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»Ich schaue nur, ob es weht tut, wenn du etwas Nettes zu mir sagst. Hat es?« »Ja. Komm, ich lade dich auf ein Eis ein um den Schmerz zu betäuben.« Fillipo liebt seinen Job, nur sein Chef ist eine Katastrophe. Deswegen will er die Konditorei, in die er seit Jahren sein ganzes Herz steckt, kaufen. Dabei kann er eines nicht gebrauchen: Mariella, die angebliche Tochter seines Chefs. Sie soll bekommen, wofür Fillipo so lange gearbeitet hat. Noch schlimmer ist, dass er für sie arbeiten muss. Schnell fasst Fillipo den Plan, Mariella loszuwerden. Allerdings erkennt er jeden Tag mehr, dass diese nicht die verwöhnte Prinzessin ist, für die er sie gehalten hat. Doch haben die aufkeimenden Gefühle eine Chance, wenn Mariella immer zwischen Fillipo und seinem Traum von der Konditorei stehen wird? Jetzt den spicy Liebesroman in Italien lesen und das Dolce Vita genießen. „Awake my Hope“ enthält spicey (erotische) Szenen und ist deswegen für Leser ab 16 Jahren empfohlen.
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SOMMERNÄCHTE IN VENEDIG
BUCH DREI
Copyright © 2024 by Lilly Autumn
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
www.lillyautumn.at
Umschlaggestaltung: Madeleine Hirdt
Lektorat&Korrektorat: Julie Roth
Satz: Bettina Pfeiffer
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle, die sich verloren fühlen.
Das Glück wartet auf euch.
Triggerwarnung: In diesem Buch werden sensible Themen angesprochen. Eine Auflistung ist unter hier zu finden.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Willst Du wissen, wann Mariella sich in Filli verliebt hat?
Danksagung
Über den Autor
Bücher von Lilly Autumn
Der Geruch von süßem Gebäck steigt mir in die Nase, kaum dass ich die Tür öffne. Noch ist alles still und die Backstube liegt im dämmrigen Licht des frühen Morgens vor mir. Ehe ich mich ans Werk mache, lausche ich angestrengt auf das kleinste Geräusch. Es bleibt still. Trotzdem mache ich ein paar Schritte in den Raum und sehe mich um.
Alles ist genau so, wie ich es zurückgelassen habe. Gut. Das ist gut. Dann ist Pasquale nicht mitten in der Nacht hier hereingekommen, um sich einen Snack zu holen.
Seufzend mache ich das Licht an und lasse meinen Blick noch einmal schweifen. Nein, alles so, wie es sein sollte. Dass ich mich überhaupt davor fürchte, meinen Chef schnarchend und sturzbetrunken in der Backstube zu finden, sollte mich eigentlich dazu bringen, mir einen neuen Job zu suchen. Vielleicht hat mein ältester Bruder Tiz doch recht und ich bin der Sturste von uns drein. Oder der Dümmste. Wie auch immer.
Seit bald acht Jahren arbeite ich in dieser Konditorei, die verschiedene italienische Gebäckstücke und Desserts anbietet. Unsere Spezialität sind jedoch Cannoli, hauptsächlich die nach venezianischer Art. Die nach sizilianischer Art bieten wir zwar auch an, aber sie verkaufen sich weit weniger gut als die venezianischen. Der ehemalige Chef Mauro – also Pasquales Vater – hat mir mit fünfzehn, als meine Familie vor dem Nichts stand, einen Job gegeben. Er hat mir die Kunst des Backens beigebracht und mich fest eingestellt, nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte. Vor knapp drei Jahren ist er leider verstorben und sein Sohn hat das Geschäft übernommen.
Aber etwas in Pasquales Leben muss fürchterlich schiefgelaufen sein. Er hat schon zu viel getrunken, als sein Vater noch lebte, doch nach dessen Tod hat er sich vollkommen gehen lassen. Seitdem leite ich diesen Laden mehr oder weniger allein. Ich produziere alles, was wir verkaufen, bin meistens der einzige Kellner und kümmere mich um die Buchhaltung sowie Warenbestellung.
Und Pasquale? Der gibt Zahlungen frei. Sonst schläft er entweder seinen Rausch im Büro aus oder betrinkt sich. Dabei hat er eine Wohnung direkt über dem Laden. Allerdings verbringt er kaum Zeit dort. Ich finde ihn fast immer in seinem Büro, obwohl er eben nur Rechnungen bezahlt – und das auch erst, wenn ich ihn daran erinnere.
Solange er nicht im Gastraum einschläft, ist es mir egal, was er macht. Nur das Geschäft darf er nicht ruinieren.
Als ich hier begonnen habe, stand es nicht gut um die Konditorei, die dieses Jahr ihr zweihundertjähriges Jubiläum feiern wird. Mauro war bereits erschöpft, Pasquale hat sich zwar Mühe gegeben, doch zündende Ideen hatte er nicht. Ich habe damals den Vorschlag gemacht, venezianische Cannoli anzubieten, weil sie zum neuen Trend geworden waren. Und ich habe lange mit den Konsistenzen und Geschmäckern experimentiert.
Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, während ich meine Straßenkleidung ablege, um die Montur für die Backstube anzuziehen. Ich muss daran denken, wie stolz Mauro war, als ich eine kleine lokale Zeitung dazu gebracht habe, über unsere besonderen Kreationen zu berichten. Das ist mir nur gelungen, weil ich eine Woche lang vor der Redaktion gesessen und die Reporter mit meinen Cannoli belagert habe, bis sie bereit waren, sie zu kosten. Zum Glück fanden sie die Desserts gut und haben uns geholfen, dass sogar Kollegen größerer Zeitungen von uns berichten. Seitdem sind wir über die Grenzen der Stadt Venedig hinaus bekannt.
