Ich aber meine das Leben - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Ich aber meine das Leben E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Mehr als wir ahnen, wird unser Leben von anderen Menschen und von unserer Umgebung beeinflusst. Davon weiß auch Elisabeth Dreisbach zu berichten - im Rückblick auf ihr eigenes Leben und dem Umgang mit anderen Menschen. Mit Hochachtung und Dankbarkeit erzählt sie von solchen, die ihr Leben mitgeprägt haben und die ihr Ansporn wurden, den von Gott gewiesenen Auftrag in ganzer Hingabe zu erfüllen. Die bekannte und geschätzte Autorin versteht es immer noch, ihre Leser gleichsam mitzunehmen zu den Menschen, die sie teilhaben ließen an ihren Nöten und Ängsten, Freuden und Leiden. Wie Gott dann oft auf wundersame Weise Türen öffnete, Sorgen abnahm, Sünde vergab und ein neues Leben schenkte, das wird so lebendig und auch hilfreich geschildert, dass dieses Buch viele zum Nachdenken bringen wird. Denn einmal werden wir darüber Rechenschaft ablegen müssen, ob wir durch unser Reden oder-Schweigen, durch unser Tun oder Lassen anderen zum helfenden Nächsten wurden. Elisabeth Dreisbach schreibt selbst über dieses Buch: »Ich schuf es als ein Mensch, der sich bereits am Abend des Lebens befindet und weiß, dass vielleicht nur noch eine kurze Wegstrecke vor ihm liegt. Doch resigniere ich nicht, obwohl ich spüre, dass meine Kräfte nachlassen. Ich weiß um das kommende Ende, um den Tod, aber ich meine das Leben. Es wird nicht Ende, sondern Neuanfang sein. Ich kenne das Ziel, dem ich bewusst entgegen strebe. Alle Besorgnis und menschliche Unsicherheit lege ich vertrauensvoll in die Hände dessen, der gesagt hat: "Wer an mich glaubt, der wird leben, selbst wenn er stirbt" Joh. 11,25). Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Ich aber meine das Leben

Band 28

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-149-7

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Ich aber meine das Leben

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Ich aber meine das Leben

»Was, Sie leben noch?«

Verwundert blickte ich die Frau an, die soeben das Erholungsheim betreten hatte, um hier einige Tage auszuspannen. Sie mochte empfinden, dass sie mir eine Erklärung schuldig war, und fuhr fort: »Ich dachte, Sie seien schon gestorben. Aber ich freue mich natürlich, dass Sie …« Nun war unser Gast sichtlich verlegen.

Ich versuchte, der Frau darüber hinwegzuhelfen: »Nicht wahr, Sie haben gemeint, Schriftsteller, deren Bücher man vielleicht schon vor etlichen Jahren gelesen hat, müssten bereits tot sein.«

Sie errötete, bestätigte aber meine Vermutung: »Ja, so etwa ist es. Wie schön, dass ich Sie nun persönlich kennenlerne. Seien Sie mir nur nicht böse wegen meiner ungeschickten Worte.«

»Aber nein, wie sollte ich Ihnen deshalb böse sein!«

»Wissen Sie, ich bin nur eine einfache Frau. Und da kann einem so etwas schon passieren.«

Es war nicht das erste Mal, dass ich etwas Ähnliches erlebte – und jedes Mal freute ich mich, dass ich noch am Leben war und noch Gelegenheiten hatte, meine Aufgaben zu erfüllen – vielleicht – das hoffte ich sehr – noch Bücher schreiben und im Dienste Gottes stehen zu können.

Es war einige Zeit später. Mein Mann und ich lebten schon im Ruhestand. Wir saßen am Frühstückstisch. Die Postbotin hatte gerade etliche Briefe gebracht. Bevor wir gemeinsam unsere Morgenandacht hielten, öffnete mein Mann die Umschläge, schob mir die an mich gerichteten Briefe zu und begann einen für ihn bestimmten Brief zu lesen. Plötzlich sah ich, wie er stutzte und den Kopf schüttelte. »Ich möchte nur wissen, wie die Leute auf so etwas kommen.«

Er sah meinen erstaunten Blick und fuhr fort: »Hör nur, was ein mir völlig fremder Mensch schreibt: Ich habe erfahren, dass Ihre Frau gestorben ist und möchte Ihnen mein tiefempfundenes Beileid aussprechen …« Es folgten noch einige wohlmeinende Trostworte. Einen kurzen Augenblick sahen mein Mann und ich uns an. Dann zog über unsere Gesichter ein frohes Lächeln. Über den Frühstückstisch hinweg reichten wir uns die Hände – es bedurfte keiner Worte. Jeder von uns wusste, was im Herzen des anderen vorging: Gott sei Dank, wir dürfen noch beisammen sein! Dieser gemeinsame Dank kam auch in der darauffolgenden Morgenandacht zum Ausdruck.

Das Gerücht über mein Sterben war wohl daher gekommen, weil man erfahren hatte, dass ich wegen meines kranken Herzens ins Krankenhaus musste. Aber ich lebte – und lebe noch heute, und das bedeutet, weitere Aufträge zu haben.

Als ich im Krankenhaus lag, nahm ich mir vor: Wenn ich wieder hergestellt bin, werde ich ein Buch schreiben, das den Titel haben soll: Die letzte Wegstrecke.

