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Dass Frauen wählen dürfen, ist gar nicht lange her. Noch vor hundert Jahren kämpfte in England eine ganze Gruppe, die »Suffragetten«, um dieses elementare demokratische Recht. Und dieser Kampf hatte es in sich: Mit ganzem Einsatz und in originellen Aktionen kam es zu einem regelrechten Guerilla-Krieg – bis die Frauen siegten. In ihrer glänzend geschriebenen Studie zeichnet Michaela Karl die Geschichte dieser Bewegung nach und porträtiert die Heldinnen. Entstanden ist ein lebendiges Stück Historiografie, von dem die heutige, junge Emanzipationsbewegung einiges lernen kann.
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Seitenzahl: 500
Michaela Karl
»Wir fordern die Hälfte der Welt!«
Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht
Sachbuch
Fischer e-books
Gewidmet meiner geliebten Mutter Christl Karl (1946–2007) und Ingeborg
The Women’s Battle Song
Forward, sisters women! Onward evermore, Bondage is behind you, Freedom is before, Raise the standard boldly In the morning sun; 'Gainst a great injustice, See the fight begun! Forward, forward sisters! Onward evermore! Bondage is behind you, Freedom is before.
(Theodora Mills)
»Jedes Problem durchläuft bis zu seiner Anerkennung drei Stufen: In der ersten wird es lächerlich gemacht. In der zweiten bekämpft, in der dritten gilt es als selbstverständlich.«
(Arthur Schopenhauer)
»Suffragetten [frz.-engl., zu suffrage ›(Wahl-)stimme‹, von lat. suffragium ›Stimmrecht‹], Sg. Suffragettedie, urspr. Bez. für die radikalen Mitglieder und Aktivistinnen der brit. Frauenbewegung vor 1914, später eher abschätzige Bez. für Frauenrechtlerinnen.«
(Brockhaus)
Zum ersten Mal tauchte der Begriff »Suffragette« 1906 in einem Artikel des Daily Mail auf. Der Autor wollte damit die neuen militanten Frauenstimmrechtlerinnen charakterisieren, die sich in der Women’s Social and Political Union [WSPU] unter der Führung von Emmeline Pankhurst zusammengeschlossen hatten. Es war der Versuch einer Schmähung, und bis heute ist das Wort »Suffragette« für viele mit einem Negativimage behaftet. Die wenigsten Frauen würden sich geehrt fühlen, als Suffragette bezeichnet zu werden. Dabei ist es genau das: eine Ehrbezeichnung. Ein Ehrentitel für mutige, entschlossene Frauen, die für ein Recht kämpften, das ihnen eine von Männern beherrschte Gesellschaft vorenthielt: das Wahlrecht. Was 1906 als Beleidigung gedacht war, wurde rasch zu einem Titel, den die Mitglieder der WSPU voller Stolz selbst benutzten. Und obwohl die WSPU, ebenso wie die Familie Pankhurst, außerhalb des angloamerikanischen Raumes nur mehr wenigen ein Begriff ist, ging das Wort »Suffragette« in den allgemeinen Sprachgebrauch über und wird bis heute, auch von denjenigen, die es nicht mit der Frauenstimmrechtsbewegung in Verbindung bringen, für militante Frauen verwendet.
Dabei wurde die britische Frauenstimmrechtsbewegung nicht allein von den Suffragetten getragen. Im Gegenteil, der größte Teil der Aktivistinnen gehörte den Suffragisten um die National Union of Women’s Suffrage Societies [NUWSS] an, die auf legalem Wege durch Lobbyarbeit und Petitionen ihr Ziel erreichen wollten. Eine strikte Trennung in nichtmilitante Suffragisten und militante Suffragetten ist jedoch schwierig, da es zahlreiche Überschneidungen von Personen und Aktionen gab. Selbst wenn die meisten Suffragisten sich an die Gesetze hielten, zeigten sie doch auch immer wieder Formen von zivilem Ungehorsam. Sie übernahmen allerdings nie die gewaltsamen Formen der Auseinandersetzung, wie sie die Suffragetten praktizierten. Die Strategie der Militanz, die 1906 von Christabel Pankhurst ins Leben gerufen wurde, beruhte auf der Annahme, dass Männer Frauen niemals ein Mitspracherecht einräumen würden, es sei denn, man zwinge sie dazu. Eine Ansicht, welche die Suffragisten nicht teilten. Die Frage der Gewalt blieb eine unüberwindbare Barriere zwischen WSPU und NUWSS.
Dass die britische Frauenstimmrechtsbewegung dennoch zumeist auf die Suffragetten reduziert wird, ist gegenüber den nichtmilitanten Frauen zwar unfair, aber verständlich. Die Suffragetten waren der lauteste, der auffälligste Teil der Frauenstimmrechtsbewegung – gleichermaßen bewundert und verdammt. Sie polarisierten, und auch die Frauen der Frauenstimmrechtsbewegung waren nicht immer mit ihren radikalen Mitteln einverstanden. Suffragetten waren stets zum Äußersten entschlossen, riskierten Gefangenschaft, Folter und sogar das eigene Leben, um das Stimmrecht zu erlangen. Mit ihren aufsehenerregenden Aktionen wurden die Mitglieder der WSPU so sehr zum Inbegriff der Bewegung, dass der Begriff »Suffragette« zum Synonym für die britischen Frauenwahlrechtlerinnen schlechthin wurde und jede Frau, die sich in irgendeiner Weise für das Wahlrecht der Frau einsetzte, damit belegt wurde. Dass die echten Suffragetten nur eine Gruppe im großen Bassin der Frauenstimmrechtsbewegung war, ging durch die Aufmerksamkeit, die sie durch ihre Aktionen erlangten, fast unter. Sie sind es, die im Gedächtnis geblieben sind, deren unbedingter Einsatz auch 100 Jahre danach noch Respekt abnötigt.
Die WSPU verstand sich als Armee im Krieg. Ihr Auftrag war die »Befreiung der einen Hälfte der Menschheit, und mit dieser Befreiung zugleich die Errettung der anderen Hälfte«. [1]Wie viele Befreiungsarmeen existierte sie in dieser Form nur in einem bestimmten Land und nur für einen relativ begrenzten Zeitraum. Die Suffragettenbewegung war nicht die typische Form der Frauenstimmrechtsbewegung der Jahrhundertwende. Zwar waren sie Teil einer weltweiten Frauenbewegung, doch sie waren etwas Besonderes, etwas Einzigartiges und blieben bis auf vereinzelte Ausnahmen auf Großbritannien beschränkt. Nur auf der Insel nahm die Frauenstimmrechtsbewegung derart radikale Formen an, waren die Vertreterinnen derart militant. Nur hier ketteten sich Frauen an Gebäude, schlugen Fensterscheiben ein, warfen Brandsätze und Bomben. Für einen kurzen historischen Moment standen die Suffragetten im Mittelpunkt des Geschehens, waren die Augen der Welt auf sie gerichtet. Weltweit konnte man ihre Aktionen verfolgen, über ihre Verhaftung lesen, die Bilder von Hungerstreik und Zwangsernährung ansehen. Der erstaunte Zeitungsleser erfuhr von Verletzten und Toten, geschundenen und von Polizeiknüppeln zusammengeschlagenen Frauen, denen das Blut in Strömen auf ihre weißen »Kleider der Unschuld« floss. Lila, grün und weiß waren die Suffragettenfarben, an denen niemand mehr ungerührt vorbeikam.
Sie inspirierten mit ihrem Einfallsreichtum und Mut auch andere politische Bewegungen. Mahatma Gandhi soll durch die britischen Suffragetten auf seine Methode des gewaltlosen Widerstandes und des zivilen Ungehorsams gekommen sein. Eine Methode, die in einem Land, in dem formale Meinungsfreiheit herrscht, zum Erfolg führen kann, da die Akteure zwar mit Bestrafung, aber nicht, wie in einer Diktatur, mit dem Tode rechnen müssen. Sie ermöglicht den Akteuren, für ihr Ziel der maximalen Aufmerksamkeit ein kalkuliertes Risiko einzugehen, das nicht sofort gleichbedeutend mit Ermordung ist.
Doch warum blieb die Suffragettenbewegung auf Großbritannien beschränkt? Ursächlich dafür ist ein ganzer Strauß von Faktoren. Kein anderes Land bot jene Mischung aus konstitutioneller Monarchie und langjähriger parlamentarischer Tradition. Bereits im 19. Jahrhundert kam es hier zu Wahlrechtsreformen, die immer mehr Menschen in die politische Entscheidungsfindung mit einbanden. Das Oberhaus verlor in jenen Jahren zunehmend an Einfluss, das Parlament wurde zur wichtigsten politischen Institution. Das Volk strebte mehr und mehr danach, an den politischen Entscheidungen beteiligt zu sein. Mit der Wahlrechtsreform von 1832 erhielten mehr Männer nach dem Zensus das Wahlrecht. Im zweiten Reformgesetz 1867, das weiteren Männern das Wahlrecht zugestand, blieben Bedienstete, Soldaten und Söhne, die nicht zu Hause lebten, sowie alle Frauen von der Wahl ausgeschlossen. 1884 erhielten zwei Drittel aller Männer das Wahlrecht, nur Frauen, Kriminelle und Geisteskranke nicht. Von einem repräsentativen System zu sprechen erschien den Frauen angesichts der Tatsache, dass die Hälfte der Bevölkerung im Parlament nicht vertreten war, wie Hohn.
Die Bedeutung, die politische Reformer dem Parlament zumaßen, war unübersehbar. Wollten die Frauen auch für sich Reformen erreichen, so durften sie sich nicht damit abfinden, kein Teil dieser wichtigen Institution zu sein. Gerade weil sie mitverfolgen konnten, wie die Belange derjenigen, die im Parlament vertreten waren, ernst genommen wurden, erschien es unabdingbare Notwendigkeit, dass auch Frauen die Zusammensetzung dieses Gremiums mitbestimmen konnten und es ihnen auch möglich sein musste, selbst Teil dieses Gremiums zu werden.
