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»Vertrau mir. Wenn wir uns geküsst hätten, würdest du das nicht vergessen.« Als Gondoliere in Venedig hat Tiziano nur ein Ziel: genug Geld für ein Poker-Turnier zu verdienen, um mit dem Gewinn das verlorene Familienhotel zurückzuholen. Zu seinem Glück sucht die attraktive Carly einen persönlichen Chauffeur und bietet ihm eine hohe Summe für den Job. Tiziano nimmt an, doch sein Fokus verrutscht, je mehr Zeit sie zusammen verbringen. Bald kann er nicht mehr leugnen, dass er sich zu Carly hingezogen fühlt. Allerdings ist diese nicht irgendjemand, sondern die Tochter des Mannes, der seinem Vater damals das Hotel gestohlen hat … Jetzt den spicy Liebesroman in Italien lesen und das Dolce Vita genießen. „Change my Dreams“ enthält spicey (erotische) Szenen und ist deswegen für Leser ab 16 Jahren empfohlen.
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SOMMERNÄCHTE IN VENEDIG
BUCH EINS
Copyright © 2024 by Lilly Autumn
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
www.lillyautumn.at
Umschlaggestaltung: Madeleine Hirdt
Lektorat&Korrektorat: Julie Roth
Satz: Bettina Pfeiffer
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle Träumer. Weil Venedig dazu einlädt, sich zu verlieren - und wiederzufinden.
Triggerwarnung: In diesem Buch werden sensible Themen angesprochen. Eine Auflistung ist unter hier zu finden.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog
So geht es in Band 2 weiter
Gleich weiterlesen!
Willst Du wissen, wie Carly die Szene auf dem Dach erlebt hat?
Danksagung
Über den Autor
Bücher von Lilly Autumn
Das war eine außergewöhnliche Fahrt.«
Ich hebe den Kopf und betrachte die brünette Frau, die mir einen zweihundert-Euro-Schein hinhält. Ihre knallroten Lippen sind zu einem aufreizenden Lächeln verzogen und ihre Möpse springen mir förmlich ins Gesicht. Sie ist definitiv eine Touristin. Das wüsste ich auch, wenn ihr Englisch keinen starken amerikanischen Akzent hätte. Denn die hohen Schuhe, die so rot sind wie ihre Lippen, sind für Venedig alles andere als geeignet.
»Danke«, murmle ich, nehme den Geldschein entgegen und ziehe das Wechselgeld aus meiner Börse.
»Oh nein, behalten Sie den Rest«, sagt sie immer noch lächelnd.
»Mille Grazie«, erwidere ich, so charmant ich kann.
Sie kichert und wischt sich eine ihrer dunkelbraunen Strähnen aus der Stirn. »Ich mag Italienisch. Es klingt so … sexy.«
Ich habe geahnt, dass sie sich nicht einfach umdrehen und ihre Stadtbesichtigung fortsetzen wird, sondern auf etwas anderes aus ist. Mein Blick streift flüchtig über ihren Körper. Alles, was sie trägt, muss ein Vermögen gekostet haben; auf der weit aufgeknöpften Bluse prangt ein riesiges Markenlogo, ebenso wie auf der engen Shorts. Und die Tatsache, dass sie mir einfach so hundertzwanzig Euro Trinkgeld für eine kurze Gondelfahrt gegeben hat, sagt mir, dass sie für das Geld, das sie ausgibt, wohl nicht selbst arbeiten musste.
Früher habe ich Frauen wie sie gedatet, abgeschleppt und bin dann weitergezogen. Aber früher habe ich selbst Geld wie Heu besessen. Und jetzt … schippere ich Touristen durch die engen Kanäle meiner Heimatstadt.
»Finden Sie?«, frage ich kühl und mache mich daran, die Sitze der Gondel zu säubern.
Das ist Vorschrift und im Moment bin ich froh, diese Ausrede zu haben, um sie nicht ansehen zu müssen. Bis zu dem Steg, an dem ich neue Touristen aufnehmen kann, stellen sich noch einige Gondeln an, um eine weitere Fahrt zu machen. Am Anlegeplatz bin ich derzeit der einzige Gondoliere. Also putze ich den ersten Sitzplatz, obwohl da niemand drauf gesessen hat. Und ich damit eigentlich warten sollte, bis alle Fahrgäste von Bord gegangen sind. Die brünette Frau klebt jedoch immer noch auf ihrem mit rotem Samt bezogenen Stuhl und streckt die Brüste raus.
»Oh ja. Und italienische Männer sind auch sexy.« Sie rückt näher, ignoriert sowohl das Schwanken der Gondel als auch mein ablehnendes Brummen. »Wann machst du Pause, Süßer?«
Das Boot wackelt noch stärker, als ich mich aufrichte. Natürlich weiß ich, dass es nicht kentern wird. Aber sie weiß es nicht. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist unbezahlbar. Sie verzieht ihre Lippen ängstlich und ihre dunkel geschminkten Augen werden groß. Reflexartig rudert sie mit den Armen und greift nach mir. Doch ich weiche zurück und sie kippt beinahe vorne über.
»Bitte verlassen Sie die Gondel, Signora«, fordere ich sie höflich und distanziert auf. »Die Fahrt ist an dieser Stelle zu Ende, ich muss das Fahrzeug für die nächsten Gäste vorbereiten.«
Sie ist nicht die erste Touristin, die mich angräbt. Und sicher nicht die letzte. Manchmal lasse ich mich auf ein Abenteuer ein. Ich bin kein Mann für tiefe Gefühle. Das war ich nie und werde ich niemals sein. Doch an dieser Frau habe ich absolut kein Interesse. Außerdem muss ich Geld verdienen und das möglichst schnell. Die Zeit für meine Pläne wird nämlich knapp.
»Du hast meine Frage aber nicht beantwortet«, ringt sie sich mit einem ängstlichen Lächeln ab. Die Gondel schwankt immer noch gefährlich und sie findet keinerlei Halt, kippt unbeholfen auf ihrem Sitz herum.
»Ich mache keine Pause, Signora«, erwidere ich und wende mich ab.
»Okay, wann hast du Dienstschluss?«
Ihre Hand legt sich auf meinen nackten Unterarm. Auf ihrem linken Ringfinger ist ein deutlicher Abdruck eines Ringes zu erkennen, den sie vermutlich erst vor Kurzem abgezogen hat. Entweder ist sie noch verheiratet oder kürzlich geschieden. Nicht, dass ich nicht auch schon mit verheirateten Frauen etwas gehabt hätte. Es ist ja nicht meine Ehe, die ich mit bedeutungslosem Sex zerstöre. Aber dieser Abdruck ist noch ein Grund, warum ich diese Frau nicht will.