Noch einmal seufze ich. Eigentlich müsste ich nicht hier arbeiten. Mit meinem Können wäre es leicht, überall einen neuen Laden zu eröffnen. Nur gibt es drei Probleme, die mich daran hindern. Erstens habe ich nicht genug Geld dafür. Selbst, wenn ich alles aus zweiter Hand kaufen, den Laden ohne Handwerker renovieren und zu Beginn allein dort arbeiten würde, müsste ich einen Kredit aufnehmen. Und keine Bank gibt einem Dreiundzwanzigjährigen ohne Meisterbrief so viel Geld, zumal ich keine Sicherheiten vorlegen kann. Zweitens fühle ich mich Mauro verpflichtet. Er mag nicht mehr hier sein, aber sein Sohn war ihm unendlich wichtig. Also kann ich Pasquale nicht einfach allein lassen. Ohne mich könnte er den Laden nicht mehr führen. Er würde alles verlieren und das bringe ich nicht übers Herz. Und drittens habe ich nie eine offizielle Lehre abgeschlossen. Mein Können habe ich Mauros Ausbildung und meinem eigenen Ehrgeiz zu verdanken. Allerdings gibt es dafür keine Urkunden und somit bin ich offiziell eine ungelernte Kraft. Die Prüfungen nachzuholen ist teuer und ich kann es mir nicht leisten.
Diese Gedanken verfolgen mich, während ich zum Kühlschrank gehe, um nachzusehen, welche Sorten Cannoli ich heute zubereiten muss, was uns sonst noch ausgehen könnte und ob ich Zutaten nachbestellen muss. Nachdem ich mir einen Überblick verschafft habe, mache ich mich ans Werk.
Für die Teigrollen, die ich heute fülle, habe ich den Teig bereits gestern Abend zubereitet. Er muss etwas ruhen, weswegen ich das immer so mache. Die venezianischen Cannoli unterscheiden sich von den sizilianischen hauptsächlich in der Größe und der Füllung. Der Teig ist der gleiche.
Auf einer bemehlten Arbeitsfläche rolle ich ihn dünn aus und steche Kreise aus. Die wiederum wickle ich um Formen, die mich an Lockenstäbe erinnern. Nein, ich benutze so etwas nicht selbst, aber ich hatte Freundinnen, die damit ihre Haare stundenlang bearbeitet haben, deswegen weiß ich, wie sie aussehen. Wobei … meine letzte ernstere Beziehung ist schon eine Weile her. Das würde ich gerne ändern. Aber ich stehe verflixt früh auf und arbeite lange, und das sieben Tage die Woche. Manchmal haben wir eine Aushilfe im Laden, doch die hält es nie lange hier aus, weil Pasquale … Nun, er ist nicht unbedingt eine gute Gesellschaft, wenn er betrunken ist. Und ich habe ihn in den letzten drei Jahren nie nüchtern gesehen.
Auch das sollte mir zu denken geben. Ich arbeite für einen Mann, der sein eigenes Leben nicht im Griff hat und mich dafür bezahlt, dass ich sein Geschäft führe. Dafür habe ich hier freie Hand, kann mich ausprobieren und Kreationen testen, neue Produkte einführen, alte streichen. Es kümmert Pasquale nicht.
Trotzdem überlege ich schon länger, ob ich ihm anbiete, den Laden zu kaufen und die Raten direkt an ihn abzustottern. Ohne Bank, dafür mit Zinsen, wenn er das möchte. Immerhin glaube ich, dass ihm bewusst ist, wie wenig er noch für das Geschäft macht. Die großen Aufträge, die wir bekommen, habe ich an Land gezogen. Unter anderem den für eine riesige Hochzeit im Mai. Der Bräutigam ist zwar mein Bruder, aber hey, seine bezaubernde Verlobte hat explizit mich gebeten, die Petit Fours für den Sektempfang zu machen. Das ist eine große Ehre und eine noch größere Chance für das Geschäft. Bis dahin möchte ich den Deal mit Pasquale ausgehandelt haben. Oder gehen. Ich habe also noch einen Monat, um meinen Chef möglichst nüchtern anzutreffen und ihm meinen Vorschlag zu unterbreiten. Zeitdruck? Kenne ich nicht.
Nachdem ich die Schalen für die venezianischen Cannoli vorbereitet habe, schalte ich die Fritteuse ein. Ja, Cannoli sind eine köstliche Sünde, die in reichlich Fett herausgebacken und mit schmackhaften Füllungen vollendet wird. Pures Hüftgold also, wie meine Ersatznonna Blanca es immer ausdrückt.
Während das Fett heiß wird, mache ich Schalen für die sizilianische Variante. Die Form, auf die ich die Kreise aufdrehe, ist kleiner, etwa daumendick. Anders als die venezianische werde ich diese Version auch erst bei Bestellung füllen, da der Teig durch die Ricotta-Creme sonst nicht mehr knusprig ist.
Ein Lied summend lege ich die ersten Formen in das heiße Fett. Sofort ist die Luft erfüllt von Zucker und Kakao, die in den Teig eingearbeitet sind. Ich liebe diesen Duft. Er hat etwas Tröstliches für mich. Genau wie dieser Laden. Ohne Mauro wäre ich an allem, was vor fast acht Jahren geschehen ist, zerbrochen.
Nach wenigen Minuten hole ich die ersten Formen aus dem Fett und lege die nächste Fuhr hinein. Während diese frittiert wird, löse ich die fertig gebackenen Schalen und lege sie auf ein Blech zum Auskühlen.
So verfahre ich mit allen Teigstücken. Diese Arbeit ist meditativ und hilft mir, meine Gedanken zu sortieren. Eine Konditorei mit Café zu führen ist herausfordernd, besonders, wenn man vollkommen allein ist. Ich muss an so viele Dinge denken und dabei aufpassen, dass ich Pasquale nicht verärgere.
Als hätte er meine Gedanken gehört, betritt er die Backstube. Das merke ich vor allem daran, dass die Luft sich verändert und der süße Geruch von einem säuerlichen verdrängt wird.