Zu Beginn der Frauenstimmrechtsbewegung im 19. Jahrhundert hatte Großbritannien bereits eine lange Geschichte des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Liberalismus hinter sich. Nirgendwo sonst hatten sich liberale Ideen im 19. Jahrhundert in dem Maße durchgesetzt wie auf der Insel. Dies war der Nährboden, auf dem die Idee des Frauenstimmrechts gedeihen konnte. Der Kampf ums Wahlrecht hatte hier eine lange Tradition, und die Methoden, auf die nicht zuletzt die Suffragetten zurückgreifen konnten, waren Methoden, die Wahlrechtler schon vor vielen Jahren angewandt hatten.
Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes tat ein Übriges, um nicht nur das Bürgertum zu emanzipieren. Frauen forderten Zugang zu Schulen und Universitäten, freie Berufswahl und Mitsprache bei politischen Entscheidungen. Die Modernisierung des Staates schien unvollkommen, solange Frauen davon ausgenommen blieben. Dass sich die Frauen in dieser politisch liberalen Gesellschaft einer großen, auch organisierten Gegnerschaft gegenübersahen, die mit allen Mitteln versuchte, sie am Wahlrecht zu hindern, forderte sie umso mehr heraus. Mit großem Mut und persönlichem Einsatz nahmen sie diese Herausforderung an.
Hinzu kommt, dass die Suffragetten mit den Pankhurst-Frauen drei Führungspersönlichkeiten hatten, die ihresgleichen suchen. Emmeline und ihre Töchter Christabel und Sylvia waren faszinierende Frauen mit enormem Charisma, großer Hingabe und unbedingtem Einsatzwillen: Emmeline war die geliebte Anführerin der WSPU, Christabel gleichsam der mystische Avatar und Sylvia der Engel der Armen. Zusammen verliehen sie der Bewegung ihr Gesicht und gingen in die Geschichte ein, während die meisten Suffragetten heute vergessen sind. Eine Entwicklung, die vor allem darauf zurückzuführen ist, dass viele der Beteiligten lange Jahre über diese Zeit schwiegen. Auch Jahrzehnte danach weigerten sich ehemalige Suffragetten, Namen von Mitstreiterinnen preiszugeben und mit Journalisten und Historikern über Aktionen und Anschläge zu sprechen. So blieben viele der damaligen Aktivistinnen unbekannt. Die Frauen in den weißen Kleidern, die man auf den unzähligen Fotos sieht, tragen keine Namen, sind als Individuen in Vergessenheit geraten. Nur die Erinnerung an die Suffragettenbewegung blieb.
Dieses Buch schildert die Entstehung der Frauenstimmrechtsbewegung und ihren Verlauf in Großbritannien und legt dabei ein besonderes Augenmerk auf die militanten Frauenstimmrechtlerinnen. Großbritannien besteht aus den drei historischen Ländern England, Schottland und Wales. Zusammen mit Irland bildeten sie im 19. Jahrhundert das Vereinigte Königreich, zu dem heute noch Nordirland gehört (United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland). Wenn im Folgenden die Geschichte der Frauenstimmrechtsbewegung Großbritanniens erzählt wird, ohne auf regionale Besonderheiten in England, Wales und Schottland einzugehen, so ist dies der Tatsache geschuldet, dass die Frauen ein gemeinsames Ziel, nämlich das Frauenstimmrecht, mehr einte, als regionale Unterschiede sie trennten. Andererseits wäre es falsch, nur von einer englischen Suffragettenbewegung zu sprechen, selbst wenn ihre Zentren in London und Manchester lagen. Die beiden großen Frauenstimmrechtsbewegungen NUWSS und WSPU hatten Vertretungen auch in Schottland und Wales, und viele der bekannten Suffragisten und Suffragetten kamen von dort. Etwas anders verhält es sich mit der Frauenstimmrechtsbewegung in Irland, die im Folgenden nicht thematisiert wird. Hier gab es zwar ebenfalls eine aktive Frauenstimmrechtsbewegung, diese war jedoch weitaus mehr auch mit anderen politischen Themen, vor allem mit der irischen Unabhängigkeit, verknüpft. Die Situation in Irland war aufgrund der politischen Lage eine andere. Die irischen Frauen bildeten eigene Vereine, wie die 1908 gegründete Irish Women’s Franchaise League [IWFL], die größte und bedeutendste Irlands. Sie wurde ins Leben gerufen, weil die irischen Frauen eine eigenständige, von Großbritannien unabhängige Frauenstimmrechtsorganisation wollten. Sie wollten sich nicht von britischen Frauen führen lassen. Sie verstanden sich als Frauen, aber eben auch als Irinnen. Ein Beispiel dafür, dass die Frauenstimmrechtsbewegung – obwohl eine der wenigen internationalen Bewegungen – in letzter Konsequenz nicht immer in der Lage war, nationale Animositäten zu überwinden.
Dieses Buch will nicht nur die Geschichte der Suffragettenbewegung erzählen, sondern auch die sozialgeschichtlichen Hintergründe beleuchten, vor denen eine solch gewaltige Bewegung entstehen konnte. Welche Ereignisse machten in den Augen der Frauen die Gründung einer militanten Organisation notwendig? Warum sah ein Teil der Frauenstimmrechtsbewegung sich außerstande, weiterhin mit legalen, friedlichen Mitteln zu kämpfen, und wählte eine Strategie der begrenzten Gewalt? Um diese Fragen zu beantworten, werden zudem die Biographien einzelner Frauen herangezogen. Die Porträtierten, die stellvertretend für unzählige Frauen stehen, sind historische Persönlichkeiten, die für ihre Zeit und darüber hinaus von großer Bedeutung waren. Es sind Vorkämpferinnen für Frauenrechte wie Mary Wollstonecraft und Annie Besant, Gegnerinnen des Frauenstimmrechts wie Florence Nightingale und Mary Humphry Ward, Anführerinnen der Suffragetten wie Emmeline und Sylvia Pankhurst, WSPU-Aktivistinnen wie Lady Constance Lytton und Emily Wilding Davison und schließlich die erste Frau, die jemals ins Parlament gewählt wurde, die irische Revolutionärin Countess Constance Markievicz.
In der Suffragettenbewegung trafen sich Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft, die für kurze Zeit ein gemeinsames Anliegen einte, dem sie alles unterordneten: Votes for Women! Angesichts ihres heroischen Kampfes um dieses Grundrecht kann man sich dem Urteil der feministischen Politikwissenschaftlerin Hannelore Schröder über die Suffragetten nur anschließen: »Die Frauen der Welt verdanken den Frauen der WSPU das bisher einmalige Beispiel einer völlig unabhängigen, überaus radikalen, heroischen Widerstandsbewegung.« [2]
Dieses Buch ist all den unbekannt gebliebenen Frauen gewidmet, die mit ihrem Leben für ein fundamentales Recht von Frauen kämpften und den Weg bereiteten, auf dem wir unverzagt vorwärtszugehen haben!
»Die Mitglieder des Armenrates waren weise, einsichtsvolle, kluge Männer, und als sie das Armenhaus ins Auge faßten, erkannten sie alsbald [...]: daß es den Armen darin sehr gut gefiel ... Sie setzten daher fest, daß alle Armen die Wahl haben sollten – [...] nach und nach im Haus oder außer Haus zu verhungern.«
(Charles Dickens: Oliver Twist)
Vom Reich und den Armen
Jene Zeit, in der die Frauenstimmrechtsbewegung in Großbritannien an Bedeutung gewinnt, ist untrennbar mit dem Namen Queen Victorias (1819–1901) verbunden. Die mehr als sechzig Jahre währende Regierungszeit Victorias ist für das Land eine Phase voller Umbrüche, Neuerungen und Widersprüche. Sie ist einerseits geprägt von Technik und Fortschritt, von großem Wohlstand und ungeheurer Machterweiterung, andererseits bringt sie ein Massenelend ungeahnten Ausmaßes hervor. Industrialisierung, Imperialismus und Pauperismus sind die Kennzeichen dieser Epoche.
Doch angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts gilt das Zeitalter Victorias gemeinhin als Synonym für die »gute alte Zeit«. Der Zivilbevölkerung der Insel prägte sich das 19. Jahrhundert, nach den Napoleonischen Kriegen, als Ära des Friedens ein. Der einzige Krieg, den das Vereinigte Königreich zwischen 1815 und 1914 in Europa ausfocht, war der Krimkrieg (1853–1856), der Florence Nightingale weltberühmt machte. Dass man zugleich außerhalb Europas in 229 Kriege und Aufstände verwickelt war, fiel für die meisten Briten nicht ins Gewicht. Victoria galt als persönliche Hüterin der Pax Britannica, die sich mit ihrem Tode unaufhaltsam dem Ende zuneigte.
Die Ära Victoria lässt sich in drei Phasen gliedern: eine Frühphase, geprägt von politischer Instabilität und wirtschaftlicher Depression (1837–1843), ausgelöst durch Ernteverluste und eine Bankenkrise, beginnend mit der Inthronisierung der 18-Jährigen 1837. Auf sie folgt eine Hochphase ab der Jahrhundertmitte, die zwischen 1851 und 1870 den Great Victorian Boom auslöst und die von einer imperialistischen Phase abgelöst wird, in welcher dem wirtschaftlichen Niedergang des Landes durch territoriale Erweiterung begegnet werden soll. Victoria als Kaiserin von Indien wird zum Symbol des britischen Imperialismus schlechthin, der seine Machterweiterung jedoch »ausschließlich« zum Segen der Menschheit betreibt, wie Victoria nicht müde wird zu betonen: »Nicht, um unsern Kolonialbesitz zu erweitern, sondern um Krieg und Blutvergießen zu vermeiden, müssen wir dies tun.« [3]Als die Königin 1901 stirbt, umfasst das Empire 43 Territorien. Ein Viertel der Erde, also etwa 400 Millionen Menschen, steht unter dem Einflussbereich der Krone. Die Königin, die für viele ihrer Untertanen Tugenden wie Pflichtgefühl, moralische Integrität und Arbeitseifer verkörpert, war zu einem Symbol für Kontinuität geworden. Viele Briten hatten niemals einen anderen Menschen auf dem Thron erlebt, konnten sich ein Leben ohne Victoria kaum vorstellen. Dabei war in jener Zeit, der Victoria ihren Namen gab, die tatsächliche Macht des Königshauses weit geringer als sein Prestige. Die wirkliche politische Macht lag beim Parlament, allem voran beim Unterhaus. Victorias Bedeutung war nicht in erster Linie eine politische, sondern vielmehr eine psychologische. Die nach dem Tode ihres geliebten Mannes Albert von Sachsen-Coburg jahrzehntelang in Schwarz gehüllte Witwe bildete ein Gegengewicht zu einer sich fortwährend schneller drehenden Welt, die für den Einzelnen immer schwerer zu durchschauen war und die neben großen Hoffnungen auch große Ängste mit sich brachte.
