"Ich brauche einen Liebhaber, der mich am Denken hindert" - Michaela Karl - E-Book

"Ich brauche einen Liebhaber, der mich am Denken hindert" E-Book

Michaela Karl

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Beschreibung

Das unangepasste Bohèmienne-Leben und der tragische Tod von Katherine Mansfield - Die neue große Biografie von Bestsellerautorin Michaela Karl

Heute von Leser*innen weltweit verehrt, war Katherine Mansfield (1888-1923) zu ihren Lebzeiten vor allem eins: unbeliebt. Anfang des 20. Jahrhunderts kommt die gebürtige Neuseeländerin nach London, mit dem Ziel, eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Im Dunstkreis der legendären Bloomsbury Group sorgt sie für Furore – und Ärger. Virginia Woolf & Co empfinden sie als »literarische Unterwelt«, sie selbst hält sich für ein Genie. Gesegnet mit Kreativität, Talent und Humor schafft sie in kürzester Zeit ein herausragendes Werk und kämpft zugleich gegen ihre zahlreichen Dämonen. Doch der härteste Kampf ihres Lebens steht ihr erst noch bevor … Michaela Karl zeichnet ein umfassendes Bild dieser widersprüchlichen Künstlerin und wirbt zugleich für ihren Wahlspruch: Leben und leben lassen.

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Zum Buch

Heute von Leser*innen weltweit verehrt, war Katherine Mansfield (1888–1923) zu ihren Lebzeiten vor allem eins: unbeliebt. Anfang des 20. Jahrhunderts kommt die gebürtige Neuseeländerin nach London, mit dem Ziel, eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Im Dunstkreis der legendären Bloomsbury Group sorgt sie für Furore – und Ärger. Virginia Woolf & Co empfinden sie als »literarische Unterwelt«, sie selbst hält sich für ein Genie. Gesegnet mit Kreativität, Talent und Humor schafft sie in kürzester Zeit ein herausragendes Werk und kämpft zugleich gegen ihre zahlreichen Dämonen. Doch der härteste Kampf ihres Lebens steht ihr erst noch bevor …

Michaela Karl zeichnet ein umfassendes Bild dieser widersprüchlichen Künstlerin und wirbt zugleich für ihren Wahlspruch: Leben und leben lassen.

Zur Autorin

MICHAELAKARL promovierte 2001 an der FU Berlin mit einer Arbeit über Rudi Dutschke. Ihre Biografien über Dorothy Parker, Zelda und F. Scott Fitzgerald, Unity Mitford, Bonnie & Clyde, Maeve Brennan und Isadora Duncan wurden vom Publikum geliebt und von der Presse hochgelobt. Michaela Karl ist Mitglied der Münchner Turmschreiber. 2020 erhielt sie den Kulturpreis Bayern, 2022 wurde sie mit dem Bayerischen Poetentaler ausgezeichnet.

MICHAELA KARL

Ich brauche einen Liebhaber, der mich am Denken hindert

KATHERINE MANSFIELD

Eine Biografie

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Copyright © 2023 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung und Covermotiv: semper smile, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26010-1V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

In Memoriam meiner geliebten MutterChristl Karl(1946–2007)

Dedicated toRosalie »Robin« Danehy (1927 – 2021) as a remembrance to the wonderful time in Cambridge, where we met the Bloomsbury Group for the first time.

»I only know that you may lieDay long and watch the Cambridge sky,And, flower-lulled in sleepy grass,Hear the cool lapse of hours pass,Until the centuries blend and blurIn Grantchester, in Grantchester.«

(Rupert Brooke, The Old Vicarage, Grantchester,Café des Westens, Berlin, Mai 1912)[1]

»Ich weiß nicht, wer ich bin;ich bin nicht, was ich weiß;ein Ding und nicht ein Ding,ein Stüpfchen und ein Kreis.«

(Angelus Silesius)

Inhalt

Prolog: Der Blick durch den Zaun

»Eines kann ich nicht ertragen, und das ist Mittelmaß!«

I. Ein ungeschliffener Diamant oder Kass von den Beauchamps

»Das ist meine Welt!«

II. Eine fantasiebegabte Wahrheitsdichterin oder Weiße Gardenien für Oscar Wilde

»Großer Gott, was für eine langweilige Gesellschaft!«

III. Ein Albtraum in Neuseeland oder Ein Zelt auf dem Trafalgar Square

»Wir sind so eine glückliche Familie, seit mein Mann gestorben ist.«

IV. Die Verlockungen von Babylondon oder Rendezvous mit Pfarrer Kneipp

»Ich liege auf dem Fußboden und rauche und lausche.«

V. Launenhafte Stunden oder Die veränderliche Währung der Jugend

»Morgens, so um zehn Uhr dreißig, fange ich an, mich zu erneuern«

VI. Die Katze im Burberry-Mantel oder Die ominöse Sexualität der Bäume

»Alle paaren sich, von den Möpsen und Pfauen bis hin zu Ott und dem Premierminister.«

VII. Verpatzte Teestunde mit E. M. Forster oder Die Verschwörung der Außenseiter

»Am besten ist es, im Bett zu bleiben und von da aus widerwärtig zu sein.«

VIII. Wie eine Fliege in der Milch oder Die Liebe Montagnacht um Viertel vor zwölf

»Ich wäre gern ein Krokodil – die einzige Kreatur, die nicht hustet.«

IX. Elizabeths Levkojen oder Die Symptomatik bei Schädelbasisbruch

»An der Pforte des Himmels ruft ein grimmiger Engel: ›Schwindsüchtige nach rechts.‹«

X. Die Existenz des Schmarotzersoder Die Angst im Warteraum

Epilog: Das Blühen des Selbst

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Bildteil

Bildnachweis

Danksagung

»Land of Hope and Glory,Mother of the Free,How shall we extol thee,Who are born of thee?«

(M: Edward Elgar/T: Arthur C. Benson)

Prolog: Der Blick durch den Zaun

Excuse me please, eine Frage: Wer gehört für Sie zu den bedeutendsten Briten?

Queen Elizabeth oder Queen Victoria? Paddington Bär oder Winnie the Pooh? Winston Churchill oder Emmeline Pankhurst? Richard III. oder Lady Macbeth? Agatha Christie oder Ian Fleming? Jane Austen oder die Brontë-Schwestern? Sherlock Holmes oder James Bond? Laura Ashley oder Mary Quant? David Bowie oder David Beckham? Mr Darcy oder Ebenezer Scrooge? Die Beatles oder die Sex Pistols? Shakespeare oder Dickens? Vielleicht ja auch George Orwell, der seine Landsleute dereinst so trefflich beschrieb: »Die Freundlichkeit der englischen Zivilisation ist vielleicht ihr ausgeprägtestes Merkmal. Man merkt es sofort, wenn man englischen Boden betritt. Es ist ein Land, in dem die Busschaffner gutmütig sind und Polizisten keine Revolver tragen. In keinem Land (…) ist es einfacher, Leute vom Bürgersteig zu schubsen.«[2]

Nun, für mich gehört in die Riege der bedeutendsten Briten unzweifelhaft die Duchess of Bedford. Die Hofdame Queen Victorias gilt als Erfinderin des Afternoon Tea. Weil der Herzogin zwischen Lunch und Dinner oft etwas flau im Magen war, bat sie ihre Zofe, ihr am späten Nachmittag immer Tee mit Gebäck zu servieren. Bald pflegte sie zu diesen Teestunden Gäste einzuladen, die wiederum davon so begeistert waren, dass sie ihrerseits Teestunden abhielten und sich so still und heimlich eine Tradition entwickelte, für die die Engländer bis heute weltberühmt sind: die nachmittägliche Tea Time, bevorzugt zwischen vier und fünf Uhr. Noch immer wird diese Auszeit von der Hektik des Tages bevorzugt mit Sandwiches, Scones samt Marmelade und Clotted Cream sowie kleinem Gebäck genossen. Mir selbst bringt nichts auf der Welt England so nahe wie der Duft von Bergamotte und das Klappern von feinem Porzellan. Und deshalb würde ich Sie heute gern zu einer Teestunde einladen, zu einer Teestunde mit Katherine Mansfield, einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts und so ganz nebenbei eine echte Herausforderung für alle, die sich ihr nähern wollen – damals wie heute. Denn auch wenn die Wegbereiterin der modernen englischen Short Story heutzutage von Leserinnen weltweit verehrt wird, so war die gebürtige Neuseeländerin zu ihren Lebzeiten vor allem eins: unbeliebt.

Doch lassen Sie sich davon bitte nicht irritieren. Abgesehen davon, dass die Spröden oftmals die Interessanten sind, lohnt es sich in vielerlei Hinsicht, auf Katherine Mansfields Spuren durch London zu wandeln, und das nicht nur, weil die britische Hauptstadt um 1900 die größte Metropole der Welt war. Sie könnten Virginia Woolf, T. S. Eliot, Bertrand Russell und D. H. Lawrence zu einem Plausch im Palm Court, dem Tearoom des neueröffneten Hotel Ritz am Piccadilly, treffen. Oder Katherine Mansfield und ihre Freunde am Wochenende im offenen Automobil nach Garsington Manor begleiten, dem Landsitz von Lady Ottoline Morrell, um morgens Tennis, nachmittags Krocket und abends Scharade zu spielen. Sie könnten zusammen mit Katherine in der Great Marlborough Street bei Liberty vorbeischauen, um zu sehen, ob neue Stoffe eingetroffen sind, oder in Knightsbridge durch die Feinkostabteilung von Harrods bummeln. Das Kaufhaus wurde nach einem verheerenden Brand erst vor Kurzem neu eröffnet. Für den Abend würde ich Ihnen Bernard Shaws neustes Stück ans Herz legen. Mrs Patrick Campbell spielt darin eine gewisse Eliza Doolittle. Und auch J. M. Barrie, der Lieblingsautor der Edwardians, soll etwas Neues geschrieben haben. Es nennt sich Peter Pan. Vielleicht bekommen Sie ja auch Karten für Nellie Melba oder Enrico Caruso, und Sie würden selbstverständlich Zeuge, wie Aston Webb, der Architekt des Victoria and Albert Museum, die östliche Hauptfassade des Buckingham Palace neu gestaltet. Den imperialen Soundtrack zu Ihrer kleinen Zeitreise liefert natürlich kein geringerer als Edward Elgar, der britische Komponist der Jahrhundertwende schlechthin. Sein »Land of Hope an Glory« gilt bis heute als inoffizielle britische Nationalhymne. Überzeugt? Na dann, viel Vergnügen im Babylon der Moderne.

