Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber - Michaela Karl - E-Book

Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber E-Book

Michaela Karl

4,5

Beschreibung

In den Roaring Twenties war sie die Königin von New York. Ihre scharfe Zunge und ihr beißender Witz wurden Legende. Sie stritt mit Ernest Hemingway, schlief mit F. Scott Fitzgerald und soff mit Truman Capote. Dorothy Parker schrieb für "Vogue", "Vanity Fair" und den "New Yorker" und gehörte zur legendären Tafelrunde des Hotels Algonquin, wo sich die kulturelle Szene der Stadt traf. Ihre sarkastischen Verse und pointierten Kurzgeschichten erzählen von zerplatzten Träumen und dem Warten auf das Klingeln des Telefons. Sie machte als Drehbuchautorin in Hollywood Karriere und landete wegen ihres Engagements gegen Rassismus und Faschismus auf der Schwarzen Liste von Senator McCarthy. Michaela Karl legt nun die erste deutschsprachige Biografie vor. Sie porträtiert das unkonventionelle Leben der Dorothy Parker, und entdeckt hinter der zynischen Fassade eine sensible Frau auf der Suche nach dem großen Glück.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 493

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (60 Bewertungen)
39
13
8
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




MICHAELA KARL»Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber«

MICHAELA KARL

»Noch ein Martini undich lieg unterm Gastgeber«

DOROTHY PARKEREine Biografie

Alle Zitate aus den Gedichten Dorothy Parkers, soweit nicht anders angegeben, wurden dieser Ausgabe entnommen: Dorothy Parker, Complete Poems, New York: Penguin, 2010.

Ernest Hemingway (S. 112f.) wird zitiert nach der Ausgabe:

Ernest Hemingway: Sämtliche Gedichte, übers. v. Else und Hans Bestian, Reinbek, Rowohlt Verlag, 1988.

Für die Übersetzung: © schwiftinger galerie-verlag, 1986.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

4. Auflage

© 2011 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:978-3-7017-4257-8

ISBN Printausgabe:978-3-7017-3190-9

Gewidmetmeinem New Yorker Round Table:Amanda, Ellen, Mary, Moira und Robin

Think where man’s glory most begins and endsAnd say my glory was I had such friends.

W. B. YEATS1

Three be the things I shall have till I die:Laughter and hope and a sock in the eye.

DOROTHY PARKER2

Inhalt

Prolog

Meine Reise zu Dorothy Parker

I.

New Yorkerin und Bastard

 

oder Mrs. Parkers Kampf mit der Haushälterin

II.

Vogue und Vanity Fair

 

oder Mrs. Parkers Auftritt auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten

III.

Hotel Algonquin und Vicious Circle

 

oder Mrs. Parker und die Ritter der Tafelrunde

IV.

Privates und Berufliches

 

oder Mrs. Parkers unkonventionelle Art

V.

Zyankali on the Rocks und Sacco & Vanzetti

 

oder Mrs. Parkers schmerzvolle Melancholie

VI.

Europa und Hollywood

 

oder Mrs. Parkers Wanderjahre

VII.

Spanien und der Zweite Weltkrieg

 

oder Mrs. Parkers Kampf gegen den Faschismus

VIII.

Senator McCarthy und die Schwarze Liste

 

oder Mrs. Parker in den Fängen des FBI

IX.

Ladies im Hotel und Marilyn Monroe

 

oder Mrs. Parkers letzte Chance

X.

Alkohol und Depressionen

 

oder die ganz und gar nicht ehrwürdige Mrs. Parker

Anmerkungen

Literatur

Personenregister

Bildnachweis

Dank

Prolog

Meine Reise zu Dorothy Parker

Dies ist eine Liebesgeschichte. Die Liebesgeschichte zwischen einer Stadt und einer außergewöhnlichen Frau. Die Liebesgeschichte zwischen New York City und Dorothy Parker.

Am 25. November 2006 begegnete ich Dorothy Parker zum ersten Mal. Ich stand im holzgetäfelten Oak Room des Algonquin Hotels in New York und starrte auf ein großes buntes Gemälde. Es zeigte eine fröhliche Runde gut gekleideter Menschen, die sich um einen runden Tisch versammelt hatten. Links außen saß eine junge Frau mit großen rehbraunen Augen und riesigem Hut: Dorothy Parker. Sie hatte in den 1920er Jahren hier im Hotel gewohnt und sich täglich mit ihren Freunden am Round Table zum Lunch getroffen. Eine bronzene Tafel am Eingang des Algonquin wies vorbeieilende Passanten auf dieses Ereignis hin und kündete davon, dass das Algonquin eines der literarischen Wahrzeichen der amerikanischen Geschichte war.

Es war der 60. Geburtstag meiner Mutter und wir wollten ihn mit Freunden feiern. Wie unzählige Besucher zuvor hatte auch uns die Geschichte der legendären Tafelrunde hierher in die 44. Straße nach Manhattan gezogen. Oberflächlich wusste ich, wer Dorothy Parker war, hatte beim Hinflug wieder einmal in ihren New Yorker Geschichten geblättert, die so eine seltsame Traurigkeit verströmen. Ich wusste, dass sie Kolumnen für Vogue, Vanity Fair und den New Yorker sowie viele Kurzgeschichten geschrieben und dabei ein ziemlich wildes Leben geführt hatte. Doch selbst wenn man ursprünglich nicht vorhatte, sich näher mit dieser Frau zu beschäftigen, hier an diesem Ort zog sie einen unwillkürlich in ihren Bann, und bevor wir wieder nach Hause flogen, erstand ich bei Barnes & Noble am Union Square verschiedene Bücher von ihr und über sie.

Fünf Wochen später starb meine Mutter, und die Welt, die ich kannte, ging unter. Über Monate schrieb und las ich keine Zeile. Als ich die Wohnung meiner Mutter ausräumte, fand ich auf ihrem Nachttisch Dorothy Parkers New Yorker Geschichten. Es war das letzte Buch, in dem sie gelesen hatte, und ich nahm es an mich, nicht um darin zu lesen, sondern um ihr nah zu sein.

Sechs Monate später kehrte ich nach New York zurück, um zu heiraten. Es war eine Feier in kleinem Kreise, und am Abend fanden wir uns an eben jenem runden Tisch im Algonquin wieder, unter den wachsamen Augen von Dorothy Parker. Später stellte ich fest, dass auf all meinen Hochzeitsfotos die Frau mit den großen braunen Augen und dem riesigen Hut zu sehen war. Hier in New York begann ich wieder zu lesen: ihre New Yorker Geschichten. Und diesmal fand ich es nicht traurig, sondern tröstlich, dass sie Sätze schrieb wie: »Tragödien töten uns nicht, nur Chaos bringt uns um. Ich kann Chaos nicht ertragen.«3 Von diesem Augenblick an haben wir uns nie wieder aus den Augen verloren.

So begann meine Reise zu Dorothy Parker, der Frau der Gegensätze, dem unbezwingbaren Freigeist, die von sich selbst sagte: »Ich bin ein Vagabundin und das für alle Zeit.«4 Jetzt, vier Jahre später, sitze ich wie so viele Male zuvor erneut in der Lobby des Algonquin. Hinter mir liegen zwei Weltkriege und die Prohibition, Atlantiküberquerungen und politische Verfolgung, Jazz und Partys, Theaterpremieren und Schreibblockaden, Hollywood und Bucks County, Liebesgeschichten und zwischenmenschliche Dramen en masse. Ich bin Ernest Hemingway und Harpo Marx begegnet und habe mich in die Fitzgeralds verliebt. Und ich weiß jetzt, warum Mrs. Parker Mrs. Parker hieß, auch als sie längst Mrs. Campbell war: »Es gab mal einen Mr. Parker.«5

Ich verstehe mehr denn je, warum Dorothy Parker im Ruf steht, die geistreichste Frau der Vereinigten Staaten gewesen zu sein. Ihre Gedichte, Kritiken und Kurzgeschichten gehören zum Besten, was über das Amerika der 1920er Jahre geschrieben wurde. Carrie Bradshaw aus »Sex and the City« mag heute die bekannteste Kolumnistin der Welt sein, doch im Vergleich zu ihrer realen Vorgängerin ist sie die Unschuld vom Lande. Dorothy Parkers Geschichten sind eine schonungslose Bestandsaufnahme des Lebens, erzählen von Männern und Frauen, von Liebe und Verrat und von der Unmöglichkeit, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Dabei ist sie weitaus weniger versöhnlich als ihre Filmkollegin, denn die meisten ihrer Figuren machen sich mehr Gedanken darüber, wo sie den nächsten Martini herbekommen, als über ihre monatlichen Zahlungsverpflichtungen. Was Dorothy Parker vor 90 Jahren über den Kampf der Geschlechter geschrieben hat, ist von bestechender Aktualität. Lange vor Carrie Bradshaw beschrieb Parker, was es heißt, eine Singlefrau in einer modernen Gesellschaft zu sein.