Das prägende Ereignis des 19. Jahrhunderts ist, ausgehend von Großbritannien, die industrielle Revolution. Sie macht das Land zur »Werkstatt der Welt« und zur mächtigsten Wirtschaftsmacht der Erde. Der industrielle Vorsprung der Engländer beträgt Jahrzehnte, und es wird bis weit in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein dauern, ehe andere Nationen daran Anschluss finden.
Begünstigt wird diese Entwicklung durch verschiedene innenund außenpolitische Faktoren sowie eine optimale Bevölkerungsentwicklung, welche dem Land gegenüber Kontinentaleuropa enorme Vorteile verschaffen. So ist Großbritannien anders als das restliche Europa, in dem noch immer die Kleinstaaterei vorherrscht, eine Union. Seit 1707 bilden England und Schottland eine politische Einheit ohne jegliche Handelsschranken. Es gibt einheitliche Steuern, Zölle sowie eine Einheitswährung. Bereits 1694 war mit Gründung der Bank of England eine Zentralbank geschaffen worden, welche die Umstellung auf ein modernes Finanzwesen vorantrieb.
Zudem ist das Land seit der Glorious Revolution von 1688/89 eine konstitutionelle Monarchie, in der die Gewalt des Königs durch die Verfassung beschränkt ist. Im Gegensatz zum in Europa herrschenden Absolutismus gibt es hier schon früh eine zwar noch nicht demokratisch gewählte, aber eben auch nicht absolutistische parlamentarische Regierung. Dank dieser gemischten Staatsform aus Monarchie und Zwei-Kammer-Demokratie hat England einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Staaten, denn Schöpfergeist entfaltet sich am besten dort, wo die Freiheit des Denkens gewährleistet ist. So garantieren seit 1689 die Kontrolle durch das Parlament und die Bill of Rights die persönlichen Freiheitsrechte.
Die britische Regierungsform ist in der Lage, die für die Industrialisierung förderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, wie etwa Gewerbefreiheit oder später auch Freihandel. Die politischen Freiheiten übertragen sich früh schon auf die Wirtschaft. So gibt es beispielsweise keine Zunftschranken. Der Staat zieht sich über die Jahre weitgehend aus der Wirtschaft zurück und überlässt sie dem freien Spiel der Kräfte. Während auf dem Kontinent der Merkantilismus als die Wirtschaftsform des Absolutismus vorherrscht, begründen Ökonomen wie Adam Smith (1723–1790) bereits Ende des 18. Jahrhunderts den Wirtschaftsliberalismus. Sie fordern den freien Markt und den freien Wettbewerb. Ihrer Ansicht nach wird sich eine freie Wirtschaft, die den Prinzipien von Angebot und Nachfrage unterworfen ist, selbst regulieren. Jedes Eingreifen des Staates würde die wirtschaftliche Entwicklung gefährden. Nur wenn Unternehmen ihre Interessen frei verfolgen können, wird sich auch das Gemeinwohl steigern. Die englische Laissez-faire-Politik des 19. Jahrhunderts wird die praktische Umsetzung dieser theoretischen Vorgaben werden.
Gefördert wird der Aufstieg zur Wirtschaftsmacht auch durch eine relativ offene Gesellschaftsform. Mit dem 17. Jahrhundert ist das ständische Gesellschaftssystem zunehmend durchlässiger geworden. Es gibt keine ähnlich strenge Ständeordnung und keine derart undurchlässigen Standesschranken wie in anderen Teilen Europas. Ehen zwischen dem Landadel und dem Bürgertum sind durchaus keine Seltenheit. Adel und Bürgertum bilden nicht die Antipoden wie andernorts, auch wenn die etwa zweihundert Familien des Hochadels kaum Kontakt zum Bürgertum pflegen. Die politische Emanzipation des Bürgertums ist vergleichsweise weit fortgeschritten, die Aristokratie verhältnismäßig verbürgerlicht. Im Unterhaus sitzen Unternehmer und wirken an der Gesetzgebung mit. Auf der anderen Seite arbeitet nach Gottes Gebot auch der Adel und beteiligt sich, anders als zum Beispiel in Preußen, an der Industrialisierung. Es ist ein völlig normaler Vorgang, dass auch Adlige in die Produktion investieren, nicht nur Unternehmer oder Bauern. Grundsätzlich herrscht in England ohnehin eine hohe Investitionsfreudigkeit. Eine protestantisch gefärbte Arbeitsethik befördert Tugenden wie Fleiß und Gewinnstreben. Eine Haltung, die sich besonders bei den sogenannten dissenters, bei Baptisten, Methodisten, Presbyterianern oder Quäkern zeigt, also allen Nonkonformisten, die sich von der anglikanischen Amtskirche losgesagt haben. Materieller Erfolg gilt als sichtbares Zeichen göttlichen Wohlwollens, das calvinistische Ideal der Vervollkommnung durch Arbeit prägt den Alltag der Inselbewohner und trägt entscheidend zum wirtschaftlichen Aufstieg bei.
Der wirtschaftlichen Entwicklung gelegen kommt auch ein im 19. Jahrhundert einsetzendes rasantes Bevölkerungswachstum. Verbesserte medizinische Versorgung, hygienische Maßnahmen und das Ausbleiben von großen Hungersnöten tragen dazu bei, dass sich die Bevölkerung der Insel immens vermehrt. Hinzu kommt, dass man hier weit weniger als auf dem Kontinent unter Kriegsverwüstungen und den damit verbundenen Seuchen leidet. Vom Amtsantritt Victorias bis zu ihrem Tode steigt die Zahl ihrer Untertanen im Vereinigten Königreich von 25 Millionen auf mehr als 41 Millionen an. Dies ist angesichts von Ereignissen wie der Hungersnot in Irland Mitte des Jahrhunderts und der daraufhin einsetzenden großen Auswanderungswelle durchaus beachtlich.
1801 gibt das Unterhaus die erste von zahlreichen Volkszählungen in Auftrag. Ergebnis all dieser Zählungen ist, dass die Bevölkerung kontinuierlich wächst. So erscheint es kaum verwunderlich, dass, noch bevor es zur industriellen Revolution kommt, eine Agrarrevolution stattfindet. Die Landwirtschaft muss sich der steigenden Nachfrage nach Nahrungsmitteln anpassen. Durch Bodenverbesserung, Düngemittel und Bewässerungseinrichtungen gelingt es der Landwirtschaft, ihre Erträge zu steigern. Insgesamt steigert sich die landwirtschaftliche Produktion so sehr, dass die Bevölkerung einigermaßen ernährt werden kann. Dies gelingt ab Mitte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt durch den Import von Getreide, der durch Verbesserungen im Transportwesen möglich wird. Zur Intensivierung der Landwirtschaft trägt auch die Umstellung von der Dreifelderwirtschaft auf die produktivere Fruchtwechselwirtschaft bei. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts vergrößern die Großgrundbesitzer ihre Grundstücke und Äcker; eine Entwicklung, die zu Lasten der Kleinbauern geht. In dem Maße, wie Bauernhöfe und Gutshöfe zu Unternehmen werden, werden die Kleinbauern verdrängt. Viele verkaufen ihre unrentablen Parzellen und wandern in die Städte ab. Der Einsatz neuer landwirtschaftlicher Maschinen verhindert ihren Verbleib als Landarbeiter. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts kommt es deshalb verschiedentlich zur Zerstörung von Dreschmaschinen. Doch die Entwicklung können auch derartige Verzweiflungstaten nicht aufhalten: Aus unzähligen freien Kleinbauern werden abhängige Lohnarbeiter. 1851 arbeiten von 9 Millionen erwerbstätigen Briten noch 2 Millionen in der Landwirtschaft, 1881 sind es von 12,8 Millionen Erwerbstätigen nur mehr 1,6 Millionen.
Von immenser Bedeutung für die Industrialisierung sind die Gebiete in Übersee. Großbritannien ist seit Beginn des 18. Jahrhunderts die führende Kolonialmacht. Bedingt durch den Kolonialhandel stehen große Kapitalreserven zur Verfügung. Zudem werden die Kolonien als Rohstofflieferanten und Absatzmärkte genutzt. Kanada und Indien sind seit dem 18. Jahrhundert Teil des Empires, Südafrika und Ceylon seit den Kriegen gegen Napoleon. 1770 hatte James Cook (1728–1779) die Südostküste von Australien für die britische Krone in Besitz genommen. Seit 1788 werden dorthin Strafgefangene deportiert, bis 1853 gelangen mehr als 137 000 Menschen auf diese Weise nach Australien. 1769 war Cook bereits auf Neuseeland gelandet, das 1840 britische Kronkolonie wird. 1839 besetzt Großbritannien Aden und erhält dadurch Zugang zum Roten Meer. 1840 übernimmt man als Folge des Opiumkrieges mit China Hongkong.
Gestützt auf die größte europäische Flotte ist Großbritannien seit dem 17. Jahrhundert ohnehin die größte Handelsmacht der Welt. Eine Stellung, die es auch während der großen Kriege des 18./19. Jahrhunderts, sowohl im Siebenjährigen Krieg als auch in den napoleonischen Kriegen, behaupten kann. Die Schiffe transportieren Unmengen an Rohstoffen aus Übersee ins Mutterland, wo aufgrund immer neuer technischer Entwicklungen die Nachfrage nach billigen Rohstoffen steigt.