Dass Sie und ich bei all dem Trubel nur Zaungäste sein können, ist in diesem Fall durchaus von Vorteil. Denn auf unserer Seite des Zauns steht auch Katherine Mansfield, die Frau mit den vielen Gesichtern: überragende Dichterin, Kritikerin, Schriftstellerin, Übersetzerin und Herausgeberin, zugleich aber auch trotzige Tochter, lästige Pubertierende, verzweifelt Liebende, alles verschlingende Freundin, eifersüchtige Kollegin, Urbanista, Kolonistin, neue Frau, Modernistin, Komödiantin, tragische Heldin, Skandalnudel, Geliebte, Rachsüchtige, Ehefrau und Kranke. Ihre Freunde beschrieben Katherine als ehrgeizig und wagemutig, humorvoll und bitter, verletzlich, aber auch verletzend, vor allem aber als ungeheuer launisch: »Ihre Stimmungswechsel geschahen schnell und waren verwirrend, ein Augenblick konnte durch eine unpassende Bemerkung plötzlich in beißenden Zorn umschlagen; wie beißend der Zorn sein konnte, wissen nur diejenigen, die ihn selbst erlebt haben. Katherine hatte eine Zunge wie ein Messer, sie konnte einem damit das bloße Herz herausschneiden, um im nächsten Moment ihre grandiose Grausamkeit zu bereuen. Sie konnte so grausam sein. Sie zeigte keinerlei Toleranz gegenüber Dummen oder Langsamen. Ihr Geist war schnell, so klar und den Gedanken und Gesprächen der anderen so weit voraus; wenn sie ihr hinterherhinkten, wurde sie ungeduldig, gelangweilt und schließlich wütend.«[3] Mit ihrem Verhalten stieß Katherine Mansfield ihre Umgebung oft vor den Kopf, und doch hatte sie viele Freunde, die unbeirrt an ihr festhielten. Freunde, die sie zueinander stets auf Distanz hielt, denn Katherine bevorzugte Exklusivität in ihren Beziehungen und konnte zudem nicht riskieren, dass ihre vielen Lügen aufflogen. Sie changierte stets zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und dem Wunsch nach Alleinsein. Angewidert von der Gesellschaft, hasste sie es dennoch, einsam, isoliert und hilflos zu sein, gleich einem Kind, das sich zu Tode fürchtet. Sie, die lebenslang eine Außenseiterin blieb, galt auch bei Menschen, die ihr gewogen waren, als »schwieriger Charakter«. Andere bezeichneten sie, weit weniger diplomatisch, als arrogant, hinterhältig und bösartig. Einerseits hochsensibel, pflegte sie auszuteilen wie keine Zweite. Sie konnte charmant, liebenswürdig und mitfühlend sein und hatte trotz ihres unbestreitbaren Talents den Ruf einer Blenderin. Von Kindheit an von Identitätsproblemen geplagt, schwindelte sich Katherine Mansfield auf der Suche nach ihrem wahren Ich durchs Leben. Da sie ohnehin nicht wusste, wer sie war, fand sie nichts dabei, sich wieder und wieder neu zu erfinden. Bereits in jungen Jahren erschuf die Frau mit den zahlreichen Spitznamen und Pseudonymen, die immer wieder ihren Namen änderte, die Kunstfigur Katherine Mansfield. Um mehr über sich herauszufinden, schlüpfte sie in verschiedene Rollen und beobachtete dabei ganz genau die Reaktionen ihrer Mitmenschen. Ihre enge Freundin, die Malerin Dorothy Brett, erinnert sich: »Katherine nahm Jobs an – merkwürdige Jobs –, nur um Erfahrungen zu sammeln. Aus demselben Grund ging sie auch oft eigenartige Beziehungen zu anderen Menschen ein. Ihr größtes Vergnügen war ein Rollenspiel, bei dem sie jemand anders war. Sie schlüpfte so tief in ihre Rolle hinein, bis sie selbst nicht mehr wusste, wer und was sie war.«[4] Katherine auf der Suche nach sich selbst fand es unerlässlich, Grenzen zu überschreiten: »Möchtest Du nicht gern alle Arten des Lebens ausprobieren – eines ist doch sehr klein. (…) Das ist das Befriedigende beim Schreiben – man kann so viele Menschen verkörpern.«[5]

Wenn Katherine schrieb, so pflegte sie nicht über die Dinge zu schreiben, sie pflegte sich in die Dinge zu verwandeln, ja mehr noch: »Wenn ich an den Apfelständen vorbeikomme, muss ich einfach stehen bleiben und sie anschauen, bis ich das Gefühl habe, ich selbst verwandle mich auch in einen Apfel – und dass ich jeden Moment vielleicht einen Apfel hervorziehe, wie durch ein Wunder, aus mir selbst heraus, wie der Zauberer ein Ei hervorzieht. (…) Wenn ich über Enten schreibe, dann schwöre ich, dass ich eine weiße Ente mit einem runden Auge bin und auf einem mit gelben runden Tupfen eingefassten Teich gleite und gelegentlich auf die andere Ente mit dem runden Auge zuschieße, die neben mir auf dem Kopf schwimmt. Ja, dieser ganze Prozess der Entenwerdung ist so erregend, dass ich kaum atmen kann, wenn ich nur daran denke. Denn obwohl die meisten nicht weiter gelangen können, ist das eigentlich erst das ›Prélude‹. Es folgt der Augenblick, da Du mehr Ente bist, mehr Apfel oder mehr Natascha, als jedes dieser Objekte überhaupt jemals sein könnte, und so erschaffst Du sie neu.«[6] Katherine konnte in ihrer Fantasie verschwinden, konnte in ihren Figuren, einem Tier oder der Natur vollends aufgehen. Im wahren Leben aber war sie zerrissen: Selbstbewusst und vollkommen von sich überzeugt, achtete sie sich selbst dennoch am geringsten. Oft hasste sie, was sie eigentlich liebte, wollte autark sein und doch zu jemandem gehören. Sie liebte leidenschaftlich: Frauen wie Männer, ihre Katzen und ihre japanische Puppe Ribni, die sie durch halb Europa schleppte. Zugleich war »Hass« eine ihrer vorherrschenden Emotionen. Sie umgab sich gern mit Luxus. Dienstboten, teure Kleidung, Zigaretten, Parfum, Reisen und Wochenendeinladungen betrachtete sie als absolut angemessen für die Tochter eines Bankiers. Dass sie so oft pleite war, empfand sie hingegen als ausgesprochen ungerecht. Die große Briefeschreiberin sah keinerlei Notwendigkeit darin, zumindest in ihren Briefen bei der Wahrheit zu bleiben. Am liebsten machte sie sich zur Heldin ihres eigenen Lebensromans. Sich ihrer literarischen Bedeutung einerseits und ihrer Fehler andererseits durchaus bewusst, ordnete sie an, nach ihrem Tod alles zu vernichten, was ihrem Ruf als Mensch und Schriftstellerin schaden könnte.

Nichts ging Katherine Mansfield über die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen. In diesem Sinne war sie, die Neuseeländerin, eine wahrhafte Britin, ganz im Sinne George Orwells: »Wir sind ein Volk von Blumenliebhabern, aber auch ein Volk von Briefmarkensammlern, Taubenliebhabern, Hobbyschreinern, Couponschneidern, Dartspielern und Kreuzworträtselfreunden. Die ganze Kultur, die wirklich heimisch ist, dreht sich um Dinge, die, selbst wenn sie gemeinnützig sind, nicht öffentlich sind – der Pub, das Fußballspiel, der Garten, der Kamin, und die ›gute Tasse Tee‹. Man glaubt immer noch an die Freiheit des Individuums, fast wie im neunzehnten Jahrhundert. Aber das hat nichts mit wirtschaftlicher Freiheit zu tun, dem Recht, andere für den eigenen Profit zu benutzen. Es ist die Freiheit, eine eigene Wohnung zu haben, in seiner Freizeit zu tun, was man will, sich seine Vergnügungen selbst auszusuchen, anstatt sie sich von oben vorschreiben zu lassen.«[7]

Erfüllt von ihrem Drang nach Freiheit landete Katherine Mansfield um die Jahrhundertwende in London und traf dort auf eine intellektuelle Bohème, die am Ende des Viktorianismus ebenfalls alte Zwänge hinter sich lassen wollte. Nach dem Tod Queen Victorias, die von 1837 bis 1901 den englischen Thron innehatte, befand sich das Land in einer Übergangsphase. Bereits in den letzten Jahren der Regentschaft Victorias hatten die kriegerischen Auseinandersetzungen in den britischen Kolonien zugenommen. Auch wenn noch immer ein Viertel der Welt zum britischen Empire gehörte, die Niederlage von Karthum, die Burenkriege und die noch immer ungelöste Irlandfrage wiesen in Richtung Zeitenwende.