»Signora, bitte gehen Sie.« Ich richte mich zu voller Größe auf. Die Gondel schwankt erneut und die Frau stößt einen leisen Schrei aus. »Ich weiß Ihre Aufmerksamkeit zu schätzen, aber ich habe kein Interesse. Wenn Sie mich also jetzt meine Arbeit machen lassen würden …«
Es gibt viele Frauen, die ein Nein nicht akzeptieren. Bisher hat allerdings keine getan, was diese macht. Sie erhebt sich zwar, doch statt endlich zu gehen, kommt sie zu mir und bringt ihre Hand mit den scharfen rot lackierten Nägeln direkt zwischen meine Beine.
»Ich denke, du verstehst nicht, was du dir entgehen lässt«, gurrt sie nah an meinem Ohr, während ihre Hand an meinem Schaft auf und ab reibt. »Du würdest es nicht bereuen, Süßer. Und wenn es um Geld geht … ich kann dir die Zeit bezahlen, die wir zusammen verbringen.«
»Signora.« Ich bemühe mich, leise zu sprechen, obwohl Wut in mir hochkocht. Als ich noch reich war, habe ich ein Nein auch nur schwer akzeptieren können. Doch ich wäre nie auf die Idee gekommen, eine Frau an intimen Stellen zu berühren, wenn sie mich nicht darum gebeten hat. »Nehmen Sie ihre Hand da weg«, knurre ich.
»Wieso, es gefällt dir doch«, raunt sie mir ins Ohr.
Wie kommt sie auf diese absurde Idee? Nichts an dem, was sie tut, erregt mich. Mein Schwanz ist so schlaff wie das Tau zu meinen Füßen. Und sie denkt, mir würde gefallen, was sie da macht?
Ich umfasse ihr Handgelenk und schiebe sie gleichzeitig von mir. Als sie zu mir aufsieht, lächelt sie immer noch und leckt sich über die Lippen. Mir wird kotzübel.
»Ich wohne im …«
»Ist mir egal, wo Sie wohnen«, unterbreche ich sie barsch. »Ich werde nicht mit Ihnen gehen. Und jetzt verlassen Sie meine Gondel, bevor ich den Sicherheitsdienst rufe und Sie von dem Boot zerren lasse.«
Langsam wandern ihre Mundwinkel hinunter. Ein Ausdruck des Unglaubens huscht über ihr Gesicht. Dann verzieht sie die Lippen zornig.
»Ist das dein Ernst?«, fragt sie viel zu laut.
Meine Kollegen und sämtliche Touristen in der Nähe des Stegs drehen sich zu uns um. Toll. Ich wollte keinen Aufstand. Jetzt habe ich ihn trotzdem.
»Si, Signora«, erwidere ich mit fester Stimme. »Verlassen Sie bitte die Gondel.«
»Gibt es hier ein Problem?« Endlich kommt Francesco, einer der Koordinatoren meiner Vereinigung und mein direkter Chef, zu uns.
»Nein, kein Problem«, meint die Frau mit unschuldigem Lächeln. »Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.«
Francesco sucht meinen Blick. Ich hoffe, er versteht, dass er mir helfen soll, diese Frau loszuwerden, bevor sie hier eine Szene macht.
»Waren Sie mit Ihrer Fahrt unzufrieden?«, fragt er professionell.
»Oh nein, sie war wunderbar«, schwärmt die Frau.
»Dann ist es ja gut. Wir müssen die Gondel für die nächsten Gäste vorbereiten. Ich darf Ihnen beim Aussteigen behilflich sein?«
Francesco hält ihr seine Hand hin. Einen Moment zögert die Touristin, dann atmet sie geräuschvoll aus, ergreift Francescos Hand und lässt sich von ihm auf den Ausstiegsteg ziehen. Sie streicht sich die beinahe durchsichtige Bluse glatt und wirft sich die langen dunklen Haare über die Schulter.
»Danke, dass Sie uns mit Ihrem Besuch beehrt haben«, sagt Francesco und weist der Frau den Weg fort von den Gondeln.
Sie gibt ein »Hmpf« von sich und stöckelt unsicher davon. Die Absätze sind eindeutig zu hoch für sie. Besonders anmutig kann sie darin nicht gehen.
Einen Herzschlag sehe ich ihr nach, bevor ich mich Francesco zuwende. Mit seiner Glatze und den breiten Augenbrauen erinnert er mich ein wenig an die Figur auf den Putzmittelflaschen. Was sicher auch an den aufgepumpten Oberarmen liegt, die man unter dem dunkelblau-weiß gestreiften T-Shirt erkennen kann. Er ist einige Jahre älter als ich und teilt die Schichten der Gondoliere ein, statt selbst ein Boot zu lenken.
Sein Blick bohrt sich fragend in meinen.
»Sie wollte mit mir ins Bett und hat mein ›Nein‹ nicht akzeptieren können«, sage ich leise, während ich weiterputze.
»Vielleicht sollten wir dir eine Pestmaske schenken«, schlägt Francesco grinsend vor. »Das ist heute schon die zweite Touristin, die dich abschleppen will.«
Ich verdrehe die Augen. »Als würde die Pestmaske etwas daran ändern.«
»Na, so ein Schnabel und ein dunkler Hut dazu sind vermutlich etwas einschüchternd.« Francesco grinst breiter. »Oder du lässt dich endlich verkuppeln, Tiz.«
»Weil das Frauen davon abhält, mit mir zu flirten«, brumme ich. »Du erinnerst dich, dass ich eine Weile einen Ehering getragen habe, in der Hoffnung, es würde sie abschrecken? Da wollten sie mich nur noch mehr.«
Jetzt lacht Francesco und klopft mir auf die Schulter. »Richtig, das habe ich beinahe vergessen. Schon schlimm, wenn man mit einem hübschen Gesicht und dichtem Haar gesegnet ist, was, Tiziano?«
Als Antwort brumme ich und halte mich davon ab, mit den Fingern durch meine schwarzen Haare zu streichen, die ich seitlich kürzer trage als oben.
In meinem alten Leben war Aussehen alles. Und ich hatte den Jackpot gewonnen mit meinen Genen. Ich bin über einsachtzig groß und war immer schlank. Mein Körper ist durchtrainiert, weil mir das wichtig ist. Trotz meiner etwas dunkleren Haut sind meine Augen von einem tiefen Blau, was viele Frauen sexy finden. Und so hatte ich nie ein Problem, abends eine Begleitung aufzureißen, wenn ich es wollte.
