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Von der Autorin des Bestsellers "Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber"
Sie war der erste weibliche Superstar des 20. Jahrhunderts - kompromisslos und radikal. Die Tänzerin Isadora Duncan (1877 – 1927) war eine champagnertrinkende Rebellin mit Hang zum großen Drama und den falschen Männern. Ihrer Zeit stets ein Stück weit voraus, lebte sie eine Freiheit, die für Frauen bis dato undenkbar schien. Mit ihrer Kunst begeisterte sie die Massen. Auguste Rodin hielt sie für die bedeutendste Frau, der er je begegnet war, und es hieß, man müsse Isadora Duncan tanzen gesehen haben, um glücklich sterben zu können. Doch bei all ihrem Ruhm war die göttliche Isadora auch die Königin des Scheiterns, des Aufstehens und des Überlebens größter Katastrophen und Tragödien. Mit ungebrochener Leidenschaft für das Leben und einem schier unerschütterlichen Humor bot sie einem grausamen Schicksal die Stirn. Michaela Karl macht aus einem hollywoodreifen Leben eine fesselnde Biografie, detailreich und aktuell. Ein großes Lesevergnügen.
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Seitenzahl: 559
Zum Buch
Isadora Duncan (1877–1927) war eine der einflussreichsten Persönlichkeiten ihrer Zeit. Der moderne Tanz, den sie erfand, war Ausdruck eines neuen Weiblichkeitsbildes und ein Befreiungsschlag gegen jegliche Form von Zwang: gegen männliche Dominanz, politische Unterdrückung und Schönheitsklischees. Sie lebte kompromisslos und stellte sich radikal gegen das Regelwerk der Gesellschaft. Als frühe Feministin stand sie für weibliche Selbstbestimmung ein. Mit ihrer Kunst begeisterte sie die Massen. Auguste Rodin hielt sie für die bedeutendste Frau, der er je begegnet war, und es hieß, man müsse Isadora Duncan einmal tanzen gesehen haben, um glücklich sterben zu können. Doch bei all ihrem Ruhm war die göttliche Isadora auch die Königin des Scheiterns, des Aufstehens und des Überlebens größter Katastrophen und Tragödien. Mit ungebrochener Leidenschaft für das Leben und einem schier unerschütterlichen Humor bot sie dem Schicksal die Stirn.
Detailliert recherchiert und mitreißend erzählt, begleitet Michaela Karl die Frontfrau des Modern Dance durch ihr wildes Leben.
Zur Autorin
MICHAELA KARL, geboren 1971, promovierte 2001 an der FU Berlin mit einer Arbeit über Rudi Dutschke. Ihre Biografien über Dorothy Parker, Zelda & F. Scott Fitzgerald, Unity Mitford, Bonnie & Clyde und Maeve Brennan waren allesamt vom Publikum geliebte und von der Presse hochgelobte Bestseller. Michaela Karl ist Mitglied der Münchner Turmschreiber. 2020 erhielt sie den Kulturpreis Bayern.
MICHAELA KARL
Lasst uns tanzen und Champagner trinken – trotz alledem!
ISADORA DUNCAN
Eine Biografie
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ISBN 978-3-641-26008-8V001www.btb-verlag.de
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In memoriammeiner geliebten MutterChristl Karl(1946–2007)GewidmetChristian Feller (1970–2020)und derAbsolvia ’91
Ich war elf, und später wurde ich sechzehn.Verdienste erwarb ich mir keine,aber das waren die wunderbaren Jahre.
(Truman Capote, Die Grasharfe)
»Gut zu sein ist offenbar ganz einfach. Es erfordert lediglich einen gewissen Grad kleinlicher Angst, einen Mangel an Phantasie und ein gemeines Versessensein auf die Ehrbarkeit des Mittelstandes.«
(Oscar Wilde)
Prolog: Ein Tanz auf dem Vulkan
»Wir müssen diesen Ort verlassen, denn hier werden wir nie etwas erreichen!«
I. Aphrodites Tochter im Wilden Westen
»Ich kann nicht an Chicago denken, ohne ein quälendes Hungergefühl zu verspüren.«
II. Ein kalifornischer Faun auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten
»Was habe ich bei dieser Truppe von schönen, aber verrückten Weibern verloren?«
III. Miss Loïe Fuller und eine keusche Nymphe
»Gruß Euch, ihr Götter, olympischer Zeus, Apoll und Aphrodite!«
IV. Pallas Athene zwischen Grünem Hügel und Winterpalast
»Mein Herz ist in Stücke zersprungen & ich lebe noch.«
V. Teddy und die tanzende Gouvernante aus dem Grunewald
»Wenn die Schule weitergehen soll, muss ich einen Millionär finden!«
VI. Eine hitzköpfige Revolutionärin und ein spendabler Nähmaschinen-Erbe
»Gnädige Frau, vielleicht wäre es besser, wenn die Kinder zu Hause blieben.«
VII. Mater Dolorosa und die Frage danach, wie viel ein Mensch ertragen kann
»Du bist unbesiegbar, und deshalb kannst du nicht scheitern!«
VIII. Eine Amazone auf dem Kalvarienberg der Gefühle
»Komm und trink mit mir, du räudige Hündin!«
IX. Towarischtsch Duncan und der letzte Dorfpoet
»Adieu, meine Freunde, ich fahre dem Ruhm entgegen!«
X. Terpsichore und die Gleichgültigkeit der Welt
Epilog: Eine Hommage an Isadora, die Liederliche
Literatur und Dokumente
Personenregister
Danksagung
Bildteil
Bildnachweis
Berauscht euch, Freunde, trinkt und liebt und lachtUnd lebt den schönsten Augenblick,Die Nacht, die man in einem Rausch verbracht,Bedeutet Seligkeit und Glück.
(Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da)
Glückwunsch! Sie halten gerade ein außergewöhnlich spannendes Leben in den Händen! Im Idealfall können Sie daraus vielleicht Strategien zur Bewältigung eigener Krisen ziehen – und falls nicht, werden Sie sich zumindest keine Sekunde langweilen! Und das nicht, weil dieses Leben in jeder Hinsicht mehr Hollywood als kleines Fernsehspiel ist. Auch nicht, weil die Frau, um die es geht, ihr Leben in jeder Lage im Griff hatte. Ganz im Gegenteil. Aber mal ehrlich, wer möchte so etwas Langweiliges auch lesen, geschweige denn schreiben? Nein, Isadora Duncan war die Königin des Scheiterns, des Aufstehens, des Überlebens größter Katastrophen und Tragödien – und das alles mit einer ungebrochenen Leidenschaft fürs Leben und einem schier unerschütterlichen Humor: »Mein Leben ist eine Abfolge von Niederlagen. Dagegen bin ich schon seit langer Zeit immun.«
Sie war der erste weibliche Superstar des 20. Jahrhunderts und eine wahnsinnig anstrengende Person, kompromisslos und radikal. Starrköpfig, selbstbewusst und keck, litt sie auch unter schrecklichem Lampenfieber. Dennoch waren ihr Mut, ihre Großherzigkeit, ihre Loyalität, ihre Tollkühnheit, ihre Begeisterungsfähigkeit und ihr schier unerschütterliches Vertrauen in sich selbst grenzenlos.
Die Frontfrau des Modern Dance hatte blaue Augen, schwarzes Haar, das sie später mit Henna rot färbte, war nur etwas mehr als 1,50 Meter groß und redete, ganz gleich in welcher Sprache, immer mit einem leicht amerikanischen Akzent, der ihre Herkunft verriet. Sie gilt als eine der meistporträtierten Frauen der Geschichte, und zweifellos schieden sich an ihr die Geister.
Auguste Rodin hielt sie für die bedeutendste Frau, der er je begegnet war, ja, vielleicht sogar für die bedeutendste Frau, die je gelebt hat. Andere waren eher geneigt, dem amerikanischen Massenprediger Billy Sunday zuzustimmen, der sie als »bolschewistisches Flittchen« bezeichnete, »das nicht einmal genug Kleidung trug, um ihren Intimbereich zu bedecken«. Isadora Duncan war eine champagnertrinkende Rebellin mit Hang zum großen Drama und den falschen Männern. Manche fanden sie überspannt, andere göttlich, und der amerikanische Journalist Floyd Dell schrieb, man müsse Isadora Duncan tanzen gesehen haben, um glücklich sterben zu können.