Ich habe erfahren, dass auch eine Frau, die so großen Erfolg hatte wie Dorothy Parker, voller Selbstzweifel war, die sich in Sätzen wie »Bitte, Gott, lass mich schreiben wie ein Mann« äußerten. Dabei war sie der Mittelpunkt des intellektuellen Lebens der 1920er Jahre in den USA und trug mit ihren Theater- und Buchkritiken dazu bei, den Geschmack einer ganzen Nation zu formen. Dennoch schrieb F. Scott Fitzgerald über sie: »Nichts würde sie so sehr enttäuschen wie Erfolg.«6

Ich habe mit Entsetzen, aber auch einer gewissen Erleichterung festgestellt, dass eine Frau gar nicht klug genug sein kann, um nicht doch einen bemerkenswert schlechten Geschmack zu haben, was Männer anbelangt, und dass eine grenzenlose Leidenschaft zum Unglücklichsein nicht davon abhalten muss, witzig zu sein. Für ihre Freunde war Dorothy Parker die größte kleinste Miesmacherin der Welt. Einer ihrer besten Freunde schrieb über sie, sie ergebe »ein so starkes, aus Nektar und Wermut, Ambrosia und dem Gift eines Nachtschattengewächses zusammengebrautes Getränk, dass man daraus wenigstens eine Lehre ziehen sollte, nämlich: Vorsicht beim Gebrauch einer Schreibfeder!«7

Die Jahre mit Dorothy Parker haben mich gelehrt, dass sie recht hat und es tatsächlich zwei Arten von Menschen gibt: »Diejenigen, die überhaupt keine Hoffnung haben, und diejenigen, die viel zu viel davon haben. Ich für meinen Teil gehöre ohne Zweifel zu beiden Gruppen.«8 Ich auch.

Im Algonquin ist es ruhig geworden. Draußen beginnt es zu dämmern. Ich sitze vor einem Cosmopolitan und denke daran, was Dorothy Parker über New York in der Dämmerung gesagt hat: »Wenn du die Dämmerung überstehst, dann wirst du auch die Nacht überleben.«9Sie hatte recht.

Dies ist eine Liebesgeschichte – die Liebesgeschichte zwischen New York City, Dorothy Parker und all den Frauen, die sich tagtäglich in diesem Chaos, das sich Leben nennt, behaupten und dabei nie ihren Humor verlieren.

In memoriam meiner geliebtenMutter Christl Karl (1946–2007)

Algonquin Hotel, New York,im Februar 2011

They say of me, and so they should,It’s doubtful if I come to good.10

I.

New Yorkerin und Bastard

oder Mrs. Parkers Kampf mit der Haushälterin

»Es war einmal vor langer Zeit, da war die Welt strahlend und vielversprechend und Dorothy Parker war einer der strahlendsten und vielversprechendsten Menschen darin. Sie war eine Elfe, die zwei Zauber in sich vereinte. Der erste Zauber bestand darin, dass niemand ihr gegenüber gleichgültig sein konnte, und der andere, dass niemand es vermochte, sie wirklich einzuschätzen«,11 schrieb der Schriftsteller John Keats über seine große Kollegin und drückt damit aus, was alle, die Dorothy Parker begegneten, bestätigen können: Sie war und ist schwer zu fassen. So viele Meinungen, so viele Anekdoten, so viele sich widersprechende Tatsachen, die sie selbst mit allergrößtem Vergnügen unter die Leute brachte. Allerdings gibt es eine Sache, die unumstößlich ist, und sie selbst ließ niemals auch nur den geringsten Zweifel daran: Dorothy Parker war New Yorkerin – mit Leib und Seele, mit Herz und Verstand.

New York City und Dorothy Parker waren eine heiße Kombination: »Ich nehme New York persönlich. Ja, ich bin auf eine schon fast lästige Art und Weise zärtlich damit. Eine silberne Kordel bindet mich an meine Stadt«, schrieb sie über die schillernde Metropole am Hudson.12 Sie liebte diese Stadt, die für sie über Manhattan niemals hinausreichte, und diese Stadt gibt ihr diese Liebe bis heute tausendfach zurück. Sie mehrten einander Ruhm und Glanz, und auch wenn es in Dorothy Parkers Leben andere Stationen gab, andere Städte, andere Länder, am Ende kehrte sie immer wieder nach Manhattan zurück: »Andere Orte mögen einem ein angenehmes und beruhigendes Gefühl vermitteln, in New York hingegen hat man immer das Gefühl: ‹Gleich passiert was.› Da ist keine Ruhe. Aber man gewöhnt sich so schnell an die Ruhe. Doch man gewöhnt sich niemals an New York.«13 Als Kind konnte sie sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die außerhalb New Yorks lebten. Neue Freunde pflegte sie zu fragen, in welcher Straße sie wohnten, niemals, in welcher Stadt.

Die Hauptstadt der Neuen Welt und Dorothy Parker waren eine kongeniale Verbindung. Hier wuchs sie auf, hier begann ihr Ruhm, hier erlebte sie Höhen und Tiefen eines Künstlerinnen- und Frauenlebens, hier starb sie. New York war ihr Heimat und Inspiration zugleich, und sie trug wie kaum jemand sonst dazu bei, die Legende der Stadt, die niemals schläft, weiterzutragen. Nahezu all ihre Kurzgeschichten spielen in New York. Dabei beschrieb sie niemals einen Schauplatz, erwähnte nie eine Straße oder ein Gebäude. New York war für sie nicht einfach eine Stadt, es war eine Welt, die zu beschreiben ihr völlig überflüssig schien.14

Die Stadt formte ihren Charakter und spiegelte sich in ihrer Seele wider. Dorothy Parker verkörperte alles, was man gemeinhin mit New York in Verbindung bringt: Rastlosigkeit und Moderne, Esprit und Erfolg, aber auch Härte, Grausamkeit und Einsamkeit. Dorothy Parker ist die New Yorker Schriftstellerin schlechthin.

Eine Ironie des Schicksals wollte es allerdings, dass Dorothy nicht in New York, sondern während eines Ferienaufenthaltes ihrer Familie in West End/New Jersey geboren wird. Eine Tatsache, an der sie zu knabbern hat: »Ich wurde um die Ehre gebracht, eine gebürtige New Yorkerin zu sein, weil ich zur Welt kommen musste, während die Familie den Sommer in New Jersey verbrachte. Aber, ganz ehrlich, wir kehrten unmittelbar nach dem Labor Day in die Stadt zurück, sodass ich den Anforderungen, eine echte New Yorkerin zu sein, fast gerecht werde.«15 Ohnehin merkt sie bald: »Nüchtern betrachtet ist die Seltenheit von gebürtigen New Yorkern eine der Mythen unserer Insel. Ich kenne mindestens vier davon persönlich, und habe gute Chancen, wenn alles glatt läuft, noch zwei weitere zu treffen.«16

West End, ein kleines Örtchen, das zum berühmten Seebad Long Branch gehört, liegt 60 Meilen außerhalb von New York und ist im 19. Jahrhundert bevorzugter Ferienort reicher New Yorker. Long Branch ist das Hollywood der Vereinigten Staaten, noch ehe die Filmindustrie nach Kalifornien umzieht. Schauspieler und andere Berühmtheiten flanieren auf den Straßen, ganze sieben US-Präsidenten von Chester A. Arthur bis Woodrow Wilson beehren die Stadt mit ihrer Anwesenheit. Vor allem reiche New Yorker Juden verbringen hier den Sommer, während es die WASPs – die reichen »White-Anglosaxon Protestants« – eher nach Rhode Island, Newport oder Long Island zieht. Dorothys Eltern Eliza und Henry Rothschild, weder verwandt noch verschwägert mit den berühmten Namensvettern (»Großer Gott, nein! Wir haben niemals auch nur von diesen Rothschilds gehört!«17), haben in West End ein Sommerhaus, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Guggenheims. Denn auch diesen Rothschilds geht es nicht schlecht. Die viktorianischen Häuser an der Ocean Avenue, von denen sie eines bewohnen, bieten einen wunderbaren Blick aufs Meer und garantieren angenehme Sommermonate.

In dieses gutbürgerliche Ambiente wird Dorothy am 22. August 1893 hineingeboren. Sie ist der charakteristische Mix aus den Emigranten der Neuen Welt – die typische Amerikanerin. Die Großeltern väterlicherseits sind deutsche Juden, die nach der gescheiterten Revolution 1848 Deutschland verlassen haben und nach Amerika emigriert sind. Die protestantischen Eltern der Mutter kamen 1830 aus Schottland in die USA. »Ich bin ein Bastard: Mein Vater war ein Rothschild; meine Mutter war eine Goia [Nicht-Jüdin], und ich besuchte die katholische Schule an der Ecke«, ist Dorothys knappe Aussage zu ihrer Herkunft.18 Henry Rothschild hat sich mit viel Fleiß seinen amerikanischen Traum erfüllt. Vom Sohn mittelloser Einwanderer hat er es zum Besitzer einer Fabrik für Herrenbekleidung mit über 200 Arbeitern geschafft. Er gilt als einer der erfolgreichsten seiner Zunft. Ein großes Apartment an der Upper West Side in Manhattan sowie das Ferienhaus in West End zeugen vom ansehnlichen Wohlstand eines geachteten Mitglieds der gehobenen Mittelschicht. Die Ehe mit Eliza hat er sich gegen die Widerstände der Familie, die der Verbindung aufgrund des religiösen Hintergrundes ablehnend gegenüberstand, hart erkämpft. Erst nach vielen Jahren, in denen Eliza als Lehrerin gearbeitet hatte, hatte ihr Vater die Erlaubnis zur Vermählung gegeben. Sie sind eine glückliche Familie mit drei Kindern, als Eliza mit 42 Jahren noch einmal schwanger wird. Da sie gesundheitliche Schwierigkeiten hat, zieht sie mit den Kindern den Sommer über nach West End, um die frische Seeluft zu genießen, während Henry in New York bleibt, um in der Fabrik nach dem Rechten zu sehen. Dorothys Geburt in einer Regennacht im August bringt die Pläne der Familie völlig durcheinander. Eliza ist erst im siebten Monat und hatte zur Geburt nach New York zurückkehren wollen. Dorothy selbst wird über ihren abrupten Eintritt ins Erdendasein später schmunzelnd sagen, dass dies das letzte Mal gewesen sei, dass sie zu irgendetwas zu früh gekommen ist – und das auch noch in New Jersey. Erst drei Wochen später, als Mutter und Kind stabil genug sind, um zu reisen, kommt sie zum ersten Mal in ihre Stadt: New York City.