Alte Gewissheiten und viktorianische Werte waren schon vor Längerem ins Wanken geraten. Darwin und Nietzsche hatten die Abkehr von der Religion eingeläutet, und William Gladstones Wahlrechtsreform bringt mehr Wähler denn je an die Urnen. Bildung auch für Mädchen wurde selbstverständlicher, und die Schülergeneration der sogenannten »doubting class« hatte schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen, gegen die Väter zu rebellieren. Während der Regentschaft der ewigen Königin hatte sich die Welt rasant verändert. Moderne Verkehrsmittel wie die Eisenbahn oder das Dampfschiff hatten es immer mehr Menschen ermöglicht, zu reisen und ihren Horizont zu erweitern. 1841 verkaufte Thomas Cook seine erste Reise: ein Picknick von Leicester nach Loughborough. Ende der 1860er Jahre brachte er die Briten bereits bis nach Ägypten. Neuseeländische Besucher wie Katherines Familie waren auf der Insel keine Seltenheit. Das mobile Zeitalter hatte die Erde geschrumpft. Schon Katherines Eltern, die als Teil des britischen Empires zur Anglosphäre gehörten, konnten sich dank finanzieller Mittel einer neuen globalen Mobilität rühmen, die für Katherine Mansfields Generation bereits selbstverständlich war.

Diverse technische Innovationen und eine allumfassende Industrialisierung hatten aus Großbritannien unter Victoria die führende Industrienation der Welt gemacht, die nun aber Gefahr lief, von Deutschland und Frankreich, vor allem aber den USA, überholt zu werden. Die Industrialisierung hatte neben ungeheurem Wohlstand für die Mittelschicht auch entsetzliches Elend produziert. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der neu entstandenen Arbeiterklasse waren katastrophal und blieben es, auch nachdem Mitte des 19. Jahrhunderts erste Reformen umgesetzt wurden, die das Leben dieser Menschen verbessern sollten. Noch lange waren schlechte Bezahlung, Kinderarbeit und Ausbeutung an der Tagesordnung. Immerhin wurde mit Einführung der Schulpflicht der Grundstein dafür gelegt, dass auch die Kinder der Arbeiterklasse lesen und schreiben lernten. Ab 1880 mussten alle Kinder zwischen fünf und zehn Jahren zur Schule gehen. Dass viele Briten lesen und schreiben konnten, förderte den Erfolg von Bestsellerautoren wie Charles Dickens und den Brontë-Schwestern. Gern gelesen wurden in jenen Jahren auch Bram Stockers Dracula, Rudyard Kiplings Dschungelbuch und Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel. Etwas schwerer tat sich die Leserschaft mit Thomas Hardys Meisterwerk Tess von den d’Urbervilles. Dafür hatten ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu alle Briten, die lesen konnten, täglich eine Zeitung in der Hand. 1855 wurde die Steuer auf Zeitungen abgeschafft, sie wurden billiger, was auch das Entstehen der zahlreichen Literaturmagazine förderte, für die Katherine schrieb.

Großbritannien erlebte in diesen Jahren eine wahre Landflucht. Arbeitete am Beginn des 19. Jahrhunderts noch ein Drittel der Briten in der Landwirtschaft, waren es 1901 nur noch 6 Prozent. 1801 lebten 33 Prozent der Briten in Städten, 1901 waren es 78 Prozent. Folgen dieser Entwicklung waren Elendsquartiere, Luftverschmutzung und Seuchen, aber auch das Entstehen einer urbanen Gesellschaft, die geprägt war von den romantischen Idealen der bürgerlichen Mittelschicht. Bilder aus jener Zeit zeigen bevorzugt Familien, die im Salon zusammenkommen und gemeinsam um das obligatorische Klavier herumstehen und singen. Unverzichtbarer Bestandteil dieses Lebens waren Heerscharen an dienstbaren Geistern, deren Leben sich bei einem Verdienst von 9 bis 25 Pfund pro Jahr überwiegend im Souterrain abspielte. Wer es sich leisten konnte, beschäftigte Dienstboten, auch Katherine Mansfield sparte lieber am Essen als am Personal. In Ermangelung technischer Haushaltsgeräte war die Führung eines großen Haushalts in diesen Jahren ohne helfende Hände tatsächlich unmöglich. Erst Erfindungen wie der Dosenöffner (1855), das elektrische Bügeleisen (1882) oder die Waschmaschine (1901) änderten dies. Die technikbegeisterten Viktorianer waren unter den Ersten, die Wasserklosetts in ihre Häuser einbauen ließen, nachdem der britische Klempner George Jennings diese auf der Weltausstellung in London 1851 erstmals präsentiert hatte. Die Viktorianer hatten zudem ein Faible für Rasentennis und Fußball und waren begeisterte Radfahrer. Der Telegraf, die Schreibmaschine und das elektrische Licht veränderten die Welt. Frauen begannen, Bürgerinnenrechte einzufordern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Frauenstimmrechtsbewegung die größte, lauteste und bedeutendste politische Bewegung Großbritanniens. In der Kunst dominierten die Präraffaeliten und das Arts and Crafts Movement von William Morris. Soziale Bewegungen wie die Fabian Society und nicht zuletzt der Aufenthalt von Karl Marx und Friedrich Engels in London sorgten für allgemeine Reformstimmung. Vielen waren die schrecklichen Arbeitshäuser, die Charles Dickens aus eigener Erfahrung in seinen Romanen so eindringlich schildert, ein Dorn im Auge. Es entstanden Gewerkschaften, und um 1900 gründete sich die Labour Party. Die Zeit der Snobs, Angeber und Großtuer ging langsam zu Ende und wurde sukzessive abgelöst vom Zeitalter der Massen. Für manche eine bedrohliche Situation, anderen kamen diese Veränderungen gerade recht. Der Schriftsteller Lytton Strachey, Mitglied der formidablen Bloomsbury Group, veröffentlichte 1921 sein bahnbrechendes Werk Eminent Victorians und galt seitdem als Experte für den Viktorianismus. In der Zeitschrift Nation and Athenaeum beschrieb er 1928 jene Zeit als »ein Zeitalter der Barbarei und der Feigheit, des Edelmuts und der Gemeinheit, der Befriedigung und der Verzweiflung; ein Zeitalter, in dem alles entdeckt und nichts bekannt war; ein Zeitalter, in dem die Umrisse gewaltig und die Einzelheiten schäbig waren; als die Gasleitungen sich schwach durch den umgebenden Nebel kämpften, die Zeit fürs Mittagessen irgendwo zwischen zwei und sechs liegen konnte, als die Rhabarbermengen regelmäßig und gigantisch waren, sich die Hunde aus den Fenstern der oberen Etagen stürzten und die Köche betrunken herumtorkelten, als man stundenlang mit den Füßen in schmutzigem Stroh saß, das von Pferden durch die Straßen gezogen wurde, die Bäder winzige Blechwannen waren und die Betten voller Ungeziefer und anderer Katastrophen«.[8]

Katherine Mansfield erreichte London während der trügerischen Ruhephase des Edwardianismus, in dem vieles nicht mehr gültig war und manch anderes dennoch noch nicht akzeptiert wurde. In der die Menschen, die den Viktorianismus heftig kritisierten, ihn gleichzeitig durch Erziehung und Erleben so verinnerlicht hatten, dass sie Schwierigkeiten hatten, sich davon zu lösen. Großbritannien am Beginn des Jahrhunderts war eine Klassengesellschaft, und die junge Katherine bekam bald zu spüren, dass sie, obwohl aus gutem Elternhaus, nicht die richtige Schule besucht hatte und nicht die richtigen Leute kannte. Wie auch, wurde sie doch in der britischen Kolonie Neuseeland geboren. Die Differenz zwischen imperialistischer Metropole und kolonialer Peripherie war riesig. Neuseeländer waren für die meisten Europäer nicht existent, dies musste auch Katherine erfahren: »›Sind Sie Amerikanerin?‹, fragte die Gemüsedame und drehte sich zu mir um. ›Nein.‹ ›Dann sind Sie Engländerin.‹ ›Nun, eigentlich …‹ – ›Eins von beidem müssen Sie doch sein; entweder, oder.‹«[9] Die Bewohner der Alten Welt blickten voll Herablassung auf die Bewohner der Kolonien. Kolonisten galten als unintelligent und ungehobelt, die autochthone Bevölkerung der Kolonien war hingegen kaum einen Gedanken wert, und wenn, dann nur einen rassistischen. Paradoxerweise prallten die Kolonisten, die dieses Herrenmenschendenken oft ebenfalls vertraten, ihrerseits am Klassendenken der »echten« Engländer ab. Sogar die eigenen Verwandten in England behandelten Katherine und ihre Geschwister von oben herab. Obwohl ihr Onkel einst selbst in Australien gelebt hatte, nannte er die Mädchen in seinen Tagebucheinträgen unverdrossen »Maori Girls«.[10]

Das koloniale Denken von der zivilisatorischen Überlegenheit gehörte in England zum guten Ton und wurde auch auf die Kolonisten übertragen. Katherines Eltern stammten aus Australien, das wie Sibirien oder Französisch-Guayana zur Kategorie der Strafkolonien gehörte und schon allein deshalb keinen besonders guten Ruf hatte. Dies änderte sich auch nicht, als sich das Land im Laufe der Zeit durch die zahlreichen britischen Emigranten in eine Siedlungskolonie verwandelte. Die Siedler waren zwar als Fußsoldaten des Empires unabdingbar für dessen Ausbreitung, dennoch genossen sie im Mutterland nur wenig Respekt. Gleichwohl wurden Siedlungskolonien wie Australien oder Kanada, die sich durch einen hohen europäischen Bevölkerungsanteil auszeichneten, bald eine eigene Regierung und der Dominionstatus zugestanden – etwas, wovon Kolonien wie Indien nur träumen konnten.

