Handy in der Hand.
»Haben Sie gehört, Louis? Alle Konten sowie Handyverträge und Sonstiges sind ab sofort für meinen Sohn gesperrt.«
»Oui, Durchlaucht«, antwortet die nasale Stimme eines Bediensteten meines Vaters aus dem Lautsprecher.
»Das kannst du nicht machen«, bringe ich viel zu schwach heraus.
»Kann ich nicht? Sagen Sie ihm, dass ich das sehr wohl kann, Louis.«
»Da die Konten auf den Namen Ihres Vaters laufen und die Apanage, die Ihnen ausgezahlt wird, nur jene Mitglieder der Fürstenfamilie erhalten, die im Dienst der Krone stehen …«
»Schon gut, ich habe es verstanden«, unterbreche ich den Redeschwall des Haushofmeisters. »Du willst also, dass ich mittellos bin.«
Papa hebt das Kinn. »Und obdachlos. Diese Wohnung wird von meinem Geld bezahlt.«
Er hat die Worte kaum ausgesprochen, da fliegen die Türen auf. Frauen und Männer in dunklen Anzügen schleppen Kisten herein und beginnen, meine Sachen einzupacken.
Diesmal macht er seine Drohung wohl wahr und das schneller, als ich je erwartet hätte.
»Also, du hast die Wahl«, sagt mein Vater, während die Leute um uns die Kartons befüllen. »Beuge dich meinem Plan, oder such dir einen Job. Ich warne dich nur gleich, dein bisheriger Lebenslauf wird vermutlich nicht einmal für die Stelle einer Aushilfskraft reichen. Aber vielleicht nimmt dich ja die Dame auf, mit der du letzte Nacht so viel Spaß hattest. Für diesen Artikel bekommt sie sicher eine Stange Geld.«
Wieder balle ich die Hände zu Fäusten. Diesmal bin ich aber auf mich selbst sauer. Wer weiß, welche Lügen diese Frau in ihrem Artikel über mich erzählt. Oder welche Wahrheiten.
»Wie lautet deine Entscheidung?«
Der Blick meines Vaters ist ernst, keine Spur Mitleid ist darin zu erkennen. Er fixiert mich mit seinen dunkelblauen Augen wie ein Jäger seine Beute. Eigentlich habe ich keine Wahl.
Er hat recht, ich habe keine fertige Ausbildung, da ich mein Wirtschaftsstudium geschmissen habe. Oder vielmehr, da mich die Universität in hohem Bogen hinausgeworfen hat, weil ich bei mehr als einer Prüfung geschummelt habe. Nur dem Eingreifen meines Vaters war es zu verdanken, dass ich nicht vollständig für ein Studium gesperrt wurde und der Skandal nie an die Öffentlichkeit gelangte. Das hat er zwar nur getan, um den Ruf seiner Familie zu schützen, aber dennoch hat er mir geholfen. Wobei ich kein Interesse hatte, etwas anderes zu studieren. Gearbeitet habe ich auch nie wirklich. Welchen Job werde ich also bekommen?
Hätte ich mehr Stolz, würde ich mich jetzt anziehen und gehen. Aber den Stolz habe ich zusammen mit meinem Gewissen vor zwölf Jahren abgeschüttelt.
»Fein, ich beuge mich deinem Befehl«, knurre ich.
»Ausgezeichnet. Louis, reservieren Sie das Flugticket und lassen Sie alles vorbereiten.«
»Oui, Monsieur«, erklingt es aus dem Lautsprecher.
»Flugticket? Welches Ministerium kann ich denn nicht mit dem Auto erreichen?«
Mein Vater hebt die Mundwinkel. »Du bist noch nicht bereit für die Ministerien. Erst musst du Demut und harte Arbeit kennenlernen.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«
Ich zucke zusammen, als jemand einen Koffer neben mir abstellt, ihn öffnet und Kleidung hineinpackt. Unsicher sehe ich meinen Vater an.
»Ganz einfach, du wirst als Praktikant in einem Hotel, das unserer Familie gehört, arbeiten.«
Mein Magen verknotet sich. Die Familie de Violet besitzt in vier Ländern außerhalb Blanchebourgs Schlösser, die zu Hotels umgebaut wurden. Ich kenne sie alle.
Bitte nicht das in Österreich, flehe ich in Gedanken.
»Du wirst nach Greifenstein gehen und der Geschäftsleitung dort helfen«, sagt mein Vater in dem Moment.
Mir wird schlecht. Benommen sinke ich gegen den Schrank und rutsche mit dem Rücken an der Tür hinab.
»Egal welche Aufgabe sie dir geben, du wirst sie übernehmen. Selbst wenn du Kartoffeln für das Abendessen schälen musst. Verstanden?«
Ich rühre mich nicht. Nicht Greifenstein.