»Du bist ja schon hier«, lallt mein Chef und kommt näher.
Ich halte den Atem an, als mir ein Schwall Gestank nach Erbrochenem entgegenströmt.
»Ja, wir haben gestern gut verkauft und ich musste einige Sorten nachproduzieren«, antworte ich und werfe Pasquale einen Blick über die Schulter zu.
Das ehemals weiße Shirt mit dem großen Emblem einer teuren Marke hat er bestimmt schon drei Tage am Stück an. Eher länger. Es ist mit Flecken übersät, die ich lieber nicht genau analysieren möchte. Die Jeans ist ebenfalls schmutzig. Pasquales hellbraunes Haar fällt ihm unordentlich in die Stirn. Er ist erst Ende vierzig, sieht aber aus, als wäre er weit über sechzig, so eingefallen ist sein Gesicht. Die Haut ist blass und wächsern, die Augen gerötet und geschwollen. Obwohl er steht, schwankt er dabei. Seine Fahne ist so deutlich zu riechen, dass sie sogar den Gestank von Erbrochenem übertüncht.
»Ah, ja. Guter Junge«, nuschelt Pasquale und betrachtet die Cannoli-Schalen.
In Gedanken flehe ich ihn an, sie nicht zu berühren, weil ich sie sonst alle neu machen müsste. Zum Glück streckt er die Hand nicht danach aus, sondern hält sich an der Arbeitsfläche fest.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, frage ich und hole die nächste Fuhr aus dem heißen Öl.
»Niemand kann das«, sagt er so leise, dass ich nicht sicher bin, ob das wirklich seine Worte waren.
»Wie war das bitte?«, frage ich nach.
»Nichts. Ich bin in meinem Büro.« Er stößt sich ab, verliert dabei fast das Gleichgewicht und taumelt zur nächsten Wand.
Hastig gehe ich zu ihm, doch er hebt die Arme, lispelt Worte, die ich nicht verstehe, und bewegt sich auf die Tür in den Gastraum zu.
»Ich bringe dir gleich Frühstück!«, rufe ich ihm nach.
Er murrt nur und verschwindet.
Einen Moment sehe ich ihm nach und meine Schultern werden schwer. Ich weiß nicht, wieso Pasquale so geworden ist, aber ich habe Mitleid mit ihm. Niemand trinkt sich aus Spaß zu Tode. Und soweit ich weiß, hat Pasquale keine Familie mehr. Ich habe zumindest meine Brüder, ihre Freundinnen und Blanca sowie Francesco, die für mich da sind und nie zulassen würden, dass ich so ende. Dafür bin ich dankbar.
»Mauro, hab ein Auge auf deinen Sohn«, flüstere ich mit Blick nach oben. »Und hilf mir, ihm zu helfen. Ich weiß, wenn du noch hier wärst, wäre alles anders.«
Der Timer an der Fritteuse piepst und ich kehre zu ihr zurück, um weiterzumachen. Die Füllung für die venezianischen Cannoli besteht aus Italian Meringue, in die ich Geschmäcker einarbeite. Meistens bereite ich große Mengen von der Basisfüllung zu und verarbeite sie später weiter.
Eigentlich sollte ich heute Schokoladen- und Pistazien-Cannoli machen. Aber ich liege gut in der Zeit, also kann ich ein wenig experimentieren. Auf dem Markt habe ich gestern Passionsfrüchte entdeckt. Die möchte ich heute verwenden. Dafür halbiere ich die Früchte, kratze das Fleisch heraus und gebe es in einen Topf. Die Kerne sind zwar köstlich, aber zu viele davon stören beim Essen. Also werde ich den Großteil der Früchte zu einem Püree verarbeiten. Dafür gebe ich Zucker und einen Spritzer Limettensaft zu dem Fruchtfleisch, stelle alles auf den Herd und lasse es einkochen.
Inzwischen kümmere ich mich um die Schokoladen-Cannoli, mache die Füllung mit belgischer Schokolade und spritze sie in die Schalen. Zum Schluss dippe ich jeweils ein Ende in geraspelte dunkle Schokolade und das andere in weiße.
Da mein Püree gleich fertig ist, ziehe ich es vom Herd und streiche es durch ein Sieb. So bleibt nur der herrliche Fruchtsaft übrig. Ich lasse die Passionsfruchtmasse kurz abkühlen, ehe ich sie mit der Füllung vermenge und immer wieder abschmecke. Als ich zufrieden bin, spritze ich auch diese Masse in Schalen und dekoriere sie mit ein paar frischen Passionsfruchtkernen und ein wenig heller Schokolade.
Da ich nichts zum Verkauf anbiete, das ich nicht selbst getestet habe, beiße ich beherzt in meine Kreation. Und seufze zufrieden. Die Füllung hat genau die richtige Süße zu der Säure der Passionsfrucht. Ich hoffe, ein paar Leute wagen sich an die neue Geschmacksrichtung, denn ich finde sie grandios und möchte sie fest ins Programm aufnehmen.
Zufrieden arbeite ich weiter, stelle die Cannoli fertig her, bereite Tramezzini vor – dreieckige Sandwiches aus Weißbrot – und bringe alles zur Vitrine, um es dekorativ auszustellen.
Mittlerweile ist es kurz vor sieben Uhr und ich öffne den Laden, weil einige Frühaufsteher sich auf dem Weg zur Arbeit mit Gebäck und Kaffee eindecken. Pasquale war zuerst nicht begeistert von der Idee, so früh aufzumachen, aber da ich mich um alles kümmere, hat er zugestimmt.
Bevor die ersten Gäste kommen, bringe ich einen Milchkaffee und zwei Cannoli in Pasquales Büro. Der beißende Geruch in dem Raum verschlägt mir den Atem. Ich muss mich zwingen, einzutreten, obwohl mich nur ein tiefes Schnarchen empfängt.