Ja, in meinem alten Leben war alles sehr oberflächlich. Es ging nur darum, nach außen schön zu sein. Keine der Frauen, mit denen ich die Nächte verbracht habe, wollte etwas über meinen Charakter wissen. Was okay war. Ich interessierte mich auch nicht für ihren und tue es bei meinen Abenteuern auch heute nicht. Alles, was ich wollte, war, in den Tag hineinzuleben, bis meine Zeit gekommen war, um das Familienunternehmen zu leiten. Doch da hat mir mein alter Herr einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Und deswegen muss ich jetzt als Gondoliere arbeiten, in einer kleinen Einzimmerwohnung leben und hoffen, dass mein Plan aufgeht. Dazu brauche ich aber noch eine Menge Geld. Ich muss heute also wieder länger arbeiten und auf ein Wunder in Form von üppigem Trinkgeld hoffen.
»Tiz, hörst du mir überhaupt zu?« Francesco lacht erneut. »Du schaust grimmiger als ein alter Seemann.«
»Sorry, ich bin heute etwas gereizt.« Ich packe die Putzsachen weg.
»Vielleicht solltest du dann aufhören.«
»Nein, ich mache bis zum Abend weiter«, erwidere ich und hoffe, man hört die Panik in meiner Stimme nicht. »Teil mich also weiterhin ein. Es ist wichtig.«
Das Grinsen verschwindet aus Francescos Gesicht, während er mich betrachtet. »Die letzten zwei Wochen hast du kaum Pausen gemacht. Verrätst du mir, was los ist?« Er lehnt sich nach vorne. »Hast du dich in Schwierigkeiten gebracht, Junge? Falls ja … wir sind hier eine große Familie. Du kannst auf unsere Hilfe zählen.«
Ich sehe in die kaffeebraunen Augen meines Koordinators. Natürlich weiß ich, dass wir hier aufeinander bauen und uns gegenseitig unterstützen. Nach Jahren, in denen ich ein selbstsüchtiges Arschloch mit zerrütteten Familienverhältnissen war, fühlt sich das sogar richtig gut an. Endlich wo dazugehören. Endlich niemandem beweisen müssen, dass ich es draufhabe. Hier kann ich einfach nur Tiziano sein. Nicht Tiziano Contarini, die herbe Enttäuschung für Massimo Contarini, der mehrfach angedroht hat, mich zu enterben. Wobei er das auch bei meinen beiden Brüdern ständig getan hat. Nun, Papa hat dann seinen eigenen Weg gefunden, die Drohung wahr werden zu lassen.
»Ich bin nicht in Schwierigkeiten.« Dankbar lege ich meine Hand auf die Schulter meines Vorgesetzten. »Bei mir steht nur etwas an, für das ich ein wenig zusätzliches Geld brauche. Deswegen arbeite ich mehr als sonst.«
Die Worte ›ein wenig‹ sind so was von untertrieben. Fakt ist, dass ich eine Viertelmillion zusammenkratzen muss. Bis morgen Abend. Und obwohl ich seit fünf Jahren jeden verfluchten Cent spare, mir nichts gönne und mich von billigen Nudeln ernähre, habe ich gerade einmal zweihundertdreißigtausend Euro angespart. Das mit dem Wunder war wohl auch untertrieben. Ich brauche ein Weltwunder, um so schnell die fehlenden zwanzigtausend zu bekommen.
Trotzdem würde ich meine Kollegen nie um Hilfe bitten, wenn es um Geld geht. Denn ich kann nicht garantieren, dass sie es je zurückerhalten. Das Risiko ist zu hoch, aber vermutlich ist es meine einzige Chance, jemals zu bekommen, was ich unbedingt will.
»Falls du doch etwas brauchst, gib Bescheid.« Francesco deutet mit dem Kinn nach vorn. »Und jetzt beeil dich, du bist gleich dran.«
Ich ringe mir ein Grinsen ab und bugsiere die Gondel zum nächsten Steg. Die Touristen, die auf mich warten, haben von der unschönen Szene vorhin nichts mitbekommen. Sie schnattern beim Einsteigen in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Vermutlich sind sie aus Norwegen oder so, denn der Klang ist deutlich härter als beispielsweise bei deutschsprachigen Touristen.
Sie knipsen munter Fotos, während ich sie an der Santa Maria della Salute vorbeischippere. Es ist eine der berühmtesten Kirchen Venedigs, mit weißen Wänden und hellblauem Kuppeldach. Mir gefällt der Anblick dieses Gebäudes. Es beruhigt mich irgendwie. Was vielleicht daran liegt, dass ich es jeden Tag meines Lebens gesehen habe. Die Kirche stand felsenfest da, als ich geboren wurde. Sie trotzte jedem Hochwasser, das in den letzten achtundzwanzig Jahren die Stadt heimgesucht hat. Sie schenkte mir Trost, als vor vierzehn Jahren meine Mutter krank wurde und ich mich vor dem Altar mein erstes und letztes Mal an Gott gewandt habe, um mit ihm zu verhandeln, damit sie den verdammten Kampf gegen den Krebs nicht verliert – und sie dennoch starb. Die Kirche war da, als mein Vater das Vermögen meiner Familie an der Börse verspekuliert und das Hotel, das ich einst übernehmen sollte, an unseren Erzrivalen verloren hat.
Wehmütig sehe ich zum Markusplatz, zu dem ich die Touristen bringen soll. Nur einen Steinwurf entfernt von der Anlegestelle für Gondeln erhebt sich das mehrstöckige goldbraune Gebäude mit dem klingenden Namen San Giorgio. Es ist so alt wie Venedig selbst und seit vielen hundert Jahren im Besitz meiner Familie. Mein Ururgroßvater Giorgio Contarini hat es zu einem Hotel umbauen lassen und es zu einem erfolgreichen Betrieb gemacht. Eine Nacht hier kostet so viel, wie manche Leute in einem Monat verdienen. Ich muss es wissen. Schließlich gehöre ich jetzt zu ebendiesen Leuten. Bis vor fünf Jahren habe ich im obersten Stockwerk in einer Suite gelebt und voller Hochmut auf die anderen Menschen hinabgeschaut. Ich war ein König. Und jetzt … bin ich ein Taxifahrer auf einem Boot.