Die Familie bewohnt eine schicke Wohnung in der 72. Straße an der Upper West Side. Die Gegend zählt seit Kurzem zu den exklusivsten Wohngegenden Manhattans. Ein paar Jahre zuvor wäre kein reicher New Yorker auf die Idee gekommen, hierher zu ziehen. Doch die Rothschilds gehören zu jener zweiten Generation von Immigranten, die sich hier im Norden der Stadt niedergelassen haben. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lebten die meisten Einwohner Manhattans unterhalb der 14. Straße, im Süden der Insel. Erst mit der neuen Einwanderungswelle ab 1850 und dem damit verbundenen Bevölkerungswachstum stieg das Ansehen der nördlichen Gebiete, und viele zogen in die neu errichteten Backsteingebäude in die Nähe des Central Parks. Hier pflegen sie den neuen Lebensstil reicher New Yorker. Man baut nicht länger ein eigenes Haus, sondern bezieht ein Apartment in einem Gebäude, das mehrere Luxuswohnungen in sich vereinigt. Weltberühmte Apartmenthäuser entstehen in dieser Zeit, die bis heute die Umgebung des Central Parks prägen. Darunter das in unmittelbarer Nähe zu den Rothschilds befindliche Dakota-Gebäude, zu dessen Bewohnern einmal Lauren Bacall, Leonard Bernstein und Judy Garland gehören werden. Einer seiner berühmten Bewohner wird vor dem Dakota erschossen und sorgt bis heute für Besucherströme: John Lennon. Die Wohnungen im Dakota sind seit 1884 mit Elektrizität, Bädern und Toiletten, Speisenaufzügen, Personenliften sowie mit Zentralheizung ausgestattet. Den Bewohnern steht ein Tennis- sowie ein Crocketplatz zur Verfügung.

Ganz so nobel geht es im Hause Rothschild nicht zu, denn es gibt weder Telefon noch Elektrizität, Personal jedoch ist reichlich vorhanden, sodass weder Dorothy noch ihre drei Geschwister Harold (geb. 1881), Bertram (geb. 1884) und Helen (geb. 1887) je im Haushalt mithelfen müssen. Die Dienstboten sind Emigranten, die Henry Rothschild unmittelbar nach ihrer Registrierung in Ellis Island engagiert. Da sie da oft noch völlig orientierungslos sind und sich in der Neuen Welt erst nach und nach zurechtfinden müssen, ist die Personalfluktuation im Hause Rothschild hoch. Doch es ist nie ein Problem, neues Personal zu finden, denn es geht bei Weitem nicht allen Amerikanern so gut wie den Rothschilds und ihren Nachbarn. Dorothys Geburtsjahr markiert eines der schlimmsten Krisenjahre in der Geschichte der USA. Ein Börsen- und Bankencrash, in dessen Folge mehr als 15 000 Firmen bankrott gehen, läutet eine lange Wirtschaftskrise ein. New York ist voller Menschen ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Perspektive. Verleger Joseph Pulitzer lässt von seinen Auslieferungswagen keine Zeitungen mehr verkaufen, sondern Brot verteilen. Während das reiche New York in die Sommerferien geht, steht das arme New York vor den Suppenküchen Schlange.

Die Welt, in die Dorothy hineingeboren wird, ist eine Welt im Wandel. Grover Cleveland ist gerade zum zweiten Mal Präsident geworden und wird damit der einzige Präsident der USA, dessen Amtszeiten nicht unmittelbar aufeinanderfolgen. Kleine Jungen tragen Matrosenanzüge und kleine Mädchen kurze Kleidchen mit Kniestrümpfen, man gibt sich bedeckt und züchtig. Noch 1907 wird der amerikanische Schwimmstar Annette Kellermann wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen, weil sie einen enganliegenden Badeanzug trägt. Bis in die 1920er Jahre hinein müssen Frauen über dem Badeanzug einen langen Rock tragen, damit nicht zu viel Bein zu sehen ist. Bei Dorothys Geburt essen die meisten Menschen in New York bei Kerzenschein oder Gaslicht, doch die im Oktober 1882 durch Thomas Edison begonnene Elektrifizierung der Stadt schreitet voran. Vier Jahre zuvor hatte die Bell Telephone Company ganze 271 Teilnehmer in New York telefonisch miteinander verbunden, 1927 können die New Yorker bereits mit Europa telefonieren. Wenn die kleine Dorothy aus dem Fenster blickt, sieht sie Kutschen, Pferdetaxis, Fuhrwerke und vereinzelt Straßenbahnen, die von unterirdisch verlaufenden Kabeln gezogen werden. Noch gibt es keine U-Bahn, doch am 27. Oktober 1904 wird die New York City Subway, eine der ältesten U-Bahnen der Welt, offiziell in Betrieb genommen werden. Sie ermöglicht ein rasches Vorwärtskommen innerhalb der Stadt und stellt die dringend benötigte Verbindung zwischen dem Norden und Süden Manhattans her. Dadurch wird der Nordteil der Stadt, in dem Dorothy lebt, weiter aufgewertet. Architektonisch verändert sich New York in diesen Jahren grundlegend. Weltberühmte Gebäude wie das Ansonia Hotel, in dem Arturo Toscanini, Igor Strawinsky und Enrico Caruso leben, werden errichtet. Während Tausende New Yorker nicht einmal eine eigene Toilette haben, wird dort 1900 eine Klimaanlage eingebaut. Das alte New York verschwindet und macht Platz für das neue. Auf der 5th Avenue fallen die Stadthäuser der Vanderbilts und Astors dem Bau moderner Luxusapartmenthäuser zum Opfer, und die Läden der Einzelhändler an der Park Avenue weichen neuen, ganz unglaublichen Gebäuden: Wolkenkratzern. 1899 wird mit dem Park Row Building in Lower Manhattan das bis dato höchste Gebäude der Welt eröffnet. Auf 119 Metern verteilen sich 30 Stockwerke, in denen 14 000 Menschen arbeiten. Die Leute kommen in Scharen, um diese bauliche Meisterleistung zu besichtigen. Von nun an jagt ein Rekord den anderen. Wolkenkratzer schießen wie Pilze aus dem Boden und geben der Stadt ihre typische Skyline. 1929 hat New York, einmalig in der Welt, 2479 Gebäude mit zehn oder mehr Stockwerken. Ein Art-Déco-Gebäude ums andere wächst in den Himmel, bis 1931 mit dem Empire State Building nicht nur der berühmteste Wolkenkratzer des 20. Jahrhunderts, sondern auch das erste Gebäude der Welt mit über 100 Stockwerken entsteht. Vierzig Jahre lang wird es mit 381 Metern das höchste Gebäude der Stadt seit. Und seit der Zerstörung der Twin Towers des World Trade Centers am 11. September 2001 ist es das erneut.

Die Einwohnerzahl New Yorks explodiert in diesen Jahren. Um die Jahrhundertwende leben circa 3 Millionen Menschen hier, 20 Jahre später sind es knapp doppelt so viele. Allein zwischen 1880 und 1920 wächst die Bevölkerung der Stadt um nahezu 300 Prozent. In Massen strömen Europäer auf der Flucht vor Armut, Not und Krieg ins gelobte Land. Winfield Woolworth reagiert darauf mit der Gründung seiner Fünf- und Zehn-Cent-Läden, in denen es alles gibt, aber billig. Eine Idee, die auf eine arme Käuferschicht im Land eingeht und ihn schwerreich macht. Viele der Neuankömmlinge bleiben in New York hängen, die meisten lassen sich an der Lower East Side nieder. Hier lebt ein Sechstel der Bevölkerung von New York City. 100 000 Menschen drängen sich hier auf einem Quadratkilometer, so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt. 60 Prozent der Bewohner der dortigen Elendsquartiere sind Juden aus Osteuropa. Für 150 Menschen gibt es in den Mietskasernen im Schnitt 12 Toiletten. Hier rekrutiert Henry Rothschild Arbeiter für seine Fabrik. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken sind in einer Zeit ohne Arbeitsschutzbestimmungen katastrophal und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Henry Rothschilds Fabrik hierbei eine Ausnahme macht. Allerdings scheint ihn das Schicksal seiner Arbeiter zumindest an Weihnachten berührt zu haben, denn Dorothy erzählt später, dass er jedes Jahr am Weihnachtstag in seiner Kutsche die Lower East Side hinaufgefahren sei, um Umschläge mit Banknoten an die Armen zu verteilen. Oftmals begleitet sie ihn dabei.