»Ich fasse dein Schweigen als Zustimmung auf. Die Geschäftsführerin wird dir einen Vertrag überreichen, den du unterzeichnest. Brichst du einen einzigen Punkt darin, ist unsere Vereinbarung hinfällig und du kannst sie anbetteln, dich zu einem Gehalt einzustellen, weil ich dich dann tatsächlich enterbe. Verstanden?«
Ich bringe ein Nicken zustande, während mein Sichtfeld verschwimmt. Die Arbeit an sich ist mir egal. Wenn ich nicht versucht hätte, meinen Vater zur Weißglut zu treiben, hätte ich mir nach Abbruch meines Studiums einen richtigen Job gesucht, statt ein Lotterleben zu führen. Die Krone wollte ich nie, mittellos sein aber auch nicht. Ich habe gehofft, dass irgendein entfernter Verwandter den Posten übernimmt und ich mit dem Erbe meiner Familie gut leben kann. Aber wenn mein Vater mich enterbt …
»Du wirst dich schon daran gewöhnen.« Papa wirkt weniger finster. Er mustert mich beinahe mitfühlend. »Es wird dir guttun. Und ich hoffe, dass du zu dir kommst, bevor es zu spät ist.«
Das ist es längst. Das Volk von Blanchebourg mag mich nicht. Ich werde nie der Fürst sein, den sie sich wünschen. Doch das ist mir egal.
Nicht egal ist mir, wohin mein Vater mich schickt. Greifenstein. Ausgerechnet. An diesem Ort habe ich mein Herz verloren und zugesehen, wie es in Tausende Stücke zerbrochen ist. Wegen ihr. Und sie ist sicher immer noch dort.
Seufzend blicke ich zur Uhr. Noch eine Stunde. Eine Stunde, um mich zu sammeln und mich daran zu erinnern, wer ich bin.
Ich bin Victoria Kaltenbach, jüngste Hotelmanagerin Österreichs, dreimalige Gewinnerin des »Young Business Leader Awards«. Mein Beruf ist meine Leidenschaft. Ich liebe es, dieses Hotel zu leiten, auch wenn die Umstände, die mich in diese Position geführt haben, nicht die schönsten sind. Aber ich bin eine starke Frau. Nicht mehr ein junges, naives Mädchen.
Mein Blick fällt auf die letzte Ausgabe des Blanchebourg Telegrafs. Sie ist von heute Morgen und zeigt den Erbprinzen von Blanchebourg Arm in Arm mit einer Blondine, die angezogen ist, als wäre es ihr Beruf, Männer zu verführen. Die Überschrift Der Lasterprinz – Wie viele Frauen er in diesem Jahr wirklich schon verführt hat prangt über dem Bild, auf dem Prinz Sebastien de Violet eindeutig betrunken und eindeutig sehr an seiner Begleiterin interessiert ist.
Sebastien.
Schon seinen Namen zu denken löst einen bitteren Schmerz in meiner Brust aus. Ich dachte, nach zwölf Jahren wäre ich darüber hinweg, was er mir angetan hat. Tja, ich habe mich wohl geirrt.
Seit dem Anruf seines Vaters vor fünf Stunden wirbeln die Erinnerungen, die ich so lange sorgfältig in meinem Herzen verschlossen habe, ständig hoch. Ich muss mich in meinem Büro verstecken, statt vorne an der Rezeption zu stehen, wie ich es eigentlich sollte. Doch ich möchte unsere Gäste nicht mit meinen Tränen belästigen. Und die kommen immer wieder hoch, sobald ich die Augen schließe.
Denn dann bin ich wieder sechzehn und stehe inmitten des großen Ballsaals im Hotel. In einem Kleid, das ich mir eigentlich nicht leisten kann und das vollkommen ruiniert ist. Aber das Schlimmste ist nicht der Umstand, dass ich über und über mit einem ekelhaft klebrigen Schleim überzogen bin, sondern dass Sebastien selbst mich damit begossen hat. Noch schmerzhafter hat sich allerdings das gehässige Lachen in mein Gedächtnis gebrannt, mit dem er mich vor allen Anwesenden bloßgestellt hat.
Dabei waren wir diesen Sommer unzertrennlich. Jede freie Minute habe ich mit ihm verbracht, von ihm meinen ersten Kuss bekommen. Ich habe gedacht, er würde mich wirklich mögen. Das war ein Fehler.
