"Ich blätterte gerade in der Vogue, da sprach mich der Führer an." - Michaela Karl - E-Book

"Ich blätterte gerade in der Vogue, da sprach mich der Führer an." E-Book

Michaela Karl

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Beschreibung

Sie kam aus bestem britischen Hause und widmete ihr Leben dem »Führer«. Michaela Karl erzählt die schier unglaubliche Lebensgeschichte der Unity Valkyrie Mitford: Hitler-Groupie, nordische Göttin und verwöhnte Tochter eines britischen Lords. Mitte der dreißiger Jahre zieht die 20-jährige Cousine Winston Churchills nach München, um Hitler kennenzulernen. Göring hält sie für eine britische Spionin, der MI5 für eine törichte Person. Während Eva Braun angesichts der unerwarteten Konkurrenz einen Selbstmordversuch unternimmt, spekuliert die Presse offen über die künftige Mrs. Adolf Hitler. Doch als am 3. September 1939 Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg erklären, hallen plötzlich zwei Schüsse durch den Englischen Garten …

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Michaela Karl

»Ich blätterte gerade in der Vogue, da sprach mich der Führer an.«

Unity Mitford. Eine Biographie

Hoffmann und Campe

Gewidmet

meiner geliebten Mutter Christl Karl

(1946–2007)

und

ihren Schwestern

Gerlinde und Hannelore

Der Winter hat uns warm gehalten, hüllte

Das Land in vergesslichen Schnee, fütterte

Ein wenig Leben durch mit eingeschrumpelten Knollen.

Der Sommer kam als Überraschung, über den Starnberger See.

T.S. Eliot, ›Das öde Land‹

»Eine Verlobung meiner Tochter mit Herrn Hitler steht nicht und stand auch niemals zur Debatte. Der Führer lebt einzig für sein Land. Er hat keine Zeit, um zu heiraten.« David Mitford, 2. Lord Redesdale,24. April 1938 im ›Sunday Pictorial‹

Prolog

Mrs Adolf Hitler

Ich muss Sie warnen: Wenn Sie sich auf dieses Buch einlassen, werden Sie womöglich eine schlaflose Nacht haben.

Sie werden einer Frau begegnen, mit der Sie sich vielleicht angefreundet hätten, wären Sie Anfang des 20. Jahrhunderts in die britische Upperclass hineingeboren worden. Eine junge Engländerin – attraktiv, intelligent, sophisticated, emanzipiert, mutig, solidarisch, humorvoll –, die für das jährliche Familienfoto schon mal mit ihrer zahmen Ratte Ratular auf der Schulter posierte und bei so manchem Boxkampf im Londoner East End zum eleganten Abendkleid ihre Ringelnatter am Handgelenk trug. Ein Kumpel zum Pferdestehlen für ihre Schwestern und die perfekte Partybegleitung für ihre Freunde. Eine begeisterte Wahlmünchnerin, die im MG-Cabriolet durch die Stadt kurvte, neben sich auf dem Beifahrersitz eine Dänische Dogge. Sie liebte das Kino, sonnte sich nackt im Englischen Garten, segelte auf dem Starnberger See und erntete, wo immer sie auftauchte, bewundernde Blicke: »Niemand konnte lange mit ihr in einem Raum […] sitzen, ohne sie zu bemerken. Ihr goldenes Haar, ihre glatte Haut und ihre blauen Augen – all das entsprach im höchsten Maße dem Ideal der nordischen Schönheit, welche die Deutschen besonders verehren.«1 Einzig der Freundeskreis, in dem sie ab 1935 verkehrte, ließ zu wünschen übrig: Adolf Hitler, Magda und Joseph Goebbels, Henriette von Schirach, Heinrich Hoffmann und Adolf Wagner, um nur einige zu nennen. Oh, habe ich vergessen zu erwähnen, dass ich von Unity Mitford spreche, Tochter eines exzentrischen britischen Lords, eine der berühmten Mitford-Schwestern – und überzeugte Nationalsozialistin? Zu ihrer Zeit sicher eine der berüchtigtsten Frauen der Welt.