Nicht, dass ich lebensmüde gewesen wäre – aber es ist naheliegend und verständlich, dass ernste Krankheitsnöte Gedankengänge wachrufen, denen man in Zeiten der Gesundheit weniger Raum gibt. Dennoch muss ich von mir sagen, dass ich mich schon in den Tagen meiner Kindheit und dann mein ganzes Leben lang oft mit dem Tod beschäftigt habe. Nun, da ich vom Alter her wirklich auf der letzten Wegstrecke bin, tue ich's immer bewusster.

Aber was heißt schon letzte Wegstrecke? Hängt das unbedingt mit dem Alter oder Älterwerden zusammen? Mir fällt gerade in dieser Zeit auf, wie viele Todesanzeigen vom Sterben junger Menschen berichten. Ganz abgesehen von den vielen schrecklichen Unglücksfällen, bei denen Männer und Frauen im besten Alter und oft auch Kinder und Jugendliche dahingerafft werden.

Aus diesen Erwägungen heraus wurde mir klar, dass mein neues Buch nicht den Titel tragen dürfe: Die letzte Wegstrecke. Da fiel mir eines Nachts der Titel zu, der in mir eine große Freude auslöste: Ich aber meine das Leben.

Wiederholt bin ich gebeten worden, eine Fortsetzung des Buches »Als flögen wir davon« zu schreiben. Es ist das Buch, in dem ich aus meinem persönlichen Leben erzähle. Ich war damals sechzig Jahre alt, als ich es schrieb, und meinte, es als einen gewissen Abschluss meiner schriftstellerischen Tätigkeit betrachten zu müssen. Wenn nun dieses neue Buch erscheinen wird und Gott mich gesund erhält, habe ich bereits mein fünfundsiebzigstes Lebensjahr vollendet. Welch eine Gnade! Und was alles habe ich in den dazwischenliegenden fünfzehn Jahren erlebt! Wie vielen Menschen bin ich begegnet! Manche gaben mir Einblick in ihr Leben. Mir selbst wurde in der Abenddämmerung meines Daseins noch das Glück der Zweisamkeit geschenkt. Ich habe geheiratet und lebe nun mit meinem Mann im sogenannten Ruhestand. Vierzehn Bücher sind von mir seit der Vollendung meiner Autobiographie erschienen. Das hätte ich damals wirklich nicht zu hoffen gewagt.

Nun darf ich noch einmal ein neues Buch beginnen. Ich möchte darin manche meiner Lebenserfahrungen weitergeben – nicht, weil ich glaube, Außergewöhnliches schildern zu können, sondern aus tiefer Dankbarkeit gegenüber Gott, der mir, je älter ich werde, immer größer erscheint. Ihm habe ich unendlich viel zu danken! Darum ist es mein Wunsch, dass alles, was ich hier niederschreibe, für meine Leser zum Segen wird. Auch über den Tod und das Sterben möchte ich meine Gedanken zum Ausdruck bringen – aber immer meine ich dabei das Leben.

Eigenartig, meine allererste Kindheitserinnerung hängt mit dem Tod und mit den Tränen meiner Mutter zusammen. Das war anlässlich der Beerdigung meiner kleinen Schwester, die schon als Säugling starb. Wir lebten damals in Hamburg, wo auch ich geboren wurde. Wir fuhren zum Friedhof. Ich saß auf dem Schoß meiner Mutter in einer Droschke. Mein Vater, der vierzig Jahre lang als Offizier im evangelistischen Dienst der Heilsarmee stand, hielt selbst die Beerdigung seines Töchterchens. Unvergesslich ist mir das stille Weinen meiner Mutter. Unvergesslich aber bleibt mir auch ihre Antwort, als ich später fragte: »Wo ist Deborah jetzt?«

»Beim Heiland«, erwiderte sie. Irgendwie bedeutete mir das Trost, obgleich ich damals noch nicht hätte zum Ausdruck bringen können, wie sehr ihre Antwort bei allem Schmerz von Zuversicht erfüllt war.

In jener Zeit sang meine Mutter mit uns damals noch kleinen Kindern – keines von uns besuchte schon die Schule – Lieder, die von Himmelssehnsucht erfüllt waren. Sie prägten sich tief in mein Kinderherz ein. Ich habe sie bis zum heutigen Tag nicht vergessen:

Fort, fort, mein Herz, zum Himmel!

Fort, fort, zum Himmel zu! ln diesem Weltgetümmel ist für dich keine Ruh.

Wo Gottes Lämmlein weidet, ist eine Statt bereitet:

Da, da ist deine Ruh; fort, fort, zum Himmel zu.

Oder das andere Lied:

Wer weiß den Weg nach der oberen Stadt?

Habe das Treiben hier unten so satt.

Die Gassen beflecket, nur blutiger Streit, in Mauern verstecket sich giftiger Neid.

Droben in Zion endet der Schmerz.

Ach, nur nach Zion sehnt sich mein Herz!

Man mag die Frage stellen und Bedenken äußern, ob diese Texte passend sind für Kinder, ob sie die jungen Herzen nicht beschweren. Ich muss das verneinen. Der tiefe Glaube unserer Eltern und die innige Verbundenheit mit Gott prägten unser Familienleben, in dem solche Gedankengänge nicht nur einen bestimmten Raum einnahmen, sondern bewusst gepflegt wurden.

Doch war es nun keinesfalls so, dass ich fröhlich ans Sterben gedacht habe. Der Gedanke an den Tod hat mir immer Furcht, ja, Grauen eingeflößt. Noch heute bin ich skeptisch, wenn Menschen so leichthin sagen: »Ich fürchte mich nicht vor dem Tod!« Gewiss, ich bin davon überzeugt, dass uns die Todesfurcht genommen werden kann durch den, der den Tod besiegt hat: Christus. Von daher liebe ich auch das schlichte Gebet von Paul Gerhardt:

Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten, kraft deiner Angst und Pein.