Als Migrantin aus Neuseeland traf Katherine Mansfield in London auf eine städtische Avantgarde, die den Kolonialismus zwar ablehnte, aber dennoch in dessen Denkmustern verhaftet war – selbst gegenüber einer »weißen Neuseeländerin«, deren Status als nicht ebenbürtig galt. Die feinen Nuancen, die den Eingeweihten verrieten, woher man kam, vermochte Katherine während ihrer Zeit in England nie zu durchschauen. Nicht hineingewachsen in eine Welt voll unergründlicher Spielregeln, blieb sie stets außen vor. Niemals konnte sie so ganz Teil der Bloomsbury Group, jener alles überragenden englischen Künstler- und Intellektuellengruppe, werden, deren privilegierte persönliche Sichtweisen sie nicht verstand. Ihre Freundin Lady Ottoline Morrell aus dem Dunstkreis der Bloomsbury Group bringt es auf den Punkt: »Ich kann durchaus nachvollziehen, wie schwierig es für jemanden, der aus Neuseeland kam, gewesen sein muss, uns zu verstehen. Sie war nicht vertraut mit den englischen Traditionen, und die Menschen, die sie kennengelernt hatte, seit sie in Europa war, waren eine seltsame Gesellschaft aus Künstlern, Sängern und Schauspielern: arm, rücksichtslos, wankelmütig und wild.«[11]

Katherine sprach kein Oxford-Englisch, sondern mit leichtem Akzent, über den man sich hinter ihrem Rücken lustig machte, weil er ihre koloniale Herkunft verriet. Dem Schriftsteller Frank Swinnerton erschien ihr Sprechen als »achtsam moduliertes Murmeln« voller »brummender oder intonierter Worte«, wobei sie kaum die Lippen bewegen würde. Katherine sprach ein neuseeländisches Englisch, in dem bereits vorhandene englische Worte neu definiert worden waren, um neuseeländische Realitäten abzubilden. In ihren Texten benutzte sie immer wieder auch Worte aus der Sprache der Māori wie »whare«, »toi toi« oder »paua«.[12]

Denn auch wenn sie von Neuseeland aus England immer als ihre echte Heimat wahrgenommen hatte, hatte sie sich stets für die Kultur der Māori interessiert und Kontakte mit Indigenen gepflegt. Diese Cross-Cultural-Relations setzten jedoch, wie man am Beispiel ihrer Freundin Maata sehen kann, voraus, dass es sich bei den Vertretern der Indigenen um reiche und einflussreiche Māori handelte. Gleichwohl standen diese ihr näher als die Bloomsbury Group – Engländer der oberen Mittelschicht, verbunden durch eine gemeinsame Erziehung in Oxbridge. Die blieben ihr gänzlich fremd. Deren Dogma, dass ein gutes Leben durch ästhetische Sensibilität und persönliche Freundschaften zu erreichen war, hielt Katherine für intellektuelle Überheblichkeit. Umgekehrt sahen diese in ihr immer ein »colonial girl« und hantierten mit allerlei Zuschreibungen ihr gegenüber, was, wie Ottoline Morrell vermutet, bei Katherine zu einem gewissen Minderwertigkeitskomplex führte: »Ich glaube, Katherine fühlt sich unsicher in ihrer Position, zum Teil weil sie Neuseeländerin ist und sich in England noch nicht so recht zurechtfindet. (…) Bei ihrem letzten Besuch spielten wir nach dem Dinner ein Spiel, bei dem es darum ging, Menschen anhand von Symbolen wie Bildern, Blumen und Düften zu beschreiben; unglücklicherweise wurde Katherine mithilfe eines ziemlich exotischen Duftes wie Stephanotis oder Patchuli beschrieben, und obwohl ihr Name nicht genannt wurde, wussten wir alle und auch sie, wer gemeint war. Es war furchtbar. Die Gehässigkeit, die in der Gesellschaft herrschte, entlud sich böswillig gegen sie und verletzte sie.«[13]

Zwar näherten sich gerade ihre Künstlerfreunde Katherine mit großer Neugier, doch diese war begleitet von unsäglichen Vorurteilen. Vorurteile, die Katherine gegenüber ihren neuseeländischen Landsleuten ebenfalls lange Zeit hegte und pflegte. Auch sie empfand die Bewohner der Peripherie als ungebildet, wenig geistreich und dumpf. London – das war für sie Moderne, Kultur, Geist. Ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass Provinz vor allem im Kopf steckt, versuchte sie verzweifelt, diese Provinz hinter sich zu lassen: »Ich bin eine ›Kolonistin‹. Ich wurde in Neuseeland geboren, kam nach Europa um ›meine Bildung zu vervollkommnen‹, und als meine Eltern meinten, die ungeheure Aufgabe sei vorüber, ging ich zurück nach Neuseeland. Ich hasste es. Es erschien mir als eine kleine, nichtige Welt; ich sehnte mich nach ›meinen‹ Leuten und größeren Interessen und so weiter. Und nach einigem Ringen kam ich schließlich aus dem Nest und nach London, mit achtzehn, um nie mehr wiederzukommen.«[14] Ihre Tagebücher und Briefe sind voller Schimpftiraden über ihre ach so unkultivierten, bornierten Landsleute. England war das Land ihrer Träume.

Dass sie so dachte, daran waren ihre Eltern nicht ganz unschuldig. Katherines Großvater war einst voller Pioniergeist aus England ausgewandert, ihr Vater war in Übersee reich geworden, und Katherine und ihre Geschwister genossen die Früchte des Aufstiegs. Während ihr Großvater immer Engländer blieb, fühlten sich Katherines Eltern auch dem neuen Land verbunden, übernahmen dort Leitungsaufgaben und setzten sich für Neuseeland und dessen Eigenständigkeit ein. Gleichwohl wurden die Kinder sehr britisch erzogen und dazu angeleitet, das Mutterland im Herzen zu tragen. Der Schriftsteller Anthony Trollope schrieb über diesen Hang zu England nach seiner Neuseelandreise 1870, der Neuseeländer sei davon überzeugt, dass »England der beste Ort der Welt und er selber englischer als jeder Engländer«[15] sei. Dass dem nicht so war, erfuhr Katherine erst bei ihrer Ankunft in England. Ein Schock, der das Gefühl der Heimatlosigkeit verstärkte und Neuseeland zum Sehnsuchtsort machte. Je länger sie von zu Hause fort war, umso mehr träumte sie sich, als Neuseeland-Expatriate im selbstgewählten Exil, zurück nach Neuseeland. Am Ende wollte sie vor allem eins: wieder zurück.

Katherine Mansfields Leben war geprägt vom Aufbrechen und vom Ankommen, vom Weiterreisen und von unendlich vielen Zwischenstopps. Sie war rastlos und immer in Bewegung: Aus Neuseeland wollte sie weg, in Europa zog sie von Wohnung zu Wohnung, von Land zu Land, von Hotel zu Hotel: »Ich genieße das Hotelleben. Es hat so etwas Verantwortungsloses, und das fasziniert mich.«[16] Nirgendwo fühlte sie sich zugehörig: weder ihrer Familie noch Neuseeland, nicht der Māori-Kultur, nicht der Bloomsbury Group, nicht England und nicht Europa. Sie war zerrissen zwischen dem Wunsch nach Heimat und dem dringenden Wunsch weiterzuziehen, zwischen Dazugehörigkeit und Fremdheit. An einen engen Freund schrieb sie 1922: »Ich bin ein geteilter Mensch mit einem Hang zu dem, was ich sein möchte. (…) Ich bin mir dieser Störung in mir sehr bewusst.«[17] Dem Ort, an dem sie gerade nicht war, galt stets ihre Sehnsucht, ebenso erging es ihr mit Menschen. Elizabeth Bowen schreibt zu Recht, Katherine Mansfield habe ihre Kunst nicht aus der Erinnerung, sondern aus der Sehnsucht heraus geschaffen.[18] In ihrem Fall vor allem aus dem Wechselspiel aus »fortsehnen« und »zurücksehnen«.

Wohl auch aus diesem Grund befreundete sich Katherine am engsten mit Menschen, die ihre Kolonialerfahrung teilten und Verständnis für dieses Leben zwischen den Welten hatten: Francis Carco aus Neukaledonien, Beatrice Hastings aus Südafrika, Elizabeth von Arnim aus Neuseeland, Ruth Herrick aus Rhodesien (Simbabwe) und natürlich ihre engste Gefährtin Ida Baker, die als Tochter eines Armeearztes in Burma (Myanmar) aufgewachsen war. Die Überheblichkeit, mit der diesen Menschen in England begegnet wurde, lässt sich klar als Fremdenfeindlichkeit kategorisieren. Noch nach Jahren spürte Katherine Mansfield diese Ablehnung allein schon beim Betrachten der Geranien im Garten hinter dem Haus: »Sie glühen vor Anmaßung und Stolz. Ich bin die arme Kleine aus den Kolonien, die durch einen Londoner Garten wandert – und die sich vielleicht umsehen, aber nicht zu lange bleiben darf. Wenn ich mich ins Gras lege, schreien sie mich an: ›Schaut mal an, wie sie da in unserem Gras liegt und so tut, als ob sie hier wohne und als ob dies ihr Garten sei und das Haus mit den offenen Fenstern und den wehenden bunten Vorhängen ihr Haus. Sie ist eine Fremde – eine Ausländerin. Sie ist nur ein kleines Mädchen, das auf den Tinakori-Hügeln sitzt und träumt: Ich ging nach England und heiratete einen Engländer, und wir wohnten in einem hohen, ernsten Haus mit roten Geranien und weißen Margeriten im Garten hinter dem Haus. – Frechheit!‹«[19]

Dabei war alles, was mit den Kolonien zu tun hatte, für die Engländer ein durchaus zweischneidiges Schwert. Es bedeutete Macht und Einfluss auf der einen, Dekadenz und Niedergang auf der anderen Seite. Darauf wies lange vor Katherines Ankunft ein ganz anderer Neuseeländer hin. Der französische Maler Gustave Doré, berühmt für seine Illustrationen zu den Gedichten Lord Byrons und Dantes Göttlicher Komödie, schuf zusammen mit dem Journalisten William Blanchard Jerrold 1872 das illustrierte Porträt der Stadt London: London, a pilgrimage. Zu den 180 Stichen, die das Buch illustrieren, zählt auch Der Neuseeländer. Er stellt einen Rückkehrer aus den Kolonien in die britische Hauptstadt dar, kurz nachdem diese in Flammen aufgegangen ist. Eine verhüllte Gestalt sitzt auf einem Reststück der London Bridge gegenüber der Themse und blickt auf die Ruinen des viktorianischen London. Es herrscht Endzeitstimmung. Dorés Bild manifestierte die Sorge Englands, die Kolonien könnten sich besser entwickeln als das Mutterland. Heute nahezu vergessen, war »Der Neuseeländer« um die Jahrhundertwende eine omnipräsente allegorische Figur. Er geht zurück auf den Historiker Thomas Babington Macaulay, der ihn als Gegenfigur zu einem in Ruinen liegenden London etablierte, um damit den Untergang der klassischen zivilisierten Welt zu beschreiben. Ob es sich beim Neuseeländer um einen zurückgekehrten Kolonialisten oder einen Māori handelt, ist umstritten. In jedem Fall ist er sowohl Überlebender als auch Bote einer neuen überlegenen Kultur.

