Wir brechen die 10 Gebote und uns den Hals - Michaela Karl - E-Book

Wir brechen die 10 Gebote und uns den Hals E-Book

Michaela Karl

4,9

Beschreibung

Das Glamourpaar der wilden Zwanziger. Er gab einer Epoche ihren Namen. Sie war die Hauptfigur in all seinen Romanen. Zusammen waren sie das Traumpaar der Jazz-Ära und der "lost generation": Erfolgsautor F. Scott Fitzgerald und seine Frau Zelda forderten das Leben heraus, suchten das Glück und endeten in Verzweiflung. Reich und erfolgreich, berüchtigt für ihre verrückten Kapriolen und ihren exzessiven Alkoholgenuss in New York, Paris und an der französischen Riviera waren sie das Idol einer Generation. Doch die Schönen wurden zu Verdammten: exaltierter Lebenswandel, Schaffenskrisen und psychische Probleme führten zum Absturz. Der Mythos aber lebt ... Michaela Karl zeichnet in dieser Biografie das faszinierende Bild einer Epoche und zweier Menschen, deren Leben Literatur wurde.

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MICHAELA KARL

»Wir brechen die 10 Geboteund uns den Hals«

ZELDA UND F. SCOTT FITZGERALD

Residenz Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2012 Residenz Verlag

im Niederösterreichischen Pressehaus

Druck- und Verlagsgesellschaft mbH

St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:978-3-7017-4289-9

ISBN Printausgabe:978-3-7017-3257-9

In memoriam

meiner geliebten Mutter

Christl Karl

(1946–2007)

Für Carmen

SCOTT: »So um 1921 herum waren wir wahrscheinlich das

am meisten beneidete Paar in ganz Amerika.«

ZELDA: »Wir waren verdammt gute Schauspieler.«1

Inhalt

Prolog: Gar gekocht in Veuve Clicquot

I. »In einem Haus unter dem Durchschnitt,in einer Straße über dem Durchschnitt«Ein Junge aus dem Mittleren Westen

II. »Die letzte Schöne des Südens«Eine Ballkönigin aus Alabama

III. »Ich habe in der Tat die Heldin meiner Romane geheiratet«Ein Offizier und ein Wirbelwind

IV. »Kein Boden unter den Füßen«Ein Alb-Traum-Paar erobert New York

V. »Wir suchten die Alte Welt auf (…) in der ernsthaftenÜberzeugung, dass wir unser altes Ich für alle Zeitenüber Bord geworfen hatten«Eine verlorene Generation in Europa

VI. »Wir haben uns jeder selbst ruiniert«Ein Glamourpaar im Rosenkrieg

VII. »Du wurdest verrückt und nanntest es Genie«Ein verdammtes Schlamassel

VIII. »Für eine von Nacht umfangene Seele ist es immerdrei Uhr morgens«Ein Niedergang vor Publikum

IX. »Jetzt, da das Glück verweht ist und die Heimat verloren«Ein Romancier in Hollywood

X. »Wir waren dazu bestimmt, uns als Helden zu begreifen«Ein Salamander und ein Phönix

Epilog: Der zweite Akt

Anmerkungen

Literatur

Textnachweis

Bildnachweis

Personenregister

»Es gibt alle Arten von Liebe auf der Welt,

aber niemals die gleiche Liebe zweimal.«

F. SCOTT FITZGERALD2

Prolog

Gar gekocht in Veuve Clicquot

Ich muss Ihnen ein Geständnis machen. Ich bin verliebt in zwei Verrückte, die in Abendgarderobe leere Champagnerflaschen die Fifth Avenue hinunterkullern ließen. Die auf der Motorhaube von Taxis sitzend durch Manhattan sausten und in Hoteldrehtüren Karussell fuhren. Die den Champagnerumsatz in New York und an der französischen Riviera in schwindelerregende Höhen trieben und sich bei Gelegenheit auch mal die Kleider vom Leib rissen – was niemanden störte, denn sie waren zwei außergewöhnlich schöne Menschen.

Ja, ich bin verliebt in Zelda und F. Scott Fitzgerald. Und meine Zuneigung wächst in dem Maße, in dem Bücher über Moral, makrobiotisches Essen und Glücksversprechen die Buchhandlungen erobern. Dann doch lieber, wie F. Scott Fitzgerald in seinem Roman »Zärtlich ist die Nacht« schrieb: »gar gekocht in Veuve Clicquot«.3

Als Kind glaubte ich, F. Scott Fitzgerald sähe aus wie Robert Redford und käme in langen weißen Flanellhosen und mit einem strahlenden Lächeln immer gerade vom Tennisplatz. Das war lange, bevor ich »Der große Gatsby« zum ersten Mal las und F. Scott Fitzgerald mein Lieblingsautor wurde. Später lernte ich, dass meine kindliche Phantasie gar nicht so weit von der Realität entfernt war, hielten ihn doch viele seiner Zeitgenossen für den bestaussehenden Mann, dem sie je begegnet waren. F. Scott Fitzgerald war Stilikone und Popidol, umschwärmt und bewundert wie ein Filmstar und ganz nebenbei der größte Trinker unter den amerikanischen Schriftstellern. Und dazu gehört einiges, denn Abstinenz war innerhalb dieser Berufsgruppe nicht sehr weit verbreitet.

F. Scott Fitzgerald war der golden boy der 1920er Jahre, die er mit dem Begriff »Jazz-Ära« belegte und einer Epoche damit ihren Namen gab. Er war Chronist und herausragendster Exponent einer Zeit, die eine andere Art von Helden hervorbrachte. Helden, die nach dem Desaster des Ersten Weltkrieges nicht mehr aus Politik und Militär kamen, sondern aus Musik, Literatur, Sport und Abenteuer. Baseballspieler wie Babe Ruth, Schauspieler wie Rudolph Valentino, Musiker wie Louis Armstrong, Komponisten wie George Gershwin, wagemutige Piloten wie Charles A. Lindbergh und nicht zuletzt Schriftsteller wie F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway und William Faulkner waren die Helden eines neuen Amerikas.

F. Scott Fitzgeralds Aufstieg zum glamourösesten Schriftsteller seiner Zeit hängt maßgeblich mit den Umwälzungen zusammen, welche die 1920er Jahre des letzten Jahrhunderts mit sich brachten. Die USA waren die einzige Nation, die gestärkt aus dem Ersten Weltkrieg hervorging. Nach dem Sieg gaben sie ihre isolationistische Politik auf und gefielen sich in ihrer neuen Rolle als Supermacht. Allerdings hinterließ dieser Sieg bei der Generation, die den Krieg ausgefochten hatte, ein zwiespältiges Gefühl. Die jungen Leute, zu denen auch Fitzgerald gehörte, hatten für die Freiheit und gegen ein korruptes altes Europa gekämpft und auf dem Schlachtfeld den Untergang ihrer Ideale erleben müssen. Nach ihrer Rückkehr warfen sie desillusioniert alle moralischen Skrupel über Bord und widmeten sich fortan einzig dem Vergnügen. Der Krieg hatte hedonistische Zyniker mit unstillbarem Lebenshunger geboren, für die die Werte der Gründerväter keine Bedeutung mehr hatten.

Die 1920er Jahre waren die Jahre des Börsenbooms und des schnellen Geldes. Das politische Selbstbewusstsein der USA spiegelte sich in einem scheinbar grenzenlosen Wirtschaftswachstum wider. Die moderne Konsumgesellschaft löste die puritanische Gesellschaft ab, in der Sparsamkeit und Askese an oberster Stelle gestanden hatten. Geld und Luxus waren die Götter dieses neuen Amerikas. Dies ist die wahre Geburtsstunde des American way of life, jener uramerikanischen Art, das Leben zu sehen und jenseits des alten Europas einen eigenen Weg zu beschreiten. Bis zum Schwarzen Freitag im Oktober 1929 schien absolut alles möglich. Es ist die Zeit, in der sich die USA auch kulturell von Europa emanzipieren und Schriftsteller wie Ernest Hemingway, William Faulkner, John Dos Passos oder Thomas Wolfe, die der Konsumgesellschaft kritisch gegenüberstanden, eine eigenständige amerikanische Literatur begründen.

Die 1920er Jahre wurden zum Jahrzehnt der Jugend erklärt, und F. Scott Fitzgerald und seine Frau Zelda zu ihrem König und ihrer Königin. Denn dass der Gralsritter der New Yorker Nachtclubs das schönste Mädchen des Südens geheiratet und an seiner Seite nun eine ebenso kluge wie aufregende Frau hatte, machte die beiden zum Traumpaar der Roaring Twenties. Und dass sich ihr spektakuläres Eheleben in aller Öffentlichkeit abspielte, machte sie zu den erklärten Lieblingen der Klatschpresse. Bereits Anfang der 1920er Jahre hatte Zeitungszar Randolph Hearst zwei Reporter beauftragt, das Paar rund um die Uhr zu begleiten und minutiös über alles zu berichten, was die beiden anstellten. Und das war eine ganze Menge. Dass F. Scott Fitzgerald neben all den Skandalen, die er lieferte, einer der bedeutendsten Schriftsteller seines Jahrzehnts war, ging darüber fast unter. Dabei gelang es ihm wie keinem Zweiten, das Lebensgefühl der 1920er Jahre einzufangen und sehr wohl auch die zerstörerische Seite zu zeigen, die dem amerikanischen Traum innewohnte.