Ohne ihn sind wir nicht imstande, dem Tod furchtlos ins Auge zu sehen. Er wird ja in 1. Korinther 15,26 auch der letzte Feind genannt, der vernichtet werden soll. Außerdem sollten wir wissen, dass bei der Schöpfung des Menschen das Sterben nicht vorgesehen war. Erst nach dem Sündenfall wurde es über die Ungehorsamen verhängt. Darum schreibt Paulus in Römer 6, 23: »Der Tod ist der Sünde Sold.« Unter Sold verstehen wir hier Bestrafung. Also: Der Tod ist die Folge der Sünde, des Abfalls von Gott. Ist es da nicht natürlich, dass wir uns vor ihm fürchten?

Über dem Abschnitt der Bibel, aus dem dieses Wort entnommen ist, steht die Überschrift: Das neue Leben. In seinen letzten Versen wird deutlich ausgesprochen, dass das Ende der Ungerechten, der Gottlosen, der Tod ist. Dann aber heißt es weiter: »Nun ihr aber seid von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden … das Ende aber ist ewiges Leben« (Römer 6, 22).

Davon soll hier die Rede sein, trotz des Wissens über den Tod, fröhlich und überzeugt.

In unserer Familie haben wir oft das Lied gesungen: Heimatland, Heimatland, o wie schön bist du! Herzinnig sehn' ich mich nach dir und deiner ewgen Ruh.

Die Welt ist meine Heimat nicht, mein Herze ist nicht hier.

O Heimat, über'm Himmelszelt, mein Herze ist bei dir!

Schon als Kind hatte ich beim Singen immer so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Das stimmte doch gar nicht! Ich sehnte mich keineswegs nach der ewigen Ruhe der Heimat über dem Himmelszelt. Wie schön war es hier auf der Erde, die ich entgegen dem, was in dem Lied zum Ausdruck kam, als meine Heimat empfand. Wenn ich von einem Todesfall hörte oder auch an einer Beerdigung teilnahm, etwa beim Tod einer Schulkameradin, dann fragte ich mich: Warum weinen sie jetzt alle? Wenn es im Himmel so viel schöner ist als hier auf Erden, dann müssten sie sich doch freuen und weiße Kleider anziehen und nicht die traurigen schwarzen Gewänder. Irgendetwas stimmt da doch nicht!

Und doch betete ich manchmal am Abend in meinem Kinderbett: »Lieber Gott, lass mich in dieser Nacht noch nicht sterben!« Ja, vielleicht gemeinsam mit Vater und Mutter, meinen drei Brüdern – aber diesen Weg musste ja doch jeder allein gehen! Das war mir schon damals bewusst. Trotz allem Draufgängertum und Unternehmungsgeist, der mich erfüllte, war ich immer ein ängstliches Kind.

Obgleich ich nur ungern ans Sterben dachte, hätte ich die sehnsuchtsvollen Himmelslieder meiner Mutter doch nicht missen mögen. Sie hüllten mich mit meiner Angst gleichsam in einen schützenden Mantel.

Vor allem war ich mir nicht sicher, ob ich vor Gott bestehen könnte wenn ich vor seinem Angesicht zu erscheinen hatte. Zwar wollte ich immer ein gutes Kind sein, aber mit dem Gehorsam gegenüber meinen Eltern haperte es oft. Und wenn mich meine drei Brüder reizten, wehrte ich mich sehr heftig. Nein, man konnte mich nicht unbedingt friedliebend und verträglich nennen. In der Schule war ich oft vorlaut und unruhig. Zu den Streichen, die meine Geschwister anstellten, ließ ich mich leicht verleiten, anstatt sie zum Guten zu mahnen. In Berlin habe ich das Geld, das wir im Kindergottesdienst in das Kollektenkörbchen einlegen sollten, ebenso wie meine Brüder einmal dazu verwandt, den Heimweg nicht zu Fuß zurückzulegen, sondern mit der Pferdedroschke zu fahren. Das kostete damals 10 Pfennig. Ich war auch dabei und habe mich nicht zurückgehalten, als meine Brüder einer alten Frau, die drei Hunde ausführte, herzlos »Hundemutter« nachschrien. O ja, ich wusste ganz genau, dass ich kein braves Kind war, obgleich ich mir immer wieder große Mühe gab und darüber Tränen vergoss, weil es mir so oft nicht gelang. Kein Wunder, dass ich als Schulkind am Abend immer wieder dachte, obgleich unsere Mutter vor dem Schlafengehen bereits mit uns gebetet hatte: Ich will lieber noch einmal beten, falls ich diese Nacht sterben muss. Irgendwie wollte ich die Gunst des lieben Gottes durch ein nochmaliges Gebet erkaufen.

Ich war noch im Kindesalter, als mich schon die letzten Worte Sterbender interessierten. »Was hat er oder sie noch gesagt?« fragte ich. Wie sehnte sich mein junges Herz danach, auch einmal so sterben zu können wie mein junger, noch nicht zwanzigjähriger Onkel, von dem uns meine Mutter erzählte, dass er triumphierend in die ewige Welt Gottes gegangen sei. Zu den Anwesenden im Sterbezimmer hatte er mit leuchtenden Augen gesagt: »Jetzt kommt Jesus mit den Engeln, mich zu holen. Ja, Herr, ich bin bereit!«

So war ich immer hin und her gerissen von Todesangst und Himmelssehnsucht.