Die Kluft zwischen Arm und Reich, die sich in New York auf kleinstem Raum zeigt, führt dazu, dass die Stadt zum Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen wird. Es formiert sich eine starke Arbeiterbewegung, die zu Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen aufruft. Sie kämpft gegen Kinderarbeit, für Arbeitsschutzgesetze, Arbeitszeitverkürzung und Löhne, die ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Die Arbeitswelt verändert sich. 1913 wird Henry Ford die Fließbandarbeit so perfektioniert haben, dass Massenproduktion in großem Stil möglich wird. Zu den Unterprivilegierten, die ihre Rechte einfordern, gehören in jenen Jahren auch die Frauen, die sich zu Recht als Bürgerinnen zweiter Klasse begreifen. Sie fordern die politische und rechtliche Gleichstellung mit den Männern, freien Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit sowie freie Berufswahl. Der Kampf um das Frauenwahlrecht tritt in jener Zeit an das Licht der Öffentlichkeit, und die Suffragetten in ihren weißen Kleidern werden Teil des politischen Gesichts der Stadt.19

Diese Welt der Krisen, des Umbruchs und des Übergangs ist Dorothy als behütetem Mitglied der gehobenen Mittelschicht fremd. Sie wird ihre eigene Klasse niemals verlassen, wird die Armut nie am eigenen Leibe spüren. Dennoch entwickelte sie auch als Zuschauerin ein soziales Gewissen. Die Not und das Elend sind so groß, dass man nicht darüber hinwegsehen kann. Obwohl auf der Sonnenseite geboren, wird sie sich Zeit ihres Lebens ohne viel Aufhebens für die Unterprivilegierten und Verfolgten einsetzen. Unrecht wird sie nicht nur auf die Palme, sondern zum Handeln bringen. Interessanterweise wird sie aber nur selten sozialkritische Geschichten schreiben. Ihr beißender Spott, für den sie so berühmt wird, erscheint ihr hier fehl am Platz. Der Respekt vor den Schwachen verbietet es ihr, deren Schicksal in ihren Geschichten zu thematisieren. In den seltenen Fällen, in denen sie es tut, kratzt sie nur an der Oberfläche, bleibt zu sehr in Stereotypen verhaftet, als dass sie damit wirklich überzeugen könnte. Am besten ist sie, wenn sie über Dinge schreibt, die sie kennt: die Welt berufstätiger urbaner Singlefrauen. Sie weiß genau, dass sie im Amerika der Unterschichten eine Außenseiterin ist, eine Beobachterin ohne tieferen Einblick. Sie wird andere Möglichkeiten finden, sich einzumischen.

Auch geografisch bleibt Dorothy Parker die ersten Jahre ihres Lebens Teil der gehobenen Mittelklasse. Obwohl die Familie bis zu ihrem 20. Lebensjahr mehr als ein Dutzend Mal umzieht, bleibt sie in den Grenzen zwischen dem Central Park im Osten und dem Hudson River im Westen verhaftet. Die meisten Wohnungen, die Henry Rothschild innerhalb der nächsten Jahre mieten oder kaufen wird, befinden sich bei der 72. Straße in unmittelbarer Nähe zum Central Park und zum Broadway. Es ist eine schöne Gegend mit Backsteingebäuden, kleinen Geschäften und Alleebäumen. Hier wird viel gebaut, und Familien wie die Rothschilds sind begehrte Mieter, immer auf der Suche nach einer noch besseren Wohnung zu noch besseren Konditionen.

Alles in allem sind die Startbedingungen für die kleine Dorothy ziemlich gut. Alles deutet auf ein sorgloses Leben zwischen dem Sommerhaus in New Jersey, dem Broadway und Schulen für höhere Töchter hin. Doch kurz nach ihrem fünften Geburtstag schlägt das Schicksal grausam zu. Am 20. Juli 1898 stirbt ihre Mutter mit nur 47 Jahren im Sommerhaus in West End an einer Herzkrankheit. »Ihr fiel prompt nichts Besseres ein, als zu sterben«, kommentiert Dorothy dieses Ereignis als Erwachsene zynisch.20 Die Eigenart, dramatischen Ereignissen mit Zynismus zu begegnen, hat die kleine Dorothy noch nicht entwickelt. Sie ist völlig verstört und ruft tagelang verzweifelt nach der Mutter. Der Verlust der Mutter wird lebenslang eine offene Wunde bleiben, die auch durch die literarische Verarbeitung nicht heilen wird. Unter die tiefe Trauer um die Mutter mischen sich zudem noch Schuldgefühle. Das kleine Mädchen gibt sich eine Mitverantwortung am frühen Tod der Mutter, die ihr in fortgeschrittenem Alter trotz schwacher Konstitution das Leben geschenkt hat. Dorothy wird die regnerische Nacht, in der ihre Mutter stirbt, niemals vergessen. Dies zeigt nicht zuletzt ihre tiefe Liebe zum Regen, dem letzten Geräusch, das die Mutter auf Erden vernommen hat. Regen ist für sie eine Verbindung zur Mutter, und sie wünscht sich ein Leben lang, ebenfalls an einem regnerischen Tag zu sterben.

Von einem Tag auf den anderen ist die kleine Dorothy nun Halbwaise. Die seltenen Schilderungen ihrer Kindheit zeigen deutlich die Gefühlswelt des kleinen Mädchens. Sie fühlt sich grenzenlos einsam innerhalb der verbliebenen Familie. Jeder trauert auf seine Weise, die drei Geschwister finden, wohl auch aufgrund des Altersabstands, keinen Zugang zu ihr. Die Tatsache, dass ihr Bruder Bertram sie auf der Straße vor einem Freund verleugnet, trifft sie in Mark und Bein. Einsamkeit und Trauer werden zu den prägenden Empfindungen ihrer Kindheit und tragen dazu bei, dass sich in Dorothys Kopf das Bild einer Kindheit manifestiert, die unmittelbar einem Charles-Dickens-Roman entsprungen sein könnte. Ihre spätere Verehrung für Dickens kommt nicht von ungefähr, in seinen Romanen findet sie sich wieder. Wenn sie später von ihrer Kindheit erzählt, hört sich das so an: »Ich bitte um Entschuldigung, dass ich nur grauenvolle Personen beschreiben kann.«21 Dorothy versteht sich als Opfer, alleine zurückgelassen von der Mutter, unverstanden von Geschwistern und Vater. Eine Haltung, die sie so verinnerlicht, dass sie sie zeitlebens beibehalten wird. Die klaffende Wunde, die ihr das Leben schon in frühester Kindheit schlägt, führt dazu, dass in ihrem berühmten Witz später immer auch Traurigkeit mitschwingt. Sie weiß, wie nahe Freud und Leid beieinanderliegen, und zeigt in ihren Texten oft genug, dass in jeder Situation beides enthalten ist. Ihr brillanter Witz, den sie nach und nach entwickelt, wird ihr zur Überlebensstrategie in einem Leben, das sie noch auf so manch harte Probe stellen wird und das ihr mit fünf Jahren zum ersten Mal gezeigt hat, was der Mensch ertragen muss.

Nur kurz nach dem Tod der Mutter erscheint zudem die Person auf der Bildfläche, die in allen Märchen der Inbegriff des Bösen ist: die Stiefmutter. Für Henry Rothschild ist der Tod seiner Frau, die ihn mit vier unmündigen Kindern zurücklässt, eine persönliche Katastrophe, und es ist durchaus verständlich, dass er durch Heirat versucht, seinen Kindern eine neue Mutter zu geben. Am 3. Januar 1900 heiratet er die 48-jährige Eleanor Frances Lewis, eine alleinstehende Lehrerin, die damit ihrem einsamen Leben als alte Jungfer entfliehen kann. Es ist eine Vernunftehe, von der beide Seiten profitieren sollen. Seine Kinder sind von der raschen Wiederverheiratung alles andere als begeistert. Dorothy hasst die Stiefmutter vom ersten Moment an, sieht in ihr einen Eindringling, der die Rolle ihrer Mutter übernehmen will. Die vier Geschwister machen der neuen Frau des Vaters das Leben zur Hölle: »Sie war gekränkt, weil die Älteren sie ›Mrs. Rothschild‹ nannten. Wie denn sonst? Das war ihr Name. Ich redete sie überhaupt nicht mit Namen an: ›He du‹, das war das höchste der Gefühle«, erzählt Dorothy in den 1960er Jahren in einem Interview.22 Sie wird der verhassten Stiefmutter, die sie verächtlich »die Haushälterin«23 nennt, auch literarisch ein Denkmal setzen. In ihrer Kurzgeschichte »Der kleine Curtis« zeichnet sie das Bild der bösen Stiefmutter, die einen vier Jahre alten adoptierten Jungen derart triezt, dass man ihr als Leser unweigerlich die Pest an den Hals wünscht.24

Henry Rothschild hält sich aus diesem hausinternen Kleinkrieg heraus. In seinen Augen hat er das Bestmögliche für die Familie getan. Zudem ist er viel zu sehr mit seinem eigenen Kummer um die Verstorbene beschäftigt. In seinem Bemühen, die Lebenden und die Tote zu vereinen, unternimmt er mit der Familie jeden Sonntagnachmittag einen Ausflug ans Grab der Mutter in die Bronx – woran sich Dorothy mit Abscheu erinnern wird: »Sonntags machten wir einen Ausflug. Nicht irgendeinen Ausflug. Wir fuhren zum Friedhof, um das Grab meiner Mutter zu besuchen. Alle Mann, inklusive der zweiten Ehefrau. Das war seine Vorstellung von Vergnügen. Jedesmal, wenn er Schritte auf dem Kiesel vernahm, die Zuschauer ankündigten, zog er das größte Taschentuch, das man jemals gesehen hat, aus der Tasche und begann mit einer tränenerstickten Stimme von bemerkenswerter Reichweite zu jammern: ›Wir sind alle hier, Eliza! Ich bin hier! Dottie ist hier! Mrs. Rothschild ist hier –.‹«25