Isadora Duncan war eine Weltfigur im hegelschen Sinne, die auch außerhalb ihrer Kunst eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der Jahrhundertwende war. Schon zu Lebzeiten war die Duncan der Inbegriff einer unabhängigen Frau, die auf die herrschenden Moralvorstellungen pfiff und stattdessen Werte verkörperte, die zeitlos und universell sind. Politisch immer auf Seiten der Unterdrückten stehend schloss ihre aufrechte Haltung Genuss und Leidenschaft niemals aus. Der irische Künstler John Butler Yeats, Vater des Dichters W. B. Yeats, erlebte sie 1908 in New York und schrieb anschließend an seinen Sohn: »Ich habe sie in einem Restaurant getroffen, und mir war sofort klar, dass sie die außergewöhnlichste Person der Welt sein muss. Sie macht ihre eigenen Pläne, und es ist ihr völlig egal, was man von ihr denkt oder über sie sagt. Sie unternimmt keinerlei Anstrengungen, irgendjemandem zu gefallen. Die Leute sind in ihrer Meinung über sie äußerst gespalten, und die sich gegenüberstehenden Parteien hassen sich wie die Capulets und die Montagues.«
Isadora Duncan selbst führte viele ihrer Charaktereigenschaften auf die Natur des Nordwestens der USA und spezifisch amerikanische Einflüsse zurück: »Ich war ein Produkt des amerikanischen Puritanismus (…) – Amerika hat mich in meiner Jugend tief geprägt; ich war eine Puritanerin und eine Mystikerin auf der Suche nach dem Ausdruck von Heldenmut, weit mehr als nach dem Ausdruck von Sinnlichkeit, und ich glaube, dass die meisten amerikanischen Künstler vom gleichen Schlag sind.« Dass ihr Selbstbewusstsein, ihr Mut und ihr Gerechtigkeitsempfinden unmittelbar mit ihrer Herkunft zu tun hatten, wurde zu ihren Lebzeiten sogar von Historikern so gesehen, stand sie mit dieser Einschätzung doch in völligem Einklang mit der bis heute berühmtesten soziohistorischen These über die USA: der Frontierthese von Frederick Jackson Turner. Im Juli 1893 hielt der junge Professor der University of Wisconsin-Madison einen Vortrag, der ihn zu einem der angesehensten Historiker des Landes machte. Turner erklärte, dass die Entwicklung der USA grundverschieden sei von der Europas, weshalb sich europäische Kategorien auf Amerika nicht übertragen ließen. Bis 1890 sei Amerikas Historie eine Geschichte der Erweiterung des Landes in Richtung Westen gewesen: das freie Vorrücken einer freien Bevölkerung in einem freien Land. Die von ihm so bezeichnete »Frontier« sei dabei der immer wieder neu entstandene Grenzraum gewesen, der sich in einem immer wieder von neuem beginnenden Prozess beständig weiter westwärts verlagerte, wobei es an jeder neuen Grenze zu einer Wiedergeburt der Demokratie kam: ein evolutionärer Prozess unter den spezifischen Umweltbedingungen Nordamerikas.
Noch in den 1850er Jahren war das Territorium jenseits des Mississippi weitgehend unbekannt. Ein schier endloser Strom an Einwanderern führte schließlich zur staatlichen Förderung der Westexpansion. 1862 unterzeichnete Abraham Lincoln den Homestead Act, wonach sich jede Person über 21 Jahren bis zu 64 Hektar unbesiedeltes Land abstecken durfte, um es zu bewirtschaften und zu besiedeln. Nach fünf Jahren ging das Land dann in den Besitz der Siedler über. Spätestens als sich am 10. Mai 1869 die beiden Teilstrecken der Eisenbahn aus Ost und West in Promontory Summit/Utah trafen und somit ganz Nordamerika von Küste zu Küste durch die Eisenbahn miteinander verbunden war, war klar, dass der Westen endgültig Teil der USA war.
Die Westexpansion hat nach Turner besondere Institutionen und eine neue demokratische Kultur hervorgebracht: »Die Besonderheit amerikanischer Institutionen besteht darin, dass sie gezwungen waren, sich an den Wandel eines expandierenden Volkes anzupassen – einen Wandel, der mit dem Durchqueren eines Kontinents, dem Erobern der Wildnis und damit einer Entwicklung verbunden war, die in jedem erreichten Gebiet von den primitiven wirtschaftlichen und politischen Bedingungen des Grenzraums, der Frontier, zur Komplexität eines städtischen Lebens führte.« Unabhängigkeit, Selbstvertrauen und Individualismus, Eigenschaften, die auch Isadora im Übermaß verkörperte, wurden dadurch ausgebildet. Die Frontier wurde zum Dreh- und Angelpunkt der amerikanischen Geschichte, aus der sich alle weiteren Entwicklungen ableiten lassen. Damit widersprach Turner der bis dahin geltenden Keimzellentheorie, wonach die amerikanische Entwicklung von Europa abgeleitet war. Diese war seiner Ansicht nach falsch, weil die amerikanische Frontier nicht wie eine europäische Grenze starr und befestigt war, sondern der stetigen Veränderung unterlag. Je weiter sie sich nach Westen verschob, umso geringer wurde der europäische Einfluss. Darum sei die amerikanische Demokratie durch und durch amerikanisch und keineswegs aus Europa importiert: »Amerikas Demokratie ist nicht eine Kopfgeburt irgendwelcher Theoretiker; sie wurde weder auf der Sarah Constant nach Virginia getragen noch auf der Mayflower nach Plymouth. Sie kam aus den amerikanischen Wäldern, und sie sammelte neue Kraft, jedes Mal, wenn sie eine neue Frontier erreichte. Nicht die Verfassung, sondern freies Land und eine Fülle natürlicher Ressourcen, die einem gesunden Volk zur Verfügung standen, schufen während drei Jahrhunderten die demokratische Gesellschaftsform in Amerika und gleichzeitig eine Art Imperium.«
Mit der endgültigen Eroberung des Westens war diese Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts zu ihrem Abschluss gekommen, was zu den vielen Problemen führte, mit denen die USA zu Isadoras Lebzeiten zu kämpfen hatten. Die Nation war sozial tief gespalten, niemals hatte es so viele Millionäre und zugleich so viele arme Schlucker gegeben. Die Grenzen des Wachstums waren offenkundig erreicht, Wirtschaftskrisen erschütterten das Land. Für einen Staat, in dem es keinen Ausgleichsmechanismus zwischen Arm und Reich gibt, war dies eine explosive Situation. Den Millionen Neuankömmlingen begegnete man längst mit offener Feindschaft, die Demokratie an sich schien in Gefahr.
Die stetige Erneuerung der Demokratie an der Frontier, die wie eine Selbstheilungskraft funktioniert hatte, fiel mit dem Ende der Frontier weg. Doch Turner war überzeugt davon, dass der demokratische Geist und seine Ideale unabhängig von der Frontier in den Köpfen der Menschen weiterlebten, was die amerikanische Demokratie so einzigartig macht. Die außergewöhnliche Rolle, die die USA in der Weltpolitik seit dem 20. Jahrhundert spielen, wäre für Turner, der sich als Exzeptionalist begriff, nur folgerichtig: »Das Beste aber war, dass der Westen nicht nur den Amerikanern, sondern auch den Unglücklichen und Unterdrückten aller Länder eine Vision der Hoffnung und die Gewissheit vermittelte, dass die Welt einen Ort bereithielt, wo man großes Vertrauen in den Menschen setzte und wo der Wille und die Macht bestanden, ihm die Möglichkeit zu geben, seine eigenen Fähigkeiten voll zu entfalten.« Turner war einer der ersten Historiker, der soziale, wirtschaftliche und kulturelle Faktoren ebenso wie Geografie und Umwelteinflüsse in die historische Analyse miteinbezog und Geschichte nicht mehr nur als Herrschergeschichte begriff. Demokratie war für ihn nicht in erster Linie institutionell, sondern Kultur und Lebensform. Die Turner-These, wonach die Frontier entscheidend zur Bildung einer von Europa emanzipierten eigenen amerikanischen Nationalität beigetragen hat, fand ungeheuren Widerhall und gilt als eine der einflussreichsten Ideen des letzten Jahrhunderts. Sein Ansatz, dass es vor allem Mut und Vertrauen in die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten braucht, um Bedeutendes zu leisten, prägte das Selbstverständnis der Amerikaner von Isadora Duncan bis Steve Jobs, obwohl seine Thesen in vielen Bereichen längst widerlegt sind. Die Frontier wurde zum Inbegriff all dessen, was scheinbar unerreichbar ist, durch Anstrengung, Willen und Courage aber dennoch erreicht werden kann: »Die Lebensbedingungen an der Frontier brachten bedeutsame geistige Charakterzüge hervor. (…) Jene Rauheit und Stärke, kombiniert mit Scharfsinn und Neugier, jene praktische, erfinderische geistige Neigung, schnell im Finden von Notlösungen, jenes meisterhafte Verständnis für materielle Dinge, das zwar nicht künstlerisch, dafür aber wirkungsvoll ist, wenn es darum geht, große Ziele zustande zu bringen, jene rastlose, nervöse Energie, jener dominante Individualismus, der Gutes wie Böses bewirken kann, und obendrein jene Heiterkeit und Überschwänglichkeit, die mit der Freiheit einhergehen.«
Kritik, dass das Land keineswegs »frei« war, sondern von Indianern besiedelt, die durch die Westexpansion verdrängt und vernichtet wurden, wurde bereits zu Turners Lebzeiten laut, ebenso wie der Hinweis, dass die afroamerikanische Bevölkerung in seinen Überlegungen überhaupt keine Rolle spielte. Turners Ansatz vernachlässigt den Einfluss des Protestantismus ebenso wie die Tatsache, dass die Besiedlung des Westens auch neue Absatzmärkte für einen ungebändigten Kapitalismus schaffen sollte. Keine Rede ist von der ausufernden Selbstjustiz und Anarchie, die in den neuen Grenzgebieten herrschte, ehe sich hier Zivilisation, Kultur und Demokratie durchsetzen konnten. Gleichwohl lebt seine Überlegung, dass der Einzelne durch persönlichen Einsatz alles erreichen kann, bis heute im amerikanischen Traum fort. Eine Überzeugung, die Isadora Duncan voll und ganz teilte und Anfang des 20. Jahrhunderts mit nach Europa brachte, wo noch immer die Geburt über den Werdegang bestimmte und eine Klassengesellschaft existierte, gegen die die junge Amerikanerin entschieden zu Felde zog. Sie verkörperte, wie ihr Freund, der Schriftsteller John Dos Passos, schrieb, zweifellos das bessere Amerika: »Sie war genauso amerikanisch wie Walt Whitman. Die mörderischen Herrscher der Welt zählte sie nicht zu den Ihren – aber die Demonstranten. Die Künstler standen nicht auf der Seite der Maschinengewehre. Sie war eine echte Amerikanerin in griechischer Tunika, sie stand auf der Seite des Volkes.«
Gleichwohl verließ sie ihr Geburtsland früh und wandte sich Europa zu, wo sie zum Superstar der Belle Époque wurde, jener langen Friedensphase in Europa, die mit dem Ende des deutsch-französischen Krieges 1871 begann und spätestens mit der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs zu Ende war. In der Retrospektive als »die schöne Zeit« verklärt, brachen sich in jenen Jahren in Kultur, Kunst, Wissenschaft und Politik neue Ideen Bahn, die die Welt veränderten. Die Belle Époque war das Vorspiel zum Zeitalter der Massen, das die Ära der Kaiser, Könige und Zaren ablösen würde. Es war eine Zeit des Umbruchs und der schier unglaublichen Widersprüche. Außenpolitisch befanden sich die europäischen Industriestaaten, Japan und die USA in der Hochphase des Imperialismus. Die immer weiter fortschreitende Industrialisierung verlangte nach neuen Rohstoffquellen, Absatz- und Kapitalmärkten. Während hierzulande sozialistische Revolutionäre das Proletariat als revolutionäres Subjekt entdeckten, wurden in den Kolonien ganze Völker unterjocht mit der pseudohumanitären Mission, ihnen die Segnungen der europäischen Zivilisation zu bringen. Das 1871 von Charles Darwin veröffentlichte Buch über die Abstammung des Menschen, das die Religion zugunsten der Wissenschaft zurückdrängte, wurde auch herangezogen, um die Unterdrückung anderer »Rassen« zu rechtfertigen. Westeuropa strotzte vor Selbstbewusstsein und versuchte, sich neu zu erfinden.