Den Grundstein für die industrielle Revolution legen jedoch die zahlreichen Erfindungen, welche die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse vergangener Jahre umsetzen. Seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts nehmen die Patentanmeldungen auf der Insel kontinuierlich zu.
Die bahnbrechendste Erfindung gelingt 1769 James Watt (1736–1819) mit der Erfindung eines Universalmotors. Der schottische Instrumentenmacher verbessert die von Thomas Newcomen (1663–1729) bereits 1712 erfundene sphärische Kolbendampfmaschine um entscheidende Punkte und baut durch die Einführung des vom Zylinder getrennten Kondensators die erste direkt wirkende Niederdruckdampfmaschine. Das am 5.Januar 1769 angemeldete Patent mit der Nummer 913 gilt als eine der bedeutendsten Erfindungen der Geschichte. Friedrich Engels schreibt hierzu: »Die Männer, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert an der Herstellung der Dampfmaschine arbeiteten, ahnten nicht, daß sie das Werkzeug fertigstellten, das mehr als jedes andre die Gesellschaftszustände der ganzen Welt revolutionieren« sollte. [4]Mit dem Übergang zur Dampfenergie als Grundlage der Energieerzeugung beginnt die industrielle Revolution, in der sowohl Wasser und Wind als auch menschliche und tierische Muskelkraft als Energieträger verdrängt werden. Die Dampfmaschine von Watt wird zum zentralen Motor der neu entstehenden Fabriken.
Auch in anderen Bereichen gelingen den Briten wichtige Erfindungen. Zum Beispiel im Textilbereich, dem entscheidenden Sektor in der ersten Phase der Industrialisierung. Durch die billige Einfuhr von Rohbaumwolle aus Übersee ist die Textilbranche traditionell einer der wichtigsten Industriezweige auf der Insel und wird nun zum Antrieb der industriellen Entwicklung.
Noch Mitte des 18. Jahrhunderts stand die Textilindustrie vor dem Problem des Arbeitskräftemangels, da das Bevölkerungswachstum stark rückläufig war. Da die Notwendigkeit einer Produktion mit wenigen Arbeitern gegeben war, mussten Maschinen entwickelt werden, welche die Arbeitskräfte ersetzen konnten. 1765 entwickelt James Hargreaves (1720–1778) mit der Spinning Jenny ein Handspinngerät, mit dem acht Spindeln gleichzeitig betrieben werden können. Nach konstruktiven Verbesserungen ist es später auf bis zu 120 Spindeln erweiterbar. Nahezu zeitgleich konstruiert Richard Arkwright (1732–1792), der als Begründer der Textilgroßindustrie gilt, die Water Frame, eine von einem Wasserrad betriebene Spinnmaschine, bei der die Fäden jedoch sehr leicht reißen. Ein Problem, das schon 1779 die Mule Jenny von Samuel Crompton (1753–1827), ein Hybrid aus Spinning Jenny und Water Frame, lösen kann. Damit steigt die Produktion enorm an. Während eine Spinning Jenny mit 60 Spindeln 25 Handspinner ersetzt, verrichtet eine Mule Jenny mit 14 Spindeln die Arbeit von 175 Handspinnern. Ab 1790 werden Mule Jennys mit bis zu 400 Spindeln gebaut, die später mit Dampf betrieben werden. Tragischerweise muss Crompton, der zu arm ist, um ein Patent anzumelden, seine bahnbrechende Erfindung billig verkaufen und stirbt 1827 als armer Mann.
Nachdem die Spinnerei derartige Produktionszuwächse verzeichnet, wird auch das Weben automatisiert. 1785 konstruiert Edmund Cartwright (1743–1823) mit dem Power Loom den ersten dampfbetriebenen Maschinenwebstuhl. Da der Power Loom jedoch teuer und von geringer Leistung ist, dauert es einige Zeit, ehe sich die maschinellen Webstühle, um ein Vielfaches verbessert, endgültig durchsetzen.
Mit Hilfe dieser technischen Neuerungen nimmt die Textilindustrie einen ungeheuren Aufschwung. Die aus den Kolonien eingeführte Rohbaumwolle wird in Großbritannien verarbeitet und als Baumwollstoff exportiert. Maschinen lösen überall die Handarbeit ab. Zwischen 1813 und 1850 steigt die Anzahl mechanischer Webstühle auf der Insel von 2400 auf 224 000 an. Die Produktion wird immer billiger, was sich auch in einem billigeren Verkaufspreis niederschlägt. Dies ist von großer Bedeutung, da durch die steigende Bevölkerung im 19. Jahrhundert ein ungeheurer Bedarf an Kleidung, Nahrungsmitteln und Heizmaterial vorhanden ist. Doch die neue Produktionsweise führt nicht nur zur Steigerung der Produktion, zu billigerer, schnellerer und umfassenderer Verarbeitung von Baumwolle, sondern auch zum Niedergang der Handweber, die sich von 250 000 (1820) auf 50 000 (1855) reduzierten.
Die Arbeiter in der Textilindustrie sehen in den neuen Maschinen zu Recht von Anfang an große Konkurrenz. Nicht alle sind bereit, sich mit der neuen Entwicklung abzufinden, setzen sich zur Wehr. Die Ludditen, auch »Maschinenstürmer« genannt, entwickeln sich zu einer bedeutenden Bewegung innerhalb der englischen Arbeiterklasse. Gezielt zerstören die Textilarbeiter unter ihrem legendären Anführer Ned Ludd ab 1811 ausgehend von Nottingham im ganzen Land Maschinen und liefern sich erbitterte Kämpfe mit Polizei und Soldaten. Maschinenstürmerei wird daraufhin zum Kapitalverbrechen erklärt. 1814 wird die Bewegung militärisch niedergeschlagen, die Anführer hingerichtet oder nach Australien deportiert. Dennoch kommt es auch in den Folgejahren immer wieder zur Zerstörung von Maschinen durch aufgebrachte Arbeiter. Einer der wenigen Engländer, die diese Aktionen unterstützten, ist der Dichter Lord Byron, der die Männer 1811 im Parlament verteidigt und ihnen 1816 eines seiner Gedichte widmet: Song of the Luddites.
Dichter, Künstler und Philosophen stehen der mechanischen Entwicklung skeptisch gegenüber. Der Kunsthistoriker und Sozialreformer John Ruskin (1819–1900), der mit seinen archaischen Vorstellungen von der Natur der Frau die spätere Frauenstimmrechtsbewegung gegen sich aufbringt, sieht in der industriellen Massenproduktion die Gefahr der Verkrüppelung sowohl menschlicher Tugenden als auch künstlerischer Schaffenskraft. Er plädiert für eine neue Wirtschaftsethik, in deren Mittelpunkt der Mensch stehen und handwerkliche Arbeit als unverzichtbarer schöpferischer Wert betrachtet werden soll. Sein Credo ist das Evangelium der Schönheit, eine Verschmelzung von Kunst, Politik und Wirtschaft. Ruskin versteht sich als Ästhetiker und Ethiker zugleich, betont die moralische Aufgabe der Kunst. Mit seiner Hinwendung zur Kunst des Mittelalters wird er zum Vorbild einer englischen Künstlergruppe, die sich ebenfalls gegen die industrielle Massenproduktion richtet: die 1848 gegründete Präraffaelitische Bruderschaft, zu der unter anderem Dante Gabriel Rossetti, John Everett Millais und Edward Burne-Jones gehören.
Die Tatsache, dass mit Hilfe von Maschinen Unmengen minderwertiger Waren produziert werden, welche die viktorianische Gesellschaft begeistert konsumiert, führt dazu, dass die Künstler des Landes zu Wegbereitern einer neuen Stilrichtung werden. Die englische Arts & Crafts-Bewegung wird zum Vorläufer des Jugendstils. Einer ihrer berühmtesten Vertreter ist der Künstler und politische Aktivist William Morris (1834–1896). Als rigoroser Gegner industrieller Massenproduktion gründet er 1861 mit Freunden die Firma »Morris, Marshall, Faulkner & Co.«, deren Angebot von Glasfenstern, Wandteppichen, Tapeten, Möbeln bis hin zu Metallarbeiten reicht. Alles wird in qualitativ hochwertiger Handarbeit hergestellt – maschinelle, industrielle Herstellung ist verpönt. Morris’ Credo lautet: »Als Lebensbedingung ist alle Maschinenarbeit von Übel.«
Dennoch können weder die Maschinenstürmer noch die Künstler die fortschreitende Mechanisierung aufhalten. Ganz Europa wird in den Folgejahren unter anderem mit billigen Textilien aus England überschwemmt, was in nicht geringem Maße zum Ausbruch des Schlesischen Weberaufstandes von 1844 beiträgt, den Gerhart Hauptmann in seinem Bühnenstück Die Weber verewigt.