Es gibt Menschen, die es nicht ertragen, dass man in ihrer Gegenwart vom Sterben redet. Sie vermeiden es auch möglichst, über einen Friedhof zu gehen. Und doch ist nichts so sicher wie der Tod. Schon oft habe ich in meinen Vorträgen, Andachten oder Predigten gesagt: Die bewusste Beschäftigung mit dem Tod hilft, in rechter Weise zu leben. Man handelt, redet, schweigt, urteilt und reagiert anders, wenn man weiß, dass das Leben hier auf Erden begrenzt und der Tod nicht das letzte ist.

»Woher wollen Sie das wissen?« hat man mich oft gefragt. »Sind Sie dessen so sicher?«

Ich kann darauf nur mit Worten der Bibel antworten: »Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, und danach das Gericht.«

Ist es nicht letztlich der Gedanke an das kommende Gericht, das dem Menschen Angst vor dem Sterben einflößt? Oder ist es das Fremde, das Nichtwissen? Keiner, der gestorben ist, konnte je ins Leben zurückkehren und berichten, was er erlebt hat. Vom Diesseits ins Jenseits kann man auch nicht zu zweit oder mehrere zugleich gehen, selbst wenn Menschen im gleichen Augenblick abgerufen werden. Diese Wegstrecke muss jeder alleine zurücklegen. Ob darin nicht auch der Grund aller Todesfurcht liegt?

Mir ist vor Jahren der Gedanke an das kommende Gericht in einem gänzlich neuen Licht erschienen, ja, in einem wunderbaren Licht. Da sagt Jesus in Johannes 5, 24: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.«

Ich hatte dieses Wort schon oft gelesen. Aber als mir dafür die Augen aufgetan wurden, als ich seine Größe erfasste, da war es mir, als hätte ich ein unbeschreiblich herrliches Geschenk empfangen. Muss bei dieser Zusage Christi nicht alle Todesfurcht in einem Augenblick von uns weichen? Eine große, unsagbare Freude erfüllte mein Herz, und immer, wenn wieder einmal die Angst vor dem Sterben nach mir greifen will, muss ich mir nur dieses Wort ins Gedächtnis zurückrufen, und ich werde still und froh. Das ist in der Tat Leben und nicht Tod.

Ewiges Leben beginnt ja nicht erst im Jenseits, sondern schon hier auf Erden und wird in geheimnisvoller Weise dem geschenkt, der an Jesus Christus glaubt und sein Leben ihm unterstellt. Ewiges Leben ist nicht abhängig von unseren guten Werken, sondern ein Geschenk der Gnade Jesu Christi für den, der an ihn und an sein für uns vollbrachtes Opfer glaubt.

Dieses Wissen verändert die Situation vollständig. Ich muss mich nicht in mühevollem Tun anstrengen, um mir den Himmel zu verdienen, sondern er ist mir bereits geschenkt. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Die Annahme dieses Geschenks verpflichtet zum Dank, den ich durch völlige Hingabe meines Lebens an Gott zum Ausdruck bringen kann.

Unlängst erzählte mir eine Dame vom Sterben ihrer Mutter. »So möchte ich auch einmal aus dieser Welt gehen«, sagte sie. »Ich war dabei, als sie die Augen für immer schloss. Sie ist wirklich würdig gestorben.«

Würdig sterben! Wer von uns möchte das nicht? Aber ist das in unsere Hand gegeben? Gewiss, der eine ist vielleicht tapferer als der andere. Es gibt Menschen, die von Natur aus viel Mut haben und unerschrocken sind. Aber reicht das aus, um würdig sterben zu können? Bringt eine solche Aussage nicht eine gewisse Selbstsicherheit zum Ausdruck, die ein Mensch, der, belastet mit körperlichen Nöten, dem letzten Augenblick entgegensieht, kaum noch aufzubringen vermag? Kann man erwarten, dass jemand, der unter heftiger Atemnot oder großen Schmerzen leidet, noch so viel Willenskraft aufbringt, um in Würde zu sterben? Ich meine, wenn wir im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit dem Tod getrost ins Angesicht blicken können, dann ist das Gnade und Gottes Geschenk an uns. Wir können nichts Besseres tun, als zu beten: Mein Gott, ich bitt' durch Christi Blut, mach's nur mit meinem Ende gut. Nichts hab' ich zu bringen – nicht einmal Würde – alles, Herr, bist du!

Kurz bevor die schwedische Schriftstellerin Clara

Nordstrom starb, schrieb sie mir mit ihrer noch immer klaren und sehr harmonischen Schrift einen Brief, in dem es unter anderem heißt: »… Ich liege auf meinem letzten Lager und warte auf den Abruf. Ich habe keine Angst. In mir ist ein tiefer Friede und ein großer Dank.«

Wer ihre Bücher – »Bengta« und andere, vor allem aber jenes, in dem sie aus ihrem Leben erzählt – gelesen hat, der weiß, was diese hochbegabte und doch so kindlich gläubige Frau alles durchlitten hat. Ihr ganzes Leben war Kampf. Auf die Höhen der Freude und des Glücks wurde sie ebenso geführt wie durch Tiefen namenlosen Leides und größter Enttäuschung. Nur durch die Kraft ihres kindlichen und doch so großen Glaubens war sie imstande, durchzuhalten. In wunderbarer Weise durfte sie unter den Lasten reifen, die sie innerlich trug.

Ein alter katholischer Priester war ihr letzter Seelsorger. Er wurde ihr auf der letzten Wegstrecke zur großen Hilfe. Er geleitete sie auch zu Grabe und sprach dort von dem wunderbaren Frieden, der von ihrem Kranken- und Sterbebett ausgegangen war.