Mit der Kunstform des Jugendstils schüttelte man den bis dato geltenden Historismus ab. Die Produktdesigner der »Arts and Crafts«-Bewegung um William Morris versuchten, in England, eine Verbindung zwischen Kunst, Gesellschaft und Arbeit herzustellen und nicht länger zwischen schönen und angewandten Künsten zu trennen. In Wien gründete sich die Wiener Secession. Gustav Klimt porträtierte Adele Bloch Bauer und Koloman Moser, und Josef Hoffmann produzierten in der Wiener Werkstätte Dinge von zeitloser Eleganz. In München erschien die künstlerische Wochenzeitschrift Jugend, und August Endell entwarf für das Hofatelier Elvira in der Von-der-Tann-Straße 15 ein riesiges lilafarbenes Drachenrelief auf grüner Fassade, das dem Haus den Spitznamen »Drachenburg« einbrachte. Seine Besitzerinnen, Anita Augspurg und ihre Lebensgefährtin Sophia Goudstikker, Münchens berühmteste Frauenrechtlerinnen, trugen es mit Fassung. Paris wurde zum Zentrum des Art Nouveau. René Lalique entwarf unter Einfluss des Symbolismus völlig neuartige Schmuckstücke, Hector Guimard schuf die berühmten Eingänge zur Pariser Métro, und Henri de Toulouse-Lautrec malte für das Moulin Rouge seine weltberühmten Plakate. Ödön Lechner, Victor Horta, Henry van de Velde und Alfons Mucha sind nur einige der berühmten Jugendstilkünstler jener Jahre. Isadora Duncan selbst war schon rein optisch wie gemacht für den Jugendstil und dessen Ausbruch aus der bürgerlichen Ordnung: lange offene Haare, wallende Gewänder und fließende Bewegungen. Auch bei ihr musste stets alles im Fluss sein.
In Wissenschaft und Technik gab es bedeutsame Entwicklungen: Robert Koch entdeckte den Tuberkuloseerreger, und Conrad Röntgen entwickelte die Röntgenstrahlen. 1888 fuhr Bertha Benz mit dem Automobil 106 km von Mannheim nach Pforzheim und war damit die erste Autofahrerin der Welt, und das in einer Zeit, in der Frauen weder das Wahlrecht besaßen noch studieren durften. 1903 unternahmen die Brüder Wright den ersten erfolgreichen Motorflug der Geschichte. Zu den Erfindungen jener Epoche gehörten so unterschiedliche Dinge wie der elektrische Stuhl, Coca-Cola, der Geschirrspüler, das Riesenrad, der Traktor, die Rasierklinge und Cornflakes. Die Großstädte der Welt wurden nach und nach in elektrisches Licht getaucht, und neue Verkehrsmittel wie U-Bahnen und elektrische Straßenbahnen machten das Leben in den Städten schneller, hektischer und stressiger. Allerorten herrschte Aufbruchsstimmung, und ein durchweg positiv besetzter Fortschrittsglaube griff um sich – den auch der Untergang des modernsten Passagierschiffes der Welt, der RMS Titanic im April 1912, nicht stoppen konnte. Zugleich aber gab es vor allem in Künstlerkreisen Kulturpessimismus, Todessehnsüchte und das Gespür einer heraufziehenden Krise. Empfindungen, die sich in neuen Stilrichtungen wie Dekadenzdichtung, Symbolismus, Ästhetizismus, Impressionismus, Expressionismus, aber auch in der Heimatkunst ausdrückten. Rainer Maria Rilke, Georg Trakl oder Arthur Rimbaud schufen Weltliteratur, genau wie Oscar Wilde, Mark Twain oder Leo Tolstoi. Marcel Proust veröffentlichte den ersten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Thomas Mann schrieb die Buddenbrooks, Franz Kafka Das Urteil und Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß.
Claude Debussy, Maurice Ravel und Béla Bartók suchten in der Musik nach einer modernen Tonsprache, Arnold Schönberg entwickelte die Zwölftontechnik und das Ballets Russes inszenierte Strawinskis Feuervogel. Auch im Tanz entstand Neues. Vor allem amerikanische Tänzerinnen wie Maud Allan, Loïe Fuller, Ruth St. Denis und Isadora Duncan wehrten sich gegen die kodifizierten Bewegungsabläufe des klassischen Balletts und setzten auf freie Bewegung, die ihr Vorbild in der Natur, in der Religion oder bei den alten Griechen suchte. Dass ausgerechnet die USA zum Ausgangspunkt des Modern Dance wurden, hat auch mit den Bemühungen amerikanischer Künstler zu tun, sich von Europa zu emanzipieren und eigene amerikanische Kunst zu erschaffen. Das klassische Ballett hingegen war nun mal nichts anderes als ein strenges Regelwerk der alten Welt. Das Problem all dieser Pionierinnen des modernen Tanzes war allerdings, dass Tanz als Kunstform in jenen Jahren nur innerhalb des klassischen Balletts anerkannt war, alles andere fiel unter Vergnügen und Unterhaltung. Um den zahlreichen Kritikern ihre Kunst näherzubringen, verfasste Isadora Duncan deshalb mehrere Schriften über ihr Tanzkunstverständnis und nahm dabei stets auf aktuelle philosophische und naturwissenschaftliche Diskurse Bezug. Sie war eine äußerst belesene Autodidaktin, bewandert in den Theorien Schopenhauers, Rousseaus, Haeckels und Nietzsches. Dessen Die Geburt der Tragödie war eine ihrer wichtigsten Inspirationsquellen: »Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: Auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohn, dem Menschen. (…) Jetzt ist der Sklave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Not, Willkür oder ›freche Mode‹ zwischen den Menschen festgesetzt haben. (…) Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: Er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. (…) Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden.« Für Isadora Duncan besaß ihre Kunst hohe gesellschaftspolitische Relevanz: Tanz als Befreiung. In ihren Tanzschulen sollten die Schülerinnen nicht nur im Tanz, sondern auch in einer freien Lebensführung unterwiesen werden. Sie war überzeugt davon, dass man bei Kindern ansetzen musste, um den neuen – vor allem weiblichen – Menschen zu schaffen, der eine bessere Zukunft gestalten könnte. Denn dass von der schönen neuen Zeit nicht alle profitierten und in Fabriken und auf dem Land Menschen unter unmenschlichen Bedingungen schufteten, darin glich die Belle Époque den angeblich so goldenen 1920er Jahren, die für viele Menschen keineswegs golden waren. Mit der Industrialisierung hatte die Landflucht eingesetzt. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs lebten 60 Prozent der deutschen Bevölkerung in Städten. In den aus dem Boden gestampften Mietskasernen hausten sie unter inakzeptablen Bedingungen, oftmals lebten mehrere Menschen in nur einem einzigen Raum. Eine Idee, dieses Leben zu verbessern, war die Idee der Gartenstadt: ohne Privatbesitz, mit Platz für Landwirtschaft und Gewerbe, nahe bei den großen Städten und doch mit allen notwendigen öffentlichen Einrichtungen ausgestattet. Nur zwei solcher Städte wurden errichtet: Letchworth Garden City in England (1903) und Hellerau bei Dresden (1909). Aber auch die Städte selbst sahen immer mehr die Notwendigkeit, sich um ihre Bewohner zu kümmern, ehe die schlechten Lebensbedingungen zu Seuchen und Krankheiten führten. Die Kanalisation wurde ausgebaut, Versorgungssysteme für Wasser und Gas angelegt, neue Krankenhäuser und Parks entstanden. Die Überlegung, sich auch um prekäre Schichten zu kümmern, entstand nicht allein aus humanitären Gründen, sondern auch aus politischer Weitsicht. Neue politische Theorien zogen durch Europa, Ideen, die zum ersten Mal die einfachen Menschen im Blick hatten und die alsbald die Welt aus den Angeln heben würden. Der Sozialismus gewann an Boden, auch wenn überall versucht wurde, die Bewegung zu unterdrücken und ihre Anführer mundtot zu machen. Bismarck versuchte es mit den Sozialistengesetzen, Lenin sah sich gezwungen, nach Westeuropa ins Exil zu gehen, genau wie Trotzki und Alexandra Kollontai. Bei den Herrschenden besonders weit verbreitet war die Angst vor anarchistischen Attentätern und ihrer Propaganda der Tat. 1881 fiel Alexander II. in St. Petersburg einem Bombenattentat der Narodniki zum Opfer. 1898 wurde Elisabeth »Sisi« von Österreich in Genf von einem italienischen Anarchisten erstochen, 1913 Georg I. von Griechenland erschossen.