Die wahnsinnige Liebesgeschichte der Fitzgeralds fand Eingang in Artikel, Biografien, Romane und Essays, die ich von jeher mit größter Neugierde verschlang. Dabei fiel mir auf, dass es von Anfang an zwei Lager gab, die sich unversöhnlich gegenüberstanden. Da waren die, die für Zelda Partei ergriffen und Scott für das grausame Schicksal seiner Frau verantwortlich machten. Dieses Lager wurde vor allem mit der zweiten Welle der Frauenbewegung in den späten 1960er Jahren immer größer. Auf der anderen Seite standen all diejenigen, die in Zeldas Lebenshunger und Egoismus die Schuld für Scotts Tragödie suchten. Dazu gehörten viele ihrer Freunde und Zeitgenossen.

In den letzten Jahren bekam das Zerrbild von F. Scott Fitzgerald, dem Unterdrücker und Tyrannen, neue Nahrung. Das Genre der Romanbiografie nahm sich Zeldas Geschichte an und schilderte mit dichterischer Freiheit ihren Absturz um einiges dramatischer, als dieser ohnehin gewesen war. Ich las es mit Befremden. Natürlich ist mir bewusst, wie viele Genies ausgesprochene Unsympathen waren. Doch F. Scott Fitzgerald wird von Zeitgenossen übereinstimmend als sensibler und loyaler Mann beschrieben. Konnte ein Mann, dessen Sprache so fein, so poetisch war, ein solches Scheusal sein? Es fiel mir schwer, das zu glauben; doch ich kenne die unzähligen Beispiele unterdrückter weiblicher Kreativität zu gut, um das in Zeldas Fall als Humbug abzutun. Ich beschloss, mir selbst ein Bild von der Situation zu machen und zu hören, was die beiden Hauptdarsteller dieses Dramas zu ihrer Verteidigung zu sagen haben. Wer, wenn nicht sie, konnten mir die Frage beantworten, die mir auf der Seele brannte: Wer hat hier wen zugrunde gerichtet?

Und so begab ich mich auf eine lange Reise, zurück in eine Zeit, in der Männer noch Brooks-Brothers-Anzüge und Pomade im Haar trugen. In der Alkohol verboten und ein Rock, der über dem Knie endete, ein Novum waren. In der ein Bubikopf als Skandal und ein separater Bühneneingang für schwarze Künstler als normal galten. In der Jazz die Musik der rebellierenden Jugend war und die Menschen auf mächtigen Ozeandampfern den Atlantik überquerten.

Es wurde für mich eine Reise kreuz und quer durch Nordamerika: von New York über Minnesota nach Alabama und von dort aus weiter nach Los Angeles. Unterschiedlichere Landschaften und Menschen kann man sich kaum vorstellen, und doch haben sie alle das Leben der Fitzgeralds beeinflusst. Zelda und F. Scott Fitzgerald zu folgen ist nicht schwer, haben sie doch ihr Leben in Romanen, Kurzgeschichten und Artikeln exakt beschrieben, ja ihre Protagonisten sogar oft unter denselben Adressen untergebracht, unter denen sie selbst lebten. F. Scott Fitzgerald führte ein Kontobuch, in dem er Jahr für Jahr alles, was passierte, akribisch notierte, um dann doch irgendwann den Überblick über sein Leben komplett zu verlieren. Mir half es dabei, einen Überblick zu gewinnen, über sein Schaffen, sein Leiden, seine finanziellen Verhältnisse, seine Erfolge und Niederlagen, seine Freunde und Gegner, seine Aufenthaltsorte, Krankheiten und nicht zuletzt über sein Leben mit Zelda. In seinen Texten hat F. Scott Fitzgerald mir verraten, dass Irving Berlin sein Lieblingskomponist war, Charlie Chaplins Film »Der Pilger« sein Lieblingsfilm und »Der Held der westlichen Welt« von John M. Synge sein bevorzugtes Theaterstück. Dass er die englischen Romantiker George Byron und Percy Shelley liebte und John Keats sein Lieblingsdichter war, war nicht schwer herauszufinden. Er trank gerne Bier, Coca-Cola und Gin und schrieb zeitlebens mit Bleistift. Dass er selten vor ein Uhr mittags aufstand und zwischen fünf Uhr nachmittags und halb vier Uhr morgens am produktivsten war, hat mich schwer beeindruckt. Er aß gerne Ente in Orangensauce und Pilzsuppe, und als kleiner Junge wollte er nichts Geringeres als der König der Welt werden. Ich begegnete einem Mann, der hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, einen Megaseller zu landen und damit reich und berühmt zu werden, und dem Anspruch, etwas von dauerhafter Qualität zu schreiben, und der an dem Versuch, beides zu vereinen, fast zerbrochen wäre. Der genau wie seine Romanhelden nach außen hin vor Selbstbewusstsein strotzte und doch tief in seinem Inneren durch die Ausbeutung seiner Seele Höllenqualen litt. Einem Mann, den seine Freunde für einen guten Menschen hielten und von dem Ernest Hemingway sagte, er habe keinen treueren Freund gehabt als Scott Fitzgerald – wenn er nüchtern war.4

Zelda berichtete mir von ihrem Traum, Primaballerina zu werden und ansonsten zu leben und zu lieben und zu sterben, wie es ihr beliebte. Von der Unmöglichkeit, mit einem Trinker und Träumer zu leben, von ihren Kämpfen um Eigenständigkeit und Selbstverwirklichung und wie wenig sie Ernest Hemingway leiden mochte. Mit den Fitzgeralds auf große Fahrt zu gehen, führt nicht nur in die Archive der altehrwürdigen Universität Princeton oder nach South Carolina zur größten Fitzgerald-Sammlung in den USA, sondern vor allem in die schönsten Städte der Welt, nach New York, Paris und London, zu Sommerhäusern, Stadtapartments und Hotelzimmern in Südfrankreich und den Hamptons auf Long Island. Die Fitzgeralds sind dabei der beste Reiseführer, haben sie doch beinahe jedes Hotel, in dem sie abgestiegen sind, literarisch verewigt. Sie hatten stets einen Hang zu Luxushotels, egal wie knapp sie bei Kasse waren. Ich denke, sie wären wenig begeistert, wenn sie wüssten, dass ihr New Yorker Hauptquartier, das Plaza Hotel, heute statt aus Suiten vor allem aus den unvermeidlichen »Condos« für Superreiche besteht. Dass an der Stelle, an dem das legendäre Garden of Allah Hotel in Hollywood stand, heute ein McDonald’s ist und das Beau Rivage in Nizza statt mit Chesterfield-Sofas jetzt mit Designermöbeln protzt. Und darüber, dass das Anwesen auf Great Neck, das Fitzgerald einst zu seinem Jahrhundertroman »Der große Gatsby« inspirierte, 2011 von Baggern platt gemacht wurde, um den Grund zu parzellieren und teuer zu verkaufen, hätten sie sich wahrscheinlich ebenso empört, wie es die New York Times tat.

In Hunderten von Briefen haben Zelda und F. Scott Fitzgerald dokumentiert, wie viel ihnen dieses gemeinsame Leben abverlangte und was sie dazu trieb, Entscheidungen zu fällen, die ihnen die Nachwelt heute zum Vorwurf macht. Auch in ihren literarischen Texten beschrieben sie ihr Leben, ließen ihre Figuren aber auch Dinge tun und sagen, zu denen sie sich in der Realität außerstande sahen. Ihre Geschichten waren immer auch Nachrichten an den andern. Es war ihre Art, miteinander zu kommunizieren, auf Verletzungen hinzuweisen und Warnungen auszusprechen, keine weitere Grenze zu überschreiten. Dass sie diese Warnungen allesamt ignorierten und rast- und rücksichtslos weitermachten, führte schließlich dazu, dass aus Hotelbetten Klinikbetten wurden und aus Hausangestellten Krankenschwestern. Pietro Citati schrieb in seinem Essay über das Paar: »Zelda und Scott Fitzgerald waren sich zu nah, so nah, wie Menschen einander selten sind; und das Übermaß an Nähe zwischen Göttern und Menschen, wie zwischen Männern und Frauen, verbrennt die Herzen und die Leben. (…) Sie waren ein und dieselbe Person, mit zwei Herzen und zwei Köpfen; und diese Herzen und Köpfe wandten sich leidenschaftlich zueinander, gegeneinander, bis sie in einem einzigen Feuer brannten.«5

Zelda und F. Scott Fitzgerald waren zwei Seiten einer Medaille. Nichts und niemand hätte sie aufhalten können. Sie standen einander in nichts nach, nicht an verrückten Ideen, nicht an Egozentrik, nicht an Kreativität. Hätten sie gewusst, wie alles enden würde, hätten sie wohl dennoch keinen Tag anders gelebt. Ihre Tochter Scottie hat einmal über sie gesagt: »Ich glaube, in den Jahren, in denen sie glücklich waren, haben sie sich mehr amüsiert und mehr erlebt als die meisten Leute in ihrem ganzen Leben. Und für diese Qualität ihres Lebens mussten sie eben mit einem frühen Tod bezahlen.«6

* * *

Ich bin mittlerweile an der französischen Riviera angekommen. Juanles-Pins ist das Ende meiner Reise. Ein letztes Mal noch packe ich die Koffer aus. Hier im Hotel Belles Rives haben die Fitzgeralds 1926 einen Sommer lang gelebt. Damals war es noch kein Hotel; heute hängen ihre Fotos in der Lobby. Es ist der letzte Abend meiner Reise auf den Spuren von Zelda und F. Scott Fitzgerald und ihrem verrückten Leben und ich werde mir heute ein Glas Champagner genehmigen und auf sie anstoßen. Aus der Bar »Fitzgerald« klingt Musik. Der Mann am Klavier spielt Cole Porter. Welche Nummer? Na was wohl: »Anything goes« – Alles ist erlaubt!

Hotel Belles Rives, Juan-les-Pins, im Januar 2012

»Ich möchte einer der größten Schriftsteller

aller Zeiten werden. Du nicht?«

F. SCOTT FITZGERALD ZU EDMUND WILSON7

I.