Ausgerechnet diesem Teufel werde ich bald gegenüberstehen. Sein Vater möchte, dass ich ihn unter meine Fittiche nehme, ihn jeden Job im Hotel machen lasse. Sebastien soll lernen, sich unterzuordnen, um – so hat es sein Vater ausgedrückt – seinen Charakter zu formen. Ein Hotel wäre einem funktionierenden Staat nicht unähnlich. Jeder hätte seine Aufgabe und müsste sie in Absprache mit anderen erfüllen. Dass jedes Unternehmen einem kleinen Staat ähnelt, habe ich mir verkniffen. Der Fürst von Blanchebourg klang verzweifelt und wollte nicht mit mir diskutieren. Er ist der Eigentümer dieses Hotels und somit mein Boss. Also musste ich zustimmen.
Noch einmal sehe ich zur Uhr. Sebastien soll kurz vor sechs hier aufschlagen. Ich habe ihn gleich zum Küchendienst eingeteilt, da ab sieben das Abendessen für die Hotelgäste serviert wird. Von außerhalb können zusätzlich Gäste kommen, weil wir ebenfalls á la carte Gerichte anbieten. Wie immer ist die Küchencrew unterbesetzt, weil es einige Krankenstände gibt und wir wie fast alle Hotels einfach nicht genug Personal finden, obwohl wir gut bezahlen. Da kann Sebastien gleich beim Geschirr helfen.
Ein wenig bereitet mir die Vorstellung, ihn schuften zu lassen, Freude. Die Scham und den tiefen Schmerz, die ich bei der Erinnerung an unseren letzten Abend empfinde, gleicht das allerdings bei Weitem nicht aus.
Meine Hand zittert, als ich nach meinem Handy greife, es in die Rocktasche schiebe und aufstehe. Ich darf mich nicht wie ein Häufchen Elend im Büro verstecken, wenn er ankommt. Das ist mein Zuhause. Hier folgt alles meinem Kommando. Er wird sich mir fügen, ganz gleich, wie tief die Wunden reichen, die ich ihm verdanke.
Ehe ich mein Büro verlasse, werfe ich einen Blick in den Spiegel.
Oh nein, so wirst du ihm nicht gegenübertreten, denke ich und greife nach der Handtasche.
Mein Make-up ist ein wenig verschmiert, also mache ich es ab und frische den Kajalstrich, den Lidschatten und die Tusche um meine braun-grünen Augen auf. Auch den roséfarbenen Lippenstift ziehe ich nach. Meine Frisur mit dem Chignon sitzt noch gut, daran muss ich nichts ändern. Wenn nur meine dunkelbraunen Haare etwas mehr Glanz besäßen …
Nein. Nein! Was denke ich da? Ich will Sebastien nicht mit meinem Aussehen beeindrucken. Er soll in mir die Leiterin dieses Hotels sehen. Ich bin die Managerin, die für ihn verantwortlich ist. Nicht das Mädchen, das er gedemütigt hat.
Mit hoch erhobenem Kinn verlasse ich das Büro, gehe durch die große Halle, deren weißer Marmorboden auf Hochglanz poliert ist, tätschle der Ritterrüstung am breiten Treppenaufgang den Arm und nehme meinen Platz an der Rezeption ein.
»Der Gast aus Zimmer fünf ist bereits abgereist«, sagt Sandra, mit der ich diese Schicht gemeinsam mache. »Wir brauchen es erst morgen früh. Soll es dennoch schon gereinigt werden?«
»Wenn Melissa und ihr Team es noch schaffen, ja. Ansonsten morgen wie geplant«, erwidere ich und sichte die restlichen Reservierungen. »Heute reisen noch zehn Gäste an. Die Zimmer sind bereit?«
»Natürlich.«
»Gut.« Ich lasse meinen Blick über die Empfangshalle schweifen. Das Schloss stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert, wurde aber im Stil einer Ritterburg gehalten. Die Wände sind aus grauem Stein gebaut, und würden ohne die Wappenteppiche des Hauses Violet kahl wirken. Säulen stützen die Rundbögen, aus denen die Decke besteht. An den Säulen selbst hängen Fackelhalter, in die jedoch gewöhnliche Glühbirnen geschraubt wurden. Von der etwa sechs Meter hohen Decke baumelt ein Kronleuchter aus schwarzem Stahl. Auch hier sind Glühbirnen verschraubt, die allerdings flackern wie Kerzen. Deckenhohe Fenster mit Buntglas verleihen dem Raum einen gewissen Zauber.
Unwillkürlich frage ich mich, wie Sebastien bisher gelebt hat. Vermutlich ist er puren Luxus gewohnt und findet nichts Besonderes an diesem Schloss. Tja, nur wird er nicht wie die Gäste in den edlen Zimmern schlafen, sondern in einem Nebengebäude, das für die Saisonkräfte gebaut wurde. Im Sommer brauchen wir nämlich deutlich mehr Personal als im Winter. Die meisten dauerhaft Angestellten stammen aus dem Dorf neben dem Schloss. Genau wie ich. Mein Arbeitsweg ist ein fünfminütiger Fußmarsch von dem Haus, in dem ich lebe, bis zum imposanten Tor zum Schlossgarten.