Pasquale liegt auf dem Teppich, der genauso versifft ist wie seine Kleidung. Einen Moment überlege ich, meinen Chef zu wecken und in seine Wohnung zu schicken. Aber in vier von fünf Fällen endet das in einer Schimpftirade, die wir beide nicht brauchen. Also stelle ich das Frühstück ab, öffne ein Fenster und gehe zurück in den Gastraum.
Ich kann Pasquale nicht retten. Aber ich kann ihm helfen, diesen Laden zu führen. Und vielleicht nimmt er ja doch Hilfe in Anspruch, wenn ich ihm das Geschäft abkaufe und er weiß, dass der Familienbetrieb in guten Händen ist. Denn das war Mauro immer wichtig: dass der Laden im Familienbesitz bleibt und gut geführt wird.
So, einmal den Erdbeer-Cannolo mit extra Schokolade für die kleine Signora und einen mit Bananengeschmack für ihre Mama.«
Ich stelle die Teller vor dem kleinen Mädchen ab, das mich anhimmelt. Was hauptsächlich daran liegt, dass ich der Kleinen zuzwinkere und dabei verstohlen ein Bonbon zustecke, wie ich es immer tue. Kichernd schiebt sie ihrer Mutter den Teller mit dem Bananen-Cannolo hin und macht sich gleich über ihr eigenes Gebäckstück her.
»Ich bin ja froh, dass ich jetzt eine Ausrede habe, wieso ich zulege«, meint die Mutter und tätschelt ihre bereits ziemlich große Babykugel. »Bald wirst du noch einen Stammgast haben, den du jeden Tag mit Cannoli versorgen darfst.«
»Ich freue mich, den oder die Kleine kennenzulernen«, erwidere ich.
Diese Frau und ihre Tochter sind seit Jahren meine treuen Kunden. Fast jeden Tag kommen sie her und bestellen meistens die gleichen Geschmacksrichtungen. Manchmal nehmen sie noch ein paar andere Cannoli mit und an den Wochenenden begleitet sie der Familienvater oft zu ihrem Besuch.
»Und ich freue mich, wenn ich nicht mehr wie eine Ente watschle.« Sie lacht und beißt in den Cannolo. Ein zufriedenes Seufzen entschlüpft ihr. »Ich habe noch nie bessere Cannoli gegessen als deine. Bin ich froh, dass du die Konditorei damals übernommen hast.«
Das Lächeln, das ich ihr schenke, schmerzt auf meinen Wangen, so unecht ist es. Wie die meisten Stammgäste glaubt also auch diese Frau, dass der Laden mir gehört. Ein Grund mehr, bald mit Pasquale zu sprechen. Ihm muss klar sein, dass ich längst das Gesicht seines Geschäfts bin.
Als das Telefon klingelt, entschuldige ich mich höflich und kehre hinter die Theke zurück. »Konditorei Veneziana, Fillipo am Apparat?«
»Filli, hier ist Luca«, sagt mein Bruder.
Diesmal ist mein Lächeln echt. »Hey, Luca. Schön von dir zu hören.«
»Gleichfalls. Ich hoffe, bei dir ist alles okay? Beim letzten Familienessen warst du ungewöhnlich still.«
Oh Mist, er hat es bemerkt, obwohl er die ganze Zeit mit seiner Freundin Elisabeth geflirtet hat. Aber Luca war schon immer aufmerksam und konnte sich gut in andere Menschen einfühlen. Er hat stets erkannt, wenn mir etwas auf dem Herzen lag.
»Ja, ich habe nur einiges, worüber ich gerade nachdenken muss«, antworte ich. »Aber nicht so wichtig. Dass du am Firmentelefon anrufst, sagt mir, du brauchst eine neue Lieferung?«
Einen Moment schweigt Luca, dann seufzt er. »Ja, ich brauche wieder drei Torten.«
Gut, er hakt nicht weiter nach. Vorerst zumindest. »Klar. Welche Sorte hättest du gerne?«
Ich suche nach einem Stift und einem Zettel.
»Überrasch mich. Ich nehme alles, weil deine Torten und Kuchen mich noch nie enttäuscht haben«, antwortet er. »Schaffst du es, morgen gegen Mittag zu liefern, oder soll ich sie abholen?«
Ich werfe einen Blick auf den vollen Gastraum. Morgen sollte meine Aushilfe wieder hier sein. Falls Pasquale sie mit seinem Auftritt vorgestern nicht verscheucht hat. Da ist er nämlich kichernd und lautstark singend in die Backstube geplatzt, als wir aufgeräumt haben. Im Anschluss ist er im Gastraum eingeschlafen. Ich musste ihn wecken, nachdem die Aushilfe fort war, weil ich ihr das Drama ersparen wollte.
»Ein bisschen frische Luft tut mir gut«, sage ich. »Falls etwas dazwischenkommt, rufe ich an, okay?«
Wieder schweigt Luca einen Moment. »Immer noch keine fixe Hilfskraft?«
»Nein, und du weißt warum«, erwidere ich leise.
Natürlich wissen meine Brüder, wie meine Arbeitssituation aussieht. Tiz, mein ältester Bruder, hat mich mehrfach gefragt, wieso ich nicht einfach gehe, mir sogar Jobangebote zugeschickt. Luca hingegen hat mir hauptsächlich zugehört, versucht, mit mir Lösungen zu finden. Aber es gibt keine Lösung. Ich will diesen Laden, weil ich ihn zu dem gemacht habe, was er heute ist. Und ich will Pasquale nicht im Stich lassen, weil ich mich Mauro verbunden fühle.
