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Sie waren die besten Freunde und heimlich ineinander verliebt – bis ein Unfall alles zerstört hat. Nach dem tödlichen Autounfall ihres Freundes ist Holly aus Truffle Falls geflohen – dem Ort, den sie am meisten liebt. Um sich selbst und ihre Familie zu schützen, hat sie alles aufgegeben, was ihr wichtig war. Selbst Zane, ihren besten Freund und heimliche große Liebe. Niemals wollte sie zurückkehren. Als eine Beförderung ihr die Gelegenheit bietet, ihre Heimatstadt endgültig hinter sich zu lassen, ist sie entschlossen, diese Chance zu ergreifen. Doch dazu muss sie ein letztes Mal zurück – und sich dem Trauma ihrer Vergangenheit stellen. Ausgerechnet mit Zane wird sie dafür eng zusammenarbeiten müssen. Holly ist hin- und hergerissen zwischen ihren Schuldgefühlen und dem Herzklopfen, das Zane in ihr auslöst. Kann es eine zweite Chance für ihre Liebe geben? Oder wird der Unfall immer zwischen ihnen stehen? Denn der hat nicht nur ihr den Freund, sondern auch Zane den Bruder genommen … Weihnachtlicher Auftakt der Kleinstadtreihe, in der jeder Band unabhängig voneinander gelesen werden kann. Achtung: Taschentücher bereithalten!
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SEASONS IN TRUFFLE FALLS
BUCH EINS
Copyright © 2024 by Lilly Autumn
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
www.lillyautumn.at
Umschlaggestaltung: Nina Hirschlehner
Lektorat&Korrektorat: Diana Steigerwald
Satz: Bettina Pfeiffer
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für die, die sich nach Geborgenheit sehnen. Und für die, die eine zweite Chance verdienen ...
Prolog
1. Holly
2. Holly
3. Zane
4. Holly
5. Zane
6. Zane
7. Holly
8. Holly
9. Zane
10. Holly
11. Zane
12. Holly
13. Zane
14. Holly
15. Zane
16. Holly
17. Zane
18. Holly
19. Holly
20. Zane
21. Zane
22. Holly
23. Holly
24. Zane
25. Holly
26. Zane
27. Holly
28. Holly
Epilog - Violet
Hol Dir gleich Band 2!
Kennst Du schon die kostenlose Novelle rund um Mrs Everdeen?
So geht es in Band 2 weiter …
In dieser Reihe erschienen …
Danksagung
Über den Autor
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Obwohl seine Ma ihm die Hölle heiß machen würde, wenn er seine gepflegte Anzughose beschmutzte, kroch der Junge durch das Loch im Zaun zum Nachbargrundstück. Er hatte sie im Garten gesehen – allein. Das war eine besondere Gelegenheit, die er nutzen musste.
Sie saß auf der Schaukel unter dem Kirschbaum, den Rücken ihm zugewandt. Ihr langes, schwarzes Haar schwebte im Wind, während sie mit den Füßen Schwung nahm.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Seit er ihren Namen aussprechen konnte, sagte er ihn ständig vor sich auf – oder in Gedanken, wenn er nicht allein war. Mit seinen sieben Jahren hatte er noch wenig Erfahrung in Sachen Liebe, aber er wusste, dass er dieses Mädchen über alles liebte. So sehr, dass er in Kauf nahm, Ärger von Ma zu bekommen.
Als er nur noch wenige Schritte von seiner großen Liebe entfernt war, hielt sie inne. Langsam stand sie von der Schaukel auf und drehte sich zu ihm um. Mit ihrem Lächeln offenbarte sie eine Zahnlücke. Die beiden oberen Schneidezähne waren ihr kürzlich ausgefallen. Trotzdem – oder vielleicht genau deswegen – war ihr Lächeln das schönste, das er kannte.
»Hey«, sagte er, so lässig er konnte, und hob die kleine Schachtel in seinen Händen hoch. »Ich habe dir Pralinen mitgebracht. Die, die du so gern magst. Mein Papa hat sie für die Hochzeit hergestellt.«
Sie kicherte. »Durftest du dir denn welche nehmen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wird nicht auffallen. Außerdem hat Papa genug Reserven gemacht.«
Seine Freundin kam zu ihm, ergriff seine Hand und führte ihn zu der weißen Bank zwischen zwei Rosensträuchern. Manchmal erzählte sie ihm hier Geschichten über Feen und andere magische Wesen. Er war schon zu alt, um an so etwas zu glauben, aber wenn sie davon erzählte, erlaubte er sich, sich in diesen Welten zu verlieren.
Sie nahmen nebeneinander Platz und er öffnete die Schachtel. Pralinen mit Milchschokoladenüberzug und Verzierungen aus rot gefärbter Schokolade verströmten ihren süßen Duft. Seine Freundin atmete lächelnd ein und griff in die Packung.
»Eure Pralinen sind die besten«, sagte sie und schob sich die Kugel in den Mund. »Mmmh, mit Himbeeren.«
Er betrachtete seine Freundin, unfähig, selbst eine Praline zu essen. Ja, er war verliebt.
»Wer heiratet heute eigentlich?«, wollte sie wissen.
»Mein Onkel«, antwortete er atemlos.
Sie nickte nachdenklich. »Komische Sache, das Heiraten, oder?«
»Wieso?«
Diesmal zuckte sie mit den Schultern. »Ich glaube, Menschen heiraten nur, um Kinder zu bekommen.«
Er hob die Mundwinkel. »Möglich. Willst du denn einmal heiraten?«
»Iiih, nein.« Sie schüttelte heftig den Kopf.
Sein Herz bekam kleine Risse, bis sie weitersprach.
»Aber wenn ich muss, dann will ich dich heiraten.«
Vor Glückseligkeit flatterte es in seinem Magen. »Mich?«
»Ja. Wenn ich heiraten muss, dann dich.« Sie schenkte ihm ein breites Lächeln. »Du bist mein bester Freund. Wen sonst sollte ich heiraten?«
Seufzend atmete er aus. »Du bist auch meine beste Freundin.«
Einen wunderbaren Moment strahlten sie einander an.