Mein ganzes Leben habe ich hier verbracht. An Urlaub im Ausland war nie zu denken, da meine Eltern früher gemeinsam das Hotel geführt haben. Seit sie gesundheitlich angeschlagen sind, habe ich sie stärker unterstützt und vor drei Jahren die Leitung alleine übernommen. Unsere Familie ist für das Hotel zuständig, seit die de Violets es besitzen. Also bald zweihundert Jahre.
Es ist eine Tradition, die ich fortführe. Und ich bin stolz darauf. Sebastien hingegen scheint Traditionen mit Füßen zu treten. Zumindest entnehme ich das den Klatschpresse-Artikeln, denen ich nicht vollkommen ausweichen kann, weil Sandra oft darüber spricht.
Im Gegensatz zu mir ist sie gespannt darauf, mit dem Prinzen zu arbeiten. Dabei habe ich ihr – wie allen anderen – mehr als deutlich gemacht, dass Sebastien diesmal kein Prinz ist. Niemand soll ihn so behandeln. Das war der ausdrückliche Wunsch des Fürsten. Aber ob meine Leute sich daran halten werden, kann ich nicht mit Sicherheit sagen.
»Bist du aufgeregt?«, fragt meine Mitarbeiterin in dem Moment.
Ich werfe ihr einen erschöpften Blick zu. Sie weiß, was vor zwölf Jahren passiert ist. Immerhin war sie dabei. Sandra und ich sind seit frühester Kindheit unzertrennlich befreundet. Sie hat mich damals getröstet, als mein Herz nur noch aus winzigen Bruchstücken bestand.
»Mir ist ehrlich gesagt etwas übel«, gestehe ich. »Und mir graut vor dem Wiedersehen. Ich dachte, er wäre für immer fort aus meinem Leben.«
Behutsam tätschelt sie meine Hand. »Ich bin hier und stärke dir den Rücken. Obwohl du das sicher nicht brauchst. Wenn er dich sieht, wird er bereuen, dich verloren zu haben.«
Das bezweifle ich, spreche es aber nicht aus. Sebastien ist zum Frauenheld geworden, hat unzählige Herzen nach meinem gebrochen. Über einige davon kann man in den Klatschblättern nachlesen, weil er auch ein paar bekanntere Frauen erobert hat. Immerhin sieht Sebastien wirklich gut aus. Seine dunkelbraunen Haare sind oben etwas länger als seitlich. Meistens sehen sie ein wenig verwuschelt aus, was ihm diesen sexy gerade aufgestanden-Look verleiht. Der Dreitagebart schmeichelt seinem kantigen Gesicht und die blauen Augen, die so hell sind wie ein strahlender Sommermorgen, lassen ihn tiefgründig und sehnsüchtig erscheinen. Vermutlich ist er auch noch so charmant wie früher. Es wundert mich nicht, dass er jede Frau bekommen kann. Mich hat er ja auch mit seinen Worten, die ich ihm wirklich abgenommen habe, erobert.
»Hilf mir einfach, ihn in seine Schranken zu weisen«, bitte ich Sandra. »Ich fürchte nämlich, er wird sich vor jeder Arbeit drücken, die ich ihm zuteile.«
»Du kannst dich auf mich verlassen.« Meine Freundin salutiert gespielt und kichert dann.
Mir ist immer noch nicht nach lachen zumute. Das hier wird vermutlich die größte Herausforderung meines Lebens. Immerhin erwartet der Fürst nichts anderes, als dass ich seinen rebellierenden Sohn bändige. Kleinigkeit also. Nicht.
Erst wenn ich der Meinung bin, dass Sebastien bereit für die weiteren Stationen seiner Ausbildung ist, darf ich ihn entlassen. Das setzt mich unter Druck. Ich will ihn schnell loswerden, kann ihn aber nicht einfach abschieben, weil es wichtig ist, dass er ein gewisses Maß an Respekt lernt. Und ich muss ihn durchschauen, falls er mir etwas vorspielt. Das hat ja das letzte Mal schon so hervorragend geklappt.
Eine Familie, die für einen Kurzurlaub anreist, erfordert meine Aufmerksamkeit. Ich checke sie ein, erkläre ihnen, wo sie frühstücken können und welche Freizeitangebote zur Verfügung stehen. Froh darüber, unzählige Fragen gestellt zu bekommen, nehme ich mir alle Zeit der Welt. Wenn ich beschäftigt bin, denke ich nicht über Sebastien nach. Es genügt, wenn ich mich mit ihm befasse, sobald er hier ist.