»In einem Haus unter dem Durchschnitt, in einer Straße über dem Durchschnitt«

Ein Junge aus dem Mittleren Westen

»Es gehört zu meinen lebhaftesten Erinnerungen, wenn ich zur Weihnachtszeit von der Schule und später vom College in die Ferien nach Hause fuhr. Wenn wir (…) in den Winterabend hinausfuhren, die trüben Lichter kleiner Wisconsin-Bahnhöfe an uns vorbeisausten und der wirkliche Schnee, unser heimatlicher Schnee, sich zu beiden Seiten auf den Feldern hinbreitete und in Flocken am Coupéfenster glitzerte, dann spürte man plötzlich ein scharfes wildes Ziehen in der Luft. Wir atmeten sie in tiefen Zügen, wenn wir vom Speisewagen über die offenen Plattformen zu unserem Abteil zurückgingen. Das waren die Stunden, in denen uns das Gefühl unsäglichen Einsseins mit diesem Lande seltsam überkam, ehe wir dann wiederum unauffällig mit ihm verschmolzen. Das ist mein Mittelwesten – nicht die Weizenfelder, die Prärien oder die verstreuten Schwedenstädtchen, sondern die erregenden Heimkehrzüge meiner Jugend, die Straßenlaternen und Schlittenglöckchen in der frostigen Dunkelheit und die Schatten der Weihnachtskränze vor den erleuchteten Fenstern im Schnee. Mit alledem fühle ich mich verbunden.«8

So romantisch verklärt wie in seinem Erfolgsroman »Der große Gatsby« betrachtete F. Scott Fitzgerald seine Kindheit im Mittleren Westen nicht immer. Als Heranwachsender wollte er nichts wie weg aus St. Paul, Minnesota, wo er am 24. September 1896 geboren wurde. Grover Cleveland, der einzige Präsident der USA, dessen zwei Amtszeiten nicht unmittelbar aufeinander folgten, ist gerade zum zweiten Mal Präsident und St. Paul, obgleich die Hauptstadt des 1858 gegründeten Bundesstaates Minnesota, für Scott tiefste Provinz. Es ist das Land der 10 000 Seen, das Land von Laura Ingalls Wilder, die mit ihren Kindheitserinnerungen »Unsere kleine Farm« die Besiedlung des Westens für Generationen von kleinen Lesern greifbar gemacht hat. Während dieser Besiedlung war St. Paul dank seiner Lage am Mississippi zu einem wichtigen Handelsstützpunkt geworden. Das Land, den Ureinwohnern abgeluchst, hatte sich rasch entwickelt. Der letzte Aufstand der Indianer gegen die Siedler 1862 war lang vergessen, die meisten Sioux waren im Reservat von Nebraska untergebracht. Als Scott geboren wird, gibt es in der Kleinstadt alle Arten von Schulen sowie zahlreiche Theater und Museen. Ihren wirtschaftlichen Höhepunkt hatte sie erlebt, als Eisenbahnmagnat James J. Hill Ende der 1880er Jahre St. Paul zum Ausgangspunkt der Great Northern Railway machte, mit der der Nordwesten der USA erschlossen wurde. Seine Villa thront hoch über der Stadt, ein Palast mit allem erdenklichen Komfort wie Badezimmer, Speisenaufzug und elektrischem Licht.

Fitzgeralds Großvater mütterlicherseits, Philip Francis McQuillan, war einst dem Treck nach Westen gefolgt. 1843 war er als Neunjähriger mit seinen Eltern aus Irland in die Vereinigen Staaten gekommen. Mit 23 Jahren zog er von Illinois nach St. Paul, wo er es bald zu einem eigenen Kolonialwarengeschäft brachte. Der gläubige Katholik profitierte vom Aufschwung des Westens und hinterließ bei seinem frühen Tod 1877 seiner Frau nicht nur ein Privatvermögen von 266289,49 Dollar, sondern auch einen florierenden Großhandel. Dies ermöglichte der Witwe und ihren Kindern ein angenehmes Leben in einer gutbürgerlichen Umgebung sowie diverse Europareisen zur Vertiefung von Sprach- und Kulturkenntnissen. F. Scott Fitzgeralds Mutter Mary, genannt Mollie, geboren 1860, ist die älteste von fünf Geschwistern, die mit ihrer Mutter ein relativ zurückgezogenes Leben führten. Denn obwohl Philip McQuillan ein angesehener Geschäftsmann war, gehört die Familie beileibe nicht zur High Society von St. Paul. Mollie McQuillan vertreibt sich die Zeit zumeist mit einem Buch. Ansonsten wartet sie auf den richtigen Mann. Doch da sie weder sonderlich hübsch noch charmant ist, zerschlägt sich mehr als eine Hoffnung auf eine gute Partie. Kurz bevor ihr mit 29 Jahren der Stempel der alten Jungfer aufgedrückt wird, heiratet sie am 12. Februar 1890 den 37-jährigen Edward Fitzgerald, Inhaber einer kleinen Firma für Korbmöbel.

Edward Fitzgerald wurde 1853 in Rockville, Maryland, geboren. Die gesamte Familie stand während des Bürgerkriegs offen auf Seiten der Konföderierten, seine Cousine Mary Surratt wurde wegen Verschwörung zur Ermordung Präsident Lincolns gehängt. Eine Geschichte, für die sich Scott weniger erwärmen konnte als Robert Redford, der 2011 ihren Fall in dem von der Kritik hoch gelobten Film »Die Lincoln Verschwörung« in die Kinos bringt. Edward Fitzgerald selbst lotste während des Krieges Spione durch feindliches Gebiet. Nach Ende des Sezessionskrieges ging er nach St. Paul, um hier sein Glück zu machen. Edward Fitzgerald ist ein vornehmer Südstaatler, immer gut gekleidet und mit perfekten Manieren. Dass er geschäftlich ein Versager ist, bleibt der glücklichen Braut vorerst verborgen. Denn dass dieser attraktive Mann ausgerechnet sie erwählt hat, beeindruckt die unscheinbare Mollie so sehr, dass sie zu spät erkennt, wie antriebslos er eigentlich ist. In den ersten Jahren ihrer Ehe sind Mollie und Edward dennoch sehr glücklich. Zwei Töchter komplettieren dieses Glück. Doch dann schlägt das Schicksal grausam zu. Die Töchter Louise und Mary sterben 1896 an einer Epidemie. Nur wenige Monate danach wird Francis Scott Key Fitzgerald geboren. Der Verlust der beiden Mädchen führt dazu, dass das Baby, das am Nachmittag des 24. Septembers in der Laurel Avenue 481 das Licht der Welt erblickt, innerhalb der Familie einen hohen Stellenwert hat: »Drei Monate, bevor ich geboren wurde, verlor meine Mutter ihre beiden Kinder und ich denke, damit hat alles angefangen, obwohl ich nicht genau weiß, wie es sich exakt vollzogen hat. Ich glaube aber, damals habe ich angefangen, ein Schriftsteller zu werden«, wird Scott später in einem Interview sagen.9

Das über zehn Pfund schwere Baby wird nach dem berühmtesten Vorfahren seines Vaters benannt: dem Schöpfer der amerikanischen Nationalhymne »The Star Spangled Banner«, Francis Scott Key. Allerdings ist diese Verwandtschaft viel weitläufiger, als Scott dies später gerne darstellt: Philip Key, der Urgroßvater von Francis Scott Key, ist der Ururururgroßvater des kleinen Scotts, der sich selbst als Mischung aus finsterstem Irland und altem Amerika sehen und in dieser Mischung aus Tradition und schnellem Geld einen »zweizylindrigen« Minderwertigkeitskomplex entwickeln wird: »Wenn ich morgen zum König von Schottland gewählt werden würde, nachdem ich Eton und Magdalen College abgeschlossen habe, mit einem Stammbaum, der mich als einen der Plantagenets ausweist, dann wäre ich immer noch ein Parvenü.«10 Was Scott rückblickend über seine Kindheit denkt, schreibt er in seinem »Ledger«, seinem Kontobuch, nieder, in dem er von seinem 14. Lebensjahr an bis 1937 über sein Leben, das private und das berufliche, Buch führt. Jahr für Jahr, beginnend und endend an seinem Geburtstag. So sollen seine ersten Worte, gesprochen im Juli 1897, gleich sein Lebensmotto beinhaltet haben: »nach oben«.11 Dass er fünf Monate später schwer an Bronchitis erkrankt, liest sich folgendermaßen: »Ein Spezialist wurde zu Rate gezogen. Da seine Empfehlungen jedoch nicht befolgt wurden, überlebte das Kind.«12 Auch dass die Familie nach dem Bankrott des Vaters kurze Zeit später St. Paul verlassen muss, nimmt Scott locker: »Nachdem er St. Pauls überdrüssig war, zog er gen Osten nach Buffalo, New York, und ließ sich mit seinen Eltern in Lennox nieder.«13 Sein Vater arbeitet nun als Seifenvertreter für Procter & Gamble. Im Januar 1900 bekommt Scott ein Schwesterchen, das kurz nach der Geburt stirbt, und auch ansonsten behält er den Jahrhundertwechsel in unangenehmer Erinnerung: »Er feierte das neue Jahrhundert, indem er einen Penny verschluckte und an Masern erkrankte. Beides wurde er wieder los.«14