Ein anderes Erlebnis: Ich besuchte eine mir bekannte ältere Dame, die ich viele Jahre nicht gesehen hatte. Wir wussten uns manches von den Erlebnissen der vergangenen Jahre zu berichten, vor allem von den wunderbaren Führungen Gottes. Freudig bekannten wir, dass es sich lohnt, Jesus Christus nachzufolgen, dessen Wort im Wechsel der Zeiten das einzig Beständige sei.

Diese Dame erkrankte. Sie lebte bei ihrem Sohn, einem Arzt, der sie auch betreute. Obgleich es ihr an nichts fehlte, was das Leben angenehm machen konnte, wurde ihre Himmelssehnsucht immer stärker. »Wann darf ich denn endlich heimgehen?« fragte sie fast täglich ihren Sohn, wenn er nach ihr schaute.

»Wenn Gottes Stunde für dich da ist«, antwortete er, der ebenfalls ein bewusster Christ ist. Eines Morgens fand er seine Mutter in Tränen aufgelöst.

»Nun habe ich gestern abend so gemeint, meine letzte Stunde sei gekommen oder ich darf in dieser Nacht heimgehen – und nun bin ich immer noch da. Wie lange dauert es denn noch?«

»Hab Geduld, Mutter!« tröstete sie der Sohn. »Es ist sicher bald soweit, dann darfst du heimgehen.« Kurz darauf starb sie.

Werden wir da nicht unwillkürlich an das Lied erinnert, das in früheren Jahren so oft gesungen wurde und das man heute leider kaum noch hört:

Lasst mich gehn, lasst mich gehn, dass ich Jesum möge sehn; meine Seel ist voll Verlangen, ihn auf ewig zu umfangen und vor seinem Thron zu stehn.

Es gibt aber auch andere Erlebnisse. Vor einiger Zeit besuchte ich eine achtzigjährige Dame, eine hochintelligente, liebenswerte Frau. Sie leidet schon länger an einer schmerzhaften Krankheit. Ich war kaum in ihrer Wohnung, da sagte sie mir: »Wenn ich nur schon tot wäre. Am liebsten würde ich in den nächsten Minuten Umfallen und nicht mehr zu mir kommen. Oft bewege ich in mir den Gedanken an Selbstmord.«

Als ich daraufhin mit ihr über das Leben nach dem Tode sprach, sagte sie: »Daran glaube ich nicht, und ich wünsche auch nicht, in einer anderen Welt weiterzuleben.«

Ich wünsche es nicht! Ist hierfür unser Wünschen und Wollen maßgebend? Für uns Christen kommt doch nur das in Frage, was die Bibel sagt. Viele Stellen sprechen unzweideutig von dem, was nachher kommt.

Wie klar und tröstlich spricht Jesus von dem Zukünftigen: »Euer Herz erschrecke nicht! Glaubet an Gott und glaubet an mich. In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, würde ich dann zu euch gesagt haben: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wieder kommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin« (Johannes 14,1-3). Menschen, die mit Christus rechnen, wissen von dieser lebendigen Hoffnung und leben ihr entgegen.

Vor mir liegt eine Todesanzeige. Ein Mann, in der Mitte des Lebens, ein hochbegabter Musiker, ist gestorben. So sehr uns diese Nachricht erschüttert hat, so froh waren wir gleichzeitig über das, was wir von seinem Heimgang hörten. Als er sein Ende nahen fühlte, und seine Frau noch mit ihm gebetet hatte, kam über seine Lippen der Name, von dem uns die Schrift sagt, dass in keinem anderen Heil sei. Dreimal sprach er ihn aus: Jesus!

Wenn seine Gattin auf die Todesanzeige den Vers setzen ließ: Ich will den Herrn loben allezeit. Sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein, so sehe ich darin ein deutliches Zeichen dafür, dass sie erkannt hat, wie wunderbar trotz aller vorausgegangenen körperlichen Not das Sterben ihres Mannes war, der sich als Letztes mit Jesus Christus befasste. Wer so stirbt, der stirbt wohl. Und: »Wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll errettet werden« (Joel 3, 5).

Ich habe mich oft mit jenem Mann beschäftigt, von dem uns in der Leidensgeschichte Jesu erzählt wird. Wir begegnen ihm, nachdem Jesus bereits ausgelitten hatte: Joseph von Arimathia, ein frommer Ratsherr, der auch ein Jünger Jesu war, allerdings heimlich, weil er sich vor den Juden fürchtete. Er wartete auf das Reich Gottes, heißt es von ihm in der Schrift. Dieser Mann bat Pilatus um den Leichnam Jesu, nachdem dieser am Kreuz gestorben war. Er beteiligte sich auch an der Kreuzesabnahme. Zu ihm gesellte sich Nikodemus, ein Mitglied des Hohen Rates, der einmal in der Nacht zu Jesus gekommen war, um ihn nach den Geheimnissen des Reiches Gottes zu fragen – also auch ein Wartender. Fürchteten die beiden vorher, sich öffentlich zu diesem Jesus von Nazareth zu bekennen, so war es ihnen nun ein Herzensanliegen, wenigstens dem toten Herrn einen Liebesdienst zu erweisen. Sie nahmen ihn vom Kreuz. Auf den Bildern sieht man dabei auch noch Johannes, der als einziger der zwölf Jünger Jesu bei ihm ausgehalten hatte, und einige Frauen, unter ihnen Maria, die Mutter des Heilands.