Die Titel, die der knapp eins achtzig großen Blondine verliehen wurden, sind mannigfaltig und reichen von »Hitlers blonder Göttin«2 bis zu »eine Miniatur von Maria Stuart«3. Spötter hielten sie für eine Kreuzung aus »Toilettenseifenreklame und Erzengel« und erklärten, sie habe das große Ziel, »Kaiserin von Deutschland zu werden und die große Versöhnung zwischen Deutschland und England herbeizuführen«.4 Göring sah in ihr neben seiner ersten Frau Carin die schönste nordische Frau, der er je begegnet war,5 während der amerikanische Reuters-Korrespondent Ernest Pope in ihr »die gefährlichste Frau Münchens« vermutete, der so mancher Deutsche sein Leben verdanke – sein Leben im KZ Dachau.6

Leni Riefenstahl fragte Hitler einmal ganz unverblümt, ob er tatsächlich darüber nachdenke, Unity Mitford zu heiraten, und erhielt zur Antwort: »Dieses Mädchen ist sehr attraktiv, aber ich könnte nie mit einer Ausländerin, auch wenn sie noch so schön wäre, eine Beziehung haben. […] Meine Gefühle sind so national, dass ich nur ein deutsches Mädchen lieben könnte.«7 Dennoch zeigten sich die Frauen um Hitler unverhohlen eifersüchtig: »Unity sah aus wie ein Baby«, erinnerte sich Winifred Wagner, »so unschuldig. Hitler liebte es, sich mit jungen Leuten zu umgeben. Aber irgendwie war sie furchtbar lästig. Heirat? Ziemlich unwahrscheinlich. Kann sein, dass sie darauf hoffte. Er war nett und höflich, und sie sind gut miteinander ausgekommen, aber er pflegte stets zu sagen, dass er niemals heiraten würde. Viel kann ich gar nicht über sie sagen, ich fand sie nicht interessant genug.«8 Ernest Pope hingegen räumte ihr zumindest zeitweise gute Chancen ein, Mrs Adolf Hitler zu werden: »Bis zur Sudetenkrise 1938 hat Hitler offen für eine deutsch-englische Entente geworben, in der England die Weltmeere kontrollieren und dem Reich ›freie Hand im Osten‹ lassen sollte, ihm also de facto die Kontrolle über den Kontinent gegeben wäre. Falls Großbritannien und Deutschland sich auf eine derartige Europapolitik geeinigt hätten, wäre es durchaus möglich gewesen, dass Hitler mit Unity vor den Altar getreten wäre, um eine Verbindung zwischen einem Mitglied des britischen Adels und dem Führer der NSDAP zu begründen. Aber England entzog sich Hitlers Werben, und die Liebe des Führers zu seiner blonden Britin erkaltete.«9 Selbst Edgar Feuchtwanger, Neffe des berühmten Schriftstellers und als kleiner Junge in unmittelbarer Nähe zu Hitler am Prinzregentenplatz zu Hause, erinnerte sich in seinen Memoiren, dass es unter den Nachbarn hieß, Hitler würde eine Beziehung mit der Engländerin Unity Mitford in Erwägung ziehen.10 Dass Unity Mitfords Wohl und Wehe keineswegs von einer solchen Verbindung abhing, wurde dabei geflissentlich übersehen.

Unity Mitford war eine Figur, wie sie sie wohl nur die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts hervorbringen konnten. Dahin waren die Goldenen Zwanziger und das anything goes. Die thirties waren Krisenjahre – das Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg. Auf die schier endlose Party des Jazz Age folgte der Katzenjammer, und nicht wenige, die orientierungslos aus dem Rausch erwachten, suchten ihr Heil in politischen Extremen. Unity Mitford als stramme Nationalsozialistin und ihre Lieblingsschwester Jessica als ebenso überzeugte Kommunistin versinnbildlichen diese hochpolitische Dekade. Sie führten die Kämpfe der Straße sogar zu Hause im Kinderzimmer fort.

Während der Faschismus in der britischen Politik schon allein aufgrund der langen parlamentarischen Tradition keine große Rolle spielte, zeigten sich Teile der Upperclass, der Unity angehörte, zumindest faschismusaffin. Ein Phänomen, das unmittelbar mit der Lage des Landes nach dem Ersten Weltkrieg zusammenhängt. Obgleich eine der Siegermächte, geriet Großbritannien in der Zwischenkriegszeit in eine ernsthafte Identitätskrise. Von jeher eine Großmacht, war es den Briten nur mit Hilfe einer ehemaligen Kolonie gelungen, den Krieg zu gewinnen. Nun hatten die USA die Rolle der führenden Weltmacht übernommen. Das Empire war in Auflösung begriffen, die Teilung des nach Unabhängigkeit strebenden Irlands erst der Anfang. In den nächsten Jahren würden aus Kolonien Dominions werden und aus dem Empire das Commonwealth.