Es tut immer wieder weh, wenn ich die Gondel für Touristen an den Steg lenke, an dem ich selbst oft ein Wassertaxi genommen habe. In feinem Anzug und immer mit einer anderen attraktiven Frau am Arm. Aber vielleicht kann ich mein altes Leben zurückholen. Wenn ich das verfluchte Startgeld für das große Poker-Turnier aufbringe, ist es möglich.
»Gracie«, sage ich mit einem Lächeln, als die ältere Dame mir einen Zehner als Trinkgeld zusteckt, während ich ihr an Land helfe.
Ein Zehner näher an meinem Ziel. Fehlen noch 1999 mehr davon.
»Sind Sie frei?«, fragt eine samtweiche Frauenstimme, nachdem der letzte Tourist an Land gegangen ist.
Ich schaue zu ihr auf. Mein Atem stockt, als ich in smaragdgrüne Augen blicke. Dunkle Locken umrahmen ein engelsgleiches Gesicht mit sonnengebräunter Haut und sündig vollen Lippen. Diese Frau trägt so gut wie kein Make-up. Das braucht sie auch nicht. Sie ist atemberaubend schön. Ein purpurfarbenes Sommerkleid umspielt ihre Beine bis zu den Knöcheln. An der schmalen Taille ist es mit einem Gürtel zusammengebunden. Der Ausschnitt ist tief und lässt mich die Ansätze ihrer Brüste erahnen.
Mein Mund wird staubtrocken, während ich sie betrachte.
»Entschuldigung?« Sie lächelt verlegen. »Sind Sie frei oder nicht?«
Ihr Italienisch ist makellos, aber ihr Dialekt passt nicht zu dieser Gegend. Wobei ich nicht sicher sagen kann, aus welchem Teil Italiens sie stammt.
»Si, Signora«, antworte ich, ohne nachzudenken.
Und bevor ich noch ein Wort sagen kann, helfe ich ihr in die Gondel, obwohl ich eigentlich zum Startpunkt meiner Tour zurückmüsste. Offensichtlich hat ihr Lächeln bei mir gerade alle Sicherungen auf einmal umgelegt.
»Können Sie mich zur Rialtobrücke bringen?«, fragt sie immer noch lächelnd. »Ich bin spät dran. Wenn es also möglich wäre …«
»Natürlich, Signora«, erwidere ich, ohne zu zögern.
Ja, grundsätzlich sollte ich keine Fahrten machen, die nicht zu meiner angestammten Tour gehören. Aber manchmal machen wir Ausnahmen. Die Touristen vorhin habe ich ja auf ihren Wunsch hin auch hier abgesetzt, obwohl es eigentlich eine Rundfahrt wäre.
Ich stoße die Gondel vom Steg ab und bugsiere sie zwischen den anderen Booten hindurch zum Kanal, der uns zur Rialtobrücke führt.
»Sie sind mein Lebensretter«, sagt die Frau.
Ihr Lächeln ist so warm und echt, dass ich nicht anders kann, als es zu erwidern.
»Stets zu Diensten, Signora«, erwidere ich.
Sie lacht glockenhell. »Ein wahrer Ritter also. Wie schön.«
Am liebsten würde ich sie weiterhin einfach nur ansehen. Aber ich muss mich konzentrieren. Es mag einfach aussehen, eine Gondel zu lenken, doch das ist es nicht. Selbst die Begabtesten brauchen über ein Jahr, um in den verwinkelten Wassergassen keinen Unfall zu bauen. Und der Verkehr ist gerade auf dem Weg zur Rialtobrücke mörderisch.
»Ich habe mich bei meinem letzten Termin auf dem Weg verirrt und befürchte, dass ich alleine nicht pünktlich sein werde. Die ganze Zeit verlaufe ich mich, weil ich mich nicht auskenne«, spricht die Signora an mich gewandt weiter. Ihre linke Augenbraue zuckt leicht. »Mein Vater reißt mir vermutlich den Kopf ab, wenn ich zu spät komme. Und ich kenne mich hier nicht aus und würde mich zu Fuß bestimmt mehrmals verlaufen.«
»Venedig ist ein wenig verwinkelt«, gebe ich zu.
Ja, wer sich in der Lagunenstadt nicht auskennt, ist schnell verloren zwischen den alten Häusern, den unzähligen kleinen Brücken und den dicht gedrängten Menschen, die sich jeden Tag durch die Gassen zwängen.
Die Frau seufzt und das bezaubernde Lächeln verschwindet aus ihrem Gesicht. »In den nächsten Tagen muss ich so viele Termine wahrnehmen«, murmelt sie und beißt sich auf die Unterlippe, während sie mich betrachtet. »Ich weiß, diese Frage ist vermutlich unverschämt, aber … wäre es möglich, Sie und Ihre Gondel für eine Woche zu mieten?«
»Wie bitte?« Ich verenge die Augen. Nach der letzten Touristin brauche ich nicht noch eine Frau, die mich angräbt. Obwohl ich bei dieser Schönheit hier wirklich in Versuchung geraten könnte …
Nein. Nein! Ich muss Geld verdienen. Und zwar um die zwanzigtausend Euro. Das kann ich nicht, wenn ich mit dieser Frau irgendwo verschwinde.
»Sie müssen sich doch in der Stadt auskennen«, sagt sie und zupft nervös an ihren Fingern herum. »Und ich brauche jemanden, der mich herumführen kann.«
»Ich biete für gewöhnlich nur fixe Touren an, da ich für ein Unternehmen arbeite«, erwidere ich.
»Verstehe ich.« Beschwichtigend hebt sie die Hände. »Ich würde natürlich dafür bezahlen. Oder bei Ihrem Unternehmen nach jemanden fragen, der mich diese Woche lang begleitet, wenn Sie das nicht selbst entscheiden können. Natürlich zahle ich jeden Preis, den Sie für angemessen halten.«
Bei diesen Worten werde ich hellhörig. Sie zahlt jeden Preis, den ich für angemessen halte?
Die Wassergasse wird breiter, was bedeutet, dass wir bald in der Nähe der Rialtobrücke sind. Viel Zeit zum Überlegen habe ich nicht mehr.
»Was würden Sie denn von mir erwarten, Signora?«, hake ich nach.
»Meine Termine beginnen um acht Uhr«, erklärt sie. »Sie müssten mich hinbringen, auf mich warten und mich dann zum nächsten Termin fahren. Ich schätze, bis vier Uhr sind Sie jeden Tag beschäftigt, wobei Sie eben viel Wartezeit hätten.«
»Sonst nichts? Ich soll nur Sie von einem Ort zum anderen bringen?« Ich will sichergehen, dass sie mich nicht während meiner angeblichen Wartezeit an Freundinnen weitervermietet, die Einkaufsbummel machen möchten. Solche Geschichten habe ich bereits von anderen Gondolieren gehört.