Die neuen Produktionsweisen führen zu einer Kapitalvermehrung, die wiederum für die Entwicklung neuer Maschinen genutzt wird. Die Fabriken wachsen, ganze Städte werden zu Ballungszentren der neuen Industrien. Um die Waren zu transportieren, wird in die Infrastruktur investiert. Großbritannien liegt verkehrsgünstig am Meer. Es hat ein weit verzweigtes Netz an Flüssen, Kanälen und Straßen, deren Ausbau nun zügig voranschreitet. Als 1761 der Worsley Canal eröffnet wird, ist Kohle in Manchester plötzlich zum halben Preis zu haben. Dank der Erfindung der Dampfmaschine kommt es auch im Transportwesen zu bahnbrechenden Neuerungen. Der Siegeszug der Eisenbahn beginnt. 1803 entwickelt Richard Trevithick (1771–1833) die erste Dampflokomotive, deren Einsatz 1804 jedoch an den gusseisernen Schienen scheitert, die dem Gewicht der Lok nicht gewachsen sind. 1814 baut George Stephenson (1781–1848) die erste verwendungsfähige Dampflokomotive. Als es 1820 schließlich gelingt, Schienen zu walzen, beginnt ihr Durchbruch. Am 27.September 1825 wird mit der Locomotive No. 1 zwischen Darlington und Stockton die erste öffentliche Eisenbahnlinie der Welt eröffnet. Der Zug erreicht auf der 39 Kilometer langen Strecke eine Geschwindigkeit von 15 bis 17 km/h. Vier Jahre später verbindet die Eisenbahn bereits die Städte Liverpool und Manchester. Das neue Transportmittel wird ab 1830 offiziell auch für die Personenbeförderung zugelassen. Während also in England die Eisenbahn bereits große Städte miteinander verbindet, sind die Bahnstrecken auf dem Kontinent so kurz, dass man sie problemlos auch zu Fuß zurücklegen kann. Der Adler, jene erste in Deutschland fahrende, jedoch aus England stammende Lokomotive, fährt 1835 gerade mal zwischen Nürnberg und Fürth hin und her. 1844 führt das englische Parlament einen allgemeinen Benutzerpreis von einem Penny pro Meile für die Dritte Klasse in der Eisenbahn ein, was nicht zuletzt die Bedeutung der neuen Technik für die Mobilität der Bevölkerung zeigt. Großbritannien wird in den Folgejahren mit einem weit verzweigten Schienennetz überzogen. 1850 gibt es bereits 10 000 Kilometer Gleis. Mit Hilfe der Züge können Produkte nun landesweit vermarktet werden, zugleich bleibt die Industrie bei der Standortwahl flexibel. Dies schafft auch für die Landwirtschaft, die ebenfalls mechanisiert wird – 1833 erfindet John Heathcoat (1783–1860) den Dampfpflug –, neue Absatzmöglichkeiten.
Die verbesserte Infrastruktur führt zum Aufbau eines neuen Kommunikationsnetzes. 1840 führt Rowland Hill (1795–1879) die Penny Post ein, die zu einem Penny landesweit Briefe transportiert – im zersplitterten Deutschland undenkbar. 1846 wird die allgemeine Telegraphengesellschaft gegründet. 1863 fährt bereits die erste U-Bahn der Welt als unterirdische, mit Dampflok betriebene Eisenbahn durch London. Mobilität ist eines der wichtigsten Schlagworte jener Zeit, in der das Reisen eine ganz neue Bedeutung erhält.
Die Schaffung des neuen Transportwesens bringt Hunderttausende neuer Arbeitsplätze und fördert die Bedeutung von Eisen und Kohle. Damit beginnt die zweite Phase der Industrialisierung, die sich auf Kohle, Eisen und Stahl gründet und in der nicht nur Unsummen für Neuinvestitionen ausgegeben werden, sondern auch Tausende neuer Arbeitsplätze geschaffen werden. Steinkohle ist für die neue maschinelle Form der Produktion unentbehrlich. Von diesem Energieträger sind auf der Insel ebenso große Mengen vorhanden wie von Erz. Von 1815 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts steigt die Kohleförderung von 13 Millionen Tonnen auf 100 Millionen Tonnen an. Das meiste davon dient der Eisenverhüttung. Eisen und Stahl werden zu Exportschlagern. Erfindungen wie die Verbesserung des Schmelzprozesses in Hochöfen fördern den Erfolg. Eisen wird zum Grundstoff der industriellen Entwicklung jener Phase: Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Werkzeuge, Brücken, Aquädukte, Bahnhöfe, alles entsteht aus diesem nun allgemein verfügbaren Rohstoff. Dazu kommt, dass die Engländer seit Ende des 18. Jahrhunderts bei der Stahlformung nicht mehr mit traditionellem Schmieden, sondern mit Walztechnik arbeiten. Dadurch wird die Formung mechanisiert. Das Ausland giert nach Maschinen, Lokomotiven und Dampfschiffen made in England. Denn auch wenn die Industrialisierung auf dem Kontinent voranschreitet, zur eigenen Produktion derartiger Maschinen ist man dort technisch noch nicht in der Lage.
Als 1825 auf dem Rhein der erste Passagierdampfer losmacht, fahren die englischen Dampfer bereits nach Ost-Indien. Allein zwischen 1814 und 1830 erhöht Großbritannien seine Passagierdampfer von 20 auf mehr als 300 Stück. 1833 bauen die Briten den ersten Kriegsdampfer. Fünf Jahre später baut Francis Pettit Smith (1808–1874) die Archimedes, 1835 den ersten Schraubendampfer der Welt. Seine Entwicklung des Schiffspropellers basiert auf den Forschungsarbeiten Joseph Ressels (1793–1857), dem die Polizei in Triest 1829 jegliche Versuche mit seiner Schraube untersagt hatte. Während die Engländer von Forscherdrang und Erfindungsgeist beseelt sind, bleibt man auf dem Kontinent skeptisch. In Deutschland warnen Mediziner eindringlich vor schweren gesundheitlichen Schäden, verursacht durch die neuen Fortbewegungsmittel. Die Universität Erlangen schreibt in einem medizinischen Gutachten, dass allein der Anblick eines vorbeifahrenden Zuges zu schweren Schäden im Gehirn führen kann und man zum Schutz der Bevölkerung zumindest fünf Meter hohe Schutzwände aufstellen sollte. Während die Europäer sprichwörtlich technisch noch auf den Bäumen sitzen, benutzen die Briten bereits Füllfederhalter (1809 Frederick Bartholomew Fölsch), Streichhölzer (1827 John Walker) und Briefmarken (1840 Rowland Hill). 1850 besitzt Großbritannien 1290 Dampfmaschinen, Frankreich hingegen ganze 270. Mitte des Jahrhunderts kommen zwei Drittel aller Kohle der Erde, die Hälfte des Eisens, fünf Siebtel der Stahlproduktion und die Hälfte der zu kommerziellen Zwecken verarbeiteten Baumwolle von der Insel.
1851 findet auf Initiative Prinz Alberts von Sachsen-Coburg, dem Gatten Königin Victorias, in London die erste Weltausstellung statt. Im eigens dafür errichteten Londoner Kristallpalast zeigen Aussteller aus aller Welt Erfindungen und neuste Produkte. Die Great Exhibition stellt einen der Höhepunkte des Viktorianischen Zeitalters dar: Der Glaube an Fortschritt, Wachstum und immer größeren Wohlstand ist grenzenlos.
Kristallpalast in London zur Weltausstellung 1851
Der Nationalstolz und Entdeckergeist der Engländer ebenso. In jene Jahre fallen berühmte Forschungsreisen, die nicht alle glücklich enden, jedoch die Aufbruchsstimmung verdeutlichen, die in jenen Jahren herrscht. Nachdem John Franklin (1786–1847) bei seiner dritten Expedition 1848 auf der Suche nach der Nordwestpassage gescheitert war, gelingt es im Jahre 1851 dem britischen Seefahrer und Nordpolarforscher Robert MacClure (1807–1873), das letzte Teilstück der Nordwestpassage zwischen Banks- und Melville-Island zu finden und damit den seit 400 Jahren gesuchten Seeweg, der den Atlantik mit dem Pazifik durch den kanadisch-arktischen Archipel verbindet, nutzbar zu machen. Forscher wie David Livingston (1813–1873), der im November 1855 als erster Weißer die Victoria Falls erblickt und ihnen zu Ehren der Königin den Namen »Victoriafälle« gibt, werden zu Idolen einer ganzen Generation. Die 1830 ins Leben gerufene Royal Geographical Society, die sich die Förderung und Unterstützung geographischer Forschung im Vereinigten Königreich und in Übersee auf die Fahnen geschrieben hat, sammelt Gelder für Expeditionen, die nicht nur neue Länder erforschen, sondern auch den britischen Einflussbereich weltweit vergrößern sollen.
Das 19. Jahrhundert ist nicht nur geprägt vom Wettlauf um die neue Technik, sondern – mitbedingt durch die Industrialisierung – auch vom Wettbewerb der europäischen Länder um Einflussbereiche und Ressourcen. Das Vereinigte Königreich, das bereits ein großes Kolonialreich besitzt, gerät in Wettbewerb mit anderen Kolonialmächten. Während die koloniale Erwerbspolitik bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zumeist von privaten Gesellschaften wie der East India Company getragen war, wird sie jetzt zunehmend vom Staat übernommen. 1874 beginnt die »Ära des (neuen) Imperialismus«. Die Entstehung des Imperialismus fällt zusammen mit einer Phase, die als die Große Depression in die Geschichte eingeht. Die bis dahin unaufhaltsam scheinende wirtschaftliche Expansion gerät ins Stocken. Zunächst einmal erlebt die Landwirtschaft eine Krise, nachdem immer mehr Lebensmittel importiert werden. Besonders der aus den Vereinigten Staaten importierte Weizen macht die heimische Weizenproduktion unrentabel. Verbesserte Kühlverfahren begünstigen dazu Fleischimporte aus den europäischen Ländern und schwächen die Viehwirtschaft.
Dann bricht der Industriesektor ein. Nachdem das Vereinigte Königreich jahrzehntelang die führende Industrienation gewesen ist, haben die anderen Länder, allen voran die USA und Deutschland, aufgeholt. In den Bereichen der neuen Industrie, sprich Chemie und Elektrotechnik, haben sie die Briten gar überholt. Dies besagt nicht, dass die Wirtschaft völlig zusammenbricht, doch der Vorsprung ist eingebüßt. Das Vereinigte Königreich ist nun nur mehr eine von mehreren großen Industrienationen. Ursächlich dafür ist nicht nur, dass das Mutterland der Industrialisierung auf veralteten Maschinen sitzt, während Deutschland und die USA modernstes Gerät besitzen. Nachdem die Bevölkerung im Vereinigten Königreich so immens angestiegen war, hatte man keinerlei Notwendigkeit gesehen, weitere Maschinen zu entwickeln, um Arbeitskräfte einzusparen. Die Produktivität des einzelnen Arbeiters stagniert seit Jahren. Dazu kommt, dass gerade Deutschland bezüglich der naturwissenschaftlichen Ausbildung einen großen Sprung nach vorn getan hat. Jährlich verlassen mehr als 3000 Ingenieure die neuen Technischen Hochschulen, während in ganz Großbritannien gerade einmal 500 Ingenieure jährlich ausgebildet werden. Die hier noch immer vorherrschende Ausbildung ist die Ausbildung zum Gentleman: Latein, Französisch, Literatur und Kunst – das ist es, worauf man hier Wert legt. Den Naturwissenschaften hingegen steht man, mit für die Wirtschaft weitreichenden Folgen, alles andere als aufgeschlossen gegenüber. Erst in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden erste Technische und Naturwissenschaftliche Universitäten gegründet. Vorreiter sind hierbei die Industriestädte des Nordens, in denen neue Colleges entstehen, die eine Ergänzung zu den klassischen Universitäten des Landes darstellen. Bemerkenswert ist, dass das Vereinigte Königreich auch in diesen Krisenzeiten seine Laissez-faire -Politik nicht aufgibt. Im Gegensatz zu Europa gibt es keinerlei Interventionsmaßnahmen von Seiten des Staates, um die Wirtschaft zu stützen oder anzukurbeln. Stattdessen wird die wirtschaftliche und nun auch zunehmend politische Eroberung von bislang unausgebeuteten Erdteilen als Lösung favorisiert. Die Erschließung neuer Märkte soll die Wirtschaftskrise beenden. Die Große Depression begünstigt letztlich den Imperialismus.