Gerade als ich einen Mitarbeiter rufe, um das Gepäck der Familie abzuholen, öffnet sich die gläserne Schiebetür hinaus erneut.
Mein Atem stockt, mein Herz setzt einen Schlag aus. So oft habe ich mir den Moment vorgestellt, in dem ich diesem Mann noch einmal gegenüberstehe. In meinen Gedanken ist er zu mir gekommen, weil er sich entschuldigen wollte – was so unwahrscheinlich ist wie eine Katze mit Flügeln. Und ich habe ihn belächelt, ihm eine gescheuert und ihm die Meinung gesagt. Nun, das kann ich jetzt nicht machen.
»Er ist da«, flüstert Sandra mir zu.
»Ja, danke, ich habe Augen im Kopf«, murmle ich.
Ich atme tief durch, wische meine verschwitzten Hände am Rock ab, lächle professionell – zumindest hoffe ich das – und trete hinter dem Empfangstresen hervor.
Einen kurzen Moment gönne ich mir, um Sebastien zu mustern, der mit einem Koffer in der Hand und einem Rucksack auf den Schultern die Halle betritt. Er trägt eine hellblaue Jeans, Sneaker und ein dunkelblaues Polo-Shirt. Nichts Aufregendes. An ihm sieht es dennoch toll aus. Die Farbe des Shirts betont seine Augen, die gerötet sind. Wenn es stimmt, was sein Vater erzählt hat, hat Sebastien die Nacht durchgemacht. Das könnte dann ein langer und anstrengender Abend für ihn werden.
Ich richte mich zu voller Größe auf und warte, was er zu mir sagen wird. Sein Blick gleitet nur flüchtig über mich. Er lächelt nicht. Wieso sollte er auch? Vermutlich hasst er mich. Warum sonst hätte er mir so etwas Fieses antun sollen wie an unserem letzten Abend vor zwölf Jahren?
»Monsieur de Violet, willkommen im Schlosshotel Greifenstein«, begrüße ich ihn förmlich.
Er blinzelt, sieht zu der Hand, die ich ihm entgegenstrecke. Zögerlich ergreift er sie.
Ein Blitz geht durch meinen Körper, als unsere Handflächen sich treffen. Sein Händedruck ist warm, fest – aber nicht unangenehm hart. Wir sehen uns in die Augen. Nur mit Mühe kann ich meine Atmung unter Kontrolle behalten. Er sollte so ein Herzflattern nicht in mir auslösen. Und doch mischt sich in die Wut die Erinnerung an unsere Küsse, an das Lachen, das er mir entlockt hat. Wieso muss ausgerechnet ein Arsch wie Sebastien meine erste große Liebe gewesen sein?
»Ich nehme an, Sie sind die Geschäftsführerin«, sagt er in wirklich gutem Deutsch. Na ja, er hat es ja viele Jahre gelernt, obwohl er Französisch als Muttersprache hat. Wegen ihm habe ich diese Sprache unbedingt beherrschen wollen, damit wir uns besser unterhalten können.
»Ja. Victoria Kaltenbach«, nenne ich meinen Namen, obwohl es unnötig sein sollte.
Er mustert mich, als hätte er ihn noch nie gehört. »Sind Sie nicht sehr jung für den Job? Sie sehen so aus …«
»Sie sollten eigentlich sehr gut wissen, wie alt ich bin.«
»Sollte ich das? Weswegen?«
Verwirrt mustert Sebastien mich. Ich ziehe die Hand zurück und kämpfe darum, ihn nicht mit weit aufgerissenem Mund anzustarren. Er … tut nur so, als würde er mich nicht kennen, oder? Das ist einer seiner dummen Scherze …
»Sagen wir, ich bin seit meinem ersten Lebensjahr hier und wir sind uns in den Ferien begegnet, wenn Sie hier waren.« Ich spreche so ruhig ich kann. »Meine Eltern waren bis vor drei Jahren die Geschäftsführer. Valerie und Dominik Kaltenbach.«
»Ah. Ich wusste nicht, dass die beiden eine Tochter haben …«
Mit aller Kraft, die ich aufbringen kann, kämpfe ich den Zorn hinunter. Er kann mich nicht vergessen haben. Nicht nach allem, was er mir angetan hat. Aber wenn er so tun will, als wären wir uns nie begegnet … das Spiel kann ich auch spielen.