Dorothy findet das Verhalten ihres Vaters unmöglich. Sie stellt sich jedesmal vor, was ihre disziplinierte Mutter wohl zu diesen melodramatischen Auftritten sagen würde: »Aber ich musste lachen, als ich daran dachte, wie du, die Tote, | (…) | lachen würdest, wenn du gehört hättest, was sie sagten.«26

Väter kommen in ihren Kurzgeschichten später durch die Bank schlecht weg. Da gibt es die, die ihr Kind »Balg« nennen und es im Schnee aussetzen wollen,27 oder jene, die ihre Töchter terrorisieren und ihnen ihren Willen aufdrängen.28 Dorothy hat ein fabelhaftes Gedächtnis, nichts, was sie kränkt oder beschäftigt, vergisst sie jemals. Nichts und niemand ist davor gefeit, eines Tages literarisch verarbeitet zu werden. Wobei die Menschen ihrer Kindheit zumindest bessere Chancen haben, vergessen zu werden, als spätere Freunde und Bekannte. Denn Dorothy sprach nicht gerne über ihre Kindheit und antwortete einem Interviewer 1956 auf die Frage nach ihrer Kindheit: »Ach, gehen Sie weg mit den Erzählern, die über ihre Kindheit schreiben! Du lieber Gott, Sie würden sich schwer überlegen, ob Sie sich mit mir an einen Tisch setzen könnten, hätte ich jemals von meiner Kindheit erzählt.«29

Mit sieben Jahren wird sie in die von katholischen Nonnen geleitete Privatschule »Blessed Sacrament Academy« in der 79. Straße eingeschult. Die Schule gilt als eine der Besten der Stadt, doch Dorothys Begeisterung hält sich in Grenzen: »Klöster erreichen dasselbe wie Normalschulen, nur merken sie’s nicht. Lesen lernt man dort natürlich nicht; das muss man sich schon selber beibringen. In meinem Kloster hatten wir selbstverständlich einen Leitfaden (…). Dickens lesen? Ausgeschlossen! Er war zu vulgär.«30 Ihrer Ansicht nach ist diese Schule nur für sie ausgewählt worden, weil sie erreicht werden kann, ohne die Hauptstraße überqueren zu müssen. Das jüdische Kind wird dort ohnehin nur aufgenommen, weil der Vater sich als Mitglied der episkopalen Kirche ausgibt. Dorothy fühlt sich inmitten dieses gelebten Katholizismus fehl am Platze, was sich in permanenten Auseinandersetzungen mit den Nonnen und der bigotten Stiefmutter niederschlägt: »Sie war total verrückt, was Religion anbelangte. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, begrüßte sie mich mit den Worten: ›Hast du deinen Herrn Jesus heute schon geliebt?‹ Nun, was soll man darauf antworten?«31 Die zweite Mrs. Rothschild macht keinen Hehl daraus, was sie von Dorothys Religion hält. Hatten nicht die Juden Jesus ans Kreuz geschlagen? Für Dorothy wird ihr Glaube zur Belastung. Sie fühlt sich nicht als Jüdin, wird aber aufgrund ihres jüdischen Familiennamens als solche betrachtet. Glaube und Name machen sie ihrer Ansicht nach zur Außenseiterin, daher wäre sie beides gerne los. Die Tatsache, dass sie beides ihrem Vater verdankt, nimmt sie ihm äußerst übel. Dabei wäre sie streng genommen nach jüdischer Tradition, in der der Glaube durch die Mutter weitergegeben wird, eigentlich gar keine Jüdin. Dass ihr Verhältnis zum Judentum so gestört ist, daran ist nicht zuletzt der Vater schuld. Bei beiden Hochzeiten hatte er großen Wert darauf gelegt, eine Protestantin zu heiraten, um in der Hierarchie der amerikanischen Gesellschaft aufzusteigen. Nun legt er bei seinen Kindern größten Wert darauf, sie unter Nicht-Juden aufwachsen zu lassen. Dafür belügt er sogar die Schulverwaltung. Ist es da ein Wunder, dass Dorothy glaubt, sich für irgendetwas schämen zu müssen? Dass sie so sehr darauf erpicht ist, alles »Jüdische« an sich ein für alle Mal loszuwerden? Religion wird in ihrem Leben nie ein Rolle spielen. Als Hauptursache für ihre erste Ehe wird sie angeben, dass sie dadurch einen anderen Namen bekam, einen Namen, den sie ihr Leben lang behalten wird: Dorothy Parker. Bis dahin jedoch bringt man sie mit ihrer lauten, lebhaften jüdischen Mischpoche in Verbindung, für deren Verhalten sie sich so schämt, vor allem wenn auf Familienfesten alle durcheinanderschreien. Mit einer betont vornehmen, leisen Sprechstimme, die ihr Markenzeichen wird, versucht sie sich von frühester Kindheit an von den Rothschilds abzusetzen: »Ich war nur ein kleines jüdisches Mädchen, das sich bemühte, niedlich zu sein.«32

Der Kampf um die eigene Persönlichkeit beginnt beizeiten. Die tagtäglichen Auseinandersetzungen mit Eltern, Familie und Lehrerinnen sind eine gute Schule für die spätere Starkritikerin des New Yorker. Auffallend klug und geistreich setzt sie sich schon als Kind gegen jedwede Bevormundung zur Wehr. Freunde gewinnt sie dadurch keine. Laut ihren Erinnerungen ist sie ein einsames Kind: Unter all ihren Schulkameradinnen findet sie nur eine einzige Freundin, eine Seelenverwandte, die aufgrund einer skandalösen Scheidung im Familienkreis ebenfalls einen schweren Stand bei den Nonnen hat. Die beiden Mädchen treiben die Nonnen mit ihrer Vorwitzigkeit an den Rand des Wahnsinns, so lange, bis es den Erzieherinnen reicht und Dorothy unmissverständlich aufgefordert wird, die Schule zu verlassen. Eine Tatsache, an der sie sich nicht weiter stört: »Schließlich hat man mich wegen verschiedener Sachen ’rausbefördert, nicht zuletzt deshalb, weil ich die unbefleckte Empfängnis als Selbstentzündung definierte.«33

Zu Hause geht der Kleinkrieg mit der Stiefmutter unvermindert weiter. Nachdem sie Eleanor Rothschild jahrelang alles Übel der Welt an den Hals gewünscht hat, tritt kurz vor ihrem 10. Geburtstag das Unfassbare ein: Die Stiefmutter stirbt. Dorothy ist sich sicher, jetzt auch noch die verhasste Stiefmutter auf dem Gewissen zu haben. Eine Entwicklung, die sie völlig überfordert. Sie ist voller widerstreitender Gefühle, mit denen sie nicht umzugehen weiß: auf der einen Seite der Schock über das Geschehen, verbunden mit Schuldgefühlen, auf der anderen Seite die ehrliche Erleichterung darüber, die zweite Mrs. Rothschild endlich los zu sein. Erneut hat der Tod urplötzlich zugeschlagen, und wieder hinterlässt er ein zutiefst verunsichertes Kind. Von nun an rechnet sie stets mit dem Schlimmsten. Freunde werden sie beim Schellen der Türglocke oftmals murmeln hören: »Was zur Hölle ist jetzt wieder passiert?«34

Das Thema Mütter ist für Dorothy nach dem Tod der Stiefmutter endgültig abgehakt. Viel Glück hatte sie wirklich nicht mit ihnen. Erst Jahre später wird sie Mütter wieder in ihr Leben lassen: in ihren Kurzgeschichten. Doch ihr Verhältnis zu ihnen bleibt gespalten. Zwar fehlt es in Dorothys Kurzgeschichten nicht an Müttern, doch spielen diese eine mehr als traurige Rolle. Keine Rede von der liebenden, schützenden Mutter, stattdessen wimmelt es von boshaften, dominanten, grausamen und abweisenden Rabenmüttern, die ihre Kinder schon mal mit: »Gute Nacht, du Nichtsnutz« zu Bett schicken.35

Nach dem Tod der Stiefmutter fühlt sie sich noch mehr als Enfant terrible. Nichts verdeutlicht dies besser als ihre Begeisterung für die Figur der Rebecca Sharp, der Antiheldin aus einem Roman von William Makepeace Thackeray: »Ein dutzend Mal im Jahr lese ich Jahrmarkt der Eitelkeiten. Ich war eine ›Frau‹ von elf Jahren, als mir das Buch zum ersten Mal in die Finger kam. Diese aufwühlenden Worte: ›George Osborne lag tot da, eine Kugel im Kopf‹«, gibt sie 1956 in einem Interview an.36 Rebecca Sharp, skrupellos, aber brillant und witzig, wird ihr Alter Ego. Denn auch Dorothy vereint diese zwei Seiten in sich: Sie ist stark und verletzlich, mitfühlend und grausam, witzig und nahezu unerträglich zynisch. Diese gegensätzlichen Eigenschaften machen es anderen schwer, sie einzuschätzen. Denn nicht alle kennen diese verschiedenen Seiten an ihr. Die vielen, sich oftmals völlig widersprechenden Aussagen ihrer Freunde und Bekannten zeugen davon, dass niemand Dorothy je wirklich zu fassen vermochte. Niemand konnte eine Charakterisierung von Dorothy abgeben, ohne dass ein anderer ihm vehement widersprochen hätte.