Auch psychologisch erhofft man sich hierdurch einen Umschwung. Denn während man im Inland mit großen Problemen zu kämpfen hat, ist man darauf erpicht, die Macht des Empires zu mehren und den sich aufbauenden Druck nach außen abzuleiten. Gesteigerter Nationalismus soll die wirtschaftlichen Defizite auffangen.
Der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstehende Imperialismus ist jedoch mehr als die reine Ausbeutung der Kolonien, ist er doch eng verbunden mit einem christlichen Sendungsbewusstsein, dem Glauben an den Besitz einer höheren Moral und Wertigkeit, die man denjenigen bringen muss, die ihrer dringend bedürfen. Die Briten sehen sich wie alle Imperialisten getragen von der göttlichen Mission, Kultur und Religion in aller Herren Länder zu bringen – auch ungefragt! Der Rassismus blüht und mit ihm die englische Variante des Chauvinismus und Hurra-Patriotismus, der Jingoismus. Einer der eifrigsten Befürworter des Imperialismus ist der Schriftsteller und Nobelpreisträger Rudyard Kipling (1865–1936). Er prägt mit seinem Gedicht The White Man’s Burden (1899) die Phrase von der Last des weißen Mannes, dessen ethische Pflicht es sei, den Wilden die Zivilisation zu bringen:
»Take up the White Man’s burden –
Send forth the best ye breed –
Go send your sons to exile
To serve your captives’ need
To wait in heavy harness
On fluttered folk and wild –
Your new-caught, sullen peoples,
Half devil and half child.«
Kipling wird zum literarischen Sprachrohr des britischen Imperialismus und trägt mit seinen Texten zur Idealisierung des Empires bei. Niemals soll die Sonne über britischem Territorium untergehen. »Vom Kap bis Kairo« lautet die Losung, welche das Land mehr als einmal in kriegerische Auseinandersetzungen verwickeln wird. Zur Sicherung des Weges nach Indien strebt das Vereinigte Königreich die Kontrolle des Niltals und die Schaffung einer Landbrücke an. 1876 gelingt Premierminister Benjamin Disraeli (1804–1881) ein entscheidender Schritt, als er dem bankrotten ägyptischen Khediven die Aktien des Suezkanals, der den Seeweg nach Asien verkürzt, abkauft. 1882 übernehmen die Briten formal die Herrschaft in Ägypten. Obwohl das ägyptische Regierungssystem weiter bestehen bleibt, wird der englische Generalkonsul mit so großer Verfügungsgewalt ausgestattet, dass dies einer praktischen Herrschaft über Ägypten gleichkommt. Eine Situation, die laut Generalkonsul Sir Evelyn Baring nur zum Besten für Ägypten ist: »Die besondere Geschicklichkeit, welche die Engländer beim Regieren von orientalischen Rassen gezeigt haben, weisen auf England als das wirkungsvollste und wohltätigste Werkzeug für die allmähliche Einführung der europäischen Zivilisation in Ägypten hin.« [5]
Afrika gewinnt in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für die imperialen Mächte zunehmend an Bedeutung. Der Rest der Welt ist vergeben, nur hier gibt es noch etwas zu verteilen. Seit 1765 steht Gambia unter britischer Hoheit. An der Küste von Sierra Leone wird eine Ansiedlung befreiter Sklaven 1806 Kronkolonie. Die Goldküste wird 1874 ebenfalls eine Kolonie der Krone, 1885 wird das Protektorat Nigeria errichtet. Im Indischen Ozean sind es Sansibar, Kenia und Uganda, die zum Empire gehören. Doch in Indien und Südafrika stößt der britische Imperialismus schließlich an seine Grenzen. Und das, obwohl Victoria 1877 zur Kaiserin von Indien ernannt wird und die Befürworter des Imperialismus im Lande zahlreich sind.
Während in Indien die Unabhängigkeitsbewegung wächst, wachsen in Afrika die Konflikte mit den europäischen Kolonialmächten. Einer, der die Situation in Afrika entscheidend mitgestaltet, ist der langjährige Premierminister der Kapkolonie Cecil Rhodes (1853–1902), den Egon Friedell einen »der gewaltigsten Konquistadoren der ausgehenden Neuzeit« [6]nennt. Für Rhodes sind die Briten die erste Rasse der Welt: »Wenn es einen Gott gibt, denke ich, er möchte von mir, daß ich so viel von der Karte Afrikas britisch-rot mache als möglich.« [7]Unter seinem Einfluss erobern die Briten 1885 das heutige Botswana. Er erwirbt für die Krone 1889 das nach ihm benannte Rhodesien (heute Sambia und Simbabwe). 1895 wird er Premierminister des seit den napoleonischen Kriegen 1806 zu England gehörenden Kaplandes. Mit den im Norden liegenden Burenrepubliken Oranje Freistaat und Transvaal kommt es aufgrund der riesigen Gold- und Diamantenfelder sowie den Territorialerweiterungsansprüchen der Engländer zum zweiten Burenkrieg (1899–1902), der mit der Eingliederung der Buren ins Empire endet. Damit rückt die Verwirklichung des Kap-Kairo-Plans, der ein geschlossenes britisches Kolonialreich von Ägypten bis Südafrika vorsieht, ein Stückchen näher. Der Burenkrieg erlangt traurige Berühmtheit unter anderem dadurch, dass der britische Oberbefehlshaber Horatio Kitchener (1850–1916), der bereits den Sudan erobert hatte, hier zum ersten Mal sogenannte concentration camps errichten lässt, in denen bis zu 120 000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, interniert werden. Diese Konzentrationslager sind zwar keine speziellen Vernichtungslager wie zur Zeit des Nationalsozialismus, jedoch sterben hier aufgrund der unzumutbaren hygienischen Verhältnisse und der Mangelernährung bis zu 26 000 Frauen und Kinder. Berichte darüber schrecken die Briten endlich in ihrem imperialen Sendungsbewusstsein auf. Die englische Pfarrerstochter Emily Hobhouse (1860–1926), die 1899 bei einem Besuch in Südafrika in die Wirren des Burenkrieges gerät, schildert nach ihrer Rückkehr der entsetzten Öffentlichkeit das Elend der Konzentrationslager. Mit ihrem Buch The Brunt of the War löst sie landesweit große Empörung aus und zwingt die Verantwortlichen zum Handeln. Die besonders grausame Art der Kriegsführung der verbrannten Erde und die Errichtung der ersten Konzentrationslager bringt den bis dato unerschütterlichen Glauben von der moralischen Überlegenheit der Briten ins Wanken.
Das größte Problem innerhalb des Britischen Empires ist die Irlandfrage. Irland ist dem Vereinigten Königreich seit 1800 angeschlossen, doch die Stimmen, welche die Unabhängigkeit fordern, mehren sich. Populärster Streiter für die Unabhängigkeit ist Daniel O' Connell (1775–1847). Nachdem Unterdrückungsmaßnahmen die Nationalbewegung nicht zum Verstummen bringen, wird versucht, die Situation durch sozialpolitische Maßnahmen zu konsolidieren. Eine der größten Katastrophen in der Geschichte Irlands macht diese Pläne jedoch zunichte und bringt den Nationalisten neuen Zulauf: der Great Famine, von vielen Iren als versuchter Genozid verstanden. 1845 wird die Kartoffel, das Hauptnahrungsmittel der Iren, von der Kartoffelfäule befallen. Die daraufhin von der britischen Regierung beschlossenen Hilfsmaßnahmen greifen angesichts der Tatsache, dass die Ernte auch in den darauffolgenden Jahren ausfällt, zu kurz. Der extrem harte Winter 1846/47 führt dazu, dass die britische Regierung mit ihrem ehernen Grundsatz, Sozialleistungen nur gegen Arbeit zu verteilen, brechen muss. Um Hungerrevolten zu vermeiden, werden Lebensmittel nach Irland geschickt und Suppenküchen eingerichtet. Nach Ende des Hungerwinters beschließt die britische Regierung, die weitere Finanzierung der Fürsorge auf die irische Verwaltung zu übertragen. Diese finanziert sich aus Abgaben der Grundherren, die von ihren Pächtern jedoch seit Beginn der Kartoffelfäule keine Pacht mehr erhalten haben. Eine Fehlentscheidung, die in einer menschlichen Katastrophe endet. Denn nun folgt eine rechtlich abgesicherte Eviktion, bei der ganze Familien per Gerichtsbeschluss aus ihren Häusern getrieben werden. Die Zahl der Fürsorgeempfänger wächst im selben Maße wie der Hass auf die Grundherren und auf die britische Regierung. Mehr als eine Million Menschen verlassen Irland in Richtung USA, Kanada oder Australien. Aus den USA werden vor allem von den Quäkern Hilfslieferungen bereitgestellt. Aber die britische Regierung, die sich nur schwer von ihrem Konzept Hilfe gegen Arbeitsleistung trennen kann, verhindert die Einfuhr. Erst nach internationalen Protesten können Nahrungsmittellieferungen aus den USA noch schlimmere Folgen in Irland verhindern. Dennoch fallen der großen Hungersnot zwischen 1845 und 1848 mehr als eine Million Iren zum Opfer. Bedingt durch Tod oder Emigration sinkt die Bevölkerung von 8,2 Millionen (1841) auf circa 6,5 Millionen Menschen (1851). Nichts fördert das Unabhängigkeitsstreben der Iren mehr als jene Jahre, in denen sie sich von der britischen Regierung im Stich gelassen fühlen, in denen sie ohnmächtig Getreideexporte nach England mit ansehen müssen und wehrlos und rechtlos von ihrem Grund und Boden vertrieben werden. Die Irlandfrage wird zum größten ungelösten Problem der britischen Regierung und blieb es bis heute.