Der Neuseeländer als das personifizierte schlechte Gewissen der Metropole ging den Viktorianern im Übrigen gewaltig auf die Nerven. 1865 hatte das Punch Magazine eine Liste mit Personen und Dingen aufgestellt, die aus dem täglichen Leben verbannt werden sollten. Angeführt wurde diese Liste von der allegorischen Figur des Neuseeländers: »Die Rückkehr dieses Veteranen ist unerlässlich. Es kann nicht länger hingenommen werden, dass er den Verkehr auf der London Bridge aufhält. Er wird gegenwärtig in seinem eigenen Land sehr vermisst. Kann zurückkehren, wenn London in Trümmern liegt.«[20] So weit ist es während Katherine Mansfields Zeit in London Gott sei Dank nie gekommen. Ihr Leben als Schriftstellerin begann in einem äußerlich intakten London, in dem ihr Bewusstsein für eine durch Neuseeland geprägte Identität wuchs. Ottoline Morrell schreibt hierzu: »Als sie in England lebte, war sie sich meiner Meinung nach bewusst, eine Neuseeländerin zu sein, war insgeheim stolz darauf und hielt innerlich daran fest wie an einem liebgewonnenen Schutzhafen, in dem ihre Gedanken und Phantasien behütet herumspielen konnten, doch zugleich hielt sie das womöglich davon ab, hier in aller Unbefangenheit und Freundlichkeit auf uns zuzugehen und ihre Empfindlichkeit und Feindseligkeit gegenüber den meisten Personen zu verbergen, die nicht ihresgleichen waren; sie verbarg ihr wahres Ich hinter einem Gesicht, das so ausdruckslos wie eine feingearbeitete Maske war.«[21]

Katherine Mansfield stand zwischen den Kulturen, ihre Herkunft als weiße Siedlungskolonistin, die eine Zwischenstellung zwischen Imperialisten und Unterdrückten einnimmt, machte sie zur Außenseiterin hier wie dort und letztlich zu einer kolonialen Modernistin. Weder gehörte sie zur Kolonie noch zum Empire. Eine Kosmopolitin, eine Weltbürgerin war sie aber auch nicht, die Welt war keineswegs ihr Zuhause. Schrieb sie über Māori, vermochte sie sich kaum von gängigen europäischen Stereotypen zu befreien. Und obwohl sie einen gewissen Eurozentrismus verinnerlicht hatte, blieb ihr Europa fremd. Sie begriff sich nie als »Pākehā«, wie die Māori die weißen Siedler nennen, sondern sah sich vielmehr als neuseeländische Europäerin. Seit einiger Zeit schon weisen Mansfield-Forscherinnen deshalb darauf hin, dass sie damit ein Beispiel für die von Homi Bhabha entwickelte Hybridtheorie ist, in der aus der Kreuzung von Identitäten und Kulturen neue Hybrididentitäten entstehen können.

Als Modernistin mit Kolonial- und Metropolenerfahrung war sie Außenseiterin und Teil des Establishments zugleich, wurde künstlerisch akzeptiert und erfuhr als Person zugleich Ablehnung. Gleichwohl wusste sie – »die Exotin« – die Doppelrolle und den Freiraum, den ihr diese Zwitterstellung bot, produktiv zu nutzen: künstlerisch wie gesellschaftlich. Auch wenn es ihr nicht gelang, die Vorurteile der Londoner Elite ihrer Person gegenüber abzubauen, so schuf sie doch mit ihren Werken eine Verbindung zwischen alter und neuer Welt. Neben ihrer kolonialen Identität, die in ihren Neuseelandgeschichten deutlich wird, entwickelte sie auch eine Metropolenidentität, filterte aus beiden Welten das Beste für sich heraus.

Während sie in England in Verbindung mit anderen Avantgarde-Autoren zur Schriftstellerin wurde, wurde ihr Gespür für Ästhetik und Kunst durch Neuseeland geprägt. In der Natur Neuseelands entwickelte Katherine Mansfield jene exakte Beobachtungsgabe, für die sie berühmt wurde. Sie lernte, genau hinzusehen, genau hinzuhören und mit geschärften Sinnen durch die Welt zu gehen. Ihre erste Biografin Ruth Elvish Mantz schrieb zu Recht, dass Katherine Mansfield in England lernte, wie man schreibt, Neuseeland ihr aber gezeigt hätte, worüber sie schreiben sollte.

Als Colonial Modernist verfügte Katherine über eine unverwechselbare Perspektive auf die Dinge, ihr Heranwachsen in Neuseeland wird zur Inspirationsquelle ihrer besten Kurzgeschichten. Dass sie dabei mit ihren Landsleuten, aber auch mit der eigenen Familie nicht immer freundlich umging, nährte das Gerücht, ihr Vater habe Schiffe, die im Hafen von Wellington einliefen, abgepasst, damit die Bücher seiner Tochter über Bord geworfen wurden, ehe sie neuseeländischen Boden erreichten. Weiß man allerdings, dass gerade Katherines Vater alles tat, um die Erinnerung an seine Tochter wachzuhalten und ihren Ruhm zu mehren, bleibt dies nicht mehr als ein Gerücht. Zwar ist es unabdingbar, Katherine Mansfields Short Storys zu lesen, um ihr nahezukommen, sie jedoch für bare Münze zu nehmen wäre verfehlt. Auch wenn vieles autobiografisch anmutet und sie eine wahre Meisterin darin ist, Stimmungen, Hierarchien und Machtverhältnisse aufzudecken, so hat sie reale Ereignisse und ihr nahestehende Menschen vor allem als Material benutzt, um ihre Geschichten zu entwickeln: »Ich bin überzeugt davon, dass die einzige Möglichkeit, als Schriftstellerin zu leben, darin besteht, aus dem realen, vertrauten Leben zu schöpfen – quasi den persönlichen Schatz zu heben …. Und das Merkwürdige ist, dass, wenn wir das beschreiben, was uns so zutiefst persönlich erscheint, andere Menschen es für sich selbst übernehmen und es so verstehen, als wäre es ihr eigenes.«[22]

Nietzsches Trennung von Werk und Autor ist bei Katherine Mansfield unmöglich, oder wie Ian Gordon, einer der besten Mansfield-Kenner, schreibt: »Katherine Mansfield verarbeitete ihre eigenen Erlebnisse in ihren Geschichten in einem Ausmaß, das in der englischen Belletristik ihresgleichen sucht. Sie schrieb über nichts, was ihr nicht unmittelbar widerfahren wäre, selbst dann nicht, wenn sie am phantasievollsten zu sein schien. Ihre Geschichten gewinnen, wenn man sie in der Reihenfolge ihrer Entstehung liest, an Kraft und Bedeutung und werden an allen Stellen von den Ereignissen ihrer eigenen Geschichte erhellt. Ihr gesamtes Werk wird auf diese Weise zu einer Art recherche du temps perdu, zu einer Erinnerung an die Vergangenheit.«[23]

Mehr als die Wahrheit spiegeln ihre Geschichten ihre Empfindungen wider, ihre Sicht der Dinge oder auch, wie sie die Dinge gern gehabt hätte. Gespräche von Biografen mit Freunden und Familie über Katherine Mansfields Erzählungen zeigen, wie sehr Wahrnehmung differiert und wie wenig eine Person im Besitz der Wahrheit ist.