»Vermutlich waren Sie zu beschäftigt. Ich habe auch nur sehr verschwommene Erinnerungen an Sie.«
Einen flüchtigen Moment zucken seine Mundwinkel, ehe Sebastien wieder gelangweilt den Blick schweifen lässt. »Hier soll ich also wohnen?«
»Nein, hier sollen Sie arbeiten. Wohnen werden sie in der Angestelltenunterkunft.« Ich drehe mich um, gehe zum Empfang und nehme Sandra die Mappe ab, die sie mir aufmunternd lächelnd reicht. »Hier finden Sie den Vertrag, den Sie bitte vor meinen Augen unterschreiben werden, ehe Sie Ihren Dienst antreten. Darin sind alle Wünsche und Forderungen Ihres Vaters enthalten. Es obliegt mir zu beurteilen, ob Sie diese erfüllen.«
Vielleicht bilde ich mir nur ein, dass seine Hand zittert, als er mir die Mappe abnimmt.
»Soll ich jetzt …«
»Erst zeige ich Ihnen die Unterkunft«, unterbreche ich ihn. »Dort können Sie Fragen stellen, den Vertrag lesen und unterschreiben. Ihr Gepäck wird dorthin gebracht, Sie können es hierlassen, aber natürlich auch selbst mitnehmen. Falls Sie Fragen haben, können Sie diese jederzeit stellen. Sobald Sie den Vertrag unterzeichnet haben, erhalten Sie Dienstkleidung und werden Ihre erste Aufgabe antreten.«
»Ich soll heute schon arbeiten?«
Ich stemme die Hände in die Hüften. »Ja, Sebastien. Sie sind nicht als Gast hier, sondern als mein Praktikant. Das bedeutet, Sie übernehmen die Arbeiten, die ich Ihnen zuweise, ohne den kleinsten Widerspruch. Falls Sie dem Vertrag zustimmen, erkläre ich Ihnen, was ich von Ihnen erwarte.« Ich greife nach Block und Stift, reiche ihm beides und sehe ihn herausfordernd an. »Das werden Sie brauchen, um Notizen zu machen. Und jetzt … folgen Sie mir.«
Ich lasse ihm nicht die Möglichkeit, etwas hinzuzufügen, sondern durchquere die Halle bis zu einem Seitenausgang. Seine Schritte erklingen hinter mir. Gut. Das ist der erste kleine Sieg. Er mag so tun, als wüsste er nicht, wer ich bin, aber er wird mir den Respekt entgegenbringen, den ich verdiene. Sonst kann er sich von seinem Erbe ziemlich schnell verabschieden.
Ich hoffe sehr, mein Puls beruhigt sich bald. Seit dem Händedruck, der einen Schauer in mir ausgelöst hat, rast mein Herz. Es fällt mir schwer, Victoria nicht anzustarren. Sie geht zielstrebig vor mir und ihr Hintern wackelt dabei in diesem verdammten Bleistiftrock, als wollte sie mich verführen. Dabei hat sie mich so finster angesehen, als versuche sie mich mit ihrem Blick zu töten. Und sie hat jeden Grund dazu.
Rückwirkend betrachtet war mein Verhalten damals, an unserem letzten Abend, mehr als kindisch, um nicht zu sagen bescheuert. Seit Jahren versuche ich mich davon zu überzeugen, dass Victoria selbst schuld war. Damals, in dem Sommer, war sie meine Stütze. Es war das beschissenste Jahr meines Lebens. Nur durch Betteln durfte ich – trotz allem, was davor geschehen war – nach Greifenstein kommen. Ich war seit meinem dritten Lebensjahr in den Ferien hier, weil meine Eltern wollten, dass ich neben meiner Muttersprache Französisch auch andere Sprachen lerne. Also hat Maman die Sommer mit mir in Greifenstein verbracht, wo ich Unterricht bekam und mit den Kindern spielen durfte. Manchmal auch die Weihnachtsferien.
Das sind vermutlich meine schönsten Erinnerungen. Die Tage, in denen ich ein gewöhnlicher Junge sein durfte. Vor zwölf Jahren wollte ich einfach nur einen Ort finden, der mir Sicherheit schenkte. Greifenstein war dieser Ort. Wegen Victoria. Ich wollte zu ihr. Zwischen uns hatte es schon sehr früh eine tiefe Verbindung gegeben. Sie hatte mein Herz erobert. Nur um es vor zwölf Jahren herauszureißen und darauf herumzutrampeln.
Trotzdem hat sie nicht verdient, was ich ihr angetan habe. Rückgängig machen kann ich es allerdings nicht. Entschuldigen werde ich mich auch nicht. In den schwersten Wochen meines Lebens hat sie mit mir gespielt und mir unendlich weh getan.
Vielleicht glaube ich deswegen nicht mehr an Liebe. Möglicherweise verdiene ich auch keine. Immerhin hat mein eigener Vater mich fortgeschoben, als ich ihn so dringend brauchte. Genau wie Victoria.