Im März 1900 kommt Scott in die Vorschule. Bereits am ersten Tag veranstaltet er einen solchen Zirkus, weint und schreit so lange, bis ihn die Mutter wieder abmeldet, obwohl der Vater dagegen ist. Doch der kleine Charmeur im Matrosenanzug hat seine Mutter fest im Griff. Statt Vorschule folgt ein weiteres Jahr einer unbeschwerten Kindheit, die geradewegs aus Mark Twains »Tom Sawyer« stammen könnte. Er liefert sich Seifenkistenrennen mit seinen Freunden, wirft Steine nach den Botenjungen und feiert Kindergeburtstage. 1901 wird Edward Fitzgerald nach Syracuse versetzt, die Familie zieht erneut um. Unbehelligt von der Geburt seiner Schwester Annabel im Juli des gleichen Jahres ist der kleine Scott auch hier überall vorn dabei. Er liefert sich Boxkämpfe mit anderen Jungen und hält von der Pritsche eines Lastwagens aus flammende Reden ans Volk: »Freunde, Römer, Landsleute«. Bei einer Rauferei zieht ihm ein Nachbarsjunge mit dem Baseballschläger eins über, eine Narbe auf der Stirn wird ihn lebenslang daran erinnern. 1902 muss auch Scott in die Schule. Er entschließt sich zu bleiben und wird zum Klassenprimus, als es ihm gemeinsam mit einer Schulkameradin gelingt, das Wort »Katze« richtig zu buchstabieren. Der kleine Junge ist ein glühender Patriot und als Anhänger des amerikanischen Revolutionshelden Paul Revere Mitglied in der »National Society of Children of the American Revolution«. Folgerichtig reißt er als Sechsjähriger am 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag, von zu Hause aus: »Zur Strafe wurde mir der Hintern versohlt und ich konnte das Feuerwerk abends von der Veranda aus nur mit heruntergelassener Hose verfolgen.«15 Viel schwerer wiegt für ihn, dass zu seiner Geburtstagsparty im September keiner kommt. Ist er doch nicht so beliebt, wie er glaubt? Er wird es nicht mehr herausfinden, denn noch im selben Monat kehrt die Familie zurück nach Buffalo in eine Wohnung in Irving Place 29.

Hier besucht er nun die Schule im Holy Angels Convent. Begeistert ist er nicht. Mit seiner Mutter handelt er den Deal aus, jeweils nur einen halben Tag hingehen zu müssen und sich die jeweilige Tageshälfte selbst aussuchen zu dürfen. Zum ersten Mal erlebt er eine Theateraufführung. Er ist hellauf begeistert, beginnt die Szenen zu Hause nachzuspielen. Sein Gedächtnis ist fabelhaft, was sich auch später, als er Schriftsteller ist, immer wieder zeigen wird. Gewandet in Decken und Laken deklamiert Scott vor den Nachbarskindern. Am liebsten aber hält er sich in der Bibliothek auf: »Eines der großartigsten Ereignisse meines Lebens war, glaube ich, als ich zum ersten Mal ein Buch in Händen hielt. Es war nur ein Kinderbuch, aber es erfüllte mich mit den traurigsten und leidenschaftlichsten Emotionen.«16 Der Beginn einer lebenslangen Leidenschaft.

1905 zieht die Familie in eine der besseren Gegenden Buffalos, die Highland Avenue 71, in ein extravagantes, mit Schindeln gedecktes Haus mit Turm. Der Umzug bringt einen erneuten Schulwechsel mit sich: Miss Nardens katholische Privatschule für Knaben. Scott nimmt es sportlich, sieht es als Herausforderung, sich immer wieder neue Freunde suchen zu müssen. Zum Glück ist er nicht schüchtern. Dazu kommt, dass aus dem pummeligen Baby ein hübscher, feingliedriger Junge mit großen Augen geworden ist, die je nach Lichteinstrahlung grau, grün oder blau schimmern. Allerdings ist er mit seinen neun Jahren auch ein ziemlicher Klugscheißer, was Fragen wie »Mutter, wenn ich erst einmal ein großer Junge bin – darf ich dann alle jenen Dinge haben, die ich eigentlich nicht haben soll?«17 eindeutig belegen. Er sieht bereits eine glorreiche Zukunft für sich voraus. Zunächst einmal aber heißt es bei Miss Narden zu überleben, wo ihm die Lehrer, seiner Ansicht nach, nicht wohl gesonnen sind. Als er sich einmal hartnäckig weigert, Mexico City als Hauptstadt Mittelamerikas zu akzeptieren, wird er gar ins Direktorat gerufen und zu seiner großen Empörung völlig ungerechtfertigt gemaßregelt.

Seine Begeisterung für Bücher und die amerikanische Geschichte schlägt sich schon früh in ersten Schreibversuchen nieder. Zu gern würde er seine Texte im legendären Jugendmagazin St. Nicholas gedruckt sehen, das er geradezu verschlingt. Doch sein ehrgeiziges Projekt einer großen Historie der Vereinigten Staaten kommt über die Schlacht von Bunker Hill nicht hinaus. Nur wenig besser zurande kommt er mit einer Kriminalgeschichte, einer Variation des »Ivanhoe«, sowie einer Abhandlung über George Washington und den heiligen Ignatius von Loyola. Seine Eltern sorgen dafür, dass neben all der Schreiberei noch genügend Zeit für die Fahrt in ein Feriencamp nach Orillea, Ontario, bleibt, wo er leider selbstkritisch feststellen muss, wie hoffnungslos unbeliebt er ist. Der Sommer im Camp macht ihm klar, wie wichtig dagegen sportliche Erfolge sind: Er erkennt darin die schnellste Möglichkeit, sich Anerkennung, Ruhm und Ehre zu verschaffen. Sofort nach seiner Rückkehr wird er Mitglied einer Footballmannschaft, obwohl er sich bisher nie für Sport interessiert hat. Ein Spitzenspieler wird er nicht. Dafür bewahrt er immer Contenance, nie hört man ihn fluchen oder brüllen. Eine Art, die vor allem bei den Mädchen gut ankommt. Er ist der beliebteste, wenn auch nicht beste Tänzer in Mr. Van Arnums Tanzschule. Als Einziger erscheint Scott dort im schwarzen Anzug mit Abendschuhen. Bei der Polonaise macht er mit Kitty Williams seine erste Eroberung: »Am nächsten Tag erzählte sie Marie Lautz, dass ich in ihrem Herzen an dritter Stelle stehe. Marie erzählte es Dorothy Knox, die es ihrerseits Earl berichtete. Ich erinnere mich nicht, wer an erster Stelle stand, aber ich weiß, dass Earl Zweiter war, und da ich von ihrem Charme schon völlig überwältigt war, beschloss ich an Ort und Stelle, dass ich den ersten Platz erobern würde.«18 Erster zu sein ist eines der wichtigsten Dinge in seinem noch jungen Leben – und wird es für immer bleiben.

Das Jahr 1908 erlebt Scott als Einschnitt. Im März wird sein Vater bei Procter & Gamble entlassen: »Am Morgen hatte er als vergleichsweise junger Mann voll Kraft und Zuversicht das Haus verlassen. Am Abend kehrte er als alter Mann zurück, völlig gebrochen. Er hatte seine ganze Motivation, all seine Antriebskraft verloren. Er blieb ein Versager für den Rest seines Lebens.«19 In der ihm eigenen Dramatik sieht Scott sich und die Seinen schon im Armenhaus. Davon kann allerdings dank Mollies finanziellem Hintergrund keine Rede sein.

Geschlagen kehrt die Familie nach St. Paul zurück. Die Kinder kommen im Haus der Großmutter unter, die Eltern bei einem Freund. Erst im Herbst beziehen sie alle zusammen das Haus in der Holly Avenue 514. Edward versucht sich im Geschäft seines Schwagers als Vertreter im Lebensmittelgroßhandel, doch ohne die finanzielle Unterstützung seiner Schwiegermutter könnte er die Familie nicht ernähren. Kein Tag vergeht, an dem Mollie Scott nicht daran erinnert: »Wo wären wir bloß ohne deine Großmutter McQuillan?« Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich in der Stadt, dass Edward Fitzgerald sogar die Briefmarken auf seine Frau anschreiben lässt. Er wird beruflich nie wieder auf die Beine kommen und von der feinen Gesellschaft St. Pauls gemieden werden.

Scott liebt seinen Vater und schätzt dessen feine Manieren und den noblen Südstaatenhintergrund, doch das erneute Versagen seines Vaters im Geschäftsleben macht es ihm schwer, ihn zu bewundern. Ist er doch selbst voller Tatendrang. Die Lethargie seines Vaters ist ihm fremd. Jahre später wird er an seinen Agenten schreiben: »Sein eigenes Leben war, nach einem durchaus vielversprechenden Start in den 1870er Jahren, eine einzige Pleite. Er lebte stets in Mutters Schatten, und meine Erfolge dienen ihm jetzt als Ersatzbefriedigung.«20

Schon als kleiner Junge kann Scott sein wichtigstes Ziel im Leben benennen: dazugehören. Dazugehören zu den Reichen und Mächtigen. »Nach oben«, so lauteten seine ersten Worte, und die stehen unverrückbar auf dem Wegweiser, nach dem er sein Leben gestaltet.