»Versprich mir, dass wir heiraten, wenn wir groß sind und es müssen«, sagte sie, ehe sie sich noch eine Praline nahm.
»Ich verspreche es«, wisperte er.
»Nicht vergessen.«
»Glaub mir, daran werde ich mich erinnern.«
Und das tat er. Sogar, als sie es längst vergessen zu haben schien.
Ich versuche, das laute Getuschel zu ignorieren. Sowie die Blicke der anderen Mitarbeitenden, die sich auf dem Weg zum Personalbüro wie Messerspitzen in meinen Rücken bohren. Doch die Worte »sie ist schon wieder panisch geworden« verfolgen mich den unendlich lang erscheinenden Gang entlang, der mit glitzernden Girlanden und Kugeln weihnachtlich geschmückt ist.
Keine dieser Personen ist mir wichtig genug, als dass es mich kümmern würde, was sie von mir denken. Ich leiste in diesem Job gute Arbeit. Das Team, für das ich die Assistenz übernommen habe, ist sehr zufrieden mit mir. Trotz meiner gelegentlichen Aussetzer, die ich habe, wenn ich Blut sehe.
Einen Moment wird mir schwarz vor Augen, während die Szene von vorhin sich in meinem Kopf wiederholt. Eine Kollegin hat sich beim Schälen eines Apfels in den Finger geschnitten. Blut. Da war so viel Blut. Ich habe um Hilfe geschrien, ihr sofort ein Tuch auf die Wunde gepresst. Und … alle Umstehenden haben mich mit offenem Mund angeschaut oder den Kopf geschüttelt, als würde ich grundlos so reagieren. Die haben keine Ahnung.
Ich schiebe die Bilder von mir und konzentriere mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die junge Frau an dem mit kitschiger Deko überladenen Tresen der Personalabteilung kann mich nämlich schon sehen, also sollte ich möglichst vermeiden umzukippen.
So gut ich kann, lächle ich und bleibe direkt vor dem Tresen stehen.
»Hi. Holly Williams für Ms Martin«, sage ich mit erstaunlich ruhiger Stimme.
Die Empfangsdame ist neu, kennt mich also vermutlich noch nicht. Obwohl, vielleicht hat sie mittlerweile schon alle Geschichten über mich gehört. Falls es so ist, lässt sie sich nichts anmerken. Stattdessen tippt sie auf ihrer Tastatur herum und nickt.
»Bitte folgen Sie mir.« Höflich lächelnd steht sie auf und führt mich zu einer Milchglastür.
Ms Martins Büro ist mir inzwischen vertraut. In den letzten zwei Jahren war ich sicher schon zehnmal hier. Eher öfter. Wie gesagt, sobald ich Blut sehe, brennt eine Sicherung in meinem Kopf durch. Manchmal bekommt es niemand mit, doch ausgerechnet heute waren sämtliche Mitarbeitende in der Nähe, und obendrein ein Kunde, der wegen einer neuen Marketingkampagne bei meinem Chef war. In diesem Fall ist ein Gespräch mit Ms Martin unausweichlich. Ich hoffe nur, ich behalte meinen Job. Er bietet mir Sicherheit. Und die brauche ich dringender, als sich irgendjemand vorstellen kann.
Dabei ist es nicht so, als wäre es mein Traum, Assistentin eines Teams zu sein, das hauptsächlich Werbekampagnen für Zahnpasta entwirft. Ich vereinbare Termine, bereite Besprechungszimmer und Unterlagen vor, begrüße die Gäste. Nichts, was ich mir je für mein Leben gewünscht hätte. Aber nach dem, was vor zwei Jahren geschehen ist, musste ich mein altes Leben aufgeben, um nicht zu zerbrechen.
Jeden Tag sehne ich mich nach meiner Familie, meiner Heimat und meinem alten Job. Aber so ist es besser. Als Assistentin muss ich mich bloß geringen Herausforderungen stellen und habe genug Ausreden, warum ich meine Familie nur einmal im Jahr während der Weihnachtsfeiertage besuche. Die Arbeitszeiten sind lang, manchmal muss ich auf Geschäftsreise und am Wochenende verfügbar sein. Da bleibt keine Zeit für einen Besuch.
Als die Empfangsdame an die Tür klopft, straffe ich die Schultern. Ms Martins Stimme dringt gedämpft zu uns heraus. Ihre Assistentin öffnet, lässt mich eintreten und schließt die Tür wortlos von außen.
Wenn sie nicht einmal fragt, ob ich etwas trinken möchte, bin ich wohl in Schwierigkeiten.
Schweigend sehe ich zu Ms Martin, die an ihrem Tisch sitzt und in einigen Unterlagen blättert. Ich kann mir denken, dass es mein Ordner ist. Vielleicht will sie herausfinden, wann ich zuletzt einen Aussetzer wie heute hatte.
Da ich nicht weiß, ob und was ich sagen soll, bleibe ich stehen und streiche meinen grauen Rock glatt. Vor zwei Jahren war es für mich undenkbar, ständig in engen Röcken und hellen Blusen herumzulaufen. Jetzt gehört das zu meinem Leben. Ob ich mich je daran gewöhnen werde?
»Ms Williams«, murmelt die Personalchefin und blickt langsam auf.
Geräuschlos lasse ich den Atem entweichen und halte ihrem Blick stand. Die Personalchefin ist Ende vierzig, wirkt mit ihrer Brille und ihren streng zurückgebundenen Haaren aber deutlich älter. Und respektgebietend wie eine strenge Internatsaufsicht.
Endlich erhebt Ms Martin sich, deutet mit der ausgestreckten Hand auf einen runden Tisch mit vier Stühlen davor und bewegt sich mit der Akte in der Hand darauf zu. Auch ich gehe zu einem Stuhl und lasse mich darauf nieder.
Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, bis die Personalchefin sich räuspert.
»Vorhin haben Sie einem Kunden wohl den Schock seines Lebens beschert. Er dachte, jemand würde im Sterben liegen.«
»Ich kann das erklären«, wispere ich.
»Holly.« Ms Martin lässt die Akte auf den Tisch sinken. »Ich kenne den Grund für diese Reaktion. Sie haben mir mehr als einmal davon erzählt.«
Zögerlich nicke ich und beiße auf meine Unterlippe. Wird sie mich mit dem Geständnis konfrontieren, das ich vor eineinhalb Jahren abgelegt habe? Hoffentlich nicht. Es kostet mich immense Kraft, das zu ertragen. Aber bevor ich meinen Job verliere, stehe ich das schon irgendwie durch.
»Sie sind eine unserer fähigsten Assistentinnen und wir möchten Sie gern behalten«, sagt Ms Martin.
Ich atme auf. Noch einmal Glück gehabt.
»Nächstes Jahr im März wird Lucy String in Rente gehen und ich habe überlegt, Sie für die vakante Stelle vorzuschlagen.«
»Wirklich?« Ich lächle.
Lucy String ist die leitende Assistentin der bedeutendsten Abteilung in dieser Marketingagentur. Sie ist oft auf Reisen, darf sogar ein paar Tage privat an manchen Orten bleiben. Ihre Aufgaben sind interessanter, als meine es je sein könnten. Ein Traumjob ist es immer noch nicht, aber … er würde mir noch mehr Gründe liefern, mich in New York zu verkriechen. Wenn ich diese Stelle hätte, könnte ich endlich meine Vergangenheit hinter mir lassen und meine Familie müsste es akzeptieren …
»Ja, wirklich.« Ms Martin seufzt. »Aber nach Ihrem heutigen Verhalten kann ich das nicht tun.«
Als hätte Ms Martin mir in den Magen getreten, krümme ich mich zusammen. »Das heute war … es kommt nicht wieder …«
Mit strengem Blick hebt Ms Martin die Hand. »Es wird wieder vorkommen, Holly. Es kommt immer wieder vor und das ist in Ordnung. Wir alle mögen Sie, doch genau aus dem Grund habe ich Zweifel, ob ich Sie diesem Stress aussetzen darf.«
Ich schlucke, suche nach Worten, um mir diesen Job zu retten. Das wäre die Lösung für mich. Der finale Abschluss, den ich brauche. Wenn ich befördert werde, wird meine Familie aufhören zu fragen, warum ich nicht nach Hause komme. Ich muss diese Chance nutzen.
»Was muss ich tun, um zu beweisen, dass ich dem Job gewachsen bin?«, frage ich heiser.
Erneut mustert die Personalchefin mich mit ihrem bohrenden Blick. Dann hebt sie die Akte hoch.
»Sie sind seit zwei Jahren in Therapie.« Es ist eine Feststellung, keine Frage, dennoch nicke ich. Auch dieses Thema habe ich nach meinem ersten großen Zusammenbruch sehr offen angesprochen, um meinen Job zu behalten. »Wenn Ihre Therapeutin der Meinung ist, dass Sie dieser Stelle gewachsen sind, werde ich Sie vorschlagen. Andernfalls kann ich nichts für Sie tun.«
»Okay, also brauche ich eine Art Schreiben, in dem meine Therapeutin versichert, dass ich stabil genug für die Aufgabe bin.«
»Ich schicke Ihnen eine Vorlage«, meint Ms Martin. »Dieses Schreiben brauche ich bis Neujahr zurück. Ansonsten muss ich die Stelle ausschreiben und kann Sie nicht mehr berücksichtigen. Haben Sie das verstanden?«
Sofort nicke ich. »Danke, Ms Martin. Ich kümmere mich noch heute darum.«
Damit haben sich wohl meine Sorgen erledigt, denn meine Therapeutin weiß genau, welche enormen Fortschritte ich in den letzten zwei Jahren gemacht habe.
* * *
»So einfach ist das nicht.« Mit schief gelegtem Kopf betrachtet Tracy Morgan mich. »Holly, das, was Sie heute erlebt haben, zeigt, wie sehr die Vergangenheit noch an Ihnen nagt.«
Ich winke ab. »Ja, aber es war nicht so schlimm.«
Eine der perfekt geschwungenen Augenbrauen meiner Therapeutin wandert hoch.
»Nicht so schlimm? Sie haben lautstark nach einem Notarzt gerufen, Ihre Kollegin umklammert und sind in Tränen ausgebrochen.«
Ich knete meine Finger. Vermutlich hat sie die detaillierten Infos von Ms Martin bekommen. Weil ich damals einverstanden war, dass meine Personalchefin meiner Therapeutin von solchen Vorfällen erzählt. »Na ja …«
»Holly.«
Tracy richtet sich auf ihrem Sessel auf. Sie ist vermutlich keine zehn Jahre älter als ich. In dem dunkelgrünen Etuikleid, das perfekt mit ihren leuchtend roten Haaren und ihrer blassen Haut harmoniert, wirkt sie aber reifer.
»Lassen Sie mich ehrlich sein«, meint Tracy ruhig. »Wir kennen uns jetzt seit fast zwei Jahren. In dieser Zeit haben Sie mir viel über sich erzählt und ich habe viele Einblicke in Ihr Inneres gewonnen.«
»Dafür bezahle ich Sie ja«, scherze ich, doch meine Therapeutin mustert mich mit ihrem analytischen Blick.