Die Zwischenkriegszeit war die Zeit der Entwicklung hin zur Massengesellschaft, von der sich vor allem die britische Aristokratie, gebeutelt durch eine anhaltende Agrarkrise, Steuererhöhungen und den Einflussverlust des Oberhauses, bedroht fühlte. Das von Evelyn Waugh beargwöhnte »Zeitalter des gewöhnlichen Mannes« zeichnete sich am Horizont ab. Mit der Ausweitung des Wahlrechts auf Frauen und Arbeiter geriet die seit Jahrzehnten währende Regierungsrotation von Konservativen und Liberalen ins Wanken. 1924 übernahm die Labour-Partei zum ersten Mal Regierungsverantwortung. Der Generalstreik von 1926 war Höhepunkt einer bis dato nicht gekannten Streikwelle. Bei Konservativen und Aristokraten weckten diese Manifestationen der Arbeitermacht ungute Erinnerungen an die Oktoberrevolution und ihre Folgen. Obwohl Großbritannien von einer sozialistischen Revolution meilenweit entfernt war, ging die Angst vor dem Kommunismus um. Vor allem der Adel, schon immer über nationale Grenzen hinaus bestens vernetzt, hatte mit Grausen das revolutionäre Wüten der Bolschewiki gegen die russische Aristokratie verfolgt. Seit Deutschland während der Revolution von 1918 ebenfalls kurzzeitig nach links geschwenkt war, galt die Gefahr einer Bolschewisierung Deutschlands als sehr real. Ziel der britischen Außenpolitik war es von da an, nicht nur ein sozialistisches Deutschland zu verhindern, sondern das Land auch zum Bollwerk gegen den Kommunismus zu machen. Der Nationalsozialismus mit seiner strikt antikommunistischen Ausrichtung war in dieser Hinsicht höchst willkommen.

Während Großbritannien über Jahrzehnte hinweg die bedeutendste Industrienation der Welt gewesen war, geriet das Land nach dem Krieg in eine Modernisierungskrise. Die britischen Industrieanlagen waren veraltet. Die USA und Deutschland schickten sich an, das Königreich zu übertrumpfen. Dennoch gelang es Großbritannien dank seiner politischen Stabilität besser als anderen Staaten, die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise zu bewältigen. Auswirkungen auf den sozialen Frieden hatte die Rezession trotzdem. So stieg die Arbeitslosenquote 1931 auf über zwölf Prozent – auch hier gab es Suppenküchen, Hungermärsche und Menschen, die verzweifelt nach Arbeit suchten. Der klassische Liberalismus, der Englands Politik traditionell bestimmte, schien keine Lösungen für die drängenden Probleme der Moderne anzubieten und büßte an Integrationskraft ein. Kapitalismus, Kommunismus und Faschismus galten als mögliche Alternativen. Man blickte nach dem Kontinent, wo sich die verschiedenen Ideologien einen Wettbewerb lieferten. Während der Kommunismus in einer Gesellschaft, die so strikt antikommunistisch war wie die englische, kaum Chancen hatte, war das Interesse am italienischen Faschismus und am Nationalsozialismus groß. Da die britische Gesellschaft bei aller Liberalität auch von Ressentiments gegenüber Minderheiten geprägt war, sich in Teilen hochgradig antisemitisch zeigte und ein gewisses Maß an Herrenmenschentum dem britischen Imperialisten ebenfalls nicht fremd war, konnte der Faschismus hier punkten.

Vor allem die »verlorene Generation« der jugendlichen Frontkämpfer, die desillusioniert aus den Schützengräben heimgekehrt war, zeigte sich anfällig für die Heldenmythen des Faschismus. Grenzübergreifend begriff sie sich als Schicksalsgemeinschaft und als Nachkriegselite. Die arrivierten Politiker hatten es nicht verstanden, diesen schrecklichen Krieg zu verhindern, und galten als diskreditiert. Sie sollten endlich Platz machen für ein neues Denken. Die Faschisten verkörperten den Aktionismus und die Radikalität, die die Kriegsgeneration in der Alltagspolitik vermisste. Dagegen wirkten die Vertreter der etablierten Parteien farblos, starr und antiquiert. Das vermeintlich revolutionäre Moment dieser Ideologie sprach die jungen Leute an, obwohl der Faschismus – jenseits des Willens zur Systemtransformation und gewisser antikapitalistischer Elemente – zutiefst rückwärtsgewandt war. So bezeichnete der amerikanische Historiker Jeffrey Herf den Nationalsozialismus 1984 als »reaktionären Modernismus«.11 Seine Anhänger focht diese Widersprüchlichkeit nicht an. Die Attraktivität des Faschismus lag in der Kraft der Emotionen, die er vor allem zwischen 1930 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wecken konnte. Ernst Bloch zitierte 1930 in einem Aufsatz einen jungen Nationalsozialisten mit den Worten: »Man stirbt nicht für ein Programm, das man verstanden hat, man stirbt für ein Programm, das man liebt.«12