»Ja, ich fürchte, das weiß ich«, sagt Luca ebenso leise. »Wenn du reden willst …«
»Nicht jetzt«, unterbreche ich ihn. »Entschuldige, ich muss weiter. Morgen bekommst du deine Torten. Bis dann, Luca.«
Ich lege auf, bevor er noch etwas hinzufügen kann. Jetzt ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden, dass mein Chef eine Katastrophe ist und ich mich endlich dazu durchringen sollte, mit ihm zu sprechen. Denn genau in diesem Moment wollen drei Tische bezahlen – was sich gut trifft, weil neue Gäste die Konditorei betreten.
Ich kassiere, räume ab, bringe neue Karten, bereite Kaffee zu, serviere Cannoli und andere Süßspeisen, husche in die Backstube, um Nachschub zu besorgen, und wiederhole das Ganze wieder und wieder. Diese Konditorei war vor acht Jahren kaum bekannt, jetzt brummt sie, obwohl sie nicht gerade zentral liegt. Der Laden befindet sich in einem älteren Gebäude inmitten einer kleinen Gasse zwischen dem Markusplatz und der Rialtobrücke. Es ist nicht die einfachste oder gar schnellste Verbindung zwischen den beiden Sehenswürdigkeiten. Man kommt als Tourist nicht unbedingt zufällig hier vorbei. Aber Francesco und die anderen Gondolieri empfehlen sowohl Lucas Restaurant als auch meine Konditorei immer wieder bei ihren Kunden. Und ich habe viele Stammgäste. Es läuft also gut.
Deswegen bemerke ich auch kaum, wie der Tag an mir vorbeizieht. Ich habe ständig zu tun und wenn ich kurz Zeit habe, rede ich mit den Gästen, die mir von ihren Enkelkindern oder ihren gescheiterten Beziehungen berichten. Mit Menschen ins Gespräch zu kommen, ist mir immer leichtgefallen. Vielleicht habe ich deswegen so schnell Stammgäste gefunden, weil sie sich bei mir wohl fühlen.
Als ich auf die Uhr schaue, stelle ich erschrocken fest, dass es schon nach halb fünf ist. Ich sollte etwas essen. Und Pasquale muss ich auch einen Snack bringen. Von selbst wird er nicht kommen und sich etwas holen. Aber erst muss ich in die Backstube und neue Füllung für die sizilianischen Cannoli holen, die heute erstaunlich gut gehen.
Bei meiner Rückkehr geht gerade die Tür zum Büro zu. Erschrocken sehe ich mich im Gastraum um, kann Pasquale allerdings nicht entdecken. Da kein Gast verwirrt oder angewidert zur Bürotür starrt, nehme ich an, mein Chef ist wach, wollte etwas, hat bemerkt, dass der Raum voller Menschen ist, und sich dann wieder zurückgezogen. Grundsätzlich vermeidet Pasquale es, sich von Leuten sehen zu lassen. Er weiß also, dass er nicht so vorteilhaft für das Geschäft ist. Diplomatisch ausgedrückt.
Ich zucke mit den Schultern und will ein Tramezzini mit Mozzarella und Tomate auf einen Teller legen, weil Pasquale das gerne isst. Da kommt ein Schwung Touristen herein. Sie plappern in einer Sprache, die ich nicht verstehe, sehen sich um und kommen zur Vitrine. Gut, jetzt kann ich nicht weg. Pasquale ist offensichtlich wach, vermutlich wird er mich länger aufhalten und mit mir reden, wenn ich das Büro betrete. Also muss das warten.
Mit Händen und Füßen machen mir die dreißig Leute klar, was sie gerne hätten. Es dauert ewig, bis ich jedem von ihnen die Cannoli verkauft habe, die sie sich ausgesucht haben. Als sie fort sind, ist meine Vitrine fast leer.
Schnell bediene ich die Gäste an den Tischen, nehme Bestellungen auf und kassiere. Dann hechte ich in die Backstube, reiße die Kühlschranktüren auf und werfe einen weiteren Blick auf die Uhr. In einer Stunde schließen wir, ich muss die Vitrine also nicht komplett auffüllen, aber etwas sollte schon darin zu finden sein bis Ladenschluss. Ich schnappe mir von den Bestsellern jeweils fünf Stück und trage sie auf einem Tablett hinaus.
Fast fällt es mir aus den Händen, als ich durch die Tür trete und eine Frau hinter der Theke steht. Ja, hinter der Theke, wo eigentlich mein Platz ist. Sie beugt sich über die schmale Abstellfläche hinten an der Vitrine und begutachtet die restlichen Tramezzini darin.
Völlig perplex starre ich sie an. Ich habe diese Frau noch nie gesehen. Ihre schwarzen Haare sind zu einem Zopf geflochten, ihre Haut ist golden. Ich würde schätzen, dass sie aus Sizilien stammt. Während sie die Sandwiches ausführlich mustert, bewegt sie ihre Hüften. In dem dunkelblauen Jumpsuit kommen ihre Kurven zur Geltung und die Art, wie sie sich vor der Vitrine rekelt, lässt schmutzige Tagträume in meinem Kopf entstehen.
Doch nur kurz. Weil diese Frau absolut kein Recht hat, hier zu sein. Nicht einmal, wenn ich eine halbe Stunde in der Backstube gewesen wäre, dürfte sie sich selbst an meiner Ware bedienen.
Ich schnaube lautstark und knalle das Tablett neben ihr auf die Abstellfläche. Keuchend schreckt sie hoch und sieht mich mit geweiteten Augen an. Augen, deren Farbe mich an dunklen Kaffee erinnert. Sie kann kaum älter sein als ich, vermutlich jünger. Ihr Gesicht ist herzförmig, ihre Wangen voll und jetzt leicht gerötet.
Bevor ich darüber nachdenken kann, wie sinnlich ihre zartrot geschminkten Lippen aussehen, erinnere ich mich daran, dass sie hier nichts verloren hat.