»Sie haben etwas Fürchterliches erlebt.« Ihre Stimme ist jetzt viel sanfter. »Jeder Mensch geht mit Trauer anders um. Manche weinen, bis sie keine Kraft mehr haben, andere verdrängen dieses Gefühl. Sie gehören eher zur letzten Kategorie.«
»Das stimmt nicht«, murmle ich und betrachte meine ineinander verschränkten Finger. »Ich habe geweint. Sehr viel.«
»Das will ich nicht abstreiten, Holly.« Tracys Stimme ist noch sanfter geworden. »Ihr Verlust …«
»Ich bin schuld«, keuche ich atemlos. »Das wissen Sie. Ich habe … ich bin schuld.«
Tränen brennen in meinen Augen, aber ich blinzle sie weg. Ich will nicht weinen. Wenn ich es tue, sehe ich wieder diese Bilder vor mir. Ich sehe das Blut, das auf dem gefrorenen Boden schimmert. Sehe den Schnee, der mir zum ersten Mal keinen Trost gespendet hat. Sehe ihn.
Mit einem Räuspern greife ich nach einem Wasserglas auf dem Tisch zwischen Tracy und mir. Schnell trinke ich es aus und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Ich kenne die Kunstwerke an den Wänden genauso in- und auswendig wie die Lexikon-Sonderausgaben im Regal. Persönliches suche ich in diesem Zimmer vergebens, in dem ich seit zwei Jahren alle drei Tage zur Therapie erscheine. Tracy weiß alles über mich, ich weiß kaum etwas über sie, dennoch fühle ich mich von Anfang an wohl bei ihr. Gleichzeitig möchte ich nicht über den Tag vor zwei Jahren reden.
»Holly, Sie sind nicht schuld an dem, was Zack …«
Ich hebe die Hand. »Nicht. Bitte. Ich will das alles nur hinter mir lassen. Endlich einen richtigen Schlussstrich ziehen. Und dafür brauche ich Ihre Hilfe. Setzen Sie das Schreiben auf, damit ich diesen Job bekomme.«
Schweigen legt sich über uns. Tracys Blick brennt auf meiner Haut, doch ich starre die Wanduhr an, deren Zeiger sich kaum bewegen. Ist gerade die Zeit stehen geblieben?
»Ich sagte schon, so einfach ist das nicht.« Geräuschvoll atmet Tracy aus. »Wenn Sie diesen Job annehmen, wäre es so, als hätten Sie sich die Hand gebrochen, und anstatt diese zu schienen oder zu operieren, würde ich Ihnen Schmerzmittel geben.«
»Was ist verkehrt an Schmerzmitteln?«, frage ich leise.
»Nichts. Wenn man sie zum richtigen Zweck einsetzt. Aber Schmerzmittel behandeln nicht die Ursache Ihres Problems. Wenn Sie diesen Job annehmen, ohne vorher mit sich ins Reine zu kommen, werden die Schmerzen für eine gewisse Zeit fort sein, aber irgendwann helfen die Medikamente nicht mehr. Und dann ist es vielleicht zu spät, Ihre Hand zu retten.«
»Sie denken, ich würde mental zusammenklappen?«
Langsam wende ich mich Tracy zu, die mich mit neutraler Miene mustert.
»Ich denke, Sie werden immer leiden, wenn Sie vor Ihren Problemen davonlaufen«, antwortet die Therapeutin.
»Ich laufe nicht davon.«
Die Augenbraue wandert höher. »Wirklich nicht? Ihre Schwester Hazel heiratet in etwa vier Wochen und soweit ich weiß, haben Sie die Einladung bisher nicht angenommen. Dabei hat sie sogar darum gebeten, ihre Trauzeugin zu werden.«
In mir zieht sich alles zusammen. Hazel und ich waren früher unzertrennlich. Doch wie zu dem Rest der Familie habe ich seit zwei Jahren kaum noch Kontakt zu ihr. Dabei ist sie nur ein Jahr jünger als ich, wir waren wie Zwillinge. Jetzt überlege ich, wie ich es elegant lösen kann, dass ich nur kurz nach Hause fahre für dieses Fest, das garantiert das Ereignis des Jahres in Truffle Falls ist. Immerhin ist meine Familie stark mit dem Ort verwurzelt.
»Ich werde ihr noch antworten«, nuschle ich und verdränge den stechenden Schmerz in meiner Brust. Ich würde Hazel so unglaublich gern beistehen. Aber das geht einfach nicht.
»Ich weiß, Sie wollen diesen Teil Ihres Lebens wegschließen«, sagt Tracy. »Sie wollen sich bestrafen, weil Sie sich die Schuld daran geben, was mit Zack geschehen ist. Und Sie denken, Sie haben kein Recht mehr, Teil dieser Gemeinde zu sein, in der Sie früher so glücklich waren. Sie glauben, dass Sie Ihre Familie damit schützen. Doch da liegen Sie falsch. Sie tun sich selbst und Ihrer Familie weh. Auf diese Weise ist eine Heilung nie möglich und ich werde Ihnen das gewünschte Schreiben nicht ausstellen können.«
Wut regt sich in mir und ich balle die Hände zu Fäusten. »Also wollen Sie mir nicht helfen?«
»Doch. Aber dafür brauche ich Ihre Unterstützung. Sie wollen dieses Schreiben für Ihre Beförderung?« Ich nicke wortlos, da spricht Tracy weiter. »Dann verlange ich von Ihnen, dass Sie sich unverzüglich freinehmen, in Ihre Heimatstadt fahren und Ihrer Schwester bei den Hochzeitsvorbereitungen zur Seite stehen.«
»Bitte was?«
Tracy neigt den Kopf. »Das Amt als Trauzeugin geht mit vielen Aufgaben einher.«
»Hazel will mich sicher nicht mehr«, blaffe ich meine Therapeutin an. »Ich habe seit drei Monaten nicht auf ihre Bitte geantwortet. Bestimmt hat sie eine meiner anderen Schwestern gefragt.«
»Unabhängig davon möchte ich, dass Sie nach Truffle Falls reisen und für Ihre Schwester da sind.« Tracy kritzelt etwas auf den Block in ihren Händen. »Sie können heute noch in Ihrer Firma Bescheid geben, dass Sie erst nach Neujahr zurückkommen.«
»Das sind über fünf Wochen«, entfährt es mir. »Abgesehen davon muss ich bis dahin schon das Schreiben abgegeben haben.«
Tracy blickt mich an, als wäre ich ein Kind, das fünf Minuten vor dem Abendessen um Kekse bettelt. »Das Schreiben bekommen Sie, wenn Sie nach Weihnachten immer noch bei Ihrer Familie sind. Um sicherzugehen, dass Sie wirklich in Truffle Falls verweilen, erwarte ich täglich Fotos und Berichte. Dann, und nur dann, werde ich es überhaupt in Betracht ziehen, das Schreiben für Ihren Arbeitgeber auszufüllen.«
»Das ist Erpressung«, zische ich.