Katherine Mansfield hat nie einen Roman geschrieben, auch wenn sie es, wie die Fragmente Juliet, Maata und ihre Kurzgeschichten über die Familie Burnell deutlich machen, immer vorhatte. Wie andere Meister der Kurzgeschichte litt auch sie darunter, »nur« Kurzgeschichten zu verfassen. Dabei ist die Short Story wahrlich eine literarische Königsdisziplin und so ganz nebenbei auch die perfekte Literaturform für das Schreiben, so wie sie es verstand: »Es ist etwas ganz Eigenartiges, wie das Handwerk zum Schreiben kommt. Ich meine, bis in die Details. Par exemple. In ›Miss Brill‹ legte ich nicht nur die Länge jedes Satzes fest, sondern sogar den Klang jedes Satzes – ich legte fest, wie jeder Absatz anstieg und abfiel, damit er zu ihr passte – zu ihr passte an jenem Tag, genau in jenem Augenblick. Nachdem ich es geschrieben hatte, las ich es laut – mehrere Male –, so wie man eine Musikkomposition noch einmal spielen würde, und versuchte, es dem Ausdruck von Miss Brill immer weiter anzunähern – bis er ihr passte. (…) Wenn ein Stück gelingt, dann scheint es mir, als dürfte kein einziges Wort an der falschen Stelle stehen und kein Wort da sein, das man herausnehmen dürfte.«[24] In einer Katherine-Mansfield-Story ist jedes Wort wohl gesetzt, nichts kann weggelassen werden, kein Wort ist überflüssig. Ihre Erzählungen lesen sich nicht so nebenbei. Es verlangt Konzentration, ihren Metaphern und Symbolen auf die Spur zu kommen und nicht zu übersehen, dass der Birnbaum, der Wind oder die Aloe im Garten mehr sind, als sie scheinen. Jedes noch so winzige Detail ist von Bedeutung. D. H. Lawrence verglich Katherine Mansfield einmal mit Charles Dickens, »wenn es so in dem Kessel auf dem Feuer brodelt und alles eine große Bedeutung hat«.[25]

Katherine Mansfields Kurzgeschichten setzen stets unvermittelt, aber immer genau zum richtigen Zeitpunkt ein. Nichts ist dem Zufall überlassen. Der Leser befindet sich sofort mitten im Geschehen. In ihren leisen, eleganten Geschichten gibt es weder eine Einführung noch ein sanftes Hinausgleiten. Vieles enthüllt sich erst mit der Zeit oder wird gar erst am Ende offenbar. Die Spannung bleibt hoch, auch wenn die Erzählung selbst weder Höhepunkt noch vordergründig einen Plot zu haben scheint. Mansfields Figuren lassen sich nicht durch Wissen verstehen, wir kennen sie nicht, erfahren nur wenig über sie und sind nicht in der Lage, sie zu beurteilen. Impressionistisch im Stil, umfasst die Zeitspanne ihrer Kurzgeschichten meist nur einen Augenblick. Selbst ihre längeren Texte erzählen oft nur von einem Tag, selten gehen sie über mehrere Tage. Alles ist flüchtig, ausschnitthaft und doch von bestechender Unmittelbarkeit. Wir begleiten die Figuren nur für wenige Augenblicke, dann ist deren Geschichte auch schon wieder zu Ende – allerdings nur vordergründig. Denn beim Lesen der letzten Zeilen ist klar, die Geschichte geht weiter, das Leben der Figuren wird sich ändern, auch wenn niemand sagen kann, welche Richtung sie einschlagen. Alles ist möglich von dem Moment an, in dem der Leser diese Leben wieder verlässt. Zurück bleibt meist Unbehagen, eine perfekte Welt hat Risse bekommen: Die ruinierte Perfektion ist eines der Lieblingsmotive dieser Autorin.

Weder die Vergangenheit noch die Zukunft ihrer Protagonisten enthüllt Katherine Mansfield, über das Leben vor und nach der Erzählung erfahren wir nichts. Es gibt nur die erzählte Wirklichkeit, die meist nicht einmal durch den Ort der Handlung konkretisiert wird. Katherine Mansfield schreibt nicht über Neuseeland oder Europa, sie schreibt über Kindheit, Ehe, Familie, Frauen und Männer. Weltweit können sich Leserinnen in ihren Texten wiederfinden, deren universelle Zugänglichkeit eines ihrer bestechendsten Merkmale ist.

Katherine Mansfield verzichtet auf einen Erzähler und weiterführende erzählerische Angaben. Sie beschreibt weder Gesichter noch Kleidung, verzichtet auf Altersangaben und Charakterbeschreibungen. Nicht einmal, wie die Figuren zueinander stehen, enthüllt sie. Auffällig ist, mit wie wenig Personen sie auskommt, Freunde und Familie tauchen gleich in mehreren Geschichten auf. Dafür tragen Flora und Fauna, Möbel und Häuser oft menschliche Züge. Katherine Mansfield ergreift nie Partei. Ihre Betrachtungsweise ist nüchtern distanziert, und doch ist sie in der Lage, ihre Figuren bis hin zur Grausamkeit zu sezieren. Manchmal kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie ihren Figuren nicht nur keinerlei Sympathie entgegenbringt, sondern sie mit kaum zu verhehlender Aggressivität quält. Wie ihre Mitmenschen, so behandelt sie auch ihre Figuren mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit – mitleidlos, zugleich aber auch mit Humor. Mit einem exzellenten Gespür für Zwischentöne gesegnet, schuf sie Erzählungen, die keinen Zeitgeist atmen und darum bis heute lesenswert sind.

Ähnlich wie Anton Tschechow, der als eine ihrer Inspirationsquellen gilt, arbeitete sie mit der Technik des Bewusstseinsstroms, einer Methode des inneren Monologs. Während allerdings beim inneren Monolog die Figur in Form von meist grammatikalisch und im Satzbau korrekten Selbstgesprächen mit sich selbst kommuniziert, bleiben beim Bewusstseinsstrom Bewusstseinsinhalte unmittelbar, unzusammenhängend und ungeregelt im Raum stehen. Oft sind sie fragmentarischer Natur und werfen Wahrnehmung, Empfindung und Erinnerung wild durcheinander. Diese besondere Form der Ich-Erzählung, die auch von Katherines Freundin und Konkurrentin Virginia Woolf eingesetzt wurde, soll die Gedankenentwicklung der Figuren enthüllen. Katherine Mansfield schrieb aus der subjektiven Wahrnehmung ihrer Figuren heraus und legte mithilfe des Bewusstseinsstroms Widersprüche und Gegensätze offen, die in der Gefühlswelt ihrer Figuren toben. Ihre Texte sind geprägt von dieser auch von James Joyce und Marcel Proust verwandten Erzähltechnik, die vor allem im englischsprachigen Modernismus beliebt war und bei der der Leser aufgrund fehlender Beschreibungen und chronologischer Struktur einige Rekonstruktionsarbeit leisten muss. Eine Katherine-Mansfield-Story folgt keiner chronologischen Reihenfolge, sondern dem inneren Erleben der Figuren, wobei Vergangenheit und Gegenwart geschickt ineinandergreifen. Bei ihr geht es nicht um Ereignisse, sondern um Stimmungen. Und um diese perfekt wiederzugeben, war Katherine Mansfield im wahren Leben stets am Beobachten, am Sammeln von Material, am Notieren. Alles war von Bedeutung, alles konnte irgendwann verwendet werden: jeder Geruch, jeder Windhauch, jede Blume. Sie hatte ein ungeheures Auge für Details, war immer hoch konzentriert und aufnahmefähig. Noch Jahre später konnte sie Eindrücke hervorholen und daraus eine Geschichte machen. Ihre Themen waren vielfältig. Es geht um Identität, Bisexualität, Ehe, Liebe, Einsamkeit, Sehnsucht, toxische Männlichkeit, Geschlechterverhältnisse und unglückliche Frauen. Ihre Figuren wirken oft radikal, wie Menschen verzehrende Ungeheuer, die Katherine Mansfield dazu zwingt, sich einer Situation zu stellen. Für ihre Figuren wollte Katherine Mansfield genau das, wonach sie auch in ihrem eigenen Leben auf der Suche war: Wahrhaftigkeit.

Knapp hundert meisterhafte Erzählungen hat Katherine Mansfield verfasst, alle geprägt von einem eigentümlichen Wechselspiel aus Nähe und Distanz, zu dem sie vor allem ihre eigene Biografie animierte. Im Schreiben überwand die Frau, die sich nirgendwo zugehörig fühlte, Grenzen: zeitlich, geografisch, menschlich, und schuf sich, ähnlich wie ihr Kollege Edward Said dies in seiner Autobiografie Am falschen Ort beschreibt, eine Heimat aus Wörtern. Im Schreiben fand sie die Wahrhaftigkeit und Geborgenheit, die sie im Leben vermisste.

Die Frau mit den vielen Gesichtern macht es einem nicht leicht, sich ihr zu nähern. Schon zu Lebzeiten legte sie großen Wert darauf, ihr Innerstes nicht vollends nach außen zu kehren, die Unergründliche zu bleiben. Nach der langen Zeit, die ich mit ihr verbringen durfte, bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass dies ihr gutes Recht war und ist. Wie alle, die sich mit ihr beschäftigen, habe auch ich nicht auf jede Frage eine Antwort bekommen. Sie würde wohl große Genugtuung empfinden angesichts der Tatsache, dass ganze Heerscharen von Literaturwissenschaftler*innen und Biograf*innen ihr so manches Geheimnis nicht entlocken konnten.

Bald schon werde ich England verlassen. Nach einem Konzert in St Martin-in-the-Fields schlendere ich durch das abendliche London, vorbei an der National Portrait Gallery. Hier sind die Porträts von Katherines Freunden und Feinden versammelt. Ihr eigenes hängt in Neuseeland, weit weg von England und den Bloomsburys. Unwillkürlich muss ich daran denken, wie wir in jungen Jahren in Cambridge bei schönem Wetter beinahe täglich im legendären Orchard von Grantchester dieser Intellektuellengruppe huldigten. Was hätte ich darum gegeben, diese Leute kennenzulernen. Katherine Mansfield kannte sie, und auf die meisten hätte sie gut und gern verzichten können. Dabei hätte niemand so gut zu dieser verwegenen Gruppe gepasst wie sie, die unangepasste, aufmüpfige, mutige Neuseeländerin, die vor allem eins sein wollte: Katherine Mansfield.

Und dieser Katherine Mansfield versuche ich gerecht zu werden, ganz im Sinne Bertrand Russells, der einst über seinen Nachruhm etwas formulierte, das auch zu Katherine Mansfield gepasst hätte: »Ich weiß nicht, wer mein Biograf sein wird, aber ich hätte gern, dass er, mit welcher Rede es ihm recht sein mag, etwa Folgendes berichtet: ›Ich war kein feierlicher Heiliger wie auf bunten Glasfenstern, der nur zum Zwecke der Erbauung existiert; ich existierte aus meiner eigenen Mitte heraus. Vieles, was ich tat, war bedauerlich, ich achtete achtbare Leute nicht, und wenn ich vorgab, es zu tun, dann war es Betrug. Ich log und heuchelte, denn hätte ich es nicht getan, so hätte man mich meine Arbeit nicht tun lassen. Aber es besteht keine Notwendigkeit, nach meinem Tode mit der Heuchelei fortzufahren.‹«[26]

In diesem Sinne blicken wir durch den Zaun und wagen eine Annäherung an das Phänomen Katherine Mansfield.