So finster ich kann, erwidere ich ihren Blick und verschränke die Arme vor der Brust. »Hier haben nur Angestellte Zutritt«, sage ich. »Ich hoffe, Sie haben nichts angefasst, sonst dürfen Sie alles bezahlen.«
Sie kneift die Augenbrauen zusammen. »Nicht, dass ich bisher etwas angefasst habe, aber ich hatte nicht vor, zu bezahlen«, sagt sie in einem Dialekt, der tatsächlich sehr nach Süden klingt.
»Aha, also geben Sie den versuchten Diebstahl zu? Schön, erspart mir Ärger.«
»Ich gebe gar nichts zu. Mein Vater hat mich gebeten, ihm ein Tramezzini mit Mozzarella und Tomaten zu bringen.«
»Tja, auch Ihr Vater muss in diesem Laden bezahlen.«
Ein zorniger Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht. Sie hebt ihr Kinn höher, stemmt die Hände in die Hüften und funkelt mich an. »Das glaube ich nicht.«
Ich lache trocken auf. »Doch, jeder muss hier bezahlen.«
»Aha. Soll ich Ihrem Chef also ausrichten, dass Sie sich weigern, ihm Essen zu geben, und seiner Tochter unterstellen, eine Diebin zu sein?«
Mit einem Mal ist mir eiskalt. »Meinem … Pasquale ist Ihr Vater?« Sie nickt mit einem triumphierenden Grinsen. »Aber er … Ich wusste nicht …«
»Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.« Sie hebt ihr Kinn noch höher. Diese Frau ist einen Kopf kleiner als ich, doch jetzt sieht sie mich an, als wäre ich ein Kind, das etwas angestellt hat und dafür gescholten werden soll. »Wie auch immer. Mein Vater möchte ein Tramezzini und mit Ihnen sprechen, sobald der Laden geschlossen ist.«
Mein Mund fühlt sich staubtrocken an. Das Schlucken ist schmerzhaft und schafft es nicht, die Trockenheit zu vertreiben. »Worüber?«, frage ich mit viel zu brüchiger Stimme.
»Das weiß ich nicht genau«, erwidert sie. »Geben Sie mir jetzt bitte ein Tramezzini? Ich war mir nicht sicher, welches die richtige Sorte ist.«
Wortlos greife ich an ihr vorbei, lege das Sandwich auf den Teller, der bereits auf der Ablagefläche steht, und reiche ihn der Fremden.
»Besten Dank«, sagt sie. »Ich behalte dieses Gespräch vorläufig für mich. Mein Vater … ist gerade nicht in der besten Verfassung und ich möchte ihn nicht wegen eines Missverständnisses aufregen.«
»Sehr freundlich«, murmle ich.
Sie nickt nur und macht sich auf den Weg zum Büro. Dort klopft sie, tritt aber gleich ein und schließt die Tür hinter sich.
Einen Moment stehe ich da wie eine Eissäule. Dann ruft jemand, dass er zahlen möchte, und ich erwache aus meiner Schockstarre.
Allerdings bin ich nicht ich selbst, muss mehrmals das Wechselgeld kontrollieren und schaffe es nicht, meine Gedanken zur Ruhe zu bringen.
Pasquale hat eine Tochter? Ich hatte keine Ahnung. Nirgendwo stehen Bilder von ihr. Mauro hat sie nie erwähnt, Pasquale auch nicht. Das ergibt alles keinen Sinn. Wieso sollte Pasquale sie geheim halten? Und viel interessanter ist die Frage, wieso sie auf einmal hier auftaucht.
Was mich allerdings noch mehr beschäftigt: Was könnte Pasquale mit mir zu besprechen haben, nun, da seine angebliche Tochter hier ist?
Eine Stunde bis Ladenschluss. Das ist nicht viel Zeit. Und doch kommt es mir vor, als wäre seit dem Moment, da die vermeintliche Tochter meines Chefs vor mir gestanden hat, bereits ein Tag vergangen. Dabei liegt das erst fünf Minuten zurück. Behauptet die Uhr an der Wand. Möglicherweise ist sie aber auch stehen geblieben. Nein, ist sie nicht, der Zeiger bewegt sich. Schöner Mist.
Mein Magen verformt sich zu einem engen Knoten, der schmerzhaft gegen meine Bauchdecke drückt. Jetzt bin ich froh, dass ich noch keine Zeit hatte, um zu essen. Ich glaube, ich würde mich sonst übergeben.
Dass im Laden noch viel zu tun ist, lenkt mich nicht wirklich ab. Meine Gedanken wandern ständig zu der Frage, woher Pasquale eine Tochter haben könnte. Weder er noch Mauro haben sie je erwähnt. Warum ist sie hier? Was will Pasquale mit mir besprechen?
Vor lauter Grübeln verschütte ich die Kaffeebestellung dreimal, bevor ich eine volle Tasse mit Espresso an einen Tisch bringe. Zu allem Übel habe ich die zweite Tasse vergessen, ebenso die Cannoli. Hoffentlich baue ich keinen Mist, bis ich den Laden endlich schließen kann.
Ein Blick zur Uhr lässt mich innerlich stöhnen. Ist sie jetzt doch stehen geblieben? Es können unmöglich nur drei Minuten vergangen sein, seit ich zuletzt darauf geschaut habe!
Nur mit Mühe schaffe ich es, die letzten Gäste zu bedienen. Um mich beschäftigt zu halten, säubere ich die Kaffeemaschine eine Viertelstunde vor Ladenschluss, räume die Vitrine leer und drehe bereits das Schild an der Tür um. Es kostet mich viel Mühe, um das Pärchen, das noch seinen Kaffee genießt, nicht hinauszubitten. Als sie endlich gehen, sperre ich direkt hinter ihnen zu.
Mit zitternden Händen fahre ich mir durch die Haare und betrachte das Schaufenster. Es ist groß und lässt goldenes Abendlicht in den Laden dringen. Sonst finde ich es schön, wenn ich nach dem Schließen kurz hier stehen und innehalten kann. Heute nicht. Heute ist alles anders.