Damit hat er die Richtung eingeschlagen, die seine Mutter ohnehin für ihn vorgesehen hat. Auch als Kompensation für das Versagen ihres Mannes konzentriert sich Mollie Fitzgerald voll und ganz auf ihren Sohn Scott. Aus dem Jungen soll etwas Großes werden. Dafür sind ihr keine Mühe und keine Ausgabe zu groß. Scott sieht immer aus wie aus dem Ei gepellt, seine Anzüge sind immer einen Tick zu elegant. Während seine Spielkameraden Plastrons tragen, hat er voller Stolz Seidenfliegen in verschiedenen Farben umgebunden und eine Eton-Mütze auf dem Kopf. Während sie Scott immer nach der neuesten Mode ausstaffiert, legt Mollie kurioserweise auf ihr eigenes Erscheinungsbild wenig Wert, kleidet sich vielmehr ausgesprochen unvorteilhaft. Ihr Haar ist so zerzaust und ihr Hut sitzt so windschief, dass manche Kinder sie für eine Hexe halten, wenn sie mit ihren viel zu langen Röcken über die Straße schlurft. Ein Eindruck, der sich durch ihr absonderliches Verhalten noch verstärkt. Sie gilt als extrem taktlos. Selbst die Nachbarn machen einen großen Bogen um sie, vermeiden geflissentlich jegliche Unterhaltung. Wer sich dennoch in ein Gespräch verwickeln lässt, kann sein blaues Wunder erleben. In der Straßenbahn trifft Mollie eines Tages eine Dame, deren Mann schwer krank ist. Nachdem diese sie anspricht, weil Mollie sie ungeniert von oben bis unten mustert, meint sie trocken: »Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie Sie in Trauerkleidung aussehen werden.«21 So gedankenlos sie gegenüber Fremden ist, so nachsichtig ist sie gegenüber Scott. Den liebt sie abgöttisch, verhätschelt ihn nach Kräften. Eine Erziehung mit Folgen. Er ist bald so eitel, dass die Nachbarsjungen sich weigern, mit ihm zu spielen. Nach außen hin gibt er sich unbeeindruckt: »Bis ich 15 war, wusste ich nicht mal, dass es außer mir noch irgendjemand anderen auf der Welt gab.«22 Doch in Wahrheit ist sein zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein nur Fassade. Kritik oder gar Ablehnung bringt ihn völlig aus dem Konzept. Eine kleine unfreundliche Bemerkung genügt, und er ist so verunsichert, dass er sich noch arroganter gibt als üblich. Mollie macht aus Scott einen Außenseiter, der, je mehr sich die anderen von ihm abwenden, um so verzweifelter versucht dazuzugehören.

Die übertriebene Fürsorge seiner Mutter ist ihm peinlich – beinahe noch peinlicher als ihr Benehmen und ihr vernachlässigtes Äußeres. Wie anders ist doch da sein kultivierter Vater, der das Haus nie ohne Spazierstock verlassen würde. Wäre da nicht sein berufliches Desaster, könnte der Vater durchaus als Vorbild durchgehen. Doch zu seinem großen Bedauern hat dieser zwar den richtigen Stammbaum, aber kein Geld, und bei seiner Mutter ist es genau umgekehrt. Scott verachtet seine Eltern und wird ihnen später eine große Mitschuld an seinem Scheitern geben: »Es ist wahrlich kein Wunder, dass ich durchdrehe. Mein Vater ist ein Schwachkopf und meine Mutter eine Neurotikerin, halb wahnsinnig mit pathologischen Angstzuständen. Miteinander haben und hatten sie nicht mal so viel Grips wie (US-Präsident – M.K.) Calvin Coolidge.«23 Weder Vater noch Mutter entsprechen Scotts Vorstellung von den passenden Eltern, und so beginnt er früh damit, sich einzureden, er sei ein Findelkind, höchstwahrscheinlich der Sohn eines großen Königs.

Im September 1908 kommt Scott auf die St. Paul Academy, eine konfessionsungebundene Privatschule für Knaben. Unsicher, was seine Person und seine Position anbelangt, schießt der begnadete Selbstdarsteller auch hier immer wieder über das Ziel hinaus. Er ist schlichtweg ein arroganter Schnösel, der es liebt, im Mittelpunkt zu stehen. So lernt er die Titel von Büchern auswendig, um hinterher so zu tun, als hätte er sie gelesen. Als er mit seiner Mutter einmal ein Nonnenkloster besucht, deklamiert er zum Entzücken der Nonnen auf der Klostertreppe selbstverfasste Zeilen. Haben seine Eltern Gäste, dann singt Scott ihnen etwas vor – mit unterdurchschnittlicher Stimme. In der Schülerzeitung St. Paul Academy Now and Then ist bald zu lesen, dass er zwar vor heimlichem Wissen schier übersprudle, aber, so schließt der Verfasser: »Wenn irgendjemand Scott vergiften oder ihm sonst irgendwie das Maul stopfen könnte, wären ihm die gesamte Schule und ich persönlich sehr verbunden.«24 Beim Sport erweist er sich erneut als ehrgeizig, aber talentfrei. Wie um das Gegenteil zu beweisen, kämpft er um jeden Ball, jeden Punkt, jeden Sieg. Noch immer ist er nicht unbedingt der Junge, mit dem man gerne befreundet ist, doch sogar seine Gegner müssen zugeben, dass dort, wo Scott ist, immer etwas los ist. Er gründet mehrere Geheimclubs mit Namen wie »White Handkerchief Club«, The Boys’ Secret Service of St. Paul«, »The Cruelty to Animals Society« und »The Scandal Detectives«. Die Aufnahmebedingungen sind hart: »Das erste Mitglied war Cecil, und Paul und ich unterzogen ihn einer ganz scheußlichen Aufnahmeprüfung, die darin bestand, ihn rohe Eier essen zu lassen und ihn mit Säge, Eis und Nadel zu traktieren.«25 Scott sprüht vor verrückten Ideen. Einmal ruft er bei einer Prothesenfirma an und ordert ein Holzbein für sich. Ein andermal gibt er in der Straßenbahn den Betrunkenen – mit 13. So wenig ihn die Kinder mögen, so sehr mögen ihn deren Eltern. Scott gelingt durch Aussehen und Benehmen das, was seinen Eltern verwehrt bleibt – er verkehrt in den besseren Kreisen von St. Paul. Selbst sein Großvater, so erfolgreich er auch gewesen war, hatte das nicht geschafft. Die Aristokratie der Neuen Welt unterliegt ebenso strengen Gesetzen wie die Hierarchien im alten Europa. Die oberen Zehntausend von St. Paul gehen auf die ersten Einwanderer zurück und sind vor Jahrzehnten aus dem Osten gekommen. Die Armutseinwanderer des 19. Jahrhunderts haben kaum Chancen, in ihren Kreis aufgenommen zu werden. St. Paul ist eine stolze Dreigenerationenstadt, das weiß Scott längst: »Ganz oben standen diejenigen, deren Großeltern etwas aus dem Osten mitgebracht hatten, sei es nun eine Menge Geld oder Kultur; dann kamen die Familien der Self-Made-Männer, die alten Siedler der 1860er und 1870er Jahre, Amerikaner englischer, schottischer, deutscher oder irischer Abstammung. Die sahen genau in dieser Reihenfolge aufeinander herab. Auf die Iren weniger aus religiösen Gründen, die französischen Katholiken waren ziemlich angesehen, sondern mehr aufgrund der politischen Korruption im Osten. Nach all denen kamen schließlich die wohlhabenden Neuankömmlinge, die galten irgendwie als mysteriös, mit einer nebulösen Vergangenheit und möglicherweise unsolide.«26 Es ist eine Umgebung, in der man beizeiten ein feines Gespür für die sozialen Unterschiede entwickelt, die im Land der Freiheit herrschen. Kleinigkeiten entscheiden darüber, ob man dazugehört oder bloß geduldet ist. Und auch wenn Scott mit denen, die dazugehören, verkehrt, fühlt er sich als Außenseiter. In seinen stark autobiografischen Basil-Duke-Lee-Geschichten wird deutlich, wie sehr F. Scott Fitzgerald verstand, dass er, wenn es darauf ankommt, nicht dazugehören wird. Obwohl die vielen Umzüge die Familie zumindest geografisch näher an die High Society heranbringen, bleibt doch die Distanz, selbst als sie in die Summit Avenue in St. Paul mit ihren viktorianischen Ensemblehäusern zieht. Hier lebt die Upper Class, hier zu wohnen bedeutet, im Zentrum von Wohlstand und Einfluss zu leben. Allerdings können sich die Fitzgeralds kein eigenes Haus leisten, sondern müssen ein kleines Reihenhaus mieten, das am weniger eleganten Ende der Straße, weit weg von dem Palast des Eisenbahnkönigs Hill steht. Weitere Umzüge innerhalb der Summit Avenue können daran nichts ändern. Vom falschen Ende der Straße aus beobachtet Scott, wie die Kinder der Reichen von livrierten Chauffeuren in schweren Limousinen zur Schule gefahren werden. Obwohl er in denselben Clubs und derselben Tanzschule verkehrt, wird er das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, niemals los. Er ist drin, und doch irgendwie draußen, ganz so wie später Nick Carraway, der Erzähler in »Der große Gatsby«. Die Doppelsicht, die sich aus dieser Rolle ergibt, wird einmal das Besondere an Fitzgeralds Romanen sein, die mit Insiderwissen und Distanz zugleich geschrieben werden. Dazuzugehören wird das beherrschende Thema seines Lebens werden, von den Schönen und Reichen anerkannt zu werden sein Lebensziel. Dass die Eltern ihn nicht in diesen Teil der Gesellschaft hineingeboren haben und es ihm durch ihr Verhalten zusätzlich erschweren, sich zu integrieren, wird er ihnen niemals verzeihen. Dass es ausgerechnet der kleine Fitzgerald ist, der der Summit Avenue dereinst weltweites Ansehen verschaffen wird, ahnt zu dieser Zeit noch niemand. Heute gehört das Haus Summit Avenue 599, in dem er seinen ersten Roman vollendet, zu den National Historic Landmarks der USA. Für Scott bedeuteten das alljährliche Kistenpacken und ein paar Blocks Weiterziehen Rastlosigkeit und Unsicherheit. Ein wirkliches Zuhause kennt er nicht, und das wird immer so bleiben. Auch als erwachsener Mann wird er niemals eine Wohnung oder ein Haus sein Eigen nennen, sondern ruhelos umherziehen und die meiste Zeit in Hotelzimmern verbringen.