Die Bürger, denen während der Belle Époque die Stadt quasi gehörte, focht dies alles nicht an, sie genossen die Ruhe vor dem Sturm. In Berlin flanierte man über den Kurfürstendamm, wo sich Cafés und Bühnen wie Perlen an der Schnur aneinanderreihten. In Paris ließ man sich bei Paul Poiret nach der neusten Mode einkleiden. In Wien traf sich ein emanzipiertes großstädtisches Judentum im Salon von Berta Zuckerkandl, während zugleich der Wiener Bürgermeister Karl Lueger mit Radau-Antisemitismus Politik machte und Theodor Herzl zum Begründer des modernen Zionismus wurde. In den Galerien und Wintergärten der europäischen Großstädte gab man sich selbstbewusst, urban und sorgenlos. Wegbereiter der Moderne wie die Künstler des Blauen Reiters stießen dennoch auf wenig Verständnis – bei ihrer ersten Ausstellung 1911 wurden Franz Marcs blaue Pferde voll Abscheu bespuckt. Dabei liebte man es bunt, üppig und – heute fast vergessen – durchaus freizügig. Trotz gesetzlichem Verbot und drakonischen Strafen wagte sich auch die gleichgeschlechtliche Liebe hier und da bereits an die Öffentlichkeit. Frank Wedekinds Stücke galten zwar als sittenwidrig, machten ihn aber dennoch zu einem der meistgespielten Dramatiker seiner Zeit. Und mittendrin in diesem Trubel die »göttliche Isadora«, die lange genug lebte, um zu sehen, wohin all dies führte: zu Krieg und Revolution, zu Demokratie und Kommunismus, Freiheit und Gleichberechtigung.
Isadora Duncan war Teil einer um die Jahrhundertwende in Westeuropa entstandenen Avantgarde, die bereits zur Moderne gehörte, Konventionen verachtete und sich jegliche Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit energisch verbat. Es ging um Selbstfindung, um das Ausleben von Gefühlen, um die eigenverantwortliche Freiheit des Individuums. Trotz Isadoras Begeisterung für die Oktoberrevolution ging es ihr weniger um das »Wir« als um das »Ich«. Ihr Traum vom neuen Menschen war nicht deckungsgleich mit dem der Bolschewiki. Gleichwohl gehörte sie zu den ersten Ausländern, die sich nach der Revolution in Russland niederließen.
Ihr wichtigstes Mantra war die Freiheit. Isadora Duncan forderte diese im Sinne Shelleys und Byrons für Körper, Seele und Geist. Ohne sich einer der um die Jahrhundertwende so zahlreich entstehenden Frauenorganisationen anzuschließen, die für das Wahlrecht, das Recht auf Erwerbsarbeit, gesetzliche Gleichstellung und das Recht auf Bildung kämpften, konnte sie sich mit Fug und Recht als Feministin bezeichnen. Dass Frauen in allen Belangen des öffentlichen und politischen Lebens nur Menschen zweiter Klasse und einer männlichen Gesetzgebung hilflos ausgeliefert waren, nahm Isadora Duncan nicht so ohne weiteres hin. Sie wehrte sich mit ihrem unkonventionellen Lebensstil und inspirierte damit, wie die amerikanische Journalistin Janet Flanner im New Yorker schrieb, »Menschen, die nie zuvor in ihrem Leben inspiriert worden waren und die Inspirationen für anstrengend, sinnlos und unschicklich hielten«. Zu Isadoras Lebensentwurf gehörte neben der strikten Ablehnung der Ehe und dem Recht der Frau auf eigenes Geld auch die Propagierung der freien Liebe. Sexualität, auch in fortgeschrittenem Alter, war ihr wichtig, und sie sprach und schrieb ohne Scheu über ihre Bedürfnisse, drückte aus, was viele nicht einmal zu denken wagten. Aufgrund ihrer zahlreichen Liebhaber verpasste ihr die Öffentlichkeit das Etikett »Nymphomanin«. Selbst Kollegen des Modern Dance wie Ted Shawn, Partner von Ruth St. Denis, empörten sich über Isadoras Lebensweise: »Sie war heroisch, sie war majestätisch. Isadora, Ruth St. Denis und das griechische Ideal befreiten uns in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts vom Viktorianismus und Puritanismus. Aber nach meiner Meinung ging sie viel zu weit in dieser Befreiung – oder Zügellosigkeit –, die sie sich gestattete. (…) Sie war eines der großen Rätsel dieser Welt, und sie benahm sich nymphomanisch wie eine Straßendirne. (…) Ich weiß, dass viele ihr Leben als tragisch angesehen haben, wegen ihrer selbstzerstörerischen Natur. Aber ich sehe es nicht als etwas Tragisches, sondern nur als etwas Gemeines. Für mich hatte sie eine der größten Gaben, die Gott je einem Menschen verliehen hat, aber sie war als Mensch ein unwürdiges Gefäß, dieses göttliche Elixier zu halten!«
Isadora selbst spielte noch in ihren Memoiren genüsslich mit diesen Vorhaltungen: »Es fehlt mir die Zeit und der Platz, in diesen Erinnerungen jeden Einzelnen zu erwähnen, und ebenso wenig kann ich hier alle schönen Stunden aufzählen, die ich in schattigen Wäldern oder auf blumigen Wiesen verlebte.«
Ihr Freiheitsdrang ging so weit, dass sie sich auch nicht durch Kleidung in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken lassen wollte. In einer Zeit der Schnürmieder und hochgeschlossenen Blusen legte sie das Korsett ab, verweigerte sich den üblichen spitzen hohen Schuhen und wählte für sich wallende, locker sitzende Gewänder und Sandalen. Sie trug weder Büstenhalter noch Strümpfe. Am liebsten ging sie barfuß, und das in einer Zeit, in der ein unbekleideter Fuß als absolut unschicklich galt. 1908 sorgte sie für einen Skandal, als sie in Sandalen den Broadway entlanglief: »Die Autos stoppten abrupt angesichts dieser reizenden Erscheinung. Das Ganze nahm lebensbedrohliche Ausmaße an. Die Fußgänger starrten sie an, drehten sich nach ihr um, und je nach Temperament lachten sie oder schnappten nach Luft.« All dies tat Isadora nicht, um zu schockieren, sondern aus tiefster Überzeugung, und wurde damit eine der einflussreichsten Kleidungsreformerinnen der Jahrhundertwende. Frauen in Badeanzügen sind letztlich auch ihr Werk. Die größte Schönheit besaß in ihren Augen ohnehin der nackte Körper.
Dass sie beim Tanzen Ballettkostüm und Spitzenschuhe verweigerte, versteht sich fast von selbst. Ihre weiße Tunika, die mehr enthüllte als verbarg, endete kurz über dem Knie und wurde an der Brust und um die Taille mit einem langen Schal gegürtet, der lose um ihre Beine baumelte. Ein Aufzug, der dafür sorgte, dass die Zuschauer scharenweise den Saal verließen. Diejenigen, die sitzen blieben, kamen am Ende der Vorstellung in den für sie durchaus zweifelhaften Genuss einer Rede der berühmten Tänzerin. Der Doktrin des klassischen Balletts, dass Tänzer zwar zu sehen, aber niemals zu hören sein sollten, verweigerte sich Isadora Duncan. Sie sprach in jedes Mikrofon und ihre Bühnenreden am Ende jeder Vorstellung waren legendär. Peter Handkes Publikumsbeschimpfung vollzog Isadora Duncan schon fünfzig Jahre zuvor.
Isadora und ihre Freunde verachteten die bürgerlichen Flaneure auf den Straßen, ihren Nationalismus und ihre Spießigkeit. Sie verabscheuten alles Künstliche und wandten sich der Natur zu. So wie Paul Gauguin die Südsee verklärte, so verehrte Isadora das antike Griechenland. Es diente ihr als künstlerisches Vorbild, als das schlichte, pure Gegenmodell zur Überflussgesellschaft der Jahrhundertwende, der sie sich als gute Kundin der Pariser Couturiers durchaus gerne hingab. Zudem ging sie nie so weit, den Fortschritt per se abzulehnen. Sie war eine begeisterte Autofahrerin, flog mit der ersten regulären Linienmaschine von Moskau nach Königsberg und plädierte eindringlich für medizinische Unterstützung bei der Geburt. Der Dualismus von Kultur und Natur betraf für sie in erster Linie den Tanz. Dennoch übte sie, wie so viele andere, scharfe Zivilisationskritik und suchte nach alternativen Lebensformen. Einer der bekanntesten Reformer der damaligen Zeit war Isadoras eigener Bruder Raymond Duncan, aber auch andere noch heute bekannte Namen entsprangen den zahlreichen Reformbewegungen, die wie Pilze aus dem Boden schossen: Johann Schroth und Sebastian Kneipp behandelten Krankheiten mit Naturheilverfahren, der Münchner Maler Karl Wilhelm Diefenbach machte in Höllriegelskreuth im Isartal bei München die Freikörperkultur populär und musste 1888 den ersten Nudistenprozess der Geschichte über sich ergehen lassen. Während das Großbürgertum Köstlichkeiten aus Übersee wie Kaffee, Tabak und Schokolade, genoss, setzte der Schweizer Arzt Max Bircher-Benner auf Vollwertkost und erfand das Birchermüsli. Auf dem Monte Verità bei Ascona gründeten Künstler und Intellektuelle eine Art Landkommune, in der sie im Einklang mit der Natur eine alternative, klassenlose Gesellschaft verwirklichen wollten. Auch hier lief man barfuß, in weiten Kleidern, fakultativ auch nackt herum und pflegte das Zusammenleben in nichtehelichen Gemeinschaften. Man versuchte, sich mit Hilfe der neu entstandenen Psychoanalyse zu analysieren, während Sigmund Freud und Otto Gross darüber stritten, welche gesellschaftspolitischen Schlussfolgerungen aus den neuen Theorien zu ziehen seien. Bei aller Avantgarde und Moderne blieben die meisten doch Romantiker des 19. Jahrhunderts, und Isadora, die für Natürlichkeit und Einfachheit plädierte, war oft mehr ein Zirkuspferd, das durch die Manege dieses Jahrhundertzirkus getrieben wurde, als eine griechische Tempeltänzerin.