Die Unabhängigkeitsbewegung bekommt in den Folgejahren mehr und mehr Zulauf. Der Druck, der Insel Home Rule, sprich Selbstverwaltung zuzugestehen, wächst, begleitet von Unruhen und lokalen Aufständen. Erneut versucht die britische Regierung, durch eine Reihe sozialpolitischer Maßnahmen dem Unabhängigkeitsbestreben der Iren entgegenzuwirken. 1870 werden unter Premierminister William Gladstone (1809–1898) durch den Land Act die Privilegien der irischen Staatskirche beschnitten und die Rechte der irischen Pächter gestärkt. Doch die Iren wollen keine Zugeständnisse, sondern die Unabhängigkeit. 1879 gründen die Home Rule-Anhänger unter Charles Stewart Parnell (1846–1891) die Irish National League, deren Abgeordnete durch Dauerreden den Ablauf des Parlaments lahmlegen. Ihre Obstruktionspolitik gegenüber der Regierung wird später den Suffragetten als Vorbild dienen.
1881 werden mit dem zweiten Land Act den irischen Pächtern die seit langem geforderten »drei Fs« gewährleistet: Fair Rent (faire Pachtzinsen), Fixity of Tenure (eine Pachtdauer von 15 Jahren, während der es keine willkürlichen Pachterhöhungen geben darf) und Free Sale (ein neuer Pächter muss seinem Vorgänger ein Abstandsgeld zahlen). Dies alles stärkt die Stellung der Pächter und schwächt die Allmacht der Grundbesitzer. Mit der Ausweitung des Wahlrechts vermehren sich schließlich auch die irischen Wähler und damit die Befürworter von Home Rule. 1885 wird Parnells Partei zum entscheidenden Faktor im britischen Unterhaus, was letztlich dazu führt, dass beide Parteien zu Zugeständnissen in der Irlandfrage bereit sind. Während die Konservativen jedoch eine soziale Lösung favorisieren, die über die Ablösung von Land durch Pächter erreicht werden soll, unterstützen die Liberalen das Home Rule-Begehren. Beide unter Premierminister Gladstone eingebrachten Home Rule-Gesetzesvorlagen scheitern jedoch: 1886 am Unterhaus und 1892 am Oberhaus. Für Gladstone ist die Lösung der Irlandfrage eines der zentralen Problemfelder seiner Politik. Er fürchtet zu Recht, dass hier in unmittelbarer Nähe ein nicht mehr zu kontrollierendes Pulverfass entsteht. Während man im Parlament händeringend nach einer Lösung sucht, werden die Gräben innerhalb der irischen Nation zunehmend größer. Im Norden formieren sich die Unionisten als Gegner von Home Rule und treten für einen Verbleib im Vereinigten Königreich ein. Im Süden gründet sich 1893 die Gaelic League, die sich auf die gälischen Wurzeln der Iren beruft und von einer De-Anglisierung Irlands träumt. Der Dichter William Butler Yeats (1865–1939) wird zum geistigen Kopf der irischen Nationalbewegung:
»Know, that I would accounted be
True Brother of a company
That sang, to sweeten Irland’s wrong,
Ballad and story, rann and song;
Nor be I any less of them,
Because the red-rose-bordered hem
Of her, whose history began
Before God made the angelic clan.« [8]
Doch erst als das Oberhaus 1911 sein Vetorecht verliert, scheint der Weg frei für das Home Rule-Gesetz. 1912 wird die dritte Home Rule Bill eingebracht. Doch nun organisieren die Unionisten den Widerstand gegen die Homeruler. Beide Seiten rüsten auf, und bis 1914 gerät Irland an den Rand eines Bürgerkriegs. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschiebt letztlich nicht nur die blutige Auseinandersetzung, sondern auch jegliche Lösung um Jahre.
Die Viktorianische Ära ist nicht nur ein Zeitalter der außenpolitischen Expansion und Krisen, des Fortschritts und des Wohlstandes, der neuen Erfindungen und Entdeckungen, sondern auch ein Zeitalter ungeheuren Elends. Pauperismus ist das Schlagwort, mit dem die Wissenschaft versucht, das Phänomen dieses neuen Massenelends zu beschreiben. Denn auch wenn der Wohlstand wächst, können nicht alle davon profitieren. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer stärker auseinander, die Klassenunterschiede wachsen. Viele kommen zu großem Wohlstand, und die Industrie kann kaum all das produzieren, was das Bürgertum zu konsumieren bereit ist. Grundbesitzer, große Pächter und freie Bauern können ihren Lebensstandard derart steigern, dass sie sich ab 1830 als eigene Klasse, als »Mittelklasse« begreifen. Während viele aus der unteren Mittelschicht in die obere aufsteigen, gehören zwei Drittel der Bevölkerung zur sozialen Unterschicht und leben am Rande oder unterhalb des Existenzminimums. Die Industrialisierung macht Heerscharen von selbstständigen Handwerkern zu Lohnarbeitern, die für geringsten Lohn dicht an der Armutsgrenze dahinvegetieren. Elend, Kinderarbeit, lange Arbeitszeiten und niedrige Löhne sind die Kehrseite der Medaille. Die Zahl der Verlierer der industriellen Revolution ist riesig. »Jeden Tag danke ich dem Himmel dafür, kein armer Mann [...] mit einer Familie in England zu sein«, [9]schreibt ein Amerikaner 1845 nach einem Besuch auf der Insel. Jenseits vom offiziellen Glanz und Gloria des Empires gibt es das Großbritannien von Charles Dickens (1812–1870). Kaum einer hat sich so plakativ wie der englische Schriftsteller mit den Schattenseiten des um sich greifenden Industriekapitalismus auseinandergesetzt. In Werken wie Bleak House oder Harte Zeiten beschreibt er die Unmenschlichkeit und soziale Ungerechtigkeit des Systems sowie die kaltherzige Gleichgültigkeit der tugendhaften viktorianischen Gesellschaft gegenüber den sozial Benachteiligten: »Alles und jedes findet sein Äquivalent in Geld; alles und jedes muß bezahlt werden. Niemand hat irgendwelchen Grund, irgendwem irgendwas zu geben oder jemandem einen Dienst zu erweisen, ohne Entgelt zu erhalten oder Lohn zu empfangen. Dankbarkeit ist abzuschaffen; und die aus ihr entspringenden Tugenden haben nicht zu existieren. Jeder Zoll des Menschendaseins, von der Wiege bis zum Grabe, soll ein Geschäft über’n Ladentisch hinüber sein, wo man mit der linken Hand den Artikel hinüberreicht und mit der rechten das Geld empfängt.« [10]Dickens zeigt ein anderes Gesicht des Vereinigten Königreiches, eines, das nur schlecht mit dem strahlenden Fortschrittsglauben der Weltausstellung korrespondiert. Bei ihm geht es um Versäumnisse im Schulwesen, in der Armenfürsorge und um die enormen Klassengegensätze. Auch andere Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters, wie beispielsweise Thomas Hardy, schildern diese gesellschaftlichen Missstände. Die Dichter zeigen nicht mehr länger nur die Sorgen ihrer eigenen Schicht auf, sondern auch die der Unterschichten. Sie scheuen sich nicht, ein anderes Bild Englands zu zeichnen. Dies alles ist jedoch gefangen im moralischen Bezugsrahmen ihrer Zeit, was Lösungsansätze beschränkt und wirklich radikales Denken nur selten zulässt. Im Mittelpunkt ihrer Texte steht die Charakterbildung des Menschen, nicht die Veränderung des Systems.
Die industrielle Revolution führt zu einer sozialen Umwälzung der Gesellschaft, die ihresgleichen sucht. Die neue Produktionsweise verändert das Leben der Menschen vollkommen und für immer, zerstört sie doch tradierte Arbeitsweisen, Lebensformen und Bindungen. Familienverbände lösen sich auf, wenn Menschen ihre Heimatdörfer verlassen und der Arbeit hinterherziehen. Denn auch auf dem Land herrscht große Not. Die Löhne sind gering und die Arbeitstage lang. Die Landarbeiter sind schlecht ernährt, oft ist ihr Zugang zu ausreichend Nahrung von Ernteerträgen und den freiwilligen Abgaben überschüssiger Lebensmittel der Grundbesitzer abhängig. Dennoch hat es Ansätze einer persönlichen Verbindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegeben, welche die industrielle Arbeit nun zerstört. Die Pflichten gegenüber dem Arbeiter werden eingestellt, der Arbeitsprozess entpersonalisiert. Waren viele Handwerker zuvor selbstständig gewesen, eigenständig auch in ihrer Arbeitsweise, so bestimmt nun die Maschine das Tempo.
Fabrikarbeit ist Routine und Stadtarbeit. Die Menschen wandern ab in die Ballungszentren. Die Industrialisierung führt zur Urbanisierung. 1851 übersteigt die Einwohnerzahl der Städte erstmals die der Landbezirke. Bei der Volkszählung von 1901 stellt man fest, dass 20 Prozent der Gesamtbevölkerung von England und Wales in London lebt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat London mehr als eine Million Einwohner und ist damit die größte Stadt Europas.