Joseph von Arimathia hatte sich ein Felsengrab gekauft, ein neues Grab, in dem noch kein Toter gelegen hatte. Wie oft mag er dort vor dieser Gruft mit dem Gedanken gestanden haben: Hier also werde ich einmal liegen. Sicherlich hat er sich auch mit der Frage beschäftigt: Und dann? Ist damit alles aus? Was für einen Sinn hat das Leben, wenn plötzlich alles ausgelöscht ist? Oder geht es doch noch weiter? Vielleicht hat er sich auch gefragt, nachdem er sein Grab Jesus überlassen hatte, wo er nun für sich ein neues Grab finden würde.

Und dann kam nach drei Tagen die unfassliche Kunde: Das Grab ist leer. Jesus liegt nicht mehr dort, wo man ihn hingelegt hat. Er, Joseph von Arimathia, eilte zu der Felsenhöhle und stand fassungslos davor. Die verschiedenen Aussagen drangen an sein Ohr: Seine Jünger haben den Leichnam gestohlen! Engel sind gesehen worden, und die Frauen, die bei der Kreuzigung ausgehalten hatten und bei der Grablegung zugegen waren, behaupten sogar, dem Herrn selbst begegnet zu sein und ihn gesprochen zu haben. Ist so etwas zu glauben? Jesus soll von den Toten auferstanden sein?

Joseph von Arimathia stand kopfschüttelnd vor seinem leeren Grab. Wie gerne würde er es bejahen, dass der Herr lebt. Hat man davon nicht auch schon gehört, dass er oft vor seinem Tod seinen Jüngern gesagt habe, es würde Außergewöhnliches geschehen? Doch hier war nun das leere Grab!

Vielleicht hatte der fassungslose Mann inzwischen Gelegenheit gehabt, Petrus und Johannes zu sprechen oder sonst einen, der dabei war, als Jesus plötzlich trotz der verschlossenen Türen im Kreise seiner Jünger stand und sie grüßte: »Friede sei mit euch!« Er lebte also wirklich?

Immer wieder stand Joseph von Arimathia vor dem leeren Grab. Aber er empfand plötzlich kein Schaudern, keine Angst mehr. Irgendwie war das nicht mehr dasselbe Felsengrab. Jesus war hindurchgegangen. Vielleicht hätte der einsame Mann es nicht vermocht, es in Worten auszudrücken, was in ihm vorging. Wenn dem so war, dass dieser Nazarener lebte, dann hatte er mit seiner Auferstehung auch diesem Grab den Schrecken des Todes genommen. War damit nicht auch ihm die Gewissheit gegeben, dass er auferstehen würde?

Wie gut kann ich die Gedankengänge des Mannes aus Arimathia verstehen. Ja, so ist es. Der auferstandene Herr ist durch seine Auferstehung auch durch unser Grab hindurchgegangen und hat ihm die Schrecken des Todes genommen! Wer an mich glaubt, sagt Jesus, der wird leben, ob er gleich stürbe.

Sowohl Joseph von Arimathia als auch Nikodemus gehörten zu denen, die auf das Reich Gottes warteten. Auf das Warten, auch auf unsere Erwartung kommt es letztlich an. Worauf warten wir?

Ich wurde unlängst gebeten, im Laufe einer Freizeit für Senioren über das Thema zu sprechen: Mit frohem Herzen alt werden. Vor dreißig Jahren hätte ich nicht gewagt, darüber zu reden. Man muss selber erst auf der absteigenden Linie des Lebens sein, um diese Gedankengänge bewusst zu bewegen. Alt werden möchten wir alle, aber alt sein will keiner. Anlässlich dieses Referats stellte ich auch dort die Frage: Worauf warten wir?

Ein junger Mensch wartet anders als ein älterer. Planung, Zielsetzung und Wünsche sind voller Hoffnung.

»Worauf soll ich denn noch warten?« fragt resigniert manch alter oder auch nur älter gewordener Mensch. Ehe, Familie, Besitz, Erfolg, Geld und Gut – alles bekommt ein anderes Gesicht, wenn die Lebenskräfte schwinden, wenn körperliche Schwäche die Pläne durchkreuzt und man einfach nicht mehr kann, wie man will.

Man muss nur einmal versuchen, in den Gesichtern älterer Menschen zu lesen. Wieviel Freud- und Hoffnungslosigkeit, wieviel Resignation begegnet einem da. In der Tat, man sieht unter ihnen wenig wirklich frohe Menschen. Ihr oft stumpfer Gesichtsausdruck scheint zu fragen: Was bleibt mir? Was hat mir das Leben noch zu bieten? Wohl habe ich mein Auskommen, ich leide keine Not, aber sonst? Wer braucht mich noch? Wer wartet auf mich? Wem bedeute ich noch etwas? Natürlich gibt es auch andere Männer und Frauen, die aus ihrem Leben noch etwas machen, die ihre Hände nicht tatenlos in den Schoß legen. Sie freuen sich an ihren Kindern und Enkeln. Sie pflegen Verbindungen mit der Nachbarschaft, lieben die Natur. Sie teilen ihren Tag sinnvoll ein und finden genügend Gelegenheiten, hier und da nützlich zu sein. Aber ein großer Prozentsatz älterer Leute scheint nichts mehr vom Dasein zu erwarten. Kann man das überhaupt noch Leben nennen? Gleicht es nicht mehr einem Dahinvegetieren? Worauf warten wir? Ein Mensch, in dem alles Warten erloschen ist, lebt stumpfsinnig dahin.