»Nein, Holly. Ich versuche, Ihnen zu helfen.« Wieder kritzelt Tracy etwas auf ihren Block. »Nehmen Sie meine Bedingungen an?«
Kopfschüttelnd sage ich: »Ich kann keine fünf Wochen Urlaub am Stück nehmen.«
»Keine Ausreden, Holly. Ms Martin habe ich schon vorab von meinem Vorhaben informiert und sie hat bestätigt, dass Sie genug freie Tage haben und diese auch nehmen können. «
»Sie sind ein Fuchs.«
Ein schwaches Lächeln erscheint auf Tracys Lippen. »Danke.« Das Lächeln verschwindet. »Also, Holly. Nehmen Sie meinen Vorschlag an?«
Sie hält mir den Block hin, auf dem sie ihre Vorgaben zusammengefasst hat.
Eigentlich will ich den Kopf schütteln, aufstehen und gehen. Aber was dann? Bisher hat Tracy meinen Job gerettet, hat versichert, dass ich Fortschritte mache. Wenn ich ablehne, verliere ich womöglich ihre Hilfe. Und ganz sicher diese Chance.
»Bleibt mir eine Wahl?«, brumme ich.
»Sie haben immer eine Wahl, Holly.«
Ich verdrehe die Augen. »Schön, ich bin einverstanden.«
»Wunderbar.« Tracy reißt den Zettel ab und gibt ihn mir. »Jetzt rufen Sie Ihre Schwester an.«
»Wie bitte?«
»Sie rufen Hazel an und sagen ihr, dass Sie zur Hochzeit kommen und ihr ab morgen gern zur Seite stehen.«
»Nicht Ihr Ernst.«
»Doch, Holly. Wenn Sie diesen Job wollen, dann schon.«
Erwartungsvoll sieht Tracy mich an, während ich das Handy aus meiner Tasche hole. Ob sie es bemerkt, wenn ich den Anruf vortäusche?
»Stellen Sie den Lautsprecher an«, sagt Tracy, als ich Hazels Nummer antippe.
O ja, sie ist ein Fuchs.
Meine Hand zittert, als ich wähle. Hazel. Ich vermisse es, mit ihr zu reden, zu lachen, auch zu streiten.
Es klingelt einmal, dann ist Hazel dran.
»Holly? Alles okay?« Meine Schwester klingt besorgt und mein Herz zieht sich zusammen. »Ist etwas passiert oder wieso rufst du an?«
»Hallo, Hazel.«
Meine Stimme klingt brüchig, also räuspere ich mich. Meine Schwester ist so ein lieber Mensch, denkt immer an andere und hat schon mehrfach versucht, mir beizustehen. Aber niemand kann mir helfen. Nicht einmal meine liebste Schwester. Deswegen habe ich mich von allen zurückgezogen.
»Es ist alles okay«, bringe ich heraus. »Ich … ist es zu spät, dir meine Hilfe bei der Hochzeit anzubieten?«
Einen Moment ist es totenstill. Würde die Anrufdauer auf dem Handy nicht fortlaufen, würde ich denken, der Anruf wäre unterbrochen worden.
»Hazel?«, frage ich nach zehn Sekunden.
Ein Schluchzen ist das Erste, was nach der Pause zu hören ist.
»O Holly. Ich … nein, es ist nicht zu spät. Heißt das, du kommst früher? Wann?«
Ich schaue zu Tracy, die das morgige Datum auf ihren Block geschrieben und eingekreist hat. Auffordernd hält sie mir die Aufzeichnung hin.
»Morgen«, murmle ich atemlos. »Ich … komme morgen heim.«
Es ist seltsam, diesmal mit einem großen Koffer zu reisen. Normalerweise habe ich eine kleine Reisetasche bei mir, wenn ich in den Expresszug steige.
Ich habe einen Fensterplatz gebucht, meinen Koffer zwischen zwei Sitzreihen verstaut und mir Kopfhörer aufgesetzt. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass irgendjemand versuchen sollte, mit mir zu reden, kann ich ihn so ignorieren. Nicht, weil ich unhöflich sein will. Aber seit zwei Jahren vermeide ich soziale Kontakte, so gut ich kann. Allein zu sein ist besser für mich. So kann ich niemandem wehtun.
Als die Umgebung sich verändert, aus dem städtischen Dschungel eine unendlich erscheinende Waldebene wird, atme ich aus. Es war die einfachste Lösung, Truffle Falls zu verlassen. Schwer gefallen ist es mir dennoch.
Diese Stadt … ist so wunderschön. Die Häuser sehen aus, als hätte sie jemand aus einem kitschigen Weihnachtsfilm geklaut, ebenso wie die Hauptstraße, in der sich alle wichtigen Geschäfte und Lokale befinden. Die Konditorei meiner Eltern befindet sich dort, nahe am Hauptplatz mit dem Rathaus und den beiden Schulen. Und gleich neben unserem Geschäft liegt …
Ich vertreibe den Gedanken. Ich will nicht darüber nachdenken, was direkt neben dem Laden meiner Eltern liegt. Und doch sehe ich die Chocolaterie de Bruin vor mir, rieche den Duft nach Schokolade und dann … sehe ich Zack.
Tränen verschleiern meinen Blick. Schniefend ziehe ich ein Taschentuch aus meinem Rucksack und wische mir damit über die Augen.