Im Oktober 1909 veröffentlicht die Schülerzeitung Now and Then seine erste Geschichte. »The Mystery of Raymond Mortage« ist eine Kriminalgeschichte und Scott unendlich nervös: »Niemals werde ich den Montagmorgen vergessen, als die Schülerzeitung herauskam. Am Samstag hatte ich mich stundenlang in der Nähe der Druckerei in der Innenstadt aufgehalten und einen Mann fast zur Verzweiflung getrieben, weil ich beharrlich versuchte, ein Exemplar zu bekommen, obwohl die Ausgabe noch nicht gebunden war – schließlich war ich, den Tränen nahe, weggegangen. Nichts interessierte mich bis zum Montag, und als dann ab der Pause ein großer Stapel Schülerzeitungen hereingebracht und dem Hausmeister übergeben wurde, war ich so aufgeregt, dass ich von meinem Stuhl aufsprang und vor mich hin murmelte: ›Sie sind da! Sie sind da!‹, bis die ganze Schule mich erstaunt anschaute. Ich las meine Geschichte mindestens sechsmal durch, lungerte den ganzen Tag über in den Korridoren herum und zählte die Leute, die in der Zeitung lasen, und versuchte sie beiläufig zu fragen, ob sie meinen Beitrag gelesen hatten.«27

Weil seine Erfolge im Sport begrenzt sind, wird das Schreiben immer wichtiger für ihn. Im Februar und März 1910 erscheinen die Kurzgeschichten »Read, Substitute Right Half« und »A Debt of Honor«. Im August 1910 beginnt er ein Gedankenbuch anzulegen, in dem er alles notiert, was ihm wichtig erscheint: Namen und Eigenschaften von Freunden, Schulkameraden und Mädchen, Einzelheiten über sportliche Aktivitäten und die Clubs, in denen er verkehrt. Es ist der Anfang von F. Scott Fitzgeralds akribischen Listen und Aufzeichnungen, die ihn sein Leben lang begleiten werden und aus deren Fundus er beim Schreiben schöpft.

Im Herbst 1911 wechselt Scott auf ein Internat an die Ostküste. Er ist nicht länger der kleine Charmeur in kurzen Hosen, sondern ein 15-Jähriger in den begehrten langen Hosen, mit großen Ambitionen und schlechten Noten, der sich für klüger hält als die meisten Menschen in seiner Umgebung. Die Eltern erhoffen sich von diesem Schulwechsel eine Leistungsverbesserung; ihm selbst ist die Heimatstadt längst zu eng geworden. In seinem ersten Roman »Diesseits vom Paradies« erzählt er anhand seines Alter Egos Amory Blaine von dieser Zeit: »Wenn er im Bett lag, waren Stimmen vor seinem Fenster zu hören – verschwommene, verklingende, verzaubernde Stimmen –, und bevor er einschlief, träumte er einen seiner liebsten Wachträume: dass er ein großer Stürmer werden würde oder dass er als Auszeichnung für den Kampf bei der japanischen Invasion zum jüngsten General der Welt ernannt werden würde. Immer träumte er, etwas zu werden, nie, etwas zu sein.«28 Dabei hat er gerade in diesem Sommer einen großen Erfolg zu verzeichnen: Der Elizabethan Dramatic Club von St. Paul führt sein erstes Stück »The Girl from Lazy J« auf, und Scott selbst spielt die Hauptrolle. In den nächsten Jahren werden weitere Stücke folgen, die allesamt sehr positiv aufgenommen werden.

Scotts neues Zuhause ist die Newman School in Hackensack, New Jersey. Die nur 40 Zugminuten von New York entfernte Schule besuchen Kinder wohlhabender Katholiken aus dem ganzen Land. Es ist eine weltoffene Schule, die auch Protestanten aufnehmen würde, doch die zeigen wenig Interesse. Die einflussreichen amerikanischen Familien sind durchweg Protestanten und schicken ihre Kinder in protestantische Eliteschulen, mit denen Newman nicht konkurrieren kann. Der 15-jährige Scott ist dennoch voller Vorfreude auf das elegante Amerika des Ostens, auf das pulsierende New York, das besser sein muss als alle Wachträume. Das liberale Klima seiner neuen Schule kommt ihm sehr entgegen. Etwas weniger kann er mit dem umfangreichen Sportangebot anfangen. Die Tennisplätze, Footballfelder, Turnhallen, das Eishockeyfeld und das obligatorische Baseballfeld interessieren ihn nur mäßig. Da Scott sich beharrlich weigert, die vierte Klasse, in die er aufgrund seines Alters eingeteilt wird, zu wiederholen, darf er probeweise in die fünfte Klasse aufrücken. Er wird sogar Mitglied der Footballmannschaft. Allerdings nur im dritten Team. Weil er es wieder einmal nicht lassen kann, die anderen zu belehren, macht er sich schon bei seinem ersten Spiel unbeliebt. Doch wie jeder Amerikaner weiß auch Scott, dass fehlender familiärer Background am ehesten durch sportliche Erfolge ausgeglichen werden kann. Er trainiert wie ein Verrückter und schafft es sogar zum Quarterback der zweiten Mannschaft. Mit Anstrengung ist alles zu erreichen, dieses Prinzip amerikanischer Erziehung ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Doch er ist ein zartes Bürschchen, das den körperlichen Attacken des Gegners nur allzu gern ausweicht. Dies bringt ihm schnell den Ruf eines Feiglings und die Verachtung seiner Mitspieler ein. Sein prahlerisches Auftreten, mit dem er seine Unsicherheit überspielen will, verprellt so manchen, der sich mit ihm anfreunden möchte. Innerhalb kurzer Zeit ist er der unbeliebteste Junge der Schule, mit dem niemand etwas zu tun haben will. Jetzt rächen sich die 15 Jahre, in denen er nach Strich und Faden verzogen wurde. Auch mit den Lehrern bekommt er Schwierigkeiten. Er widerspricht ihnen bei jeder Gelegenheit, und sein Lerneifer lässt zu wünschen übrig. Da ihn die anderen Schüler meiden, kapselt er sich ab. Unglücklich und einsam verbringt er die meiste Zeit allein auf seinem Zimmer und liest. In »Basil der Frechste« rekapituliert er mithilfe seines jugendlichen Alter Egos, Basil Duke Lee, dieses erste Jahr in Newman: »Nach einem Monat erfasste er erst richtig, wie unbeliebt er war. Das erschütterte ihn. (…) Jetzt sah er ein, dass er von Anfang an einiges falsch gemacht hatte – er hatte geprahlt, beim Football hatte er den Eindruck von Feigheit gemacht, er hatte andere mit der Nase auf ihre Fehler gestoßen, und er hatte in der Klasse ostentativ sein ziemlich außergewöhnliches Allgemeinwissen vorgeführt. Aber er hatte sich um Besserung bemüht, und er konnte nicht verstehen, warum ihm die Anpassung misslang. Offenbar war es zu spät. Er war für immer ein Außenseiter.«29 Seine Noten werden kontinuierlich schlechter. Als er beim Football ungerechtfertigterweise wegen Feigheit aus dem Spiel genommen wird, rächt er sich durch ein Gedicht in der Schülerzeitung. Es kommt hervorragend an, und er ist mit einem Schlag Tagesgespräch. Er hat eine wichtige Entdeckung gemacht: »Wenn man sich nicht durch Taten beweisen konnte, dann sollte man zumindest darüber schreiben, man spürte dabei die gleiche Intensität – es war eine Art Hintertürchen, um mit der Realität fertig zu werden.«30

Er ist froh, als er zu Weihnachten endlich nach Hause fahren darf. Zurück in Newman, will er noch einmal von vorn beginnen – doch zunächst einmal erhält er aufgrund seiner schlechten Noten Ausgangssperre. Musicalausflüge an den Broadway sind vorerst gestrichen. Er nutzt die Zeit und freundet sich mit Sap Donahoe an, einem ruhigen, bescheidenen Jungen mit guten Noten und sportlichen Erfolgen. Einer, mit dem jeder gern befreundet wäre und der Scotts Ansehen deutlich hebt. Langsam geht es bergauf. Nicht nur seine Noten bessern sich, auch im Wettbewerb der Junioren kann er einen Sieg verbuchen.

In seinem zweiten Schuljahr kommt ein Mann nach Newman, der Scotts junges Leben entscheidend beeinflussen wird, Pater Cyril Sigourney Webster Fay. Von Anfang an besteht ein gutes Verhältnis zwischen dem rebellischen Schüler und dem unkonventionellen Priester. Fay ist Konvertit und Genussmensch, klug und belesen, mit großer Begeisterung für die Dichter des europäischen Fin de Siècle. Fay wird zum Vaterersatz für Scott. Er ist einer der Ersten, die sein Talent erkennen und seine literarischen Ambitionen unterstützen. Scott wird ihm in der Figur des Father Darcy in »Diesseits vom Paradies« ein Denkmal setzten. Wann immer er in den nächsten Jahren Rat sucht, wird er sich an Fay wenden.