»Nein, nur das. Eine Woche lang.« Wieder lächelt sie unsicher. »Ist das möglich?«
Ich tue so, als müsste ich nachdenken. Mir stehen noch einige freie Tage zu und wenn ich Francesco darum bitte, kann ich mir die Gondel sicher leihen. Ich bekomme auch keine Schwierigkeiten, weil ich einen solchen Auftrag annehme, sofern ich zumindest einen Teil des Geldes bei der Vereinigung abgebe.
Wenn jetzt noch die Bezahlung stimmt …
»Dreißigtausend«, spreche ich die Zahl aus.
Ihr Lächeln verrutscht ein wenig. »So … viel?«
»Ja, Signora. Ich muss einen Anteil an mein Unternehmen abgeben und Sie brauchen mich eine lange Zeit«, erkläre ich, so ruhig ich kann. »Deswegen entgeht meinem Arbeitgeber viel Umsatz.«
In mir kribbelt alles. Damit wären meine Probleme gelöst. Sie muss nur annehmen und mich vorab bezahlen.
»Das ist dennoch eine Menge Geld«, murmelt sie.
Ihre Hand zittert leicht, während sie sich eine dunkle Locke hinters Ohr schiebt. Aber sie verhandelt nicht, sondern nickt nur.
»Dann ist das so«, meint sie schließlich. »Abgemacht. Dreißigtausend.«
Das Gewicht, das von meinen Schultern rutscht, ist so schwer, dass es die Gondel durchschlagen müsste. Sie hat angenommen. Jetzt habe ich das Startgeld für das Poker-Turnier in wenigen Tagen beisammen und kann mich anmelden.
»In Ordnung, Signora. Ich würde das Geld aber im Voraus benötigen.«
Ihre Augen verengen sich. »Im Voraus?«
»Ja, ich muss bei meinem Betrieb die Gondel ausleihen und bezahlen. Deswegen brauche ich das Geld schon jetzt.«
Sie beißt sich wieder auf die Unterlippe. Bei allen Heiligen, diese Geste macht mich wahnsinnig. Damit erweckt sie ein tief verschüttetes Verlangen in mir, das mich dazu drängt, meine Hände an ihre Wangen zu legen und ihre Lippen mit meinen in Besitz zu nehmen.
Der Anlegesteg kommt näher. Noch hat sie nicht zugestimmt. Mein Magen verkrampft sich, während in meinen südlichen Regionen ein kleines Feuer ausbricht.
»Sind wir uns einig, Signora?«, frage ich, als ich die Gondel auf dem Steg stehend vertäue. »Dann würde ich hier auf Sie warten. Ansonsten …«
Sie ergreift meine Hand, die ich ihr zum Aussteigen hingehalten habe. Ein Blitz zuckt über meine Haut und mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich erneut in ihre smaragdgrünen Augen sehe.
»Ich bin einverstanden«, erwidert sie, während ich sie aus der Gondel ziehe. »Bitte warten Sie hier. Mein Termin dauert eine Stunde. Danach bekommen Sie das Geld.«
Gedanklich schlage ich einen Salto und juble. Nach außen hin wahre ich eine ernste Miene. Mein Vater wäre so stolz auf mich.
»Si, Signora. Darf ich nur darum bitten, dass Sie diese Fahrt bereits bezahlen?« Sie hebt eine Augenbraue. Gott, ist das heiß. »Nur für den Fall, dass Sie Ihre Meinung ändern.«
»Wenn ich mich einmal entschieden habe, ändere ich meine Meinung nicht mehr.« Trotzdem kramt sie in ihrer braunen Umhängetasche nach der Geldbörse und fischt einen Schein heraus. »In einer Stunde bin ich wieder hier.«
Ohne ein weiteres Wort bewegt sie sich auf einen Strom Touristen zu und wird von der Menge verschluckt. Ich stecke den Geldschein ein und hebe triumphierend die Faust, während ich in den Himmel blicke. Jemand da oben hat endlich ein Einsehen mit mir. Jetzt muss ich nur das Poker-Turnier gewinnen und dann … dann hole ich mir das Hotel meiner Familie zurück.
Hast du den Verstand verloren?«
Mit einem frustrierten Laut lasse ich das Handy sinken. Einmal atme ich durch, dann hebe ich es wieder an mein Ohr.
»Offen gesagt war ich mir noch nie so sicher, vollkommen bei Trost zu sein«, erwidere ich.
Es knackt in der Leitung. Ich schaue auf das Display und stelle erleichtert fest, dass Francesco nicht aufgelegt hat.
Eigentlich wollte ich persönlich mit ihm sprechen. Aber dann hätte ich die Signora vertrösten müssen, die mir helfen wird, meine Pläne zu verwirklichen. Ohne die Gondel nütze ich ihr nichts. Und das Boot bekomme ich nur, wenn ich Francesco davon überzeuge, es mir zu überlassen. Also nutze ich die Zeit, in der ich auf dem Steg auf meine Auftraggeberin warte, um meinen Vorgesetzten zu überreden, mich freizustellen und mir die Gondel anzuvertrauen.
Natürlich hätte ich einfach ihr Geld nehmen können, ohne zu wissen, ob ich das Geschäft einhalten kann. Aber ich hätte ein verdammt schlechtes Gewissen, wenn ich ihr dann nicht bieten könnte, was sie braucht. Ich mag manchmal ein Arschloch sein, aber ein Betrüger bin ich nicht. Zumindest nicht wegen so etwas.
»Du bist Gondoliere, Tiz.« Francesco klingt seltsam kühl. »Kein verfluchter Taxifahrer oder Fremdenführer. Es ist eine Ehre, in diese Gilde aufgenommen zu werden. Ich dachte, du wüsstest das.«
Innerlich verdrehe ich die Augen. Natürlich weiß ich, wie stolz die Gondoliere sind, diesen Beruf ausüben zu dürfen. Nicht jeder wird ausgewählt. Nicht jeder schafft die zweijährige Ausbildung. Die Bezahlung ist gut und die Arbeitszeiten auch. Trotzdem möchte ich das nicht für den Rest meines Lebens machen. Ich habe andere Pläne.
»Weißt du noch, unser Gespräch vorhin, als du mich gefragt hast, ob ich Hilfe brauche?«, spiele ich den Trumpf aus, den ich habe.