Isadora Duncans Kunst führte sie über den großen Teich auf die Bühnen von London, Berlin, Paris, St. Petersburg und Moskau. Frankreich nahm dabei eine herausragende Stellung ein. Hier fand sie eine neue Heimat. Zunächst in Paris, zuletzt an der Côte d’Azur. Ihre letzten Tage verbrachte sie im Hotel Negresco in Nizza, wie immer ihrem Diktum folgend: »Im Zweifel nimm immer das beste Hotel.«
Der Belle-Époque-Bau des 1913 eröffneten Luxushotels ist noch heute eines der Wahrzeichen der Stadt, weltberühmt vor allem für seine wundervolle Glaskuppel. Schon von weitem begrüßt mich die Miles-Davis-Statue von Niki de Saint Phalle. Die nahezu 6000 Werke umfassende Kunstsammlung, die das Hotel beherbergt, ist einfach sensationell. Zu schade, dass die einem quietschbunten Kirmeskarussell samt Holzpferden nachempfundene Brasserie La Rotonde der Modernisierung zum Opfer gefallen ist. Jetzt ist sie stylischer, aber auch weniger extravagant. An Isadora Duncan erinnert hier nichts mehr. Im Gegensatz zu Napoleon und Montserrat Caballé wurde keine Suite und kein Salon nach dem berühmten Gast benannt.
Oben in meinem Hotelzimmer angekommen, versuche ich, ein Fenster zu öffnen. Es klemmt ein wenig, dann gibt es nach. Der Ausblick ist atemberaubend. Vor mir liegen die Promenade des Anglais und das blaue Meer, das aussieht, als habe Yves Klein den Pinsel geschwungen. Ich finde es schön, für Isadora und ihre Kunst aber war das Meer von essentieller Bedeutung. Beinahe kitschig wiegen sich die Palmen im Wind. Von der Terrasse dringen Gelächter und das Klirren feiner Gläser zu mir herauf. Die ganze Welt eine Bühne, die nur darauf wartet, bespielt zu werden.
Ganz so wie damals …
Hotel Negresco
Nizza im Juni 2021
Das beste Erbe, das man einem Kind machen kann, ist,es seinen Weg selbst gehen zu lassen,es auf eigenen Füßen stehen zu lassen.
(Isadora Duncan)
»Wir müssen diesen Ort verlassen, denn hier werden wir nie etwas erreichen!«
»Ich bin Amerikanerin. Meine Vorfahren lebten seit zweihundert Jahren in Amerika. Meine Kunst ist Leben. Meine Tänze handeln von den Wäldern, den Feldern, den Seen, den Flüssen, den Bergen, den Prärien, von meinem Heimatland und dem Meer«, so Isadora Duncan Ende der 1920er Jahre. Da hatte sie, obwohl die berühmteste lebende Amerikanerin, den USA längst den Rücken gekehrt – im Streit. Doch selbst in den Augen ihrer Freunde blieb die Tänzerin, die ihre größten Erfolge in Europa feierte und nie müde wurde, die USA zu kritisieren, immer irgendwie Amerikanerin, genauer gesagt, Kalifornierin: »Trotz ihrer Leidenschaft für Frankreich (das einzige freie Land der Welt, wie sie es nannte) hatte sie gewisse Dinge an sich, die sehr mit Kalifornien verwandt waren. Die unendliche Weite dieses Landes mit seinen gigantischen Bäumen, Felsen, Canyons und Wüsten ist wie Isadora. Wie ihre Gesten, wenn sie die Arme hob und die Unendlichkeit zu umfassen schien.«
Isadora Duncan wird am 26. Mai 1877 an der Westküste der USA in San Francisco geboren. Ihr exaktes Geburtsdatum war lange umstritten und wird in älteren Publikationen meist mit dem 27. Mai 1878 angegeben. Erst nachdem Mitte der 1970er Jahre in der Old St. Mary’s Church in San Franciscos Chinatown ihre Taufurkunde gefunden wurde, herrscht Klarheit darüber, wann die berühmte Tänzerin das Licht der Welt erblickte. Ursächlich für diese Verwirrung ist weniger die Aktenvernichtung durch das verheerende Erdbeben von San Francisco 1906, sondern Isadora Duncan selbst, die mal dieses, mal jenes Datum verwendete, um sich je nach Bedarf ein wenig jünger oder älter zu machen. Die Taufurkunde förderte zudem noch zutage, dass Isadoras Taufname eigentlich Angela lautete. Einzig was den Geburtsort anbelangt, gab es zu keiner Zeit Zweifel: 501 Taylor Street, San Francisco, Kalifornien. Isadora selbst hat aus ihrem Geburtsort in ihren Memoiren einen nahezu magischen Ort gemacht: »Ich wurde am Meeresstrande geboren, und wundersamerweise haben sich fast alle wichtigen Ereignisse meines Lebens am Meer abgespielt. Dem Rhythmus der Wellen, der Harmonie des Meeres habe ich wohl auch den ersten Impuls zu meinen Tanzbewegungen zu verdanken. Im Zeichen Aphrodites, der Schaumgeborenen, erblickte ich das Licht der Welt, und wenn sich ihr Stern, die Venus, im Aufstieg befindet, dann gestalten sich auch die Ereignisse für mich günstig.«
Die Stadt, in der Isadora das Licht der Welt erblickt, hat nichts mit der später von Scott McKenzie so hymnisch besungenen Flower-Power-Idylle der späten 1960er Jahre zu tun. Isadoras Welt ist die Welt der Gasbeleuchtung und der Mietkutschen, in der Eisenbahnmagnaten das Sagen haben und Frauen Korsetts und lange Kleider tragen. San Francisco ist in jener Zeit ein raues Pflaster und leidet noch immer unter den Auswirkungen des Goldrausches, der 1849 Tausende von Glücksrittern in den Westen der USA gezogen hatte. Am 24. Januar 1848 hatte der Zimmermann James Marshall beim Bau einer Sägemühle auf der Ranch des Schweizer Auswanderers Johann August Suter ein Goldnugget entdeckt. Suter selbst war 1834 in die USA gekommen und hatte es mit seiner kalifornischen Ranch Neu-Helvetien zu einem der reichsten Männer des Landes gebracht. Der Goldfund auf seinem Grund und Boden veränderte sein Leben maßgeblich. Obwohl er zunächst versuchte, den Fund geheim zu halten, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Der Dichter Stefan Zweig beschreibt in Sternstunden der Menschheit, was im Folgenden geschah: »Sofort lassen alle Männer Suters ihre Arbeit, die Schlosser laufen von der Schmiede, die Schäfer von den Herden, die Weinbauern von den Reben, die Soldaten lassen ihre Gewehre, alles ist wie besessen und rennt mit rasch geholten Sieben und Kasserollen hin zum Sägewerk, Gold aus dem Sand zu schütteln. Über Nacht ist das ganze Land verlassen, die Milchkühe, die niemand melkt, brüllen und verrecken, die Büffelherden zerreißen ihre Hürden, stampfen hinein in die Felder, wo die Frucht am Halme verfault, die Käsereien arbeiten nicht, die Scheunen stürzen ein, das ungeheure Räderwerk des gigantischen Betriebes steht still. Telegraphen sprühen die goldene Verheißung über Länder und Meere. Und schon kommen die Leute herauf von den Städten, von den Häfen, Matrosen verlassen ihre Schiffe, die Regierungsbeamten ihren Posten, in langen, unendlichen Kolonnen zieht es von Osten, von Westen, zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen heran, der Rush, der menschliche Heuschreckenschwarm, die Goldgräber. Eine zügellose, brutale Horde, die kein Gesetz kennt als das der Faust, kein Gebot als das ihres Revolvers, ergießt sich über die blühende Kolonie. Alles ist für sie herrenlos, niemand wagt diesen Desperados entgegenzutreten. Sie schlachten Suters Kühe, sie reißen seine Scheuern ein, um sich Häuser zu bauen, sie zerstampfen seine Äcker, sie stehlen seine Maschinen – über Nacht ist Johann August Suter bettelarm geworden, wie König Midas, erstickt im eigenen Gold.«
Spätestens als der amerikanische Präsident James K. Polk, der mehr Siedler in den Westen locken möchte, die Goldfunde am 5. Dezember 1849 in einer Kongressansprache bestätigt, glaubt alle Welt an ein riesiges Goldvorkommen. Ganze Trecks von sogenannten 49ers machen sich im Planwagen, oder sofern sie es sich leisten können mit dem Schiff, auf den Weg in den Westen. Sieben Monate dauert die Reise von Küste zu Küste mit dem Planwagen, fünf bis sechs Monate mit dem Schiff um Kap Hoorn. Am schnellsten geht es mit Schiff, Kanu und Maulesel durch den späteren Panamakanal, der Atlantik und Pazifik verbindet. Dies spart glatt drei Monate. Während bis 1849 die Mehrheit der Amerikaner östlich des Mississippi lebt, beginnt nun die eigentliche Besiedlung des Westens. Zwischen Januar 1848 und Dezember 1849 wächst die Einwohnerzahl San Franciscos von 1000 auf 25 000 Menschen an, und das, obwohl die Goldminen 140 Meilen von der Stadt entfernt sind. Die meisten, die hierherkommen, haben keine Ahnung vom rauen Leben eines Goldsuchers, sind von der Unwirtlichkeit der Wildnis und der harten Arbeit völlig überfordert. Es kommt zu tumultartigen Szenen: Anlegende Handelsschiffe können nicht mehr entladen werden, weil die Matrosen an Land stürmen, um nach Gold zu suchen. Fabriken müssen schließen, weil es keine Arbeiter mehr gibt.