Sie nach all der Zeit zu sehen setzt mir mehr zu, als gut für mich ist. Mein vertrocknetes Herz sehnt sich nach der unbeschwerten Zeit, die wir hatten. Mein Kopf weiß aber genau, dass ich ihr nie wieder so nahe kommen darf. Sie würde mich erneut zerstören.
Warum hat sie sich nicht in eine Vogelscheuche verwandeln können?
Dem Gedanken hänge ich nach, als wir das Schloss verlassen und unsere Schritte auf dem weißen Kies knirschen, der den Weg bedeckt. Mit sechzehn war Victoria schon eine Augenweide. Aber jetzt … ihr Körper ist makellos. Sie besitzt Rundungen an den richtigen Stellen. Ihr Hintern sieht in dem dunkelgrauen Bleistiftrock, den die Angestellten tragen, unglaublich heiß aus. Die dunkelgrüne Samtweste über der weißen Bluse lässt mich dennoch ihre vollen Brüste erkennen. Selbst die graue Jacke mit dem dunkelgrünen Kragen und den riesigen Trachtenknöpfen wirkt an ihr heiß. Sie hat die Haare hochgesteckt, was ihren verführerischen Hals betont. Ihr Gesicht ist reifer geworden, ein wenig schmaler. Sie wirkt stolz und ehrgeizig.
Das muss sie auch sein. Immerhin leitet sie das Hotel. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass ihre Eltern immer noch hier wären, und habe gehofft, Victoria hätte das Dorf verlassen. Zumindest war das einmal ihr Traum. Möglicherweise war das genauso eine Lüge wie die Gefühle, die sie mir vorgemacht hat.
Es war vermutlich nicht klug, so zu tun, als würde ich sie nicht kennen. Ich habe die Wut in ihren wunderschönen braun-grünen Augen aufblitzen sehen, als ich das behauptet habe. Aber hey, ich war in Panik. Und ich möchte nicht daran denken, was damals gewesen ist. Je distanzierter Victoria und ich miteinander umgehen, desto besser.
Das Gebäude, zu dem Victoria mich führt, ist etwa drei Gehminuten vom Schloss entfernt. Es liegt ein wenig verborgen hinter einer Gruppe Fichten, die schon mehrere Jahrzehnte auf dem Buckel haben. Das ebenerdige Haus selbst wurde kurz vor meiner Geburt errichtet. Saisonarbeiter kommen dort unter. Die Bezeichnung trifft irgendwie auf mich zu.
Im Gehen zieht Victoria einen Schlüssel aus der Rocktasche, sperrt die Tür auf und tritt vor mir ein. Zielstrebig geht sie auf eine Tür ziemlich weit hinten in dem langen Gang mit Linoleumbelag zu. Es riecht nach Desinfektionsmitteln, was mir ein Schaudern entlockt. Dieses Gebäude strahlt den Charme einer Besserungsanstalt aus. Als Victoria die Tür aufsperrt und mir bedeutet, einzutreten, wird mir klar, dass die Zimmer nicht viel besser sind.
Ein schmaler Schrank aus hellem Holz befindet sich in einer Ecke. Daneben steht ein kleiner Tisch mit einem einzigen Stuhl unter dem sich ein winziger Kühlschrank versteckt. Das Bett ist so schmal, dass es wohl für Kinder gemacht wurde. Dünne Kinder. Ich fürchte, ich werde da rausfallen, wenn ich mich im Schlaf drehe, und meine Füße werden über den unteren Rand hinausstehen. Zumindest habe ich ein eigenes Bad. Die Tür steht offen und gibt den Blick auf einen winzigen Raum mit Klo, Dusche und Waschbecken frei.
Dass ich nicht mit Luxus rechnen durfte, war mir klar. Aber so spartanisch zu leben ist schon ein Schlag in die Magengrube.
»Sind Sie bereit, den Vertrag zu lesen und zu unterschreiben?«, reißt mich Victorias Stimme aus meinen Gedanken.
Langsam drehe ich mich zu ihr um. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und lehnt im Türrahmen. Ihr Blick ist kühl. Erst jetzt bemerke ich die Perlenohrringe, die sie trägt. Die hatte sie schon damals. Sie waren ein Geschenk ihrer Großmutter zum Geburtstag und Victoria war unglaublich stolz darauf.
Wieso muss ich gerade jetzt daran denken, wie sie gestrahlt hat, als sie das Päckchen geöffnet hat?
Hastig schüttle ich die Erinnerungen ab.