Rebecca Sharp steht auch Pate dafür, wie sie sich als ungeliebte Waise inszeniert. Was nicht ganz der Wahrheit entspricht. Denn auch wenn der Verlust der Mutter und das Regiment der Stiefmutter ihr schwer zu schaffen machen, alles in allem wächst sie in einem liberalen Elternhaus auf, in dem sie und ihre Geschwister Gefühle und Gedanken frei äußern können. Obwohl sie ihm seine zweite Heirat nachträgt, ist ihr Verhältnis zum Vater nicht so schlecht, wie sie es darstellt. Ihre amerikanische Biografin Marion Meade beschreibt das Verhältnis der beiden als durchaus liebevoll und fördernd. Sie vermutet nicht ganz zu Unrecht, dass Dorothy die Mär von der armen, ungeliebten Waise erfunden hat, um ihr teilweise schlichtweg unmögliches Verhalten zu entschuldigen.37

Der Vater ermuntert sie dazu, erste Gedichte zu schreiben, und verfasst seinerseits ebenfalls welche für Dorothy: Der Grundstock für ihre Karriere als die Königin der leichten Verse wird im Elternhaus gelegt. Schon als Zehnjährige feilt sie tagelang an Sätzen, sucht die passenden Worte und entwickelt ihre kritische Haltung gegenüber der Sprache: »Soweit ich weiß, war ich eines dieser unausstehlichen Kinder, die Verse machen.«38

Die Sommer 1905 und 1906 verbringt Dorothy mit ihrer Schwester Helen in Bellport/Long Island am Meer. Helens Verlobter George Droste besitzt hier ein Haus. Dorothy vertreibt sich die Zeit mit Schwimmen, Crocketspielen und Lesen. Von frühester Kindheit an liest sie mit Begeisterung. Vor allem die Kinderzeitschrift St. Nicholas Magazin hat es ihr angetan. Generationen von Amerikanern wachsen mit den Witzen, Kurzgeschichten und Zeichnungen der Zeitschrift auf, in der nicht nur Frances Hodgson Burnetts Der kleine Lord, sondern auch Rudyard Kiplings Dschungelbuch zum ersten Mal als Fortsetzungsroman erscheinen. Hier veröffentlichen auch Kinder erste Gedichte, und die Faszination, die dies auf Dorothy ausübt, liegt auf der Hand. In diesem Sommer macht sie ihre erste Bekanntschaft mit dem Theater. Wie alle Mädchen ihres Alters ist auch die kleine Dorothy ein Fan des Musicals »Peter Pan«, das 1905 am Broadway Premiere hat. Mit Feuereifer sammelt sie Fotos, Artikel und Programmhefte. Vor allem Hauptdarstellerin Maude Adams hat es ihr angetan. Wer kann ahnen, dass Dorothy keine zehn Jahre später als gefürchtete Theaterkritikerin im Publikum des Empire Theater sitzen und nicht wie als kleines Mädchen mit dem weißen Taschentuch winken, sondern drohend ihren Stift zücken wird.

In diesen Monaten, in denen sie vom Vater getrennt ist, gehen viele Briefe zwischen den beiden hin und her – lange vom Vater und etwas kürzere von Dorothy: »Lieber Papa, uns geht es allen gut und wir haben eine schöne Zeit. Wenn Du meine Sachen herschickst, sei bitte so gut und schicke mir meine pinkfarbenen und grünen Perlen. Sie sind in meiner Frisierkommode in einer ›Home, Sweet Home‹-Schachtel. Ich hoffe den Tieren geht es gut. Alles Liebe Dorothy.«39

Die vielen Briefe weisen auf ein durchaus gutes Vater-Tochter-Verhältnis hin. Allerdings schreibt sie nicht nur an ihren Vater, sondern auch an die drei Mitbewohner, die seit Neuestem durchs Haus toben: die Hunde Rags, Nogi und Bunk, drei Mischlinge, die sie über alles liebt und täglich im Central Park spazieren führt: »Lieber Rags, hoffe Dir geht es gut und Du hast eine gute Zeit. Alles Liebe Dorothy.«40

Die drei sind die ersten von vielen Hunden, die Dorothy durchs Leben begleiten werden. Selten in ihrem Leben wird sie ohne Mann sein, doch noch seltener ohne Hund. Freunde und Familie erreichen oftmals Briefe und Telegramme im Namen der Hunde, und auch in ihren Gedichten und Kurzgeschichten wird sie diese lebenslange Liebe thematisieren. Ihrem Hund Reilly wird sie einmal gar ein eigenes Gedicht widmen.41

Dorothy ist unglaublich tierlieb. Neben Hunden kann sie sich vor allem für Pferde begeistern. Eine Vorliebe, die sie auch als Erwachsene nicht ablegt. Auf dem Nachhauseweg von so mancher durchzechten Nacht bleibt sie oft vor den Kutschpferden stehen und streichelt sie. Dabei ermahnt sie ihren jeweiligen Begleiter: »Pass auf, dass ich keine Pferde mit nach Hause nehme. Streunende Hunde und kleine Katzen sind nicht so schlimm, aber die Liftboys sind immer beleidigt, wenn man ein Pferd mitbringt.«42

Im September 1907 kommt die 14-jährige Dorothy ins Internat. »Miss Dana’s School for Young Ladies« in Morristown/New Jersey ist eine private Eliteschule, die den Zugang zu den führenden Frauencolleges im Land ermöglicht. Die Mehrheit der Schülerinnen sind Presbyterianerinnen, ein paar wenige Katholikinnen sind auch darunter, aber keine Juden. Dorothy wird einmal mehr als Angehörige der Episkopalkirche angemeldet und rückt mit allem an, was ein Dana-Girl benötigt: 12 Handtüchern, 6 Laken, 6 Kopfkissenbezügen, 2 Reinigungssäcken, 6 Servietten, 1 Serviettenring, 1 Regenschirm, 1 Regenmantel, Überschuhen, Pumps, Tennisschuhen und 1 Thermoskanne.43 Ihre Mitschülerinnen an dieser reformpädagogischen Schule, in der die Schülerzahl pro Klasse auf 15 Mädchen beschränkt ist, sind durchwegs Mitglieder der Upper Class. Erneut fühlt sich Dorothy als Außenseiterin in dieser Gruppe von Mädchen, »angemessen ausgestattet mit einem genügsamen, nichts hinterfragenden Verstand«.44 Noch Jahre später behauptet sie, eine Schülerin von Miss Dana’s aus einer Entfernung von einem Häuserblock identifizieren zu können, denn sie würden alle so gehen, als ob sie von einem Gefängniswärter auf ihrem letzten Gang begleitet würden: »Generelles Erscheinungsbild: völlig egal, wie wunderbar das Wetter ist, immer so angezogen, als ob ein heftiger Regenschauer zu erwarten ist.«45

All ihrem Spott zum Trotz gefällt es ihr hier. Sie belegt Kurse in Algebra, Griechisch, Amerikanischer Geschichte, Französisch, Latein, Psychologie und verbessert ihre Ausdrucks- und Sprechweise. Ihre besten Noten erzielt sie in Bibelstudien und Klavier, ihre schlechtesten im Sport. Sie entdeckt La Rochefoucauld für sich und perfektioniert ihre distinguierte Aussprache. Auf dem schuleigenen Tennisplatz sieht man sie jedoch ebenso selten wie in der Sporthalle. Der normale Unterricht wird ergänzt durch abendliche Diskussionsrunden und Lesungen, in denen nicht nur schöngeistige, sondern auch politische Themen erörtert werden. Die sozialkritischen Reportagen der »Muckrakers«, der Pioniere des investigativen Journalismus, die mit ihren Berichten das Land aufrütteln, werden auch bei Miss Dana’s gelesen. Miss Dana’s legt den Grundstock für Dorothys vielfältige Interessen. Zudem lernt sie hier ihre perfekten Manieren, die ihr von nun an als Schutzschild dienen. Die grausamsten Dinge in höflichstem Ton, mit sanfter Stimme, mit einem Lächeln auf den Lippen zu sagen, darin wird sie Meisterin. Allerdings ist ihr Aufenthalt bei Miss Dana’s nur kurz, nach nur einem Jahr verlässt sie die Schule mit Beginn der Sommerferien. Warum genau ist unklar. Tatsache ist, sie kehrt im neuen Schuljahr nicht zurück und schreibt sich auch an keiner anderen Schule ein. Mit 14 Jahren endet Dorothys schulische Ausbildung ohne Abschluss. Eine Tatsache, über die sie nicht gerne spricht: »Aufgrund widriger Umstände schloss ich die High School nicht ab. Aber bei Gott, ich lese.«46 Das Resümee ihrer Schulzeit lautet schlicht und einfach: »Die Ausbildung fürs Leben (…) erschöpfte sich in der Erkenntnis, dass man auf den Radiergummi spucken muss, wenn man Tinte ausradieren will.«47

Sie kehrt in eine veränderte Wohnung zurück. Helen und Bertram sind ausgezogen, um eigene Familien zu gründen, Harry entwickelt sich mehr und mehr zum schwarzen Schaf der Familie. Er hält es in keinem Job lange aus und ist ständig pleite. Der Kontakt zu ihm wird bald für immer abbrechen. Mit den anderen Geschwistern aber bleibt sie eng verbunden. Denn trotz ihrer offen vor sich hergetragenen Abneigung gegen die Familie Rothschild hat Dorothy gerade zu Helen längst ein gutes Verhältnis entwickelt. Diese hat begriffen, dass sie der kleinen Schwester Mutterersatz sein muss, und kümmert sich um sie. Dorothy wird ihr dies später danken, indem sie Helen und ihrer Familie, wann immer es ihre eigene Lage erlaubt, finanziell unter die Arme greift. Dazu fühlt sie sich alleine schon deshalb verpflichtet, weil sie Helens Auswahl an Ehemännern schlecht findet. Schon die Suche nach dem ersten Ehemann ist Dorothy als junges Mädchen ziemlich peinlich: »Meine Schwester war eine wirkliche Schönheit, anmutig, hübsch, aber strohdumm.«48 Dorothy selbst ist zwar klug, aber von der schönen, melancholischen jungen Frau, die sie einst werden wird, noch weit enfernt. Sie ist für ihr Alter viel zu klein und zu dünn. Ihr dünnes Haar hängt glanzlos herab, und unter ihren Augen hat sie tiefe Augenringe. Dazu kommt, dass sie extrem kurzsichtig ist und ohne Brille kaum etwas sieht. Dennoch trägt die eitle Dorothy in der Öffentlichkeit niemals eine Brille, und auch zu Hause setzt sie sie nur beim Schreiben auf.