Die Stadt wird mit den Menschenmassen nicht fertig, im Winter 1851 bricht aufgrund der katastrophalen hygienischen Zustände eine Choleraepidemie aus. Von 1848 bis 1850 brennt San Francisco sechsmal beinahe vollständig nieder. Mit den Goldsuchern kommen auch die Geschäftemacher, die für horrendes Geld Ausrüstung und Lebensmittel verkaufen. In Spitzenzeiten kostet ein Hühnerei einen Dollar – der gesamte Wochenlohn eines Durchschnittsamerikaners. Der Alkohol fließt in Strömen, die Prostitution gedeiht prächtig. Reich werden in diesen Jahren vor allem diejenigen, die den Goldgräbern das wenige, was sie besitzen, geschickt aus der Tasche ziehen. Einer, der im Zuge des Goldrausches hier sein Glück macht, ist ein armer Einwanderer aus Deutschland, der spezielle Hosen für Minenarbeiter fertigt: Levi Strauss. Andere, die die Gunst der Stunde zu nutzen wissen, sind Henry Wells und sein Partner William Fargo, die im März 1852 den ersten Postkutschenservice ins Leben rufen und damit den Grundstein für die noch heute operierende Wells Fargo Bank legen. In einer grünen Geldkassette unter dem Sitz des Kutschers werden Goldnuggets, Dokumente und Post transportiert. Die Reise von San Francisco nach St. Louis, Missouri, dauert drei Wochen.
Das größte Goldnugget, das in diesen Jahren gefunden wird, wiegt sage und schreibe 195 Pfund. Die meisten Goldgräber verlassen Kalifornien allerdings ärmer als zuvor. Niemanden aber trifft es so hart wie die Ureinwohner Nordamerikas. Als der Goldrausch vorbei ist, lebt nur mehr ein Fünftel der ehemals ansässigen indigenen Bevölkerung in Kalifornien. 60 Prozent sind an Krankheiten gestorben, die die Goldsucher eingeschleppt haben. Viele sind von skrupellosen Abenteurern massakriert, Tausende Indianerkinder als Sklaven verkauft worden. Und diejenigen, die all das überlebten, haben gute Chancen, durch das beim Schürfen freigesetzte, tonnenweise in Flüsse und Seen gelangte Quecksilber zu Tode zu kommen.
Der Staat Kalifornien, der sich in diesen Jahren den Beinamen »The Golden State« gibt, kann dennoch vom Goldrausch profitieren. Seine Bevölkerung steigt bis zu Isadoras Geburt von 92 000 auf 560 000 Einwohner an. Am 9. September 1850 wird er als 31. Staat in die Vereinigten Staaten von Amerika aufgenommen. Die Eröffnung der Pacific Railroad im Mai 1869 zwischen Omaha und Sacramento vollendet die Anbindung des Westens an den Rest der USA. Damit gehen die Eroberung des Wilden Westens und die Zurückdrängung der Ureinwohner in Reservate ihrem Abschluss entgegen. Daran können auch die zahlreichen Indianeraufstände nichts mehr ändern. Nur ein einziges Mal werden die Native Americans den weißen Mann in einer offenen Feldschlacht noch besiegen. Am 25. Juni 1876 vernichtet eine Indianerarmee unter Führung des Sioux-Häuptlings Sitting Bull bei Little Big Horn die 7. Kavallerie von General Armstrong Custer. Es ist das letzte verzweifelte Aufbäumen der Indianer gegen die Übermacht des weißen Mannes, den vor allem die Gier nach Gold immer weiter nach Westen treibt und dazu bringt, heilige Stätten der Urweinwohner zu entweihen.
In Kalifornien herrscht während des Goldrausches blanke Anarchie. Vor allem Neuankömmlinge aus China und Mexiko sind von roher Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung betroffen. Dies bringt legendäre Heldenfiguren wie den Mexikaner Joaquín Murrieta Carrillo hervor, der im Zuge des Goldrausches nach Kalifornien kommt. Während er Gold wäscht, wird er von anderen Goldgräbern überfallen, misshandelt und ausgeraubt. Seine mexikanische Frau wird vergewaltigt, sein Bruder gelyncht. Murrieta selbst aber wird zum Anführer einer lateinamerikanischen Bande. Er rächt seine Familie und raubt in der Folge Trecks auf ihrem Weg nach Kalifornien aus. Den weißen Siedlern gilt er als Schwerverbrecher, in Mexiko hingegen wird er als Volksheld verehrt, der sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung zur Wehr setzt. 1853 wird er von Cowboys getötet. Sein abgeschnittener Kopf wird in Alkohol konserviert und für einen Dollar zur Besichtigung ausgestellt. Beim großen Erdbeben von San Francisco 1906 geht der Kopf verloren. Murrieta selbst jedoch ist unsterblich – als reales Vorbild für den berühmten lateinamerikanischen Rächer Zorro.
Für die meisten Menschen sind die Jahre des Goldrausches verlorene Jahre. William Marshall, der Finder des ersten Nuggets, stirbt völlig mittellos. Johann Suter, der durch den Goldrausch in den Ruin getrieben wird, versucht später in Washington, eine Entschädigung für den erlittenen Schaden an seinem Eigentum einzuklagen. Ihm wird eine bescheidene Pension zugesprochen, mit der er ein Haus in Pennsylvania erwerben kann. 1880 stirbt der aufgrund seines märchenhaften Reichtums einmal »Kaiser von Kalifornien« genannte Suter verbittert und verarmt. 1936 wird sein Leben mit Luis Trenker in der Hauptrolle verfilmt.
Dem Goldrausch folgten mehrere Wirtschaftskrisen, und weder der Bau der Eisenbahnlinie noch die beginnende Elektrifizierung des Landes können darüber hinwegtäuschen, dass der amerikanische Traum für Millionen Einwanderer in erster Linie bittere Armut und sklavenähnliche Arbeitsbedingungen bedeutet. San Francisco, durch den Goldrausch zur Großstadt geworden, ist nach Abwanderung der Goldgräber abgewirtschaftet, wie Mark Twain bei seinem Besuch 1865 feststellen muss: »San Francisco (…) wirkt aus entsprechender Ferne stattlich und schön; aus der Nähe merkt man jedoch, dass die Architektur meist altmodisch ist, viele Straßen aus verfallenen, rauchgeschwärzten Holzhäusern bestehen und die kahlen Sandberge ringsum zu sehr ins Auge stechen. Selbst das freundliche Klima wirkt, wenn man darüber liest, bisweilen angenehmer, als wenn man es am eigenen Leibe erlebt, denn auch der schönste wolkenlose Himmel verliert nach und nach seinen Reiz, und wenn dann der lang ersehnte Regen kommt, hört er nicht wieder auf. Und sogar das mutwillige Erdbeben betrachtet sich besser aus der Ferne.«
Einer, den der Goldrausch in die Stadt geschwemmt hat und der geblieben ist, ist Isadoras Vater. 1819 in Philadelphia geboren, ist er bei ihrer Geburt so alt wie ihr Großvater mütterlicherseits. Joseph Duncan stammt aus einer wohlhabenden, humanistisch gebildeten Ostküstenfamilie. Sein Vater ist Professor an der Washington and Lee University in Lexington, Virginia. Kultiviert, aber vom Glück nicht verwöhnt, verliert die Familie durch Feuer, Cholera und Wirtschaftskrisen gleich mehrmals ihr gesamtes Hab und Gut. Gleichwohl sind die Duncans von einem unerschütterlichen Pioniergeist beseelt und mit großer Vitalität und Energie ausgestattet. Schon als junger Mann startet Joseph Duncan einige Unternehmungen, die allesamt schiefgehen. Allzu gern lässt er sich bei seinen geschäftlichen Aktivitäten von seiner Leidenschaft für Literatur und Kunst leiten und weniger von ökonomischem Sachverstand. Mit The Prairie Flower gründet er eine der ersten Literaturzeitschriften der USA, die innerhalb nur eines Jahres am Ende ist. Als es ihn 1850 nach San Francisco verschlägt, ist er mit Elmira Hill verheiratet und hat vier Kinder. Die Ehe wird kurz darauf geschieden. Seine erste Unternehmung an der Westküste ist eine Lotterie, die sich einmal mehr als Fehlinvestition erweist und ihn mit 225 000 Dollar Schulden zurücklässt. Gott sei Dank liegt es nicht in Joseph Duncans Natur, sich über derartige Misserfolge lange zu grämen. Sohn Raymond wird später sagen: »Mein Vater pflegte zu sagen, dass er einfach nie erkannt hatte, wann es besser gewesen wäre, sich geschlagen zu geben, und so hat er einfach immer weitergemacht.« Mit dem Morning Globe, dem Evening Globe, dem Mirror und der Sonntagszeitung California Home Journal versucht sich Duncan erneut als Herausgeber. Nebenbei handelt er mit Kunst und Handelswaren aus Übersee, die er auf diversen Europareisen ersteht. 1854 gründet er das Auktionshaus »The Chinese Salesroom«. Hier werden1856 die Juwelen von Lola Montez, der Geliebten Ludwig des I. von Bayern, versteigert. Gerüchteweise soll die spanische Tänzerin mit der irischen Abstammung nicht nur den bayerischen König bezirzt haben, sondern auch Joseph Duncan.