Das neue Schuljahr läuft tatsächlich wesentlich besser als das alte. Die Schülerzeitung Newman News veröffentlicht drei seiner Kurzgeschichten, »A Luckless Santa Claus«, »Pain and Scientist« und »The Trail of the Duke«, und er spielt in einer Aufführung des Schultheaters mit. Mit seinen Mitschülern kommt er besser zurecht, obwohl viele ihn noch immer für einen aufgeblasenen Geck halten, der schlichtweg viel zu viel Wert auf sein Äußeres legt. Alles in allem aber ist die Situation nun erträglich. Da er jedoch weiterhin wesentlich mehr an außerschulischen Aktivitäten interessiert ist als an seinen Noten, vermasselt er im Frühjahr sein Examen. Dabei will er hoch hinaus: nach Princeton, eine der acht ältesten Universitäten der USA, die man heute unter dem Begriff Ivy League zusammenfasst: Harvard, Yale, Columbia, Princeton, Brown, Cornell, Pennsylvania und Dartmouth College. Sie alle gelten als Eliteuniversitäten und sind deshalb für Scott, seiner Ansicht nach, genau das Richtige: »Ich möchte nach Princeton gehen. (…) Ich weiß nicht wieso, aber ich stelle mir die Harvard-Leute alle als Weichlinge vor, so wie ich früher war, und die aus Yale tragen alle weite blaue Pullover und rauchen Pfeife. (…) Princeton stelle ich mir lässig vor, gutaussehend und aristokratisch – wie einen Frühlingstag (…). Harvard klingt so nach Eingesperrtsein.«31

Den Sommer verbringt er in St. Paul, wo er sich voller Eifer in die Proben zur Aufführung seines Bürgerkriegsdramas »The Coward« stürzt. Scott führt bei dem Stück, das eines seiner Lieblingsmotive aufgreift – den Verlierer, der durch eine mutige Tat zum Helden wird –, Regie und steht auch selbst auf der Bühne. Wertvolle Zeit, die er eigentlich zum Lernen für die Nachprüfungen für Princeton nutzen sollte. So verfehlt er den erforderlichen Notendurchschnitt erneut. Allerdings nur knapp, und er erhält die Chance, sich vor einer Kommission zu bewähren. Eine Sache wie geschaffen für den Dauerredner F. Scott Fitzgerald. Es gelingt ihm spielend, die Kommissionsmitglieder von sich zu überzeugen, nicht zuletzt mit dem Argument, man könne ihn unmöglich heute an seinem 17. Geburtstag ablehnen. Überglücklich telegraphiert er an seine Mutter: »Angenommen. Übersende umgehend Football Pads und Schuhe. Warte bitte noch mit dem Koffer.«32

Im Herbst 1913 geht F. Scott Fitzgerald nach Princeton. Erleichtert wird die Entscheidung für die efeuberankte Eliteuniversität durch den Tod der Großmutter, die der Mutter ein stattliches Vermögen hinterlassen hat. Damit können die Kosten für Scotts Studium, die sich alles in allem auf etwa 2000 Dollar jährlich belaufen, gedeckt werden. Zu jener Zeit ist Princeton mit 1500 Studenten eine Universität von überschaubarer Größe. Nichts hat sich verändert, seit Woodrow Wilson drei Jahre zuvor sein Amt als Rektor niedergelegt hat, um in die Politik zu gehen. Man legt hier größten Wert auf Tradition. Religion spielt ebenso eine Rolle, wie es traditionelle gesellschaftliche Werte tun. Alkohol ist auf dem Campus streng verboten. Die Studenten sind schick, aber nicht übertrieben elegant gekleidet und pflegen die besten Umgangsformen. Für Scott ist Princeton mit seiner hellen, heiteren Atmosphäre der »schönste Country Club Amerikas«.33 Auch hier ist der sportliche Erfolg enorm wichtig. Footballspiele gegen die Erzrivalen Harvard und Yale sind Ereignisse von überregionaler Bedeutung. Größter Star der Universität ist Hobey Baker, Kapitän der Footballmannschaft und wichtigster Spieler des Eishockeyteams Princeton Tigers. Der Ausnahmeathlet gilt als größter Sportler, den Princeton jemals hervorgebracht hat. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Pilot teilnimmt, kommt er kurz vor seinem Wechsel in die Profiliga bei einem Flugzeugabsturz in Frankreich ums Leben. Das sind Männer nach Scotts Geschmack. Für den Rest seines Lebens wird Scott Anhänger der Princeton Footballmannschaft bleiben und, soweit es ihm möglich ist, immer wieder zu den Spielen kommen.

Gemeinsam mit neun Mitstudenten – einer davon ist sein Schulfreund Sap Donahoe – bezieht er das Haus University Place 12. Auf dem Campus ist zu seinem Bedauern kein Platz für all die Freshmen, wie man die Erstsemester nennt. Rasch stellt er fest, dass in diesem Country Club strenge Regeln gelten, vor allem für Erstsemester. Um neun Uhr abends müssen sie auf ihren Zimmern sein, dürfen auf dem Campus weder Pfeife rauchen noch über den Rasen laufen. Die Kleiderordnung verpflichtet sie zu Hosen ohne Aufschlag, steifen Krägen, schwarzen Krawatten, Sockenhaltern und schwarzen Scheitelkappen. Dazu kommt, dass die Studenten des zweiten Semesters, die sogenannten Sophomores, sie in den ersten Tagen allerlei lächerlichen Tests unterziehen dürfen. Dennoch liebt Scott Princeton vom ersten Augenblick an.

Sein Vorhaben für das erste Semester ist ehrgeizig und lautet schlicht und einfach: »zu den Göttern seiner Klasse zu gehören«.34 Dabei überlässt er nichts dem Zufall. Zunächst versucht er es wieder einmal mit Sport, doch kein noch so großer Trainingseifer kann ihm einen Platz in der Footballmannschaft verschaffen. Unter dem Vorwand einer Knöchelverletzung gibt er schließlich auf. Sein Projekt, die Nummer eins auf dem Campus zu werden, behält er dennoch im Auge. Einfach ist das nicht. Auch in Princeton hat es ein katholischer Junge aus dem Mittleren Westen schwer. Die Eliteuniversitäten des Landes werden von den WASPs dominiert, den weißen angelsächsischen Protestanten der Ostküste. Deren Vertreter sind die Slickers, die feinen Pinkel, zu denen Scott nur zu gern gehören würde: »Der Slicker sah gut aus oder zumindest adrett; er hatte Talent – das hieß gesellschaftliches Talent, und bediente sich auf dem breiten Pfad der Tugend aller Mittel, um vorwärtszukommen, beliebt und bewundert zu sein und niemals in Schwierigkeiten zu geraten. Er war gut gekleidet, legte besonderen Wert auf eine makellose Erscheinung und hatte seinen Namen daher, dass er das Haar unbedingt kurzgeschnitten trug, in der Mitte gescheitelt und mit Wasser oder Brillantine glatt zurückgekämmt, wie die herrschende Mode es vorschrieb. In diesem Jahr trugen die Slicker als gemeinsames Kennzeichen Schildpattbrillen, was sie so leicht erkennbar machte. (…) Der Slicker war offenbar an der ganzen Schule verbreitet, immer etwas schlauer und durchtriebener als seine Altersgenossen, er leitete ein Team, oder sonst etwas, und war bemüht, seine Klugheit sorgfältig verborgen zu halten.«35

Rein optisch nähert er sich diesen Studenten in den nächsten Jahren immer mehr an. Er ist ungemein attraktiv, wenn auch mit 1,68 Metern nicht besonders groß. Dafür aber schlank, mit einem ausdrucksstarken Gesicht und blonden Haaren. Seine lebenslange Leidenschaft für Anzüge des noblen amerikanischen Herrenausstatters Brooks Brothers beginnt in Princeton. Immer nach der neuesten Mode gekleidet, gibt er sich blasiert und weltmännisch. Nachdem ihm die Footballkarriere verwehrt bleibt, besinnt er sich erneut auf sein schriftstellerisches Können. Er verfasst Gedichte und bietet sie dem humoristischen Campusmagazin Princeton Tiger an. Das Renommee derartiger Zeitschriften ist hoch und sie haben, wie der Harvard Lampoon, eine weite Verbreitung; aus ihren Redaktionen rekrutieren die führenden amerikanischen Zeitungen ihre Schreiber. Da Scott auch als Autor von Theaterstücken bereits Erfolge vorzuweisen hat, dient er sich dem Triangle Club an, einem Theaterclub, der einmal jährlich ein Musical auf die Bühne bringt und damit zur Weihnachtszeit auf Tournee geht. Auch wenn man dort zunächst auf seine Mitarbeit keinen Wert legt, ist er weiterhin blendender Laune. Die vornehme Universität ist genau seine Welt. Als er in den Weihnachtsferien nach Hause fährt, erscheint ihm St. Paul noch provinzieller als zuvor. Seine Arroganz ist maßlos. Am Weihnachtsabend brüskiert er die ganze Gemeinde: Viel zu spät erscheint er zum Gottesdienst, doch anstatt sich ruhig auf seinen Platz zu setzen, marschiert er mit klappernden Absätzen durch die Kirche, auf der Suche nach einem Freund. Dem sichtlich konsternierten Pfarrer ruft er entgegen: »Kümmern Sie sich gar nicht um mich, fahren Sie einfach mit dem Gottesdienst fort.«36

Eine Arroganz, die er sich gar nicht leisten kann, denn die im Januar 1914 beginnenden Halbjahresprüfungen schafft Scott nur mit Ach und Krach. Er hat so viel Energie auf seinen gesellschaftlichen Aufstieg verwandt, dass er seine Studien erneut vernachlässigt hat. Allein in seinem ersten Jahr bleibt er dem Unterricht ganze 49 Mal unentschuldigt fern. Und ist er einmal anwesend, dann ist er mit seinen Gedanken meist ganz woanders. Obwohl das erste Jahr in Princeton kein akademischer Erfolg ist, ist es für Scott dennoch ein gutes Jahr. Nicht nur, dass er mit »Fie! Fie! Fi-Fi!« den Wettbewerb um das Stück für die nächste Aufführung des Triangle Clubs gewinnt, er findet auch einen Freund fürs Leben: John Peale Bishop, Erstsemester wie er, jedoch tatsächlich belesen und umfassend gebildet. Bishop ist dreieinhalb Jahre älter als Scott und aufgrund einer schweren Krankheit im Kindesalter erst spät nach Princeton gekommen. Bishop wird Scotts Lehrmeister, macht ihn mit Keats bekannt, der für den Rest seines Lebens sein Lieblingsdichter sein wird. Die Juniprüfungen für das zweite Semester besteht Scott knapp, nur in Geometrie fällt er durch. In sein Kontobuch notiert er: »Ein Jahr voll harter Arbeit und lebhafter Erfahrungen.«37 In diesem Sommer schreibt er sein letztes Stück für den Theaterverein in St. Paul, »Assorted Spirits«. Anstatt seine Lernlücken zu schließen, verbringt er die Sommerferien mit der Inszenierung des Stückes, in dem er selbst die Hauptrolle spielt.