»Tiz …«
»Der Auftrag bringt mir eine Menge Geld ein«, fahre ich fort, ehe er etwas sagen kann. »Ich brauche es für ein Projekt, das bald beginnt. Und ich würde es mir nie leihen, weil ich nicht weiß, ob ich es zurückzahlen kann. Das hier … hilft mir, Francesco.« Ich warte einen Moment, doch er schweigt. »Bitte, lass es mich machen. Ich werde einen Teil der Bezahlung an euch abgeben. Aber ich …«
»Meinetwegen«, brummt mein Vorgesetzter. »Ich kläre alles. Du kannst die Gondel haben. Allerdings erwarte ich, dass du sie ohne Kratzer, Flecken oder Löcher zurückbringst. Sonst ziehe ich dir persönlich die Ohren lang.«
Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. »Geht klar. Ich poliere die alte Dame auf Hochglanz, bevor du sie das nächste Mal siehst.«
Francesco lacht. »Guter Junge. Wenn was ist, melde dich. Ich versuche dir den Rücken freizuhalten.«
»Francesco«, sage ich, ehe er auflegen kann. »Danke. Für alles.«
»Schon gut. Mach nur keinen Unsinn.«
Er beendet das Gespräch und ich stecke das Handy weg. Erleichtert atme ich durch und schließe einen Moment die Augen. Heute Morgen dachte ich, ich müsste trotz aller Anstrengung ein weiteres Jahr warten, um an dem Poker-Turnier teilzunehmen. Nur dort kann ich schnell genug das Geld aufbringen, um mein Hotel zurückzuholen. Denn beim Pokern kommt es nicht wie beim Roulette auf pures Glück an, sondern auch auf Können. Und ich bin verdammt gut in diesem Spiel. Also werde ich gewinnen. Niemand wird mich jetzt noch daran hindern zu bekommen, was ich will.
»Ah, ich bin erleichtert, dass Sie wirklich noch hier sind«, erklingt in dem Moment die Stimme der schönen Unbekannten, die meine Retterin ist.
Ich drehe mich zu ihr um und nehme ihr die Aktentasche ab, die sie jetzt mit sich schleppt. Die hatte sie vorhin nicht bei sich.
»Natürlich, Signora. Ich stehe zu meinem Wort«, erkläre ich und schenke ihr ein Lächeln.
Vielleicht bilde ich es mir ein, aber es kommt mir vor, als würden ihre Wangen sich ein wenig dunkler färben.
»Das ist gut zu wissen«, murmelt sie und mustert mich. »Ich habe über unsere Vereinbarung nachgedacht und würde sie gerne ein wenig … anpassen.«
Mein Lächeln gefriert. »Wir waren uns über den Preis doch einig, Signora.«
Nein, nein, nein. Das darf sie mir jetzt nicht antun. Ich brauche die verfluchten zwanzigtausend heute noch. Wenn sie jetzt weniger bezahlen will …
»Oh, an dem Preis habe ich nichts weiter anzumerken«, sagt sie und für einen bittersüßen Moment will ich erleichtert sein. Doch dann spricht sie weiter. »Ich brauche nur … Zusatzleistungen.«
Mein erster Gedanke geht in eine schmutzige Richtung. Von uns beiden in ihrem Bett, mit verschwitzten Körpern auf seidigen Laken, und ihrer heiseren Stimme, die meinen Namen stöhnt, während ich mich tief in ihr versenke.
Dann allerdings kommt mir eine ganz andere Befürchtung. Sie wird mich doch nicht zu ihren Terminen mitnehmen wollen? Oder mich Erledigungen machen lassen? Alles hat Grenzen. Ein Laufbursche werde ich niemals sein, nicht einmal für eine Frau wie sie.
Was denke ich da nur gerade?
»In welcher Form?«, frage ich, und überlege mir höfliche Formulierungen, um die Zusatzwünsche abzulehnen und den Job dennoch zu behalten.
Sie beißt sich schon wieder auf die Unterlippe. Diese Geste macht mich wahnsinnig. Wenn sie das noch häufiger macht, werde ich der Versuchung, sie zu küssen, irgendwann nachgeben. Falls die Signora mich nicht jetzt schon feuert.
»Wie es aussieht, muss ich an zwei Abenden zu einem Dinner gehen«, beginnt sie und schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Und ich sollte dort in Begleitung erscheinen.«
»Ich kann Ihre Begleitung natürlich in der Gondel mitnehmen«, schlage ich vor.
»Ich befürchte, Sie verstehen nicht.« Sie presst ihre sinnlichen Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Im Moment habe ich keine Begleitung. Und da dachte ich, Sie könnten …«
»Signora, Sie wollen mich nicht als Begleitung«, blocke ich sofort ab.
Das hat mir noch gefehlt. Keine Ahnung, auf welche Dinner sie muss, aber wenn diese in elitären Kreisen stattfinden – wovon ich ausgehe –, weiß jeder, wer der Mann an ihrer Seite ist. So schnell können mich die Menschen nicht vergessen haben, auch wenn ich vor fünf Jahren von der Bildfläche verschwunden bin. Und darauf, diese elenden Dreckskerle zu sehen, die sich über mein ehemaliges Vermögen hergemacht haben, noch bevor die Leiche meines Vaters unter der Erde war, kann ich gerne verzichten. Oder auf ihre scheinheiligen Worte, die nur ihre Schadenfreude über den tiefen Fall meiner Familie verbergen sollen, verzichte ich noch lieber. Sonst kann ich nicht dafür garantieren, dass niemand diese Dinner ohne blutige Nase verlässt.
Ich will mich abwenden und in die Gondel steigen, da berührt die Frau meinen Arm und ich halte inne.
»Ich kann mehr bezahlen, wenn es darum geht«, sagt sie schnell. »Und wenn Sie keine passende Kleidung haben, können wir sie besorgen. Einen Anzug, zwei Hemden und Ausstattung. Oder zwei Anzüge. Meinetwegen auch drei. Und sie gehören Ihnen.«
Ihre Stimme hat einen verzweifelten Tonfall angenommen. Ich frage mich, was für Termine sie wahrnehmen muss und warum sie einen Fremden anfleht, sie auf zwei Abendessen zu begleiten. Eine Frau wie sie sollte nicht betteln müssen. Vermutlich sind es mein Mitgefühl und dieser verletzliche Ausdruck in ihren Augen, die mein Herz erweichen.