Mir graut vor dem Gespräch. Denn ich habe eine Ahnung, worauf es hinauslaufen könnte.
Zornig balle ich die Hände zu Fäusten. Ich habe acht Jahre in dieser Konditorei geschuftet, die letzten drei Jahre mehr oder weniger alles allein gestemmt. Ich verdiene diesen Laden und ich werde darum kämpfen.
Aus dem Knoten in meinem Magen ist ein lodernder Vulkan geworden. Ich atme tief durch und stapfe auf das Büro zu. Nicht mit mir. So wird er mich nicht behandeln.
Als ich die Tür aufreiße, dringt mir ein Schwall sauren Gestanks entgegen. Nicht einmal das offene Fenster, an dem die Frau von vorhin steht, vermag diesen furchtbaren Geruch erträglich zu machen. Wenn sie schon länger hier drinnen ist, hat sie vermutlich keine Geruchsnerven. Oder sie ist härter im Nehmen als ich.
Mein Blick huscht nur kurz über sie, ehe ich mich Pasquale zuwende. Er sieht mich an, als wäre er gerade aufgewacht. Immer noch trägt er das fleckige Shirt und die verdreckte Hose. Zumindest hat er das Frühstück gegessen und wohl auch das Tramezzini. Zu meiner Überraschung steht eine Wasserflasche auf seinem unordentlichen Tisch, auf dem sich uralte Rechnungen stapeln. Die Ablage der gesamten letzten Jahre befindet sich hier, weil Pasquale sie angeblich kontrollieren will. Um die Buchhaltung für das Finanzamt muss zwar ich mich kümmern, Pasquale gibt mir aber alle Zahlen. Ich will gar nicht wissen, ob er noch den Überblick hat.
Einen Moment frage ich mich, ob er wirklich Wasser trinkt oder es Wodka in einer alten Flasche ist. Dann schiebe ich den Gedanken von mir, weil es mir egal sein sollte.
Da niemand etwas sagt, räuspere ich mich. »Du wolltest mich sprechen?«
»Ja. Setz dich«, antwortet Pasquale mit papierdünner Stimme.
Ich schaue mich nicht im Raum um. Es gibt nur einen Stuhl und auf dem lümmelt mein Chef. Noch nicht einmal seine Tochter kann sich setzen.
»Geht schon«, murmle ich und nehme einen breiteren Stand ein.
Das hat Tiz mir einmal erklärt: Meine Körperhaltung hat einen unmittelbaren Effekt auf mein Gegenüber. Ich bin ziemlich groß, größer als meine beiden Brüder. Ansonsten ist mein Äußeres eine gute Mischung aus ihnen. Tiz hat glatte schwarze Haare, Luca hellbraune Locken. Meine sind dunkelbraun und nur gewellt. Meine Hautfarbe ist auch eine Mischung aus Tiz’ dunklerem Teint und Lucas hellem. Im Gegensatz zu meinen Brüdern besitze ich keine blauen Augen, sondern honiggoldene, wie meine Mutter sie hatte.
Bei dem Gedanken an sie wird mir schwer ums Herz. Ich erinnere mich kaum noch an Mama. Als sie starb, war ich sieben.
Wieso denke ich jetzt an sie? Ich muss mich konzentrieren.
Also hebe ich das Kinn und warte darauf, dass Pasquale spricht.
Er rülpst einmal, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und beugt sich über seine Knie. Angst, dass er vom Stuhl kippen könnte, überkommt mich, doch Pasquale hält sich auf dem Möbelstück.
»Meine Tochter Mariella hast du bereits kennengelernt«, sagt er und deutet auf die Frau am Fenster.
Widerwillig sehe ich zu ihr und betrachte sie noch einmal. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie High Heels trägt, mit Absätzen so dünn wie Bleistifte und sicher zehn Zentimeter hoch. Also ist sie mehr als einen Kopf kleiner als ich.
Mit einem Schnauben schaue ich zu Pasquale zurück. »Ja, wir hatten ein kurzes Gespräch.«
Er nickt. »Schön.« Seine Hand zittert, als er zu der Wasserflasche greift und sie ungeschickt öffnet. »Mariella ist in Sizilien bei ihren Großeltern aufgewachsen.« Er trinkt, rülpst und stellt die Flasche ab.
Dann schweigt er.
»Okay, weswegen willst du mit mir reden?«, frage ich und gebe mir keine Mühe, die Wut aus meiner Stimme zu bannen.
Pasquale sieht mich mit seinen blutunterlaufenen Augen an, als wäre ihm erst jetzt klar geworden, dass ich hier stehe. »Ist das denn nicht offensichtlich? Ich will, dass du ihr das Geschäft beibringst, damit sie es übernehmen kann.«
Obwohl ich mit genau diesen Worten gerechnet habe, fühlt es sich an, als hätte mir jemand mit Wucht in den Magen getreten. Bittere Galle kriecht meine Kehle hoch, während ich darum ringe, weiterzuatmen. Meine Hände sind so fest zu Fäusten geballt, dass es wehtut, aber ich kann sie nicht lösen.
»Das muss ein Scherz sein!«, fauche ich. »Bis vorhin hatte ich keine Ahnung, dass du überhaupt eine Tochter hast, weil du sie nie erwähnt hast.«
Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie Mariella bei meinen Worten zusammenzuckt. Aber ich schaue weiterhin Pasquale an, versuche ihn mit meinen Blicken in die Knie zu zwingen.
»Dir ist klar, dass ich, seit Mauro fort ist, mehr oder weniger alles in diesem Laden übernommen habe?«, fahre ich fort.
Pasquales Unterlippe bebt und er beißt darauf. Mitleid überkommt mich, doch ich wische es fort. Ich habe meine Eltern auch verloren, viel früher als Pasquale. Dass er Mauros Tod nicht gut weggesteckt hat, weiß ich, aber darauf nehme ich jetzt keine Rücksicht mehr.