Allerdings hat man heute auch bei jungen Menschen oft den Eindruck, dass sie auf nichts mehr warten und schon in ihrer Jugend vom Leben enttäuscht sind. Ob es daher kommt, dass sie sich vieles vorwegnehmen, wozu sie noch gar nicht reif sind – aus der unbestimmten Angst heraus, das Leben könnte an ihnen Vorbeigehen?

In Lukas 2 wird uns von zwei Menschen erzählt, die ebenfalls wie Joseph von Arimathia und Nikodemus zu den Wartenden gehörten. Der eine ist Simeon, von dem wir nicht mit Sicherheit sagen können, dass er schon ein alter Mann war. Die Maler haben ihn gewöhnlich als solchen dargestellt, vielleicht aus dem Grunde, weil er, nachdem er das Jesuskind auf den Armen seiner Mutter als den erwarteten Messias erkannt hatte, die Worte ausrief: »Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen« (Lukas 2, 29). Das also war die Sehnsucht und das Ziel seines Lebens gewesen, den von Gott gesandten Erlöser der Menschheit zu erkennen. – Da diese Erwartung nun erfüllt war, wusste er, dass ihm nichts Größeres mehr begegnen konnte. Nun war er bereit, im Frieden heimzugehen. Also auch er, Simeon, gehörte zu den Wartenden. Wir wissen über ihn und sein Wesen nur wenig. Aber das, was uns davon gesagt wird, ist für ihn bezeichnend: Er war fromm, gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist lebte in ihm. Wie könnte es anders sein, als dass ein solcher Mensch von dem rechten Warten erfüllt ist? Ich kann mir nicht vorstellen, dass auf seinem Gesicht Resignation zu lesen war oder dass seine Augen freudlos blickten.

Es gibt auch in unserer Zeit Menschen, die durch dieses von Gott gewirkte Warten geprägt sind. Man kann sie Segensträger, Boten des Friedens und der Freude nennen. Ob wir zu ihnen gehören?

Im gleichen Kapitel wird uns auch von Hanna berichtet, einer Witwe von nahezu 84 Jahren. Sie lebte im Tempel und diente Gott mit Fasten und Beten. Man bedenke: eine Frau in diesem Alter! Was heißt das wohl, wenn von ihr gesagt wird: Sie kam nimmer vom Tempel. Das will doch sagen, dass sie im Hause Gottes daheim war, dass sie Gott zugewandt lebte und nach all den Erfahrungen ihres Erdendaseins nichts so sehr wünschte als dies, ihre ganze Zeit in der Gemeinschaft mit Gott zuzubringen. Sie gehörte zweifellos zu denen, die das Wort Gottes ernstnahmen, das in Psalm 32, 8 steht: »Ich will dich mit meinen Augen leiten.« Das aber setzt voraus, Auge in Auge mit Gott zu leben. Welch ein großes Wort!

Als Maria und Joseph das Kind Jesus nach damaliger Sitte in den Tempel trugen, um es Gott darzubringen, trat auch Hanna hinzu. Über sie, die ebenfalls Wartende, kam das große Erkennen: Er ist der Messias! Und sie pries und lobte Gott und redete von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten (Lukas 2, 38).

Auch hier ist keine Altersresignation, keine Hoffnungslosigkeit, sondern Freude am Herrn, die bis ins hohe Alter ihre Stärke ist.

Wenn ich sage, dass es älteren Leuten besonders schwerfällt, etwas loszulassen, dann weiß ich das aus eigener Erfahrung. Ich würde es sonst nicht wagen, solches zu behaupten. Die Erkenntnis, ich kann nicht mehr so wie früher oder ich soll und darf nicht mehr so leben, wie ich es bisher gewohnt war, will nur schwer in uns eingehen.

Der eine muss sich von seinem Beruf trennen, an dem er mit ganzem Herzen hing. Der andere muss sich von irgendwelchen Liebhabereien, etwa Gartenarbeit, Wandern oder Sport lösen, weil sein Gesundheitszustand es fordert und der Arzt ihm den Rat gibt: Machen Sie langsam! Schonen Sie sich! Dieses »Sich-schonen« kann einen geradezu aufregen. »Soll ich denn etwa die Hände in den Schoß legen? Dann kann man mich gleich begraben!«

Wie schwer mag es beispielsweise manchem Landwirt fallen, seinen Hof dem Sohn zu übergeben, wenn er es kräftemäßig nicht mehr schafft, ihn zu bewirtschaften. Und wie mag er daran schlucken müssen, wenn dieser oder die Schwiegertochter ihn ermahnen: »Vater, lass das! Es ist zu viel oder zu schwer für dich! Du weißt doch, dass dich der Arzt gewarnt hat.« Nein, viele junge Menschen können nicht verstehen, was Vater oder Mutter empfinden, wenn sie »ausgeschaltet« werden. Es geht auch ohne sie, mögen sie noch so sehr in ihrem Innern meinen, dass sie selbst, die sie mehr Erfahrung haben, es doch viel besser könnten als die Jungen. Manchmal gibt es dann harte, lieblose Worte; denn nicht immer ist der ältere Mensch imstande, in der Weisheit des Gereiften zu schweigen.