Wie kann Tracy denken, diese Reise würde mir helfen? Es liegen noch vier Stunden Zugfahrt vor mir und ich bin bereits jetzt ein Wrack. Seit jenem Tag vor zwei Jahren habe ich es vermieden, das Stadtzentrum zu besuchen. Stattdessen bin ich vom Bahnhof direkt zu meinem Elternhaus gefahren und von dort wieder zurück. Niemanden treffen. Keine Erinnerungen aufschürfen. Damit bin ich gut klargekommen. Wie es jetzt wohl wird?
Ich schließe die Augen. Ein Teil von mir vermisst mein Zuhause schmerzhaft. Jener Teil, der mir einzureden versucht, ich wäre immer noch ein Mitglied dieser Familie. Das bin ich nicht. Nicht nach dem, was geschehen ist.
Da ich die halbe Nacht wach lag, fühlen sich meine Lider plötzlich bleischwer an. Mit letzter Kraft aktiviere ich einen Timer, damit ich den Halt in Truffle Falls nicht verschlafe. Dann ergebe ich mich der Erschöpfung, die mich in einen traumlosen Schlaf sinken lässt.
* * *
Strahlender Sonnenschein empfängt mich, als ich aus dem Zug stolpere und mein eigener Koffer mich beinahe erschlägt. Verdammt, wieso musste ich so viel Zeug mitnehmen? Das Ding wiegt eine Tonne und die Tatsache, dass es polternd auf dem Bahnsteig gelandet ist, trägt nicht gerade zu meiner Laune bei.
Ich bin wütend auf Tracy, weil sie mich zwingt, hier zu sein. Und Zorn ist besser als Angst, zumindest habe ich das beschlossen. Zwar bleibt der Druck auf meine Brust bestehen, aber ich bin immerhin etwas abgelenkt. Und Ablenkung brauche ich, wenn ich nicht gleich wieder umdrehen und den nächsten Zug zurück nach New York nehmen will.
Schon der Duft, der über dieser Stadt liegt, kratzt an den mühsam errichteten Mauern um mein Herz. Gott, wie habe ich diesen Ort vermisst. Alles hier. Besonders die Vertrautheit und die Liebe, die ich erfahren durfte. Wie soll ich es nur aushalten, fünf Wochen in der perfekten Stadt zu verbringen, die nie wieder mein Zuhause sein wird?
Erst einmal sollte ich in die Sicherheit meines Elternhauses flüchten. Hazel meinte, sie müsse noch einiges in der kleinen Kanzlei erledigen, in der sie arbeitet. Aber sie würde sich darum kümmern, dass mich jemand empfängt und zu meinen Eltern bringt. Da ich drei weitere Geschwister habe, hoffe ich, eines davon hat Zeit. Wobei eigentlich nur Violet infrage kommt. Mein jüngerer Bruder Noel ist gerade einmal sechzehn, also sicher noch in der Schule. So wie Tessa, die als Lehrerin arbeitet, seit sie ihre Karriere als Schwimmerin beendet hat. Meine Eltern sind bestimmt in der Konditorei, daher bleibt nur Violet, um mich abzuholen. Sie ist drei Jahre jünger als ich und soll nächstes Jahr in die Fußstapfen meiner Eltern treten, da sie schon immer eine begnadete Bäckerin war.
Am Bahnsteig wartet allerdings niemand auf mich, was sicher daran liegt, dass der Zug zur Abwechslung pünktlich war. Ich will hier nicht herumstehen wie ein vergessenes Paket. Also bewege ich mich auf die Bahnhalle zu.
Truffle Falls ist eine Kleinstadt an der Atlantikküste, die ganzjährig von Reisenden besucht wird. Gegründet wurde sie von zwei Chocolaterie-Familien aus Belgien – und die Pralinen aus den beiden Häusern sind der Grund, wieso die Stadt als Ausflugsziel so beliebt ist. Die ersten Trüffelpralinen waren auch die Namensgeber für diesen Ort.
Wieder pocht mein Herz schmerzhaft. Eine dieser Familien stand meiner so unglaublich nahe, nicht nur, weil unsere Läden direkt nebeneinanderliegen. Ob die de Bruins noch mit meinen Eltern sprechen? Wenn nicht … ist es meine Schuld.
Schnell schiebe ich den Gedanken von mir. Wenn ich endlich mit diesem Ort abgeschlossen habe, wird es auch meiner Familie besser gehen. Dieser Gedanke wird mir Kraft verleihen. Ich stehe diese Tage für meine Familie durch. Es ist sicher schwierig für sie, den Leuten zu erzählen, dass ich zu Besuch komme.
In der Halle ist wenig los. Nur ein paar Personen sitzen in dem kleinen Bistro, am Zeitungsstand befindet sich niemand. Ich lasse meinen Blick schweifen und erstarre, als ich einen Mann entdecke, den ich lieber nie wieder gesehen hätte.
Lässig lehnt er an einer Wand und schaut in meine Richtung. Seine dunkelbraunen Haare sind etwas länger, als ich sie in Erinnerung habe. Die Wellen hat er mit Haargel gebändigt und nach hinten frisiert. Seine hellblauen Augen sind so klar wie der Winterhimmel über Truffle Falls. Er trägt eine Jeans und eine gefütterte Lederjacke über einem grauen Pullover.
Zane, denke ich wehmütig und schaue schnell wieder weg, drehe ihm den Rücken zu und versuche zu vergessen, dass ich ihn gesehen habe.
Erfolglos. Mein Herz hämmert verzweifelt in meinem Brustkorb.
Hoffentlich hat er mich nicht entdeckt. Ihm sollte ich unter allen Umständen aus dem Weg gehen, sonst … sonst …
»Holly Williams«, sagt Zane, der geräuschlos neben mir erschienen ist.
Ich kann das Lächeln in seiner Stimme hören. Wieso lächelt er? Ich habe vor zwei Jahren auch sein Leben zerstört.
»Hörst du mich wegen deiner schicken Kopfhörer nicht?«, stichelt er.