Viele der sogenannten Bright Young People, die sich im England der zwanziger Jahre gegen die Father-Husband-Master-Welt aufgelehnt hatten, zeigten sich fasziniert vom Elan dieser Bewegung, die eine neue gesellschaftliche Wirklichkeit erschaffen wollte. Die britische Jugend bestand schon früh auf einer Aussöhnung mit Deutschland, was die Vätergeneration, nach ihren Erfahrungen mit dem deutschen Kaiserreich, strikt ablehnte. Zwar begeisterten sich die Briten von jeher für die deutsche Kultur, liebten die Dichtung der Deutschen Klassik, die deutsche Musik und Philosophie, das politische Deutschland aber lehnten sie als bellizistisch rundweg ab. Der »hässliche Deutsche« hatte den Niedergang des preußischen Militarismus überlebt.

Interessanterweise gelang es gerade dem hochgerüsteten NS-Staat, das Deutschlandbild vieler Engländer zu verändern und sowohl die pazifistischen als auch die antibolschewistischen Strömungen auf der Insel für sich zu nutzen. Eine Allianz mit Großbritannien galt schon seit dem Erscheinen von Mein Kampf in den zwanziger Jahren als Hitlers Lieblingsprojekt, was den Briten durchaus schmeichelte. Mit ganzseitigen Annoncen, unter anderem in der Times, warben die neuen deutschen Machthaber nun um ihre potenziellen Verbündeten: »Kommen Sie und sehen Sie Deutschland mit Ihren eigenen Augen. Im persönlichen Erleben werden Sie die Wahrheit erkennen.«13 Und die britischen Polittouristen kamen zuhauf. Was ihnen vorgeführt wurde, waren Potemkinsche Dörfer – Inszenierungen, die dazu führten, dass nicht wenige bereit waren, im Faschismus eine vitale Kraft zu sehen, die vor allem der Jugend in diesem allgemeinen Vakuum aus Ängsten und Perspektivlosigkeit neue Strukturen bot. Die Besucher begeisterten sich für die Aufbruchstimmung in diesem lange Zeit brachliegenden Land, die vermeintlichen Errungenschaften des neuen Sozialstaates und das gesunde Aussehen der deutschen Jugend, das Gesicht eines neuen Deutschlands. Wahlweise betonten die einen die Traditionsbezogenheit des Nationalsozialismus und die anderen seine Modernität.

Der Faschismus faszinierte sogar Angehörige der britischen Kulturelite wie W.B. Yeats, T.S. Eliot oder D.H. Lawrence. Nicht einmal der Pazifist und Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw war, wie die Sozialreformerin Beatrice Webb im Juni 1934 entgeistert in ihr Tagebuch schrieb, vor Fehleinschätzungen gefeit: »Warum in aller Welt beharrt GBS darauf, dass Mussolini, Hitler und Mosley Führer sind, denen man folgen sollte? Dass sie wie Lenin die Vision einer neuen und besseren Welt haben? Er hat absolut keine Menschenkenntnis, und die der anderen nimmt er einfach nicht wahr. […] Aber es ist völlig sinnlos, GBS zu kritisieren. Durch sein Alter und seinen Ruhm ist er sakrosankt. […] Ich habe ihn gefragt, warum er ausgerechnet Mussolini, Hitler und Mosley bewundere; sie hätten doch weder eine Philosophie noch eine Vorstellung von gesellschaftlicher Neuorganisation. Er gab mir darin recht, aber, so sagte er, sie hätten Persönlichkeit. […] Und die brauche es, um die Welt zu retten.«14 Die Idee der Diktatur als probates Mittel zur Überwindung gesellschaftlicher Misstände war in jenen Jahren – anders als heute – noch nicht diskreditiert.