Loslassen, das will gelernt sein. Ich erinnere mich gut, wie über meinen von Natur aus zu Frohsinn veranlagten Vater es fast wie Schwermut kam, als er sich schon mit sechzig Jahren pensionieren lassen musste. Die Ärzte rieten ihm wegen seines Herzleidens, in den Schwarzwald zu ziehen und sich möglichst zu schonen. Nur dann könne er seiner Familie noch erhalten bleiben. Er hatte einen Herzinfarkt gehabt. Damals war das noch nicht ein so allgemein bekannter Begriff wie heute. Lange Zeit hatte er im Krankenhaus gelegen und sich nicht erholen können. Liegend war er dann mit dem Zug von Essen nach Karlsruhe und von dort aus im Krankenauto nach Herrenalb gebracht worden, wo mein ältester Bruder ganz in der Nähe des Waldes eine Wohnung für die Eltern eingerichtet hatte. In den fast vierzig Jahren im Dienst der Heilsarmee hatten meine Eltern keine eigenen Möbel besessen. Alle paar Jahre wurden sie versetzt und kamen jedes Mal in vollständig eingerichtete Dienstwohnungen. Es wäre viel zu kostspielig und umständlich gewesen, bei den vielen Versetzungen jedes Mal die Möbel transportieren zu müssen. Uns Kindern gefiel das sehr gut. In jeder neuen Wohnung fanden wir eine andere Einrichtung vor – einmal sehr einfach, das andere Mal mehr unseren Vorstellungen und Wünschen entsprechend. Nun aber bezogen meine Eltern zum ersten Mal eine Wohnung mit eigenen Möbeln. Dafür stellte ihnen die Heilsarmee eine bestimmte Summe zur Verfügung. Viel war es nicht, aber die Eltern waren gewöhnt zu sparen und hatten im Dienst für Gott nie persönliche Ansprüche gestellt. Sie wussten ja, nachdem sie sich als junge Menschen diesem Werk zur Verfügung stellten, dass sie ein einfaches Leben gewählt hatten. Nie konnten sie sich Sonderwünsche leisten.

Nun also gab es eigene Möbel! Mein Vater war viel zu krank, als dass er sie nach eigener Wahl hätte aussuchen können. Meine Mutter konnte ihn in jener Zeit nicht verlassen. So schickten sie das für Möbel bestimmte Geld kurz entschlossen dem ältesten Sohn, der damals in Pforzheim tätig war, und beauftragten ihn, die Wohnungseinrichtung zu kaufen. Es war schon für alle ein Ereignis. Diese Möbel waren nun das Eigentum unserer Eltern. Nein, es waren wirklich keine teuren Möbel, aber wir fanden sie alle schön und waren darüber glücklich. In jener Zeit waren wir Geschwister schon alle berufstätig und kamen nur besuchsweise nach Hause.

Aber trotz der schönen Wohnung, trotz der herrlichen Gegend und der guten Schwarzwaldluft lag über meinem Vater ein Schatten. Dann und wann kam sein Humor wieder zum Vorschein. Er war nie ein Kopfhänger gewesen und bemühte sich nun, das Schöne und Beglückende der augenblicklichen Lage zu sehen und sich daran zu freuen. Freundlich stimmte er meiner Mutter zu, wenn sie einen bunten Wiesenstrauß nach Hause brachte und ihn fragte: »Ist der nicht schön?«

»Doch, Mama, wunderschön!«

Oder wenn meine Mutter fragte: »Hörst du das Flöten der Amsel auf der Spitze des Lindenbaumes?«, dann nickte er. »Ja, ich höre es.«

Wann hatte er in Berlin oder Hamburg, in Königsberg oder Leipzig aus solcher Nähe eine Amsel jubilieren hören? Dennoch drückte ihn das Heimweh nach seiner Arbeit in den Großstädten, wo er sich ein Leben lang um die Alleingelassenen und Gestrandeten gekümmert hatte. Da halfen kein noch so schöner Waldspaziergang und kein bunter Wiesenstrauß oder Vogelgesang.

Das Loslassen fiel ihm unsagbar schwer. Um meiner Eltern willen gab ich damals meinen Dienst in der Heilsarmee auf, in der auch ich zehn Jahre lang als Leiterin von Missionsstationen tätig gewesen war, und zog zu ihnen nach Herrenalb. Ich wollte meiner Mutter beistehen, wenn es das Leiden des Vaters erforderte.

Wie oft habe ich ihn besorgt angeblickt. Ich sah, dass er litt. Nein, er wollte nicht undankbar sein! Ihm ging es – äußerlich gesehen – so gut wie seit Jahren nicht. Die Pension war zwar nicht üppig, aber sie reichte aus. Sein Gesundheitszustand hatte sich gebessert, und im Schwarzwald gewann er neue Freunde. Aber er konnte es einfach nicht verwinden, dass er seine geliebte Arbeit frühzeitig hatte aufgeben müssen. Erst als man ihn verschiedentlich in Herrenalb bat, einen Gottesdienst in der Kapelle der Evangelischen Gemeinschaft zu übernehmen oder dann und wann auch eine Bibelstunde in der etwa eineinhalb Stunden entfernten Filialgemeinde Loffenau, wich wenigstens stundenweise der Schatten von seinem Gesicht.

Bald fühlte er sich wieder soweit erholt, dass er meinte, eine Evangelisationsreise in verschiedenen Städten Deutschlands durchführen zu können. Er wollte so gerne noch einmal die alten, ihm liebgewordenen Arbeitsplätze aufsuchen. Seit seiner Eheschließung war er es gewöhnt gewesen, dass meine Mutter an seiner Seite mit ihm tätig war. Die Heilsarmee bietet der Frau die gleichen Möglichkeiten wie dem Mann. Als Divisionsoffiziere (Distriktsleiter) mussten unsere Eltern viele Reisen unternehmen. Doch diesmal konnte meine Mutter ihn nicht begleiten.