London, im Sommer 2023

»Anfangs lieben Kinder ihre Eltern;

wenn sie älter werden,

halten sie Gericht über sie;

manchmal verzeihen sie ihnen.«

(Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray)

»Eines kann ich nicht ertragen, und das ist Mittelmaß!«

I. Ein ungeschliffener Diamant oder Kass von den Beauchamps

Olgivanna Lloyd Wright, Le Prieuré, Fontainebleau, Frankreich, 15. Oktober 1922

»Sie stand in der Tür des großen Speisesaals und sah alles und jeden mit stechend intensiven, dunklen Augen an. Sie brannten vor Verlangen und Hunger nach neuen Eindrücken. (…) Ich fragte, wem dieses wundervolle Gesicht gehörte – ihren Körper hatte ich gar nicht bemerkt. ›Sie ist eine Schriftstellerin, eine Engländerin, ihr Name ist Katherine Mansfield.‹ Ich wollte sie unbedingt kennenlernen.«[27]

Wellington, Neuseeland, 14. Oktober 1888

Dieser Sonntag beginnt stürmisch. Seit den frühen Morgenstunden braust der Wind ums Haus. Doch in der Tinakori Road Nr. 11 in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington hat dafür niemand ein Ohr. Die Dame des Hauses liegt in den Wehen. Der Morgen graut schon, als das Kind endlich das Licht der Welt erblickt: Es ist ein Mädchen. Jahre später wird dieses Mädchen über jenen stürmischen Sonntagmorgen am 14. Oktober 1888 schreiben: »Sie war während eines eisigen Südsturms schreiend aus ihrer widerstrebenden Mutter gekrochen. Als die Großmutter sie vor dem Fenster wiegte, sah sie, wie das Meer sich zu grünen Bergen erhob und die Esplanade überschwemmte. Das kleine Haus war wie eine Muschel im lauten Meeresdröhnen. Unten im Graben peitschten die Bäume wild gegeneinander, und große Möwen glitten kreiselnd und kreischend am Fenster vorbei.«[28] Der Wind wird sie ihr Leben lang faszinieren und ängstigen zugleich und ein wiederkehrendes Motiv ihrer Erzählungen sein.

Einen Tag nach dem großen Ereignis findet sich unter den Geburtsanzeigen der Wellingtoner Evening Post folgende Notiz: »Beauchamp – am 14. Oktober, Frau von Mr Harold Beauchamp, eine Tochter«.[29] Das Kind erhält den Namen Kathleen Mansfield Beauchamp, doch die Welt lernt sie später unter ihrem selbstgewählten Namen Katherine Mansfield kennen.

Seit 1865 neuseeländische Hauptstadt, ist Wellington in jener Zeit eine mittlere Kleinstadt mit circa 28 000 Einwohnern. Katherines Familie gehört zu den angesehenen Bürgern der von Wasser umgebenen Stadt an der südwestlichen Spitze der Nordinsel von Neuseeland. Geprägt von einem Naturhafen, der entscheidend zum Wohlstand ihrer Bewohner beiträgt, liegt sie malerisch zwischen grünen Hügeln. Eine Idylle, die Katherine durchaus mit gemischten Gefühlen betrachtet: »Zugegeben ein recht unscheinbares Fleckchen Erde, aber wenn man so wie ich rastlos in der Weltgeschichte herumzieht, dann sind es wohl gerade die unscheinbaren Orte, die es in sich haben.«[30]

Gesellschaftliche Aufsteiger wie Katherines Eltern leben bevorzugt im Stadtteil Thorndon. Hier befinden sich das neuseeländische Parlament, zahlreiche Gerichtsgebäude und Kirchen sowie die Nationalbibliothek. Im Westen durch den grünen Gürtel des Te-Ahumairangi-Hügels begrenzt, im Osten durch den Hafen, ist Thorndon eine der ältesten Siedlungen Neuseelands, errichtet beim Eintreffen der ersten europäischen Siedler 1840. Heute sind dort zahlreiche Botschaften untergebracht, auch die deutsche. Das Haus, in dem Katherine Mansfield das Licht der Welt erblickt, gehört zu den bescheideneren Gebäuden im Viertel. Man sieht ihm an, dass es während der Wirtschaftskrise der 1880er Jahre errichtet worden war. Seit geraumer Zeit sieht sich das Land, dessen Hauptwirtschaftszweig der Export von Wolle ist, mit der Tatsache konfrontiert, dass auch andere Länder in großem Stil Wolle exportieren. Der Zusammenbruch der Wollpreise auf dem Weltmarkt hat den Immobilien- und Bankensektor des Inselstaates mitgerissen. Das Land befindet sich in einer Depression, es gibt unzählige Pleiten und mannigfache Arbeitslosigkeit. Es gibt Gegenden in Wellington, die mehr ans mittelalterliche London denn an eine moderne Stadt erinnern. In unmittelbarer Nähe zu Katherines Elternhaus liegen Slums, die eine Säuglingssterblichkeit von fast 80 Prozent aufweisen.[31]

Katherine ist nach den Töchtern Vera Margaret (1885) und Charlotte Mary, genannt Chaddie, (1887) das dritte Kind ihrer Eltern. Sie wird in einen nicht uninteressanten Haushalt hineingeboren. Ihr Vater Harold Beauchamp wird im Laufe seines Lebens nicht nur einer der reichsten Männer Neuseelands werden, sondern völlig unabhängig von seiner berühmten Tochter in die Geschichtsbücher eingehen. Er gehört jener Generation von Neuseeländern an, die bereits in den Kolonien geboren wurden, und ist Abkömmling einer Familie von Abenteurern, Visionären und Pionieren, die ihre Vorfahren bis zu William the Conqueror zurückverfolgen können.

Mitte des 19. Jahrhunderts war sein Vater Arthur Beauchamp, Katherines Großvater, aus Highgate in England nach Sydney ausgewandert. Zahlreiche seiner Verwandten folgten seinem Beispiel und gehörten damit zu den wenigen Briten, die sich freiwillig in die britische Strafkolonie New South Wales aufmachten. Die allerwenigsten Untertanen seiner Majestät konnten sich vorstellen, ans andere Ende der Welt überzusiedeln, weshalb die Besiedlung der neuen Besitztümer der britischen Krone einige Zeit in Anspruch nahm.

Im 17. Jahrhundert waren es vor allem niederländische Seefahrer gewesen, die zuerst bis an die Westküste Australiens vorgedrungen waren. Was sie dort vorfanden, wirkte wenig einladend, dennoch beauftragte die Niederländische Ostindien-Kompanie 1642 eine Expedition mit der gezielten Erforschung des Landes, das, ohne daraus Besitzansprüche abzuleiten, den Namen »New-Holland« erhielt.