Als stolzer Sophomor kehrt er im Herbst 1914 nach Princeton zurück, nur um zu erfahren, dass ihm aufgrund seiner schlechten Leistungen ein Betätigungsverbot für alle außerschulischen Aktivitäten erteilt wurde. Dies bedeutet, dass er weder an den Aufführungen seines Stückes durch den Triangle Club mitwirken kann noch im Dezember mit auf Tournee darf. Dennoch strahlt ein Teil des Erfolges auf ihn ab. Die Zeitungen erwähnen den Verfasser mehrmals lobend: »Die Liedtexte stammen von F. S. Fitzgerald, der sich schon jetzt unter die besten Verfasser geistreicher Liedtexte in Amerika einreihen darf.«38 Vielleicht auch als Entschädigung dafür, dass er nicht mitwirken kann, wird er im Februar 1915 zum Sekretär des Triangle Clubs gewählt werden. Damit hat er gute Chancen, dessen nächster Präsident zu werden.

Doch zunächst steht Weihnachten vor der Tür. Wie immer verbringt Scott die Ferien in St. Paul. Einen Tag vor seiner Rückreise, am 4. Januar 1915, lernt er die 16-jährige Ginevra King aus Illinois kennen, die ihre Schulfreundin Marie Hersey besucht, eine alte Freundin Scotts. Ginevra ist eine Highschool-Schönheit, hinter der alle Jungen her sind. Die vielen Briefe, die sie von Collegestudenten aus Harvard, Yale und Princeton bekommt, sprechen eine deutliche Sprache. Sie ist ein Mädchen, das Scott geradezu magisch anzieht: »Ich bin stets nur am Allerbesten interessiert.«39 Er lässt seinen ganzen Charme spielen und schafft es tatsächlich, Ginevra an diesem einen Tag, der ihm noch bleibt, zu erobern: »Mir fehlen die beiden wichtigsten Sachen: animalische Ausstrahlung und Geld. Ich bin nur mit den zweitbesten Dingen gesegnet: gutes Aussehen und Intelligenz. Und deshalb bekomme ich immer das tollste Mädchen.«40 Während Ginevra ihn unter ihre vielen Verehrer einreiht, ist Scott bis über beide Ohren verliebt. Noch im Zug nach Princeton verfasst er das erste Telegramm an die Geliebte, es folgen zahlreiche Briefe und Fotos. Die Entfernung lässt nur wenige Treffen zu, Scott ist von Eifersucht gequält. Ginevra genießt es, umschwärmt zu sein, und ist einem Flirt niemals abgeneigt, selbst wenn Scott ihr momentaner Favorit ist. Dies zeigt sie deutlich, als sie ihn im Februar einlädt, sie in ihrer Highschool in Westover zu besuchen. Scott nimmt eine lange Anreise in Kauf, nur um enttäuscht festzustellen, dass die Anstandsregeln der Schule es ihm nicht erlauben, mit Ginevra allein zu sein. Dennoch hinterlässt er großen Eindruck, denn am Abend schreibt Ginevra in ihr Tagebuch: »Oh, es war so wundervoll, ihn wiederzusehen. Ich bin schrecklich verliebt in ihn. Er ist so wunderbar.«41

Fast noch wichtiger als die erste große Liebe ist für Scott jedoch die Aufnahme in einen der sogenannten Eating Clubs, die sich im zweiten Jahr in Princeton vollzieht. Für das Ansehen eines Studenten ist die Mitgliedschaft im richtigen Club von enormer Bedeutung. Jeder Club besitzt ein prächtiges Haus auf dem Campus, und wer Mitglied in einem der 18 Clubs ist, darf mit seinen Kameraden in den Räumen des jeweiligen Clubhauses speisen, während alle Nichtmitglieder weiterhin gemeinsam in der Speisehalle der Universität essen. Die privaten Eating Clubs bestimmen in Princeton, wo Studentenverbindungen verboten sind, das gesellschaftliche Leben, und Scott erscheint die Aufnahme in den richtigen Club geradezu überlebensnotwendig. Bereits im ersten Jahr hat er alle wichtigen Informationen zusammengetragen, um eine Auswahl treffen zu können. Nur die bedeutendsten Clubs kommen für ihn infrage: Ivy, Cap and Gown, Cottage und Tiger Inn: »Ivy, exklusiv und atemberaubend vornehm; Cottage, eine beeindruckende Mischung aus schillernden Abenteurern und blendend gekleideten Schürzenjägern; Tiger Inn, breitschultrig und athletisch (…); Cap und Gown, antialkoholisch, religiös angehaucht und politisch einflussreich.«42 Alle vier suchen sich ihre Neumitglieder genau aus, und Scott erhält zu seiner Freude tatsächlich Einladungen zu allen vier. Er entscheidet sich schließlich für die blendend gekleideten Schürzenjäger vom Cottage Club. Weil jeweils nur zwei Drittel eines Jahrgangs in die Clubs aufgenommen werden, steht das System seit Jahren heftig in der Kritik. Seine Gegner bemängeln, dass es einem ungebührlichen Elitedenken Vorschub leisten würde. Dennoch hält es sich bis heute. Selbst Woodrow Wilson war als Rektor mit dem Versuch gescheitert, die Eating Clubs abzuschaffen. In Scotts letztem Jahr in Princeton wird die Anti-Club-Bewegung noch einmal aufflammen, doch da die großen Privatsponsoren der Universität samt und sonders Mitglieder der wichtigen Clubs sind und Princeton auf deren Spenden in Höhe von 2 Millionen Dollar weder verzichten will noch kann, bleibt alles beim Alten. Auch Scott wird seinem Club lebenslang die Treue halten.

In seinem zweiten Jahr in Princeton verfasst Scott einige Kurzgeschichten, die im Nassau Literary Magazine, kurz Lit genannt, veröffentlicht werden. Er freundet sich dabei eng mit dem Chefredakteur der angesehenen Campuszeitung an, Edmund Wilson, genannt Bunny. Wilson ist ein Intellektueller, der nur wenig Kontakt zu seinen Mitstudenten hat. Obwohl die beiden unterschiedlicher kaum sein können, verstehen sie sich blendend. Wilson ist stets ruhig, überlegt, wirkt vergeistigt. Scott dagegen ist voller Empathie, Lebenshunger und Fantasie. Das Leben im Elfenbeinturm ist ihm fremd und wird es bleiben. Dennoch wird Wilson einer seiner engsten Freunde, mehr noch, wie Scott selbst sagt, sein »intellektuelles Gewissen«.43 Scotts erster Beitrag für die Lit erscheint im Frühjahr 1915, »Shadow Laurels«, ein Einakter über eine Vater-Sohn-Beziehung.

Auch diesmal vergeigt Scott im Juni die Abschlussprüfungen. Von sieben Fächern besteht er nur vier auf Anhieb, in Latein fällt er sogar zweimal durch, ehe es klappt. Dafür sieht er Ginevra wieder. Sie kommt mit ihrer Mutter zur Jahresabschlussfeier nach Princeton und fährt anschließend mit Scott nach New York, wo auf ein Dinner im Ritz ein unvergesslicher Theaterabend folgt. Die Sommerferien verbringt er bei seinem Freund Sap Donahoe auf einer Ranch in Montana, wo er sich mit den Cowboys betrinkt und beim Pokern 50 Dollar gewinnt. Eine Reise, die er später in einer seiner besten Kurzgeschichten, »Ein Diamant – so groß wie das Ritz«, verarbeiten wird.

Das dritte Jahr als Junior beginnt stressig. Scott muss in die Nachprüfung und schafft auch diese nur knapp. Erneut sind alle außerschulischen Aktivitäten gestrichen. Er hat nun viel Zeit, um zu schreiben, und verfasst gemeinsam mit Edmund Wilson ein neues Stück für den Triangle Club. Wilson schreibt die Dialoge, Scott alle Liedtexte für »The Evil Eye«. Beworben wird das Stück mit einem Foto von Scott als Showgirl. Und darauf sieht er so gut aus, dass die New York Times das Bild übernimmt, was bergeweise männliche Fanpost sowie ein Broadwayangebot zur Folge hat. Scott ist fest entschlossen, dieses Jahr zu einem der besten seines Lebens werden zu lassen. Und die Chancen dafür stehen gut: Er ist Mitglied in dem von ihm favorisierten Club, schreibt für die wichtigen Zeitschriften auf dem Campus und es gilt als sicher, dass er bei der nächsten Wahl Präsident des Triangle Clubs werden wird. Er hat echte Freunde gefunden, was wohl auch daran liegt, dass er endlich gelernt hat zuzuhören und sich ehrlich für andere zu interessieren. Noch immer ist er vor allem dort anzutreffen, wo etwas los ist. Er geht oft aus und genießt das Studentenleben in vollen Zügen. Schon jetzt zeigt er eine besorgniserregende Nähe zum Alkohol. Obwohl er überhaupt nichts verträgt, trinkt er mit Begeisterung.