»Zwei Abendessen. Nicht mehr«, sage ich. »Und Sie müssen nicht mehr bezahlen oder mich ausstatten. Kleidung habe ich und ich müsste ohnehin auf Sie warten. Wenn ich mir stattdessen den Bauch vollschlagen kann, ist das schon in Ordnung.«
Erleichtert atmet sie auf. »Danke.« Erst lächelt sie, dann wird sie ernst. »Oh, ich … kenne noch nicht einmal Ihren Namen, um mich richtig zu bedanken.«
Sie ist unglaublich süß. Geld scheint sie in Fülle zu besitzen, aber sie verhält sich nicht, als wäre sie damit aufgewachsen. Und das meine ich positiv. Die meisten Frauen aus reichen Familien verhalten sich, als wären sie etwas Besseres. Das merke ich jetzt, da ich kein Geld mehr besitze, deutlicher als je zuvor. Es wird mir eine Lehre sein, dass ich mich anders benehmen sollte, sobald ich wieder dort bin, wo ich hingehöre.
Ich stelle ihre Aktentasche in die Gondel, wische meine Hände an der dunkelblauen Hose ab und halte ihr meine rechte Hand hin. »Tiziano.«
Sofort ergreift sie meine Hand. »Carly. Freut mich, dass wir uns einig sind, Tiziano.«
Die Art, wie sie meinen Namen ausspricht, löst ein Kribbeln in mir aus. Und meine Gedanken schweifen wieder zu ihrem Bett und den Dingen, die ich gerne mit ihr machen würde. Mal sehen, ob sich etwas ergibt. Aber für den Moment sollte ich professionell bleiben und meine Aufgabe als Wasser-Chauffeur ernst nehmen.
Also steige ich in die Gondel und helfe Carly galant auf einen der gepolsterten Stühle. Dann nehme ich meinen Platz ein, tauche das Ruder in das Wasser und sehe sie auffordernd an.
»Wohin, Signora?«, frage ich, weil sie mich nur anlächelt.
»Oh, in mein Hotel zurück. Ich habe bereits angewiesen, dass Ihr Geld dort vorbereitet wird.«
Einmal mehr verkrampft sich mein Magen. Ich habe sie in der Nähe des San Giorgio abgeholt …
»Welches Hotel, Signora?« Gedanklich sende ich Stoßgebete, dass sie in einem anderen Hotel abgestiegen ist. Die Vorstellung, sie in der Lobby abzuholen und meiner eigenen Vergangenheit zu begegnen, behagt mir nicht. Allerdings habe ich mich auch auf die Dinner eingelassen, obwohl ich sicher bin, dort Leute zu treffen, die mich kennen …
»San Giorgio«, spricht sie die Worte aus, die ich nicht hören wollte.
Ich schlucke gegen die Enge in meiner Kehle an, ringe mir ein Lächeln ab und setze das Boot in Bewegung.
»Dann bringe ich Sie dort hin«, sage ich, so gelassen ich kann. »Soll ich morgen gegen acht am Steg vor dem Hotel warten?«
Carly dreht sich zu mir um. Das Lächeln auf ihren Lippen ist atemberaubend und für einen Moment vergesse ich alles um uns herum. Bis uns ein Motorboot gefährlich nahe kommt und ich dem Lenker eine wüste Beschimpfung hinterherbrülle, weil er uns geschnitten hat.
»Bastard«, knurre ich zwischen zusammengebissenen Zähnen, nachdem er außer Hörweite ist. Dann sehe ich zu Carly. »Alles in Ordnung?«
Sie kichert. »Ja, danke. Und endlich bin ich wieder wach. Die Besprechung war so öde, aber das hier hat mich aufgeweckt.« Sie zwinkert und mein Puls steigt. »Wegen morgen … ich müsste um acht bereits in einem Büro in der Nähe von Santa Maria dei Miracoli sein.«
»Also halb acht am Steg?«
Carly legt den Kopf schief. »Oder Sie kommen einfach in die Lobby und fragen nach mir«, schlägt sie vor.
»Dann müsste ich aber auch Ihren Nachnamen kennen, Signora.«
»Fieschi«, antwortet sie, ohne zu zögern.
Der Name sagt mir nichts, aber das bedeutet nichts. Offensichtlich stammt sie nicht aus Venedig. »Carly Fieschi«, murmle ich und lasse den Klang auf meiner Zunge zergehen. Der Name passt zu ihr. Besonders wenn sie lächelt wie jetzt.
»Also kommen Sie mich in der Lobby abholen? Ich möchte Sie nicht am Steg warten lassen. Im Hotel könnten Sie einen Kaffee auf meine Kosten bekommen, falls ich länger brauche«, sagt sie.
Wie rücksichtsvoll. Den meisten wäre es egal, wenn ein Gondoliere stundenlang wo herumsteht. Was ich – streng genommen – wohl auch machen werde, wenn sie bei ihren Terminen ist. Aber sie scheint sich dennoch Gedanken zu machen, wie es mir geht.
»Si, Signora«, antworte ich schnell, bevor ich es mir anders überlegen kann.
Zufrieden nickt Carly, dreht sich um und lehnt sich zurück. Sie schließt die Augen und seufzt.
»Ich mag Venedig«, murmelt sie. »Es muss schön sein, hier zu leben.«
»Meistens ist es schön«, erwidere ich, während ich die Gondel in Richtung San Marco steuere.
An diesem Platz, der nach der berühmten Kathedrale benannt ist, befinden sich die schönsten Hotels der Stadt. Es sollte mich also nicht wundern, dass Carly dort untergekommen ist.
»Aber nicht immer?« Sie klingt ehrlich interessiert.
»Nun, es gibt immer wieder Hochwasser. Manchmal stinkt es. Und die vielen Touristen können einem das Leben an freien Tagen schwer machen.« Ich räuspere mich. »Nichts gegen Touristen, Signora.«
»Schon gut, ich verstehe das.« Sie kichert wieder und bei dem Geräusch breitet sich erneut ein Schmunzeln auf meinen Lippen aus. »Touristen können sehr anstrengend sein. Ich bin dankbar, dass Sie mir dennoch helfen.«
Beinahe rutscht mir heraus, dass ich für Geld fast alles tun würde. Was nicht stimmt. Nicht ganz zumindest. Außerdem würden diese Worte jetzt falsch ankommen. Ich bin nur froh, dass mein Mund diesmal langsamer war als mein Verstand.
»Stets zu Diensten, Signora«, erwidere ich deswegen und entlocke ihr damit ein weiteres bezauberndes Kichern.
San Marco kommt in Sicht und ich steuere den Steg direkt vor dem Hotel an, in dem ich fast mein gesamtes Leben verbracht habe. Es ist seltsam, das Tau selbst um den Pfahl zu schlingen und nicht nur dabei zuzusehen. Vielleicht gewöhne ich mich nie daran. Doch so, wie die Dinge jetzt stehen, muss ich das wohl auch nicht.