Ins Blickfeld der britischen Krone rückte der neue Kontinent zum ersten Mal, als der Naturforscher und Freibeuter William Dampier 1688 und 1699 an Bord des Piratenschiffs Cygnet im Nordwesten des heutigen Australiens anlandete. Seine Berichte nach Hause klangen wenig vielversprechend, wurden aber unter dem Titel A Voyage to New Holland zur Inspirationsquelle eines der berühmtesten Reiseromane aller Zeiten: Gullivers Reisen. Dieser war bereits zu Lebzeiten so erfolgreich, dass der neu entdeckte Kontinent für die meisten Menschen eher durch die Fantasie Jonathan Swifts geprägt war als durch die Realität. Nicht nur, dass der Roman eine ziemlich freie Landkarte der Südwestküste New-Hollands zeichnete, behauptet Romanheld Gulliver auch, ein Cousin William Dampiers zu sein: »Wir legten am 4. Mai 1699 in Bristol ab, und unsere Reise war zunächst sehr glücklich. Aus verschiedenen Gründen wäre es nicht angebracht, den Leser mit den Einzelheiten unserer Abenteuer in jenen Gewässern zu behelligen. Es mag genügen, ihn zu informieren, dass wir auf unserer Fahrt von dort nach Ostindien durch einen heftigen Sturm nordwestlich von Van Diemen’s Land verschlagen wurden. Nach einer Berechnung befanden wir uns auf dem 30. Breitengrad zwei Minuten südlich. Zwölf aus unserer Mannschaft waren bereits infolge der übergroßen Anstrengung und schlechten Nahrung gestorben, die Übrigen befanden sich in einer sehr schwachen Verfassung. Am 5. November, das ist Sommeranfang in jenen Breiten, als das Wetter sehr dunstig war, erspähten die Matrosen einen Felsen, der eine halbe Kabellänge von unserem Schiff entfernt war. Aber der Wind war so stark, dass wir geradewegs auf ihn zugetrieben wurden und unmittelbar danach auseinanderbrachen. Sechs Mitglieder der Mannschaft, zu denen ich gehörte, ließen das Rettungsboot in die See hinab und bemühten sich, von Schiff und Felsen freizukommen. Nach meiner Berechnung ruderten wir ungefähr neun Meilen, bis wir nicht mehr konnten, da wir uns durch die Anstrengung bereits verausgabt hatten, als wir noch auf dem Schiff waren. Wir gaben uns daher den Wellen preis, und etwa eine halbe Stunde später kenterte das Boot durch eine Böe aus nördlicher Richtung. Ich kann nicht sagen, was aus meinen Gefährten im Boot geworden ist oder aus denen, die auf den Felsen entkamen, oder denen, die wir im Schiff zurückließen. Ich nehme aber an, dass sie alle untergegangen sind. Was mich selbst angeht, so schwamm ich, wie das Schicksal mich lenkte, und ich wurde von Wind und Flut vorwärtsgestoßen. Oft ließ ich meine Füße hinunter, konnte aber keinen Grund spüren. Doch als ich beinahe ohnmächtig und nicht länger zu kämpfen in der Lage war, trat ich auf festen Boden. (…) Ich war todmüde, und (…) infolge eines Viertelliters Branntwein, den ich beim Verlassen des Schiffes getrunken hatte, hatte ich große Lust einzuschlafen. Ich legte mich ins Gras, das sehr kurz und weich war, und schlief dort besser als je zuvor in meinem Leben. (…) Als ich erwachte, brach gerade der Tag an. Ich versuchte aufzustehen, konnte mich aber nicht bewegen. Ich lag zufällig auf dem Rücken und merkte, dass meine Arme und Beine beiderseits auf dem Boden festgebunden waren.«[32] Nimmt man Swifts nautische Angaben für bare Münze, dann liegt die Insel Liliput mitten in Australien. Während Swift Dampiers Reise nach Australien nur als Hintergrund seiner Geschichte wählte, beruht ein weiterer Klassiker der Literaturgeschichte auf einer tatsächlichen Episode in Dampiers Seefahrerleben: Daniel Defoes Robinson Crusoe von 1719. Dampiers ehemaliger Segelmeister Alexander Selkirk, von dem er sich im Streit getrennt hatte, blieb 1704 freiwillig auf der unbewohnten Isla Más a Tierra viele Meilen vor der chilenischen Küste zurück, da er befürchtete, das durch Bohrmuscheln beschädigte Schiff Cinque Ports könnte sinken. Zwar konnte er davon keinen seiner Mannschaftskameraden überzeugen, behielt jedoch recht, als das Schiff kurz darauf mit Mann und Maus unterging. Fünf lange Jahre musste Selkirk ausharren, bis Dampier ihn bei seiner dritten Weltumseglung 1709 wieder an Bord nehmen konnte. Auch wenn das Publikum begeistert war von derlei Geschichten, waren die Interessen der englischen Regierung lange Zeit völlig anders gelagert und konzentrierten sich vor allem auf die Besitzungen in Amerika. Auch keine andere europäische Macht zeigte Interesse, das neue Land unter ihr Hoheitsgebiet zu bringen. Dies änderte sich, als 1770 James Cook auf seiner ersten Reise in die Südsee an der fruchtbaren Ostküste Australiens anlandete. Er unterstellte dieses Gebiet unter dem Namen New South Wales dem Besitz der englischen Krone. Kurz darauf verlor das Britische Empire durch den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg seine bis dato größte Kolonie. Damit verbunden war nicht nur ein Macht- und Einflussverlust, sondern auch ganz praktisch die Möglichkeit, überfüllte britische Gefängnisse durch Gefangenentransporte in die Kolonien nach Nordamerika zu entlasten. Damit rückte das Land am anderen Ende der Welt wieder ins Bewusstsein. Mit der Gründung einer neuen Strafkolonie in New South Wales konnte zudem die Machterweiterung im Pazifik strategisch vorangetrieben werden. Am 26. Januar 1788 trafen die ersten elf Schiffe der sogenannten First Fleet mit verurteilten Sträflingen an Bord dort ein. Die erste neue Ansiedlung wurde nach dem amtierenden britischen Innenminister Sydney benannt. Heute ist der Gründungstag der Kolonie New South Wales, der 26. Januar 1788, als »Australia Day« offizieller Nationalfeiertag. Gefeiert wird er jedoch vor allem von weißen Australiern. Für die Aborigines markiert er den Beginn ihrer Vertreibung aus ihrem eigenen Land und den Tag, an dem die Kolonialisierung mit all ihren Schrecken offiziell begann.

Mit den Häftlingen kommen zunächst vor allem Soldaten und Verwaltungsbeamte. Auch sie kommen in den wenigsten Fällen freiwillig, sehen sich aufgrund unglücklicher Umstände meist gezwungen, ihren Dienst in der neuen Kolonie zu verrichten. Bis zum Ende der Deportationen 1868 werden insgesamt 162 000 Häftlinge nach Australien verschifft. Ab 1792 kommen auch vereinzelt Siedler, denen die britische Regierung die Landnahme in New South Wales gestattet – Land, das sich teils auch im Besitz der Ureinwohner befindet. Die Zahl der freiwilligen Einwanderer bleibt jedoch so gering, dass die Regierung ab 1835 dazu übergeht, geeigneten Auswanderungswilligen die Überfahrt zu bezahlen. Besonders junge Familien, Paare, aber auch alleinstehende Frauen will man zur Auswanderung bewegen. Von Anfang an ist geplant, dass sich die Sträflingskolonie finanziell selbst tragen und selbst verwalten soll. Einer der ersten Gouverneure von New South Wales wird 1806 William Bligh, ehemaliger Kapitän der Bounty, der bei einer Meuterei von seiner eigenen Crew ausgesetzt worden war und dem es in einer seefahrerischen Glanzleistung gelungen war, mit einigen Getreuen in einer offenen Barkasse mehr als 3600 Seemeilen von Tonga nach Timor zurückzulegen. Jules Vernes Kurzgeschichte über die Meuterei auf der Bounty sowie die Filmadaptionen des Stoffs mit Clark Gable oder Marlon Brando als Fletcher Christian, dem »heroischen« Anführer der Meuterer, haben Bligh einen der Wahrheit nicht ganz entsprechenden schlechten Ruf eingebracht und ihn zu einem der finsteren Figuren der Abenteuerliteratur gemacht. Seinem schlechten Ruf wird Bligh allerdings als Gouverneur von New South Wales voll und ganz gerecht.

Die meisten Häftlinge bleiben nach Verbüßen ihrer Haftstrafe in New South Wales. Die Kluft zwischen den freigelassenen Emancipists und den freiwilligen Einwanderern, den Exclusives, ist prägend für die ersten Jahre der Kolonisation Australiens. Um wie viel dramatischer die Situation für die Aborigines ist, nehmen die wenigsten Siedler wahr. »Zivilisatorische« Umerziehungsmaßnahmen kongregationalistischer Missionare sowie gewaltsame Strafexpeditionen durch die Kolonisatoren prägen den Alltag der Aborigines. Durch eingeschleppte, bis dato unbekannte Krankheiten dezimiert sich die indigene Bevölkerung drastisch. Eine Entwicklung, die von den Kolonialherren bewusst in Kauf genommen wird, erhofft man sich dadurch doch eine »Lösung« des lästigen »Eingeborenenproblems«. Schließlich braucht man für Neuankömmlinge und entlassene Strafgefangene immer mehr Land. Vor allem, als im Zuge des australischen Goldrausches 1851 die Bevölkerung sprunghaft ansteigt und Tausende Glücksritter an der australischen Küste anlanden. Dies wird zum Startschuss der White Australia Policy, einer diskriminierenden Einwanderungspolitik, die vor allem Menschen aus Asien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Menschen zweiter Klasse behandelt.

Katherines Großvater bleibt als Abkömmling des britischen Mutterlandes und freiwilliger Auswanderer davon unbehelligt. Dem geselligen, großzügigen, vielfach talentierten Mann, leider ohne einen Funken Geschäftssinn, stehen alle Türen offen. Er gilt als würdiger Vertreter des sogenannten »Pa-Man«, mit dem die Familie männliche Mitglieder beschreibt, die, wie Katherine ihrem späteren Schwager Richard Murry gegenüber bestätigt, zwar nicht geschäftstüchtig, dafür aber rundherum außergewöhnlich sind: »Mein Großvater sagte, mit einem sauberen Paar Socken und einer Krähenflinte kommt man um die ganze Welt. Im Alter von 70 und noch was machte er sich auf nach England, doch Mutter bekam es mit der Angst & gab ihm noch das ein oder andere Taschentuch dazu. Als er zurückkehrte, war er bis auf eine große Gießkanne, die er in London für seine jungen Kürbisse gekauft hatte, alles losgeworden. Allerdings soll er Dir kein leuchtendes Beispiel sein.«[33]

Bald nach seiner Ankunft vermählt sich Arthur Beauchamp mit Mary Elizabeth Stanley, einer Waise aus Lancaster, die von ihrer Tante kurzerhand in die frauenarme Kolonie verschifft worden war, um sich hier einen Ehemann zu suchen. Als Katherines Vater Harold, geboren 1858 in Ararat/Victoria/Australien, zwei Jahre alt ist, verlässt das Paar Australien in Richtung Neuseeland, um hier ein Auktionshaus zu eröffnen. Es ist nur einer von zahlreichen Umzügen, die der unstete und geschäftlich nur mäßig erfolgreiche Arthur seiner Familie, die durch insgesamt acht Kinder bald auf zehn Personen anwächst, zumutet. Das kleine Hafenstädtchen Picton wird schließlich zum Stammsitz der Beauchamps. Der viktorianische Schriftsteller Anthony Trollope, der auf einer Reise 1872 das Städtchen besucht, gibt einen kleinen Eindruck davon wieder, wie das Leben hier aussieht: »Picton selbst ist ein hübsches, malerisches Städtchen, das wie alle neuseeländischen Häfen zwischen Bergen und Meer eingezwängt liegt. Es ist ein seltsam einsamer Ort, der nirgendwohin eine Straße hat, außer zu seinem Rivalen Blenheim. Einmal die Woche legt hier ein Dampfer aus Wellington an und einmal aus Nelson, und so erhält es seine Verbindung zur Welt aufrecht … Was das äußere Erscheinungsbild angeht, scheint es Picton recht gut zu gehen. Es gab sehr gute Geschäfte und ordentliche Häuser, hübsche Gärten, und alles machte den Eindruck von verschlafenem, wohlgenährtem Wohlstand.«[34]