Ich könnte so tun, als würde ich ihn wirklich nicht hören. Aber das ist lächerlich. Also nehme ich die Kopfhörer ab, durch die schon lange keine Musik mehr rauscht, und drehe mich zu Zane um.
Aus der Nähe ist seine Erscheinung noch umwerfender. Sein Gesicht ist kantig, die Nase seit einem Football-Unfall leicht krumm. Seine olivfarbene Haut sieht aus, als wäre er gerade im Sommerurlaub gewesen. Er lächelt und kleine Grübchen bilden sich in seinen Wangen, was das Flattern in meiner Brust verstärkt. Ich verstehe immer noch nicht, wieso er lächelt. Zane müsste mich hassen.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragt er.
»Hi«, bringe ich heraus.
Eine wenig schlagfertige Antwort. Doch da mein Herz noch immer wild hämmert und ich kaum Luft bekomme, schiebe ich es auf den Sauerstoffmangel in meinem Hirn.
»Hi.« Zanes Blick streicht zärtlich über mein Gesicht und kehrt zu meinen Augen zurück. »Du bist wunderschön wie immer.«
Ich schlucke. »Danke. Was machst du hier?«
»Jemanden abholen.«
»Oh.« Ich räuspere mich. »Dann hoffe ich, du musst nicht lange warten. Ich werde sicher auch gleich abgeholt und …«
»Du wirst jetzt abgeholt. Hazel hat mich gebeten, dich zum Haus deiner Eltern zu bringen.«
Nein. Nein, nein, nein, nein!
Mein Atem beschleunigt sich und ich klinge wie der Kessel einer beschädigten Dampflok.
Wieso Zane? Wieso hat Hazel ausgerechnet ihn gebeten, mich abzuholen?
»Ich … will dir nicht zur Last fallen«, stammle ich. »Da draußen wartet bestimmt ein Taxi und …«
»Holly, ich bin gern hier.«
Seine Stimme klingt so unglaublich weich, so sanft. Zane war … er war mein bester Freund. Ich konnte jedes Geheimnis mit ihm teilen. Doch dann habe ich mich in ihn verliebt und er empfand nicht das Gleiche für mich. Seitdem hat sich viel verändert. Und jetzt muss er mich aus tiefstem Herzen verabscheuen.
»Du musst das nicht machen«, wispere ich. »Ich komme allein klar.«
Als ich mit meinem schweren Koffer umdrehen will, berührt Zane meine Hand. Ein warmer Schauder läuft durch meinen Körper und ich halte inne, um dieses Gefühl noch etwas länger zu spüren, obwohl ich kein Recht dazu habe.
»Dass du allein klarkommst, weiß ich«, sagt er ruhig. »Aber gerade standen keine Taxis vor dem Bahnhof und bis zum Haus deiner Eltern sind es zwanzig Minuten Fußmarsch. Willst du das wirklich auf dich nehmen? Dein Koffer sieht aus, als hättest du fünf Zementsäcke da drin.«
Mit hochgezogener Augenbraue schaue ich ihn an. »Zementsäcke sind unpraktisch. Ich reise mit Schottersteinen.«
Zane lacht und alles in mir kribbelt. Gleichzeitig wird der Druck auf meine Brust unerträglich und Schwindel erfasst mich.
»Holly«, ruft Zane und hält mich kurz darauf in den Armen.
Lasch umfasse ich seinen Jackenkragen und schaue in seine Augen. Sorge spiegelt sich darin. Er bugsiert mich zu einer Bank und schafft es, meinen Koffer mitzuziehen. Behutsam setzt er mich auf der Bank ab.
»Ich hole dir etwas zu trinken«, sagt er hektisch und will aufspringen.
Ich halte ihn fest. »Nicht nötig, ich … mir geht es gut.«
Das ist so was von gelogen. Aber wie soll ich Zane sagen, dass mich die Schuldgefühle erdrücken, wenn ich ihn ansehe? Er hat kaum Ähnlichkeit mit Zack, außer den strahlend blauen Augen. Aber Zack war … er war …
»Du siehst kreidebleich aus«, meint Zane leise. »Oder ist das immer so? Dann kommst du wohl nicht oft in die Sonne, weil du so viel arbeiten musst.«
»Ich war immer blass, Zane. Das weißt du doch sicher noch.«
Ein Lächeln zupft an seinen Mundwinkeln. »Richtig, ich erinnere mich, wie du diesen fiesen Sonnenbrand hattest, weil du am Strand eingeschlafen bist. Du hast ausgesehen wie ein gekochter Hummer.«
Ich würde auch gern lächeln, aber ich kann nicht. Diese Bilder von sorgenfreien Tagen, die ich mit meinem besten Freund am Strand verbracht habe, verblassen immer mehr, als wären sie nicht mehr Teil meines Lebens.
Am liebsten würde ich ihm Konter geben, ihn daran erinnern, dass er dafür in dem besagten Sommer Windpocken hatte und wie ein Streuselkuchen aussah. Stattdessen schlucke ich die Worte hinunter und senke den Kopf. Zwischen Zane und mir wird es nie wieder wie früher sein.
»Ich bin müde«, murmle ich und meide seinen Blick. »Vielleicht auch hungrig.«
Wieder lacht er und macht es mir schwer, ihn nicht anzusehen. Wie kann er so ungezwungen mit mir umgehen?
»Du warst früher immer hungrig, besonders, wenn es Schokolade gab«, meint er viel zu sanft.
Die Worte »Schokolade macht alles besser« liegen mir auf der Zunge. Ich schlucke sie ebenfalls hinunter.
Zane spricht weiter. »Da muss ich an das eine Weihnachtsfest denken, als du die Pralinen für deine ganze Familie noch vor dem Abendessen verputzt hast.«
»Gott, war mir an dem Abend schlecht«, flüstere ich.