Dass die großartige, opferbereite, uniformierte deutsche Jugend ihrem »Führer« wohl auch bereitwillig in einen neuen Krieg folgen würde, kam offensichtlich kaum jemandem in den Sinn. Vor der Existenz der Konzentrationslager, der offenen Judenverfolgung und der Unterdrückung jeglicher politischen Opposition verschloss man die Augen. Der weltberühmte Autor des Science-Fiction-Romans Die Zeitmaschine, H.G. Wells, schrieb im September 1933 in einem Brief an die Times, dass es in Deutschland weder Gewaltszenen auf offener Straße gebe noch eine Rebellion des Pöbels gegen die Zivilisation stattfinde. Man solle herkommen, um Zeuge zu werden, wie eine Weltanschauung Realität werde. Es sei ein hochinteressantes Experiment.15 Die Heimkehrer erzählten begeistert von diesem »sozialen Experiment« und plädierten im Namen britischer Fairness für Zurückhaltung, was die Kritik an Hitlerdeutschland betraf. Man solle abwarten und dem Ganzen eine Chance geben. Zudem heiße die Alternative zum Faschismus zweifellos Bolschewismus. Und tatsächlich berichteten britische Medien lange Zeit nur verhalten über antisemitische Übergriffe in Deutschland und die Vertreibung der kulturellen Eliten. Gewaltexzesse und Diskriminierung, die dem Nationalsozialismus immanent waren, wurden als Kinderkrankheiten abgetan, als Kollateralschäden, die man auf dem Weg zu einer neuen Zivilisation in Kauf nehmen müsse. Die wenigen warnenden Stimmen wurden von denen der Begeisterten, Wohlwollenden und Gleichgültigen übertönt. Der rege Reiseverkehr zwischen Deutschland und England kam erst nach dem »Anschluss« Österreichs und der Sudetenkrise langsam zum Erliegen.

Doch obschon es in Großbritannien bald viele enthusiastische Hitlerverehrer gab, waren die Erfolge der Inselfaschisten – der British Union of Fascists, angeführt von Oswald Mosley, Unitys Schwager – marginal. Die englische Regierungspolitik war zu keiner Zeit bestimmt von einer inhaltlichen Annäherung an den Nationalsozialismus, sondern vor allem vom Bemühen um Friedenssicherung. Die sogenannte Appeasement-Politik, die nach einer Verständigung mit Deutschland suchte, wurde von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützt. Niemals aber trachtete die Regierung danach, Hitler und Unity zu folgen und die Welt zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich aufzuteilen.

Unter ihren so zahlreich nach Deutschland pilgernden Landsleuten war es ausgerechnet die 20-jährige Unity Mitford, die direkten Zugang zum Objekt der Begierde bekam, dem »Führer und Reichskanzler Adolf Hitler«. Hitler genoss die Gesellschaft der unkonventionellen jungen Frau und überschätzte in seiner recht schlichten Vorstellung der britischen Demokratie den politischen Einfluss, den die mit Churchill verwandte Unity und ihr Vater Lord Redesdale hatten. Zwischen 1935 und 1939 trafen Hitler und Unity sich insgesamt 140 Mal, also im Durchschnitt alle zehn Tage – für einen vielbeschäftigten Diktator, der zeitgleich einen Weltkrieg vorbereitete, erstaunlich häufig. Trotzdem war Unity Mitford den allermeisten Historikern nie mehr als eine Fußnote wert. Sie war keine Entscheidungsträgerin, und selbst im britischen Faschismus, der Frauen eine gewichtigere Rolle zuwies als der Nationalsozialismus, blieb sie eine Randfigur.