»Das weiß ich sehr gut«, krächzt er. »Und ich bin dir dankbar dafür.«
»Fein, weil ich ein Angebot für dich habe. Ich kaufe dir die Konditorei ab.« Sein Mund klappt auf, doch ich fahre fort, ehe er etwas dazu sagen kann. »Wir beide wissen, dass ich das Geld dafür nicht habe und mir auch die Berechtigung fehlt, das Geschäft ohne dich zu führen.«
Gedanklich fluche ich darüber, dass ich nicht schon lange die Kurse an der Wirtschaftskammer belegt habe, um eine Berechtigungsprüfung für einen Gastronomiebetrieb abzulegen. Anders als Luca habe ich nie eine offizielle Ausbildung in meinem Job gemacht. Er war auf der Kochschule und hat eine Lehre abgeschlossen. Ich nicht. Mauro wollte es nicht, so lange ich zur Schule ging und dann war er dazu gesundheitlich nicht mehr in der Lage. Ich müsste also den Umweg mit teuren Kursen und einer Prüfung gehen. Aber das wäre es mir wert.
»Also ist mein Vorschlag«, sage ich schnell, »dass du weiterhin offiziell der Eigentümer bleibst, bis ich die Prüfungen abgelegt habe. Danach zahle ich dir monatlich den Kaufpreis Stück für Stück ab – mit Zinsen.«
Schwer atmend legt Pasquale den Kopf schief und starrt einen Punkt vor mir an.
Seine Tochter gibt keinen Mucks von sich. Ist es ihr egal, dass ich ihr diesen Laden vor der Nase wegschnappe? Dann verdient sie ihn sowieso nicht.
»Ich kann das nicht machen«, murmelt Pasquale, ohne aufzusehen. »Meine Familie führt diese Konditorei seit Generationen. Es war der letzte Wunsch meines Vaters, dass sie in Familienhänden bleibt.«
»Wusste Mauro von deiner Tochter?«, blaffe ich ihn an.
Zögerlich nickt Pasquale. »Ja.«
Mariella zuckt erneut zusammen. Wie kann es sein, dass niemand je über sie gesprochen hat?
»Ist sie überhaupt deine Tochter?« Ich klinge selbst in meinen Ohren giftig.
Pasquale sieht zu mir auf, ein zorniges Funkeln in den dunklen Augen. »Ja, kein Zweifel. Und sie wird den Laden übernehmen.«
In meinem Inneren explodiert der Vulkan nun endgültig. »Dann bring du ihr alles bei!«, fahre ich Pasquale an. »Denn ich lasse mich nicht verarschen.«
»Fillipo, warte!« Er springt schneller auf, als ich für möglich gehalten habe, und packt mein Handgelenk. »Ich habe ein Gegenangebot für dich.«
»Kein Interesse«, zische ich.
»Hör mich erst an, Junge.« Er schließt seine Finger so fest um mein Handgelenk, dass es schmerzt. »Ich zahle dir die Kurse für die Berechtigungen. Wenn du sie hast, mache ich dich zum Geschäftsführer und erhöhe dein Gehalt entsprechend. Dafür bringst du Mariella alles bei und lässt sie dir helfen, damit sie alles Wichtige lernt. Sie ist ein gutes Mädchen.«
»Woher willst du das wissen?«, flüstert Mariella so leise, dass ich es kaum höre.
Pasquale scheint es auch nicht gehört zu haben, denn er reagiert nicht darauf. »Ich weiß, der Laden wäre bei dir in guten Händen, aber … ich habe so viele Dinge in meinem Leben verbockt. Zumindest das will ich richtig machen. Die Konditorei soll im Besitz der Familie Fabrizi bleiben. Deswegen biete ich dir an, deine Ausbildung zu bezahlen und dein Gehalt zu erhöhen, sobald du Geschäftsführer bist. Das ist quasi, als wäre es dein Laden.«
Ist es nicht und das weiß er verdammt gut. Mariella wäre immer mein Boss. Ich weiß nicht, was sie bisher gemacht hat, aber sie wirkt auf mich wie eine verwöhnte Göre. Wie jemand, der ich einmal war, bevor mein Leben eine katastrophale Wendung genommen hat. Deswegen bezweifle ich, dass sie sich wirklich einbringen wird. Vermutlich wird sie mich herumkommandieren. Es würde zu ihrem Verhalten von vorhin passen. Und darauf habe ich keine Lust.
Aber die Idee, dass Pasquale mir die Kurse bezahlt, gefällt mir. Wenn ich die Prüfungen abgeschlossen habe, könnte ich vielleicht doch irgendwo einen Kredit bekommen und mich selbstständig machen. Bis dahin könnte ich jeden Cent sparen, damit ich ein kleines Polster habe. Allerdings müsste ich dann wirklich für Mariella arbeiten.
»Nimmst du meinen Vorschlag an?«, fragt Pasquale heiser.
»Ich brauche Zeit, um nachzudenken.« Grob befreie ich mich aus seinem Griff. »Keine Ahnung, wie lange. Das ist nämlich eine ziemliche Scheißaktion.«
Betreten senkt Pasquale den Kopf. Als ich zu Mariella schaue, betrachtet sie ihre Schuhe. Womöglich hat sie doch so etwas wie Schamgefühl, denn sie versucht gar nicht erst, mich anzusehen.
»Wirst du morgen hier sein?« Pasquales Stimme zittert.
Eigentlich sollte ich mal ein paar Tage fortbleiben. Aber Luca hat eine Bestellung aufgegeben und ich will ihn nicht enttäuschen.
»Vermutlich«, brumme ich, mache kehrt und verlasse das Büro, ehe Pasquale mich aufhalten kann.
Schnell durchquere ich den Gastraum, stoße die Tür zur Backstube auf und reiße mir im Gehen die Schürze ab, die ich über meiner Straßenkleidung trage.