»Das fragen Sie mich, nachdem ich das Zimmer gesehen habe?« Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Gibt es dafür einen Grund?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ihr Vater meinte, der Anblick der Unterkunft, in der Sie auf unbestimmte Zeit leben werden, könnte dazu führen, dass Sie sofort kehrtmachen.«
»Hat er das?« Ich atme scharf ein.
Zorn lodert in mir hoch. Für wie kurzsichtig hält mein Vater mich? Mir ist klar, dass ich keine Zukunft habe, wenn er mich enterbt. Auf die Krone des Fürstentums habe ich keine Lust, aber ich werde nicht zusehen, wie er mir die finanzielle Sicherheit nimmt. Papa ist nicht unschuldig an dem, was aus mir geworden ist. Victoria ebenso wenig. Ich spiele hier nur mit, weil ich muss.
Unter Victorias Blick stelle ich das Gepäck ab, gehe zum Tisch und knipse die Lampe an, die darauf steht. Ich setze mich auf den Stuhl und beginne den Vertrag zu lesen.
Mit jedem Absatz werde ich zorniger. Nicht nur, dass mein Vater von mir verlangt, jede Aufgabe zu übernehmen, die Victoria mir zuweist, er fordert auch, dass sie meine Arbeit absegnet. Erst wenn sie entscheidet, dass ich so weit bin, darf ich diesen Ort verlassen. Ich bin mir sicher, dass sie mich genauso wenig hier haben will, wie ich hier sein möchte. Allerdings ist sie meinem Vater verpflichtet.
Wie komme ich aus dieser Situation nur glimpflich raus?
»Haben Sie Fragen dazu?«, hakt sie nach einer Weile nach, in der ich nur vor mich hingestarrt habe.
»Ja.« Ich erhebe mich und wende mich ihr zu. »Wie gedenken Sie diese Beurteilung vorzunehmen?«
Eine Augenbraue wandert hoch. »Was meinen Sie?«
»Mein Vater fordert von Ihnen, zu entscheiden, wann ich die von ihm gestellte Aufgabe erfüllt habe. Mich würde interessieren, welche Bewertungskriterien Sie nutzen wollen. Die sind hier nämlich nicht aufgeführt, aber in meinen Augen essenziell.«
Irgendwie fühlt es sich komisch an, nach der langen Zeit wieder Deutsch zu sprechen. Ich hoffe nur, ich rede keinen Mist. Victoria soll nicht glauben, dass ich nicht kapiere, worum es geht. Denn ich weiß sehr genau, was für mich auf dem Spiel steht.
Als sie die Augen weitet, fürchte ich schon, mich falsch ausgedrückt zu haben. Ich überlege, wie ich es umformulieren kann, da räuspert sie sich.
»Ihr Vater hat nur sehr vage Angaben gemacht. Er meinte, wenn ich Sie als festen Mitarbeiter einstellen würde, weil Sie die Leistung erbracht haben, die ich erwarte, wäre Ihr Aufenthalt hier zu Ende.«
»Aha, dann erlauben Sie mir zu fragen, wie lange Sie mich prüfen werden, bis Sie diese Entscheidung fällen?«
Ihre Miene verhärtet sich. »Das kommt alleine auf Sie an. Ihr Vater will, dass Sie zumindest die Probezeit fix hier verbringen. Sie beträgt drei Monate …«
»Drei Monate?«, entfährt es mir.
Sie nickt mit grimmigem Blick. »Glauben Sie mir, ich würde Sie auch lieber früher gehen lassen als später. Aber ich bin Ihrem Vater verpflichtet. Er zahlt die Gehälter aller Menschen, die im Hotel arbeiten, und ich nehme meine Verpflichtung sehr ernst. Deswegen werde ich mich mit Ihrer Anwesenheit arrangieren müssen. Sie sollten das auch tun oder gleich gehen.«
Wir liefern uns ein Blickduell, in dem ich überlege, ob es Sinn machen könnte, sie zu bestechen. Zu umgarnen brauche ich sie nicht. Victoria mag vorhin behauptet haben, sie könne sich an mich auch nicht mehr erinnern, ihre Augen sprechen aber eine andere Sprache. Sie hasst mich, daran habe ich keinen Zweifel. Ich habe sie auf dem Ball, der ihr so wichtig war, gedemütigt. Sie muss mich hassen. Ich würde mich hassen.
Es hat keinen Sinn, das hinauszuzögern. Ich muss diesen Mist machen.
»Haben Sie einen Stift?«, frage ich frostig, weil ich jenen, den sie mir in der Empfangshalle gegeben hat, nicht mehr finde.
Wortlos zieht sie einen Füllfederhalter aus der Innentasche ihrer Jacke und hält ihn mir hin. Sie macht keinen Schritt auf mich zu. Okay, sie will ihre Position untermauern. Ich bin ihr Untergebener für mindestens drei Monate.