Nachdem ich das Boot angebunden habe, reiche ich Carly die Hand und helfe ihr auszusteigen. Wieder nehme ich ihr die Aktentasche ab und trage sie für sie zum Eingang des Hotels.
Das Gebäude ist ziemlich alt, aber Papa hat es gut in Schuss gehalten. Auch der neue – vorübergehende – Eigentümer, Giacomo Spinola Senior, hat bisher gute Arbeit geleistet. Die alte Glasdrehtür, die aus den 1920ern stammt, ist geölt und glänzt in der Sonne, als ich hinter Carly das Hotel betrete.
Auf dem Schachbrettmuster-Boden liegt ein dunkelroter Teppich, der zu dem Schalter führt, hinter dem die Leute einchecken können. Obwohl es Tag ist, sind die Kronleuchter voll erhellt. Gold und Kristall dominieren diesen Raum, in dem die Möbel so alt sind, dass sie wohl schon hier standen, als Österreichs Kaiser die Herren über Venedig waren. Doch alles ist poliert und wird regelmäßig gewartet und repariert. Zumindest war es früher so.
Zielstrebig geht Carly zur Rezeption. Den Mann hinter dem Tresen kenne ich nicht. Das ist gut so, denn das heißt, er kennt mich auch nicht. Trotzdem halte ich den Kopf gesenkt. Trotzdem sehe ich, wie er mit seinem Zahnpasta-Lächeln Carly begrüßt.
»Ich habe angewiesen, dass dreißigtausend Euro für meine anstehenden Termine bereitliegen«, sagt sie zu dem Rezeptionisten, dessen glatt gegelte Haare glänzen.
Ich kenne den Kerl nicht, aber ich mag ihn nicht. Er wirkt schmierig und das Lächeln, das er Carly schenkt, bringt mich zum Würgen. Dass er je bei ihr landet, kann er sich gleich abschminken.
»Natürlich, Signora Fieschi«, sagt er unterwürfig und verneigt sich vor ihr.
Der Brechreiz wird immer schlimmer.
»Ich hole das Geld sofort«, verkündet er und wendet sich der schmalen Bürotür zu.
»Brauchen Sie mich heute noch, Signora?«, frage ich, nachdem er fort ist.
Sie dreht sich zu mir um und der feine Geruch ihres Parfums steigt mir in die Nase. Es erinnert mich an Lotus und Rose, mit einem Hauch Zitrus. Der Duft ist genauso elegant wie Carly selbst.
»Nein, Tiziano. Vielen Dank. Erst morgen.« Sie räuspert sich. »Die Abendessen sind übrigens kommenden Mittwoch und Freitag.«
»Also in fünf und sieben Tagen«, erwidere ich. »Dann können wir noch besprechen, ob ich meinen Anzug bei mir haben soll, wenn ich Sie morgens abhole, oder …«
»Ja, das klären wir am besten Dienstag«, unterbricht sie mich mit einem nervösen Lächeln auf den Lippen. »Nicht jetzt.«
Ich bin nicht sicher, warum sie nicht darüber sprechen will. Immerhin hat sie mich förmlich angefleht, sie zu begleiten. Aber es kann mir egal sein. Sobald ich das Geld habe, ist für mich alles in Ordnung.
»Darf ich Sie um Ihre Telefonnummer bitten?«, fragt sie leise. »Für den Fall, dass sich etwas verschiebt oder ich mich verspäte, oder …«
Ich hebe eine Hand, greife nach dem kleinen Block und dem Stift, die auf dem Tresen liegen, und schreibe meine Nummer auf. Carly nimmt den Zettel entgegen und steckt ihn ein.
»Danke«, flüstert sie.
Ich nicke und senke den Kopf, um nicht erkannt zu werden, als der Rezeptionist mit einem weiteren Mann aus dem Büro kommt.
»Signora, das Geld«, meint der Hotelangestellte und händigt Carly ein dickes Kuvert aus. »Ihr Vater bittet Sie nur, die Abrechnungen nicht zu vergessen für die Beträge, die Sie ausgeben.«
»Das werde ich nicht. Vielen Dank.«
Sie nickt den beiden Männern zu, wendet sich zu mir um und führt mich ein Stück abseits zu einer Säule, als wolle sie, dass uns niemand beobachten kann.
»Darf ich Sie um eine offizielle Rechnung ersuchen, in der Sie die Leistungen genau aufschlüsseln?«, fragt sie leise und hält mir das Kuvert hin.
»Natürlich, Signora. Ich weiß nur nicht, ob ich es bis morgen schaffe.«
»Bis zum Ende des Arrangements reicht es.«
Sie hebt den Umschlag höher. Ich greife langsam danach. Es soll nicht aussehen, als wäre ich verzweifelt oder wollte hier schnell weg.
Unsere Finger berühren sich und ein warmer Schauer geht durch meinen Körper. Bevor ich verstehe, was er bedeutet, zieht Carly die Hand zurück.
»Ich habe mir übrigens die Plakette in Ihrer Gondel angesehen und kenne die Lizenznummer«, sagt sie ernst.
Ich weiß, worauf sie hinauswill. Für den Fall, dass ich morgen nicht auftauche, kann sie mich über die Nummer ausfindig machen lassen. »Ich stehe zu meinem Wort, Signora. Morgen, halb acht, komme ich in die Lobby und frage nach Carly Fieschi, weil ich Sie zu Ihrem Termin in der Nähe von Santa Maria dei Miracolibringen soll. Und ich verspreche, dass ich pünktlich bin.«
Ein Schmunzeln stiehlt sich auf ihr Gesicht. »Vielen Dank, Tiziano. Dann sehe ich Sie morgen.«
Ich nicke ihr zu, während der Klang meines Namens aus ihrem Mund wieder und wieder durch meine Gedanken hallt. Irgendwie gefällt es mir, wenn sie ihn ausspricht.
Bevor ich hier dümmlich grinsend – oder, noch schlimmer, sabbernd – herumstehe, trete ich den Rückzug an und verlasse das Hotel.
Vor der Tür schlägt mir sofort der Lärm der Touristen entgegen. Hastig schiebe ich den Umschlag unter mein Shirt und eile zu meiner Gondel. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch heute meine Anmeldung für das Poker-Turnier abschließen kann. In mir macht sich eine tiefe Genugtuung breit, während ich das Boot vom Steg abstoße und zu dem Hotel vor mir aufblicke.