Die Weiblichkeitsmythen der NS-Propaganda spiegelten sich auch in der historischen Perzeption wider. Nazifrauen wurden in die Sphäre des Privaten verwiesen, wurden als Gattinnen wie Magda Goebbels, Gefährtinnen wie Eva Braun und allenfalls noch als Künstlerinnen wie Leni Riefenstahl oder Winifred Wagner wahrgenommen. Frauen als Täterinnen blieben lange Zeit nahezu ausgeblendet. Als die US-amerikanische Historikerin Claudia Koonz 1986 Frauen im »Dritten Reich« auch als politisch Handelnde und nicht länger nur als Opfer beschrieb, löste sie damit glatt einen Historikerinnenstreit aus.16 Dabei hätte man sich nur an Kurt Tucholsky erinnern müssen, der schon nach dem Ersten Weltkrieg mit der Mär von der friedliebenden Natur der deutschen Frau aufgeräumt hatte: »Neben den evangelischen Pastören [sic] hat es im Kriege noch eine Menschengattung gegeben, die gar nicht genug Blut saufen konnte: das war eine bestimmte Schicht, ein bestimmter Typus der deutschen Frau. […] Der Typus, von dem hier gesprochen wird, findet sich besonders im Adel, im gehobenen Mittelstand – bei den Arbeitern ist er seltener […]. Wir dürfen uns aussuchen, wer unangenehmer und gefährlicher ist: die mit der Erotik der Uniform leicht durchsetzte Gutsfrau […] oder die feingebildete Demokratenfrau, die Fichte zitiert und Arndt, die das Schlachtfeld von Verdun besucht und darüber leitartikelt – und die, kommts zum Klappen, Söhne und Brüder und Gatten ›aus Disziplin‹ für das Volksganze in den Dreck hetzt, sodass sie nachher mit Armstümpfen und zerschossenen Unterkiefern und leeren Augenhöhlen nach Hause kommen. Das macht nichts. Wenn nur das Volksganze heil bleibt.«17

Die NS-Ideologen betrachteten die biologische Minderwertigkeit der Frau als gegeben, und der NS-Staat propagierte nicht nur eine Rassenhierarchie, sondern auch eine Geschlechterhierarchie. Das »Weib auf der Scholle und am Spinnrad«, hieß die Devise. Und doch galten Frauen als die besten Propagandistinnen der Nazis, was nicht zuletzt an Hitler selbst lag, dessen Anziehungskraft hinlänglich beschrieben worden ist. Körbeweise Liebesbriefe und Fanpost zeigen, dass David Bowie mit seiner These von Hitler als einem der ersten Rockstars der Geschichte gar nicht so falschlag.18 Hitlers Reden über seinen Verzicht auf Ehe und privates Glück waren wohlkalkuliert, wusste er doch, dass es im Zweifelsfall die Frauen waren, die ihre Männer darin bestärkten, sich ihm anzuschließen.

Pikanterweise entsprach keine der Frauen der führenden Nazis dem NS-Ideal von der »natürlichen« Frau. Die Frauen, mit denen Unity Mitford in Deutschland verkehrte, waren selbstbewusste, elegante Damen, und so fiel es ihr nicht schwer, das antiquierte Frauenbild der Nationalsozialisten zu ignorieren. Eher schon sagte ihr die nationalsozialistische Aufteilung der Welt in »wir« und »die anderen« zu. In ebendiesem Bewusstsein waren auch die Mitford-Kinder erzogen worden: Sie glaubten, sich stets ein wenig mehr erlauben zu können als alle anderen. In ihnen paarte sich eigenwilliger Snobismus mit überbordender Exzentrik und rabenschwarzem britischem Humor. Sie sprachen in einem übertriebenen Upperclass-Singsang, in dem immer alles »gaaaaanz toll« oder »gaaaaanz schrecklich« war. Mittelmaß war ihnen fremd. Bekannt und befreundet mit allem, was in jenen Jahren künstlerisch, intellektuell und politisch in Großbritannien Rang und Namen hatte, machten sie sich einen großen Spaß aus dem Leben, bis die Wirklichkeit sie einholte. Elitär, wie sie waren, blickten sie auf die meisten Menschen unverhohlen von oben herab. Sie waren Avantgarde, blasiert und schnell gelangweilt, aber auch unwiderstehlich charmant. Ihre politischen Verwirrungen weisen sie als typische Vertreter ihrer Klasse aus und stehen beispielhaft für die ideologischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts.

Die Geschwister hatten Dutzende von wechselnden Spitznamen füreinander, die auch von Freunden aufgegriffen wurden. Nancy hieß »Susan«, Pamela »Woman«, Tom »Tud« oder »Tuddemy«, Diana »Honks«, »Cord« oder »Nard«, Jessica »Decca«, »Susan«, »Hen« oder »Henderson«, und Deborah wurde »Debo«, »Nine«, »Hen« oder »Henderson« gerufen. Ihre Eltern bezeichneten die Kinder als »Farve« und »Muv«, manchmal hieß der Vater aber auch »Forge« und die Mutter »Fem«. Unity war für die meisten »Bobo«, für Jessica aber »Boud«, und genauso nannte Unity wiederum Jessica. Deborah rief Unity manchmal »Bird« oder »Birdie«, für Nancy hingegen war sie »Bowd«, später auch »Stony-Heart« oder »Head of Bone«. Alles in allem herrschte also ein ziemliches Durcheinander. Unitys Neffe Jonathan Guinness hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wohl allein Hitler sie schlicht und einfach »Unity« nannte.