Die Stadt, in der Joseph Duncan sich niederlässt, ist ideal für Visionäre und Abenteurer wie ihn. John Dos Passos wird später über Isadora und ihre Familie schreiben: »Sie waren Wildwestler, die Welt eine Goldader. Sie schämten sich nicht, im Mittelpunkt der Öffentlichkeit zu stehen.« »Regiert« wird San Francisco zu dieser Zeit von einer der skurrilsten Gestalten der amerikanischen Geschichte: Norton I., Kaiser der Vereinigten Staaten und Schutzherr von Mexiko. 1811 in London geboren, war Joshua Abraham Norton während des Goldrausches nach Kalifornien ausgewandert und hatte hier mit Immobiliengeschäften ein Vermögen gemacht. Als er jedoch 1850 auf die Idee kam, sämtliche Reisvorräte San Franciscos aufzukaufen, um vom Bedarf der chinesischen Einwanderer zu profitieren, ging er bankrott. Kurz darauf ernannte er sich zum Kaiser der Vereinigten Staaten. Norton, der eine gewaltsame Auflösung des amerikanischen Kongresses anordnet, gilt als exzentrisch, ist bei den Bewohnern San Franciscos aber sehr beliebt und dient Mark Twain später als Vorbild für seine Figur des Königs in Huckleberry Finn. Seine Verordnungen erscheinen täglich in den Zeitungen der Stadt. Nachdem die US-Armee sich nicht willens zeigt, den Kongress aufzulösen, und auch die Parteien sich widerspenstig geben, schafft Norton per Dekret sowohl die republikanische als auch die demokratische Partei ab. Nach dem Tod Kaiser Maximilians von Mexiko übernimmt er den Titel »Schutzherr von Mexiko«. 1867 erdreistet sich ein junger Polizist, seine Majestät wegen Stadtstreicherei und Geisteskrankheit zu verhaften und einer Zwangsuntersuchung zu unterziehen. Wütender Bürgerprotest führt umgehend zu seiner Freilassung und einer öffentlichen Entschuldigung des Polizeipräsidenten. Seither salutieren die Polizisten vor Norton, der in einer blauen Uniform mit goldenen Epauletten und einem mit Federn geschmückten Biberhut samt prächtigem Schwert durch die Straßen spaziert. Als die Uniform aufgrund ihres Alters schäbig wird, spendiert ihm der Stadtrat von San Francisco eine neue. In allen Theatern und Konzertsälen der Stadt ist die erste Reihe der besten Loge für ihn und seine Hunde Bummer und Lazarus reserviert. Wie man der deutschen Kulturzeitschrift Die Gartenlaube 1869 entnehmen kann, ist der Kaiser in San Francisco eine wohlgelittene Figur: »Die San Franciscaner waren höchlichst erstaunt über den wunderbaren Gesellen, ohne jedoch ungehalten wegen seiner Forderungen zu werden; statt, was in anderen Ländern und Städten geschehen wäre, Norton in ein Irrenhaus zu schicken, erkannte man in der in Geldangelegenheiten beispiellos liberalen Stadt San Francisco auf gutmütige Weise seine kaiserlichen Ansprüche an, zahlte, was er verlangte, und behandelte ihn seiner hohen Würde entsprechend – und so geschieht es noch heute.« In den Restaurants der Stadt speist Norton an für ihn reservierten Tischen – selbstverständlich auf Kosten des Hauses. Norton gilt als sehr sozial und ist stets um den Frieden in seiner Stadt bemüht. Mehrmals stellt er sich schützend vor attackierte chinesische Einwanderer und fordert die Errichtung eines Völkerbundes. Zum Begleichen geringer Schulden gibt er Banknoten im Wert von 25 und 50 Cent aus, mit denen die Armen Lebensmittel kaufen können. Eine von ihm erhobene Steuer wird von den Geschäftsleuten der Stadt bereitwillig entrichtet. Seine bahnbrechendste Idee allerdings ist die Errichtung einer Hängebrücke über die San Francisco Bay, um Oakland und San Francisco zu verbinden. Ein Plan, der 1937 mit dem Bau der Golden Gate Bridge über die Bucht von San Francisco Wirklichkeit wird. In seinen letzten Lebensjahren tritt der Kaiser in einen regen Briefwechsel mit Queen Victoria ein. Gerüchteweise heißt es, er trage sich mit dem Gedanken, die verwitwete Königin zu heiraten. Am 8. Januar 1880 stirbt Norton I. auf regennasser Straße an einem Herzinfarkt. Am nächsten Morgen titelt der San Francisco Chronicle »Der König ist tot«: »Auf dem elenden Pflaster, im Dunkel einer mondlosen Nacht im tropfenden Regen und umgeben von einer rasch versammelten Menge staunender Fremder, verstarb Norton I., von Gottes Gnaden Kaiser der Vereinigten Staaten und Schutzherr von Mexiko.« Da Nortons gesamtes Vermögen sich bei seinem Tod auf knapp 6 Dollar beläuft, übernehmen San Franciscos Geschäftsleute die Kosten der Trauerfeier. Mehr als 30 000 Menschen säumen die Straßen, als der Sarg vorbeigezogen wird. Der Trauermarsch ist über zwei Meilen lang. Auf dem Grabstein steht zu lesen: »Norton I., Kaiser der Vereinigten Staaten, Schutzherr von Mexiko«. Heute ist Joshua Abraham Norton Teil der amerikanischen Kulturgeschichte. 1980 fanden zum 100. Todestags des einzigen Kaisers, den die USA jemals hatten, zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt. Die 57. Ausgabe der Komikreihe Lucky Luke mit dem Titel Der Kaiser von Amerika erzählt aus seinem Leben. In der Westernserie Bonanza taucht er ebenso auf wie im Spielfilm In 80 Tagen um die Welt mit David Niven als Phileas Fogg von 1956. Selbst in Neil Gaimans Bestseller-Comicserie The Sandman, von Norman Mailer als Comic für Intellektuelle bezeichnet, wird Nortons Geschichte aufgegriffen. Die Golden Gate Bridge aber, sein visionärstes Projekt, trägt eine Plakette zur Erinnerung an ihren Erfinder: »Per Dekret erklärte seine Majestät Joshua Abraham Norton 1869, dass eine Brücke über das Golden Gate nach Sausalito gebaut werden sollte. 64 Jahre später begann die Arbeit endlich.« Sämtliche Versuche, die Golden Gate Bridge in Emporer Norton Bridge umzutaufen, sind bis heute allerdings gescheitert.
In einer solchen Stadt fühlen sich Freigeister wie Joseph Duncan wohl. Isadoras Vater gehört zu den Menschen, die dafür sorgen, dass in der kunst- und kulturfeindlichen Umgebung des Wilden Westens nun auch die Kunst ihren Platz findet. Denn interessanterweise bringt der Goldrausch auch die Kultur an die Westküste. Diejenigen, die hierbleiben, holen ihre Familien nach, gründen Geschäfte und bauen Häuser. Es entstehen Schulen, Bibliotheken und Theater. Gold wird zwar auch nach Ende des Goldrausches gesucht, aber nun sind es großen Minen, für die vor allem chinesische Einwanderer als Arbeiter angeworben werden. Die Goldsucher und Glücksritter werden sich erst 1896 am Klondike River wiedertreffen, nachdem in Kanadas Yukon Gold gefunden wurde.