Mit dem Ende ihrer Schullaufbahn endet Dorothys Kindheit. Sie übernimmt nun die Aufgaben ihrer Mutter und wird zur Stütze des Vaters, der bald sein Geschäft verkauft und sich zur Ruhe setzt. Henry Rothschild kümmert sich von nun an als Privatier um seine Investitionen und Dorothy kümmert sich um ihn. Doch viel ist nicht zu tun. Für den Haushalt gibt es Personal, ein Zweipersonenhaushalt erfordert nicht viel Organisation. Es ist ein eintöniges Leben, vor allem für eine junge Frau. Sechs lange Jahre hat sie keine Aufgabe, keinen Beruf, keine Beschäftigung. Abends sitzt sie beim Vater zu Hause. Als Frau alleine ins Theater oder ins Restaurant zu gehen, erscheint ihr – noch – unmöglich. Mit Henry Rothschild ist nicht zu rechnen, er beginnt zu kränkeln. Nach einem schweren Schicksalsschlag verschlechtert sich sein Gesundheitszustand zunehmend. Am 14. April 1912 kommt sein geliebter Bruder Martin beim Untergang der RMS Titanic ums Leben. Onkel Martin und Tante Elisabeth »Lizzie« Rothschild befinden sich als Passagiere der Ersten Klasse auf dem als unsinkbar geltenden Ozeanriesen. Als das Rettungsschiff Carpathia drei Tage nach dem Unglück im Hafen von New York einläuft, ist unter den 705 Überlebenden an Bord nur Tante Lizzie. Martin Rothschild hatte seine Frau ins Rettungsboot gesetzt und dann seinen sicheren Platz im Boot für einen anderen Passagier freigemacht.49

Trotz der angeschlagenen Gesundheit des Vaters gehen die Umzüge innerhalb der Upper West Side munter weiter. Dies ist Dorothys einzige Abwechslung. Sie fühlt sich so eingeengt, dass sie schließlich ihre Geschwister um Hilfe bittet. Aber hier stößt sie auf taube Ohren. Sie ist unverheiratet und nicht berufstätig, nichts liegt da näher, als sich um den Vater zu kümmern. Schweren Herzens richtet sich Dorothy auf ein langweiliges Leben ein. Da kommt ihr erneut das Schicksal zu Hilfe. Nachdem er um Weihnachten herum plötzlich immer schwächer wird, stirbt Henry Rothschild am 27. Dezember 1913 mit 62 Jahren an einem Herzinfarkt. Damit ist Dorothy jetzt tatsächlich das Waisenkind, zu dem sie sich bereits stilisiert hatte.

Da ihr der Vater, ihren Angaben nach, nichts hinterlässt, muss sie sich Arbeit suchen. Ob Henry Rothschild wirklich alles durch Fehlspekulationen verloren hat oder ob sich diese neue Armut nahtlos in den romantischen Mythos vom armen Waisenkind einfügt, wer weiß das schon. Dorothy erzählt ihre Geschichte immer wieder neu und immer wieder anders.

Fürs Erste heuert sie an der »Manhattan School of Dance« als Klavierspielerin und Ersatztänzerin an. Beides ist gefragt, denn in der Stadt ist das Tanzfieber ausgebrochen. In allen Bars, Clubs und Restaurants wird getanzt: One-Step, Foxtrott und Tango. Zeitungen drucken die neuesten Tanzschritte ab, überall schießen Tanzschulen aus dem Boden, kaum in der Lage, den Ansturm der Tanzwütigen zu bewältigen. Musiker sind schwer gefragt, und nun endlich lohnt sich Dorothys jahrelange Klavierausbildung. Zwar ist ihr Job schwerlich das, was man 1914 unter einer respektablen Tätigkeit für eine junge Frau aus der gehobenen Mittelschicht versteht, aber Dorothy ist das ziemlich egal. Nur endlich raus aus diesem öden Leben, das sie jahrelang geführt hat. Sie quartiert sich bei ihren Geschwistern ein und hofft darauf, dass das Leben endlich das ersehnte Abenteuer bringen möge.

Es ist ein Blick in die Zeitung, der sie diesem abenteuerlichen Leben ein Stückchen näher bringt. Sie entdeckt, dass die Stadt neben dem Tanzen noch einer anderen neuen Mode frönt: »Light Verses«, kleine witzige oder satirische Gedichte, kurz, knapp und prägnant, mit überraschendem Ende, die viel transportieren für den, der zwischen den Zeilen lesen kann. Die Zeitungen sind voll davon. Es scheint, als bestünde ganz New York aus Dichtern. Jeder dichtet und reimt in der Hoffnung auf eine Veröffentlichung in einer der großen Zeitungen. Auch Dorothy versucht sich nun darin. Als Versform wählt sie einen Kreuzreim, reimt erste und dritte Zeile jedes Vierzeilers und gibt sich große Mühe, die richtige männliche oder weibliche Endung zu finden. Wie viele Gedichte sie tatsächlich schreiben muss, ehe das erste veröffentlicht wird, bleibt im Dunkeln. Im Herbst 1914 jedoch verfasst sie das Gedicht, das den Beginn ihrer Karriere als Schriftstellerin einläutet. Sie verarbeitet darin Beobachtungen über die Damen der Upper-Class, die sie während ihrer Zeit im Sommerhaus der Familie in West End gemacht hat: »Ich würde Mrs. Brown nicht eine Schlampe nennen, sie ist unmoralisch, meine Liebe, aber kein schlechter Kerl.«50

Mit wenigen gezielten Worten skizziert sie das in ihren Augen völlig sinnentleerte Leben dieser Frauen. Ein Leben an der Seite eines erfolgreichen Mannes, das sich abspielt zwischen Golf, Tennis und Nachmittagstee, ohne Aufgabe und eigene Meinung, dafür mit Diäten, Partys und Mode. Sie hat ihr Feindbild gefunden. Zeitlebens wird sie solche Frauen verachten und verspotten, und das mit einer solchen Vehemenz, dass man sich fragt, ob sie Angst vor diesen Frauen hatte, die so ganz anders waren als sie selbst. In ihren Gedichten und Kurzgeschichten begegnet man ihnen auf Schritt und Tritt, und sie sind allesamt unsympathisch – vielleicht noch unsympathischer als die Mütter und Väter in ihren Geschichten. Dem Versmaß ihres ersten Gedichts, dem Kreuzreim, wird sie treu bleiben, eher selten verfasst sie Gedichte mit Stabreim am Ende.

Sie nimmt all ihren Mut zusammen und schickt das Gedicht an die Zeitschrift Vanity Fair, das neue Magazin von Verleger Condé Nast. Dort würde sie nur zu gern veröffentlichen, die Zeischrift und ihr Chefredakteur Frank Crowninshield genießen einen exquisiten Ruf. Thematisch gibt es bei Vanity Fair keine Tabus. Hier kann man über alles schreiben, solange man es in Abendgarderobe tut.51 Denn auch bei weltpolitischen Ereignissen wie der Oktoberrevolution, der Abdankung von Monarchen oder der Einführung des Frauenwahlrechts darf niemals der Hinweis auf Abendgesellschaften, klassische Literatur oder moderne Malerei fehlen. Zudem darf man sich als Autor nicht daran stören, dass Weltpolitik zwischen Poloergebnissen und Gesellschaftsklatsch besprochen wird. Vanity Fair misst allen Artikeln dieselbe Bedeutung bei, solange sie dem Anspruch und Stil der Zeitschrift entsprechen. So druckt man einmal einen kompletten Artikel in Französisch ab, um dem Leser zu signalisieren, was von ihm erwartet wird. Trotz dieser versnobten Attitüde ist die Zeitschrift ein beispielloser Erfolg. Es gibt in ganz Amerika keine Zeitschrift, die mehr Annoncen verkauft als Vanity Fair. Frank Crowninshield mit seiner Vorliebe für Theater, Kunst, Literatur und Musik ist der ideale Mann an der Spitze. Ihm verdanken die Amerikaner, erstmals von Pablo Picasso und Henri Matisse, Aldous Huxley und T. S. Eliot zu hören.52Vanity Fair ist das Sprachrohr einer neuen intellektuellen urbanen Elite, zu der Dorothy nur zu gerne gehören würde.