»Er hat dir deinen zweiten Vornamen eingebracht.« Als ich aufsehe, zwinkert Zane. »Seitdem hat dich jeder Truffle genannt.«
Holly Truffle Williams. Stimmt. Seit ich zehn war, war das mein Spitzname in der Familie und bei engen Freunden. Zane hat mich bis zum Ende der Highschool nur so gerufen.
»So nennt man mich schon lange nicht mehr«, bringe ich frostig heraus.
Das Lächeln auf Zanes Lippen bröckelt. »Na, in New York weiß sicher niemand, was für ein Schleckermaul du bist, oder?«
Ich schüttle den Kopf, atme tief ein und stehe auf. »Ich will dir echt nicht zur Last fallen …«
»Ich wiederhole es gern: Tust du nicht.« Zane erhebt sich ebenfalls. »Außerdem hat Hazel mich gebeten, dich abzuholen, weil sie einen Hintergedanken hatte.«
»Natürlich hatte sie den.« Ich verdrehe die Augen.
Sosehr ich meine Schwester liebe, so herzensgut sie ist – sie macht selten etwas grundlos. Vermutlich hat sie Zane hergeschickt, weil sie denkt, es würde mir helfen, ihm zu begegnen.
»Welcher wäre das?«, frage ich, weil sie Zane sicher nicht gesagt hat, dass wir Frieden schließen sollen.
Seine Mundwinkel wandern hoch. »Na ja, du bist ihre Trauzeugin und ich bin quasi ihr Hochzeitsplaner.«
»Hochzeitsplaner?« Ich blinzle.
»Gehört zum Service, wenn man den besten Chocolatier der Stadt engagiert.«
»Sie hat van de Kamp engagiert?«
Ich meine es scherzhaft, denn die Schokolade aus dem Haus de Bruins ist um Welten besser als die der van de Kamps; und Zane weiß das. Trotzdem zuckt er zusammen. Augenblicklich fühle ich mich schlecht.
»Nein, mich«, erwidert er mit gesenkter Stimme. »Ich habe im Sommer den Laden übernommen, weil meine Eltern sich zur Ruhe setzen wollten.«
Der Druck auf meine Brust wird stärker. Zane wollte den Laden nie und seine Eltern hatten ohnehin Zack ausgesucht, um ihre Nachfolge anzutreten. Zack und … mich.
»Oh.« Mehr bringe ich nicht heraus, versuche verzweifelt, Luft zu bekommen und die Schwärze abzuschütteln, die nach mir greift. Ich habe Zanes Leben also in mehrfacher Hinsicht zerstört.
»Wenn du magst, würde ich dir den Laden zeigen.« Zane sucht meinen Blick. »Ich habe einiges verändert und würde gern deine Meinung wissen. Du bekommst auch Schokolade.«
»Ich … nein, bitte, ich möchte mich von der Reise erholen«, stammle ich.
Soll er denken, ich wäre eine Diva, weil ich mich lieber hinlege, als seinen Laden zu sehen. Das ist besser, als in seiner Anwesenheit von der Last der Erinnerungen zerquetscht zu werden.
Einen Moment mustert Zane mich und ich erkenne, wie etwas in seinen Augen zerbricht. Dann atmet er geräuschvoll aus.
»Klar, entschuldige. Wir holen das ein anderes Mal nach«, meint er gedämpft. »Lass uns zum Haus deiner Eltern fahren.«
»Das musst du nicht, ich kann auf ein Taxi warten.«
Er lacht, aber diesmal klingt es frustriert. »Hazel ist in ihrem Job ziemlich eingespannt und hat mich gebeten, einige Dinge für sie zu erledigen. Aber du kennst sie besser, also brauche ich deine Unterstützung. Wir sollten die Fahrt nutzen, um über die Details zu reden.«
»Ich kenne die Details noch nicht …«
»Ich kläre dich gern auf.« Zane schmunzelt, doch es erreicht seine Augen nicht. »Also, würdest du mir den Gefallen tun und dich von mir fahren lassen, damit wir reden können?«
Ich zögere und überlege, was ich machen könnte. Leider bin ich in einer misslichen Lage. Um von Tracy das Schreiben für die Beförderung zu bekommen, muss ich bei der Hochzeit helfen. Zane ist stark involviert und ich werde ihn deswegen häufig sehen. Ich kann Hazel nicht bitten, ihn zu feuern. Das … nein, das kann ich nicht.
Ich seufze. »Also schön. Dann … lass uns die Autofahrt nutzen, um zu reden.«
Er nickt, greift nach meinem Koffer und zieht ihn hinter sich her. Dabei ächzt er und wirft mir einen schiefen Blick zu. »Sicher keine Zementsäcke?«
»Sicher«, erwidere ich, statt zu scherzen, und bringe etwas Abstand zwischen uns. Auf diese Wiese lässt hoffentlich auch das angenehme Kribbeln nach, das Zane in mir auslöst.
Verstohlen ziehe ich mein Handy aus der Tasche, halte es hoch und mache ein Selfie von mir in der Bahnhalle. Eines, auf dem Zane im Hintergrund frech in die Kamera grinst.
»Bist du ein Insta-Star?«, fragt er neckisch.
»Nein, das brauche ich für … eine Freundin.«
»Aha.« Zane beobachtet mich, wie ich eine Nachricht an Tracy tippe und das Handy anschließend einstecke. »Können wir los?«
Ich nicke und folge ihm aus der Halle zu einem knallroten Truck.
»Du hast den Wagen noch?«, frage ich mit großen Augen.
Zane zwinkert, wirft meinen Koffer auf die Ladefläche, wo er ihn mit einem Gurt sichert, und öffnet mir die Beifahrertür.
»Ich liebe dieses Auto«, antwortet er, während ich einsteige. »Und ich kümmere mich gut um das, was ich liebe.«
Als er sich abwendet und zur Fahrerseite geht, berühre ich den kleinen Kratzer im Leder der Türverkleidung, überrascht darüber, dass er noch da ist.
Ich erinnere mich daran, wie Zane seinen Führerschein gemacht und gleich darauf diesen Pick-up Truck gekauft hat.