San Francisco aber wird zur Heimat von Menschen wie Joseph Duncan, dessen Gedichte in Anthologien veröffentlicht werden und der zum Mitbegründer und ersten Präsidenten der San Francisco Art Association wird. Da er zudem auch ein großer Charmeur und Womanizer ist, schafft er es spielend, das Herz der erst 20-jährigen Mary Dora Gray, Isadoras Mutter, zu erobern. Geboren am 26. Januar 1849 in St. Louis ist auch sie im Zuge des Goldrausches mit ihrer Familie nach San Francisco gekommen, allerdings nicht, wie Isadora schwärmerisch schreibt, im Planwagen durch die Prärie, sondern wie es sich für wohlhabende Amerikaner gebührt, mit dem Dampfer durch den »Panamakanal«: »Ich musste manchmal schmunzeln, wenn Leute meinen Tanz als griechisch bezeichneten, denn ich glaube, dass seine Ursprünge eher in den Erzählungen meiner irischen Großmutter zu finden sind, die 1849 mit meinem Großvater im Planwagen die Prärie durchquerte, sie 18, er 21; wie ihr Baby während eines Scharmützels mit Indianern geboren wurde und hinterher mein Großvater den Kopf in den Wagen steckte, mit dem rauchenden Gewehr in der Hand, um sein neugeborenes Kind in Augenschein zu nehmen. Als sie San Francisco erreichten, baute mein Großvater eines der ersten Holzhäuser, und ich erinnere mich noch an Besuche in diesem Haus, als ich klein war. Meine Großmutter sang irische Lieder und tanzte irische Jigs, aber ich glaube, dass in diesen Tänzen auch etwas von dem heroischen Pioniergeist und den Kämpfen mit den Indianern, vielleicht sogar Gebärden der Indianer selbst eingeflossen waren; und auch ein wenig Yankee Doodle, als Großvater Colonel Thomas Gray aus dem Bürgerkrieg heimmarschierte. All dies tanzte meine Großmutter in ihrem irischen Jig, und ich lernte von ihr, fügte meine eigenen Sehnsüchte des jungen Amerika hinzu und gab zuletzt meine spirituelle Erkenntnis der Welt durch die Zeilen von Walt Whitman dazu.«
Isadoras Großvater mütterlicherseits ist 1819 aus Irland in die USA eingewandert und hat am Black Hawk Krieg, dem letzten Indianerkrieg östlich des Mississippi, teilgenommen. Dabei hat er es nicht nur bis zum Colonel gebracht, sondern auch Freundschaft mit Abraham Lincoln geschlossen. Hier in San Francisco gründet er die erste Linienfährgesellschaft, die Oakland und San Francisco miteinander verbindet. Er ist Abgeordneter im Senat von Kalifornien, seine Frau Maggie kümmert sich um die acht gemeinsamen Kinder. Es bedarf sicher einiger Überredungskunst, die beiden strammen irischen Katholiken von der Ehe ihrer Tochter mit einem 50-jährigen geschiedenen Mitglied der Episkopalkirche, der seinem Ruf als Lebemann bisher mehr als gerecht wurde, zu überzeugen. Doch Joseph Duncan ist einnehmend und sein gesellschaftlicher Status ist einwandfrei. Er ist kulturbeflissen, gebildet und ein beliebtes und angesehenes Mitglied der oberen Zehntausend. Zudem ist er augenblicklich gerade einmal wieder reich. Am 21. Januar 1871 treten Isadoras Eltern vor den Traualtar. Bereits im November 1871 wird Tochter Elizabeth geboren, Sohn Augustin folgt 1873, Raymond 1875 und schließlich im Mai 1877 Nesthäkchen Isadora. Diese letzte Schwangerschaft ist, wie Isadora in ihren Memoiren berichtet, für ihre Mutter äußerst beschwerlich: »Sie war leidend und konnte nichts zu sich nehmen als eisgekühlte Austern und Champagner.« Isadora wird später behaupten, die Ernährung ihrer Mutter während der Schwangerschaft habe viel zu ihrer Entwicklung beigetragen. Sie ist ein so lebhaftes Baby, dass die Mutter sie schon im Mutterleib aufgrund ihres ständigen Strampelns schlichtweg für wahnsinnig hält. Das Leiden der Mutter hat in Wahrheit aber weniger mit Isadora als mit ihrem Gatten zu tun. 1869 hatte Joseph Duncan die Pioneer Land & Loan Bank gegründet. Sowohl sein Schwiegervater Thomas Gray als auch ein Sohn und Schwiegersohn aus erster Ehe sitzen im Vorstand. Die Bank, die vor allem Minenarbeiter, kleine Angestellte und einfache Leute als Kunden im Auge hat, verspricht eine sensationelle Verzinsung von 12 Prozent und Kredite zu einem Zinssatz von 1 Prozent. Die Zeitungen feiern Duncan als Wohltäter, die Kunden überrennen sein Bankhaus förmlich. Er gehört zu den einflussreichsten Bürgern der Stadt, am Sonntag trägt er in der Heiligen Messe die Lesung vor. Als Firmensitz lässt Joseph Duncan ein fünfstöckiges Gebäude errichten, das zu den architektonischen Wahrzeichen der Stadt San Francisco gehört. Architekt ist der Schotte William Patton, ebenfalls 49er und in späteren Jahren einer der berühmtesten Kirchenarchitekten des Landes. Nach seinen Entwürfen ist neben dem Rathaus von San Francisco auch die 1st Unitarian Church am Union Square entstanden. Patton gilt als führender Vertreter der Eldorado Gotik, der Architektur des Goldrausches. Die Duncans beziehen eine Wohnung im Bankhaus und führen mit ihren Kindern ein angenehmes und sorgenfreies Leben.
Doch die wirtschaftliche Lage im Land ist schlecht. Es kommt zu mehreren Bankenkrisen, und am Ende werden im Zuge einer großen Wirtschaftskrise die Silberminen in Kalifornien geschlossen. Bald kursieren erste Gerüchte, dass auch die Pioneer Land & Loan Bank in Schieflage geraten ist. Joseph Duncan hatte mit den Spareinlagen seiner mehr als 3000 Sparer an der Börse spekuliert, um die versprochenen Zinsen auszuzahlen – mit verheerendem Ergebnis. Am Ende lässt er sogar das Familiensilber einschmelzen, doch es ist zu spät. Fünf Tage vor Isadoras Taufe am 13. Oktober 1877 ist die Pioneer Land & Loan Bank bankrott. Aufgebrachte Menschen stürmen mit Fackeln und Gewehren bewaffnet das Bankhaus und drohen damit, Joseph Duncan zu hängen. Doch außer der völlig verängstigten Familie ist niemand mehr anzutreffen. Joseph Duncan ist wie vom Erdboden verschwunden. Als die Schließfächer der Bank geöffnet werden, sind sie leer. Ein Angestellter gesteht, dass in der Bank niemals mehr als 8000 Dollar in bar lagerten – Geld, das nun ebenfalls weg ist. Am Ende beziffern sich die Schulden der Pioneer Land & Loan Bank auf ganze 1,24 Millionen Dollar. Nach heutigem Wert mehr als 31 Millionen Dollar. Am 11. Oktober 1877 titelt der San Francisco Chronicle: »Duncans Verderbtheit. Getäuschte Anleger in den Selbstmord getrieben«. Im San Francisco Evening Bulletin ist zu lesen: »Die Art und Weise, wie die Pioneer Bank geführt worden war, widerspricht allen Regeln eines seriösen Immobilien-Investments.« Fieberhaft werden alle Schiffe im Hafen nach dem Flüchtigen durchsucht, Straßen und Häuser durchkämmt. Doch Joseph Duncan bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Erst vier Monate später wird er in einer Pension in der Kearny Street verhaftet. Als Frau verkleidet ist er in der Zwischenzeit unbehelligt durch die Straßen der Stadt spaziert. Vier Gerichtsverfahren werden in den nächsten Jahren gegen ihn eingeleitet. Alle vier werden eingestellt, nicht zuletzt deshalb, weil er noch immer einflussreiche Freunde in der Stadt hat. Sein Ruf aber ist ruiniert, sind die Leidtragenden seines Malheurs doch nicht reiche Spekulanten, sondern arme Schlucker, die ihm ihren letzten Spargroschen anvertraut haben. Ergebnis seines Ausflugs ins Bankenwesen sind zerrüttete Familien, Männer, die zu Alkoholikern werden, und Frauen, die sich gezwungen sehen, der Prostitution nachzugehen. Der Zusammenbruch der Pionieer Land & Loan Bank ist Joseph Duncans größte berufliche Niederlage. Er verlässt San Francisco und geht nach Los Angeles.
Er geht allein, denn Dora Duncan hat sich bereits scheiden lassen. Dabei sollen es nicht die dramatischen Augenblicke des für die Familie völlig unerwarteten Bankrotts gewesen sein, die sie zu diesem Schritt veranlassten, sondern die Tatsache, dass die Zeitungen eines Tages einen Brief abdrucken – verfasst von einer Dame, adressiert an Joseph Duncan: »Dem Untersuchungsausschuss wurde gestern ein Brief an Duncan zugespielt. Auch wenn der Brief nur mit Initialen unterzeichnet ist, so ist er doch eindeutig von einer Frau verfasst worden, die alles über die Bankenaffäre weiß. Zudem ist die Dame von Duncan selbst über seine Fluchtabsichten informiert worden. Die Dame ist nicht Duncans Frau, aber wer sie ist, konnte nicht eruiert werden.«
Dora Duncan wird später sagen, ihre Ehe hätte vielleicht Bestand gehabt, wenn ihre vier Kinder nicht so kurz nacheinander geboren worden wären, Duncan nicht so viele Geliebte gehabt hätte oder er davon abgesehen hätte, das Tafelsilber einzuschmelzen und ihren Schmuck zu versetzen.
Für Isadora ist der Vater nie recht viel mehr als ein unheilvoller Schatten, an dem Mutter und Tanten kein gutes Haar lassen: »Dein Vater war ein Teufel, der das Leben deiner Mutter ruiniert hat.« Für die kleine Isadora mit der blühenden Fantasie wird der Vater zur Schreckensgestalt: »Natürlich stellte ich ihn mir ab da immer wie den Teufel aus dem Bilderbuch vor, mit Hörnern und einem langen Schweif, und wenn die Kinder in der Schule über ihre Väter sprachen, blieb ich still.«
Für Dora Duncan ist der Absturz aus den gesellschaftlichen Höhen einer Bankiersfrau ein bitteres Erwachen. Von einem Tag auf den anderen ist die Familie mittellos. Das Wohn- und Geschäftshaus wird versteigert, die Familie verliert ihr Zuhause. Gesellschaftlich sind sie ohnehin erledigt, und so beschließt auch Dora Duncan, San Francisco zu verlassen und mit ihren Kindern ihr Glück jenseits der Bucht im weitaus ruraleren Oakland zu versuchen, das nur durch eine Fähre mit San Francisco verbunden ist. Die Familie von Gertrude Stein, die Isadora Jahre später ein philosophisches Porträt widmen wird, bewirtschaftet hier eine große Farm, viele Familien haben Kühe und Hühner zur Selbstversorgung. Für Isadora und ihre Geschwister beginnt eine Zeit voller Unruhe und Unsicherheit, begleitet von vielen Umzügen.
Mehrmals landen sie auf der Straße, weil sie die Miete nicht bezahlen können: »Wir lebten in ständiger Angst vor dem Klopfen eines schlechtgelaunten Vermieters an der Tür, der nach der Miete fragt. Ständig zogen wir um, von einer Mietwohnung oder einem kleinen Häuschen ins nächste. Ich erinnere mich, dass ich während meiner Kindheit ein schwieriges Leben für den Normalzustand hielt.«
Dora Duncan, die Tochter aus gutem Hause, versucht mit Klavierstunden, Näharbeiten und dem Anfertigen von Hüten und Schals sich und die Kinder durchzubringen. Raymond und Elizabeth bemühen sich um Hilfsarbeiten, Augustin und Isadora helfen der Mutter. Trotzdem ist immer Ebbe in der Kasse: »Wann immer ich an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich vor mir ein leeres Haus. Während meine Mutter unterrichtete, waren wir Kinder uns selbst überlassen. Wir waren immer hungrig, und im Winter froren wir. (…) Ich hatte kein Spielzeug oder andere kindliche Vergnügungen.« Manchmal haben sie tagelang nichts anderes als Tomaten zu essen.