Die Zeichen dafür stehen nicht schlecht. Crowninshield gefällt ihr Gedicht. Der positiven Rückantwort liegt ein Scheck über 12 Dollar bei. Dorothy nimmt dies als gutes Omen und beschließt, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Sie schlüpft in ihr schickstes Kleid, setzt einen ihrer überdimensionalen Hüte auf und marschiert schnurstracks zum Verlagsgebäude des Condé-Nast-Verlages in die 44. Straße. Hier fragt sie sich bis in das Büro von Frank Crowninshield durch, der sie tatsächlich empfängt. Sie macht ihm weis, dass »Any Porch« das erste Gedicht sei, das sie je geschrieben habe, und dass es doch eine Schande sei, dass ein solches Naturtalent sein Leben in einer Tanzschule friste. Es sei in ihrer beider Interesse, sie umgehend einzustellen. Crowninshield, ein korrekter, etwas steifer Ostküstenamerikaner ohne Fehl und Tadel, ist von ihrem Auftritt ein wenig überrascht, doch offensichtlich angetan.53 Er bittet sich Bedenkzeit aus, bietet ihr jedoch nach einigen Wochen tatsächlich einen Posten bei der Vogue, dem Schwestermagazin von Vanity Fair, an. Für 10 Dollar wöchentlich soll sie Bildunterschriften zu Modefotos formulieren. Das ist zwar nicht ganz das, was Dorothy sich erhofft hat, aber immerhin. Zudem residiert Vogue auf dem gleichen Stockwerk wie Vanity Fair, und so ist sie ihrem Ziel zumindest räumlich schon näher gekommen. Und was nicht ist, kann ja noch werden. Dorothy ergreift ihre Chance und sagt zu. Sie reduziert ihre Stunden in der Tanzschule und bezieht ein neues Apartment: »Ich kam mir vor wie Edith Sitwell. Ich wohnte in einer Pension an jener Ecke, wo die 103. Straße mit dem Broadway zusammentrifft, und zahlte 8 Dollar die Woche fürs Zimmer, Frühstück und Abendessen eingerechnet.«54

Von ihrem neuen Apartment aus macht sie sich auf, New York literarisch zu erobern und Edith Sitwells Ruhm in nichts nachzustehen.

It costs me never a stab nor squirmTo tread by chance upon a worm.›Aha, my little dear,‹ I say,›Your clan will pay me back one day.‹55

II.

Vogue und Vanity Fair

oder Mrs. Parkers Auftritt auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten

Die 1892 gegründete Vogue ist bis heute eines der wichtigsten Organe der Modeindustrie. Was ihre Redakteure schreiben, entscheidet über Wohl und Weh ganzer Imperien. Die heutige Chefredakteurin der amerikanischen Vogue Anna Wintour ist die einflussreichste Frau im Modezirkus und spätestens seit der Hollywoodkomödie »Der Teufel trägt Prada« selbst Modemuffeln ein Begriff.

Anna Wintour steht in der Tradition einer sagenhaften Vorgängerin, die aus Vogue die einflussreichste Modezeitschrift der Welt machte. Als Dorothy bei Vogue anfängt, steht an der Spitze der Zeitschrift eine Frau, die gefürchtet ist wie keine zweite: Edna Woolman Chase. Das strenge Regiment der von 1914 bis 1952 als Chefredakteurin fungierenden Woolman Chase ist legendär. »Mode kann man kaufen«, pflegt sie zu sagen, »Stil hat man.« Diesem Diktum sind nicht nur die Büroräume der Vogue unterworfen, die den Ausstellungsräumen eines eleganten Einrichtungshauses gleichen, sondern auch die Mitarbeiterinnen. Pflicht sind Hüte, weiße Handschuhe und schwarze Seidenstrümpfe. Verboten sind offene Schuhe, Untätigkeit und Privatgespräche. Für Vogue zu schreiben, ist eine Ehre, der man sich stets bewusst sein sollte. Einmal hatte eine Redakteurin versucht, sich das Leben zu nehmen, indem sie sich vor die U-Bahn warf. Nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenstand wurde sie von Edna Woolman Chase in ihr Büro gebeten und dort darüber aufgeklärt, dass eine Mitarbeiterin der Vogue niemals so instinktlos sein dürfte, der New Yorker Stadtreinigung derartige Mühe zu bereiten, sondern im Fall der Fälle diskret auf Schlaftabletten zurückgreifen würde.56

Anfang 1915 betritt Dorothy zum ersten Mal die üppig dekorierten Empfangsräume der Vogue, die sie unwillkürlich an den Eingang in ein Bordell erinnern. Die versnobte Atmosphäre ist wie geschaffen, um ihren Widerspruchsgeist zu wecken: »Die Redakteure waren comme il faut: elegant und weltmännisch; die meisten Mannequins aber waren genauso, wie sie sich Bram Stokers Phantasie ausmalte. Und die Texter – mein alter Job also –, die empfahlen Nerzkappen für Golfschläger, 75 Dollar das Stück. ›Für den Freund, der sonst alles schon hat.‹ Ein zivilisatorischer Höhepunkt, nicht wahr?«57

Ihre literarischen Ambitionen werden hier auf eine harte Probe gestellt. Die Zeitung ist eher ein Bildband, es dominieren Fotos und Anzeigen – der Text ist Nebensache. Dorothy ist dazu auserkoren, Bildunterschriften zu verfassen, die das jeweilige Produkt bewerben. Dies tut sie in der ihr eigenen Art, geistreich und mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. So schreibt sie unter eine Fotostrecke mit Damenwäsche, in Anlehnung an Polonius’ berühmte Worte aus Shakespeares »Hamlet«: »Die Wäsche zur diesjährigen Herbstmode beweist, in der Kürze liegt die Würze – wie schon der Unterrock zum Unterkleid sagte.«58 Vielen ihrer Bildunterschriften ist deutlich anzumerken, wie albern sie den oberflächlichen Modemarkt findet. Die elegante Leserin der Vogue sieht sich von nun an mit Sätzen konfrontiert wie: »Das absolut richtige Kleid für Miladys Spritztour!« oder: »Dieses rosa Kleidchen wird Ihnen ganz sicher einen Verehrer bescheren!«59 Edna Woolman Chase erinnert sich mit gemischten Gefühlen an ihre neue Mitarbeiterin: »1915 verstärkte eine kleine, dunkelhaarige Elfe, mit honigsüßer Stimme, aber beißendem Spott unser Team. Ihr Name war Dorothy Rothschild, und sie war eingestellt worden, um Bildunterschriften und Artikel zu schreiben. Sie verfasste einen Text, betitelt ›Interior Desecration‹, und mehr als ein Inneneinrichter musste tief durchatmen und bis zehn zählen, ehe er seine Gefühle darüber zum Ausdruck bringen konnte.«60 Niemand hatte bemerkt, dass Dorothy in der Überschrift ihres Textes »Interior Desecration«, in dem sie das überladene und geschmacklose Interieur einer Villa samt extravagantem homosexuellen Innenausstatter beschreibt, anstelle des Wortes »Decoration« für Dekoration, »Desecration« für Schändung benutzt hatte.61 Für die Redakteure der Zeitschriften, für die sie im Laufe ihres Lebens schreiben wird, bleibt es eine stete Herausforderung, ihre Artikel zu redigieren und die hintergründigen Gemeinheiten herauszustreichen.

Unter das Foto eines leicht bekleideten Mannequins in einem sündhaft teuren Negligé schreibt Dorothy voll Vergnügen: »Es war einmal ein kleines Mädchen, dem fiel ein kleines Löckchen mitten in die Stirn. Wenn sie artig war, war sie sehr sehr artig, und wenn sie unartig war, dann trug sie dieses göttliche rosa Seidennachthemd, besetzt mit duftiger Valenciennesspitze.«62 Allein schon die zarte Andeutung, dass die Vogue-Leserin Sex hat, genügt 1915, um Ohnmachtsanfälle zu verursachen. Nur in letzter Minute entdeckt der verantwortliche Redakteur diese Ungeheuerlichkeit und verhindert so das Schlimmste.

Obwohl Dorothy alles tut, um sich unbeliebt zu machen, verkennt Edna Woolman Chase ihr Talent nicht. 1916 veröffentlicht die Vogue das Gedicht »The Lady in Back«. Darin beschreibt Dorothy, dass sie in Kino, Theater oder Oper immer eine Sitznachbarin hat, die nicht nur alles bereits im Voraus weiß, sondern dies freundlicherweise auch ungefragt lautstark mitteilt. Und sie fragt sich, warum diese Frau nie hinter jemand anderem sitzen kann.63

Doch auch wenn ihr Woolman Chase sogar die Veröffentlichung von Aufsätzen anbietet, geht Dorothy die gespreizte Affektiertheit der Vogue-Redakteurinnen samt Leserinnen gehörig auf die Nerven. Sätze wie jener, den sie im Waschraum aufschnappt, sind Wasser auf ihre Mühlen: »Wie konnte Mrs. Astor nur glauben, dass Chinchilla passend sei für eine Beerdigung?«64

In den insgesamt sechs Artikeln, die sie für Vogue verfasst, nimmt sie dieses Getue meisterhaft auf die Schippe: »Wenn eine Frau einen Schrank vollgestopft mit Bulldoggen hat und plötzlich kommen Scottish Terrier in Mode, was soll sie dann tun? Bedauerlicherweise kann man sie ja nicht umarbeiten lassen. Vielleicht könnte sie sie für die sprichwörtlichen sieben Jahre beiseite legen, bis sie wieder in Mode kommen. Oder sie könnte sie zusammen mit ihren abgelegten Kleidern an eine bedürftige Familie weitergeben. Oder aber sie könnte sie aufs Land schicken, wo sie nach der Saison ihre angeschlagenen Nerven kurieren können.«65

Ihre Abneigung gegen die Damen der High Society wächst mit jeder neuen Bildunterschrift. Sie mündet schließlich in einer Solidaritätserklärung