Wie überall in den Städten herrscht auch hier große Wohnungsnot. Dies führt zu einem rapiden Anstieg der Mieten, die bis zu Dreiviertel des Lohns ausmachen können. Es kommt vor, dass Menschen sich nicht nur eine Wohnung, sondern auch ein Bett und Kleider teilen. Die meisten Arbeiter hausen mitsamt ihren Familien in Elendsquartieren unmittelbar neben den Fabriken. Die hygienischen Zustände sind katastrophal. Da es weder Abwasserentsorgung noch Versorgung mit sauberem Trinkwasser gibt, kommt es immer wieder zu Infektionskrankheiten. 1848 sterben 72 000 Menschen in England und Wales an der Cholera.
Die Umweltverschmutzung nimmt rapide zu, die Luft wird sukzessive schlechter. Und das in einer Stadt, über die der englische Schriftsteller und Gartengestalter Timothy Nourse bereits Ende des 17. Jahrhunderts geschrieben hatte, dass der Qualm die Stadt bei lebendigem Leibe auffressen würde und die alten Gebäude »von diesem höllischen und unterirdischen Dampf geradewegs bis auf die Knochen entblättert und entblößt« würden. [11]
Mit zunehmender Industrialisierung steigt die Mortalität. Untersuchungen ergeben, dass jemand, der in Manchester geboren wird und lebt, nur halb so alt wird wie ein Mensch auf dem Lande. Zwischen 1841 und 1850 beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung in Dudley, Worcestershire, 18,5 Jahre. Erst nach dem Ende der Cholera-Epidemie von 1848 wird die Trinkwasserversorgung in London verbessert und eine Kanalisation eingerichtet. Ab der Jahrhundertmitte verbessern sich langsam die Lebensbedingungen. Es entstehen erste Parkanlagen und städtische Gebäude. Trotzdem bleibt genug Elend und Verzweiflung zurück. Und unter den Verzweifelten blühen Prostitution und Alkoholismus. Allein 1872 werden 154 446 Personen wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit aufgegriffen. Alexis de Tocqueville schreibt nach einem Aufenthalt in Manchester: »Die Zivilisation schafft sich ihre eigenen Wunder, und der zivilisierte Mensch ist fast wieder zum Wilden geworden.« [12]
Friedrich Engels, 1842 in die väterliche Fabrik nach Manchester geschickt, gelingt mit dem Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England eine Pionierarbeit über die Folgen der Industrialisierung. Darin beschreibt er die Industrialisierung Englands und ihre Entwicklung in den verschiedenen Branchen. Er schildert die Auswirkungen auf die Arbeiter, ihr menschenunwürdiges Leben in den Slums der Städte und die menschenverachtenden Arbeitsbedingungen in den Fabriken und Bergwerken: »Wenn ein einzelner einem andern körperlichen Schaden tut, und zwar solchen Schaden, der dem Beschädigten den Tod zuzieht, so nennen wir das Totschlag; wenn der Täter im voraus wußte, daß der Schaden tödlich sein würde, so nennen wir seine Tat einen Mord. Wenn aber die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, daß sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode, der ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel; wenn sie Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können; wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muß; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, daß diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen läßt – so ist das ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber er bleibt Mord.« [13]
Arbeitskräfte stehen in Massen zur Verfügung. Diese »industrielle Reservearmee« (Karl Marx) gestattet es den Unternehmern, die Löhne auf das Existenzminimum zu drücken. In den ersten Jahrzehnten der Industrialisierung werden die Löhne der Arbeiter absichtlich niedrig gehalten. Ihre Kaufkraft ist für die Wirtschaft nicht von Bedeutung. Löhne sollen nicht über dem Existenzminimum liegen, Sparsamkeit gilt als Tugend. Die Erkenntnis, dass höhere Löhne auch wirtschaftlich genutzt werden können, setzt sich erst später durch und auch dann nur bei einigen wenigen besonders aufgeklärten Unternehmern. Der ansonsten eher fortschrittliche Philosoph John Stuart Mill hält noch bis 1869 an der Lohnfondstheorie fest, wonach letztlich die Löhne das Existenzminimum nicht überschreiten sollen. Arbeiter, die gegen ihre schlechte Bezahlung aufbegehren, werden umgehend entlassen. Vor den Fabriktoren stehen Hunderte, die bereit sind, auch unter schlechtesten Bedingungen zu arbeiten, solange sie nur Arbeit haben.
Denn die Alternative zur unterbezahlten Fabrikarbeit ist nicht verlockend. Harte Arbeit ist ein Leitmotiv der englischen Gesellschaft, und diese protestantische Arbeitsethik bedingt auch den Umgang mit den Armen. Die britische Armenfürsorge ist Ausdruck dieses Denkens: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Nicht Unterstützung lautet die Devise, sondern Abschreckung und Brandmarkung derjenigen, die im kapitalistischen Gesellschaftssystem kläglich versagen. Um von der Armut abzuschrecken, legt das Armengesetz 1834 fest, dass an Arbeitsfähige keine staatlichen Zuschüsse geleistet werden sollen. Stattdessen errichtet man work houses, Arbeitshäuser, die eher Gefängnissen gleichen. Frauen, Männer und Kinder werden strikt getrennt, Familien auseinandergerissen. Materielle Not wird durch emotionale Pein ergänzt. Charles Dickens schildert in Oliver Twist in aller Eindringlichkeit diese Fehlentwicklung der britischen Gesetzgebung, in der es nichts gibt als Prügel, Hunger und unvorstellbares Elend.
Angesichts dieser Alternative sehen Arbeitgeber keine Notwendigkeit für Lohnerhöhungen. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken bleiben katastrophal. In der Regel können Arbeiter nicht länger als 15 Jahre arbeiten, dann sind sie verbraucht. Zudem herrschen strenge Vorschriften. Eine zehnminütige Verspätung wird mit einem halben Tageslohn Abzug bestraft. Fehlerhafte Ware wird den Arbeitern in Rechnung gestellt. Es gibt weder Unfallversicherungen noch Arbeitslosengeld noch Krankengeld. Fabrikarbeiter sind kaum organisiert und der Willkür der Unternehmer somit schutzlos ausgeliefert. Nach den Prämissen des Wirtschaftsliberalismus greift der Staat nicht in die Unternehmensführung ein, leistet deshalb auch keine Sozialpolitik. Ein Arbeitstag kann bis zu 18 Stunden dauern, für Arbeiter gibt es im erzreligiösen viktorianischen Großbritannien keinen Sonntag für den Kirchgang. Immer wieder kommt es aufgrund fehlender Sicherheitsvorkehrungen zu schweren Unfällen. So verunglücken jährlich etwa 1000 Grubenarbeiter tödlich.
Am schlimmsten jedoch ergeht es den Kleinsten. Kinderarbeit hatte es zwar auch vor der Industrialisierung gegeben, doch nun nimmt die Ausbeutung schreckliche Ausmaße an. Zur Bedienung der neuen Maschinen werden ungelernte Arbeiter herangezogen, verstärkt Frauen und Kinder. In der Textilindustrie nutzt man kleine Kinderhände, da sie manche Handgriffe besser verrichten können als Erwachsene. Kinder sind weniger aufmüpfig, bekommen generell weniger Lohn und werden oft und gerne dazu benutzt, besonders gefährliche Arbeit zu verrichten. So werden sie mit Vorliebe im Untertagebergbau eingesetzt, da sie aufgrund ihrer Größe in den Schächten effektiver arbeiten können als Erwachsene. Das Einstiegsalter für Kinderarbeit beträgt vier Jahre. In den Bergwerken dürfen Kinder sommers bis zu 64 Stunden pro Woche, winters bis zu 52 Stunden pro Woche arbeiten. In der Textilindustrie dauert ihre Arbeitswoche 80 Stunden. Erst 1833 erlässt die Regierung ein Gesetz zur Kinderarbeit, wonach Kinder unter neun Jahren nicht mehr in Textilfabriken eingesetzt werden dürfen. Dazu wird ein generelles Nachtarbeitsverbot sowie ein Zwölfstundentag für Kinder unter 18 Jahren durchgesetzt. Es werden jedoch weitere zehn Jahre vergehen, ehe für Kinder unter zehn Jahren ein Verbot für Untertagearbeit eingeführt wird. In der Realität werden diese Schutzmaßnahmen ohnehin häufig umgangen. Eine effektive Kontrolle gibt es kaum. Bis ins 20. Jahrhundert hinein werden Kinder als Arbeitssklaven ausgebeutet. Einer, der auf das weit verbreitete Kinderelend hinweist, ist einmal mehr Charles Dickens, der in seinen populären Romanen Kinderarbeit ebenso thematisiert wie die aus diesem Elend erwachsende Kinderkriminalität.
Die soziale Frage rückt angesichts von Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit unwillkürlich in den Vordergrund. Die Tatsache, dass im Land ein Pulverfass entsteht, ist unübersehbar. 1845 legt der spätere Premierminister Benjamin Disraeli in seinem Roman Sybil einer der Hauptfiguren, Egremont, in den Mund, dass Arm und Reich durch einen anscheinend unüberwindbaren Graben voneinander getrennt seien und die Privilegierten und Unterprivilegierten in Großbritannien zwei Nationen bilden, die verschiedenen Gesetzen unterworfen seien und durch völlig unterschiedliche Einflüsse geprägt wären. Zwischen diesen beiden Nationen gebe es weder Solidarität noch Verständigung. Doch genau diese Entwicklung würde den Staat ruinieren und müsse deshalb aufgehalten werden. [14]
Aber staatliche Sozialreformen widersprechen dem britischen Grundsatz der Nichteinmischung des Staates in wirtschaftliche Belange und sind nur schwer durchzusetzen. Viele Reformen bedeuten de facto einen Eingriff in Privateigentum oder unternehmerische Freiheiten und handeln dem Laissez-faire-Prinzip zuwider. So sind es zunächst einzelne Unternehmer selbst, die gegen die Missstände vorgehen. Herausragendstes Beispiel wird der schottische Unternehmer Robert Owen (1771–1858), der nachzuweisen sucht, dass die Ausbeutung der Arbeiter keineswegs der Produktionssteigerung dient, sondern sich im Gegenteil produktionshemmend auswirkt. In seiner Spinnerei in New Lanark, in der mehr als 2000 Menschen beschäftigt sind, weist er nach, dass durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen die Produktion gesteigert werden kann. Bereits 1799