Unity Mitford war sicherlich eine der seltsamsten Figuren im Dunstkreis der Nationalsozialisten. Dennoch ist es gerade sie – eine moderne junge Frau, die als einzige der Mitford-Schwestern unverheiratet in die Welt hinauszog –, die uns näher ist als die aus heutiger Sicht beinahe wie Karikaturen wirkenden bekannten Nazifrauen und -männer. Ihre Lebensgeschichte bietet einen neuen Zugang zum Deutschland der dreißiger Jahre und damit vielleicht die einmalige Möglichkeit, die Faszination des Nationalsozialismus zumindest ansatzweise auch für heutige Generationen verständlich zu machen. Der bedeutende britische Historiker Eric Hobsbawm weist in Das Zeitalter der Extreme zu Recht darauf hin, dass die Aufgabe des Historikers nicht die Beurteilung, sondern das Verstehen sei – sogar das Verstehen von etwas schier Unfassbarem: »Die Nazizeit in der deutschen Geschichte zu verstehen und sie in ihren historischen Kontext einzufügen heißt nicht, den Genozid zu vergeben. Kaum jemand jedenfalls, der in diesem außergewöhnlichen Jahrhundert gelebt hat, wird sich der Beurteilung enthalten können. Es ist das Verstehen, das uns allen schwerfällt.«19

Wenn Sie sich dennoch darauf einlassen möchten, dann kommen Sie mit auf eine Reise, die Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Hütte in Kanada beginnt und in die Herrenhäuser der englischen Cotswolds führt. Werfen Sie einen Blick auf das frivole London der Roaring Twenties, mit Champagnerduschen im Savoy und Lindy Hop im Kit-Kat-Club. Genießen Sie die Schokoladentorte vom Münchner Café Luitpold, schlendern Sie durch Schwabing, besuchen Sie das Haus der Kunst und nehmen Sie Ihren afternoon tea im Carlton Tearoom. Dinieren Sie in der Osteria Bavaria in der Schellingstraße, Münchens erstem, noch heute existierendem Italiener und Lieblingslokal des Vegetariers Adolf Hitler. Besuchen Sie eine Furtwängler-Premiere im Festspielhaus von Bayreuth und die Passionsspiele von Oberammergau. Werden Sie Zeuge einer Geschichte, deren Titel lauten könnte: Downton Abbey meets Reichsparteitag.

Ihre Reise wird Sie auf die alles entscheidende Frage zurückwerfen: Was hätte ich getan? Wäre auch ich dieser diabolischen Faszination erlegen? Wann hätte ich erkannt, dass dieser Weg ins Verderben führt? Hätte ich durchschaut, was Susan Sontag einmal über den Faschismus gesagt hat: »Jeder Fanatismus, der nicht Gruppenfanatismus ist, ist genau das, was die Gesellschaft unter Wahnsinn versteht.«20 Vergessen Sie für einen kurzen Moment, was Sie, als jemand, der die »Gnade der späten Geburt« besitzt, schon in der Schule gelernt haben: dass zeitgleich mit jedem Schritt, den Sie mit Unity tun, und jedem Vergnügen, dem Sie beiwohnen, Menschen gequält und ermordet wurden. Tauchen Sie ein in eine Zeit, in der eine nahezu unglaubliche Werteverschiebung stattfand. In der das Verbrechen zur Normalität erklärt wurde. Werden Sie Teil einer Gesellschaft, über die Hannah Arendt geschrieben hat, dass »80 Millionen Deutsche gegen die Wirklichkeit und ihre Faktizität durch genau die gleichen Mittel abgeschirmt gewesen waren, […] durch die gleiche Verlogenheit und Dummheit und durch die gleichen Selbsttäuschungen«.21 Seien Sie für einen Augenblick einer dieser »unbedarften« 80 Millionen und beantworten Sie am Ende für sich selbst die Frage, ob Sie wirklich nichts hätten wissen können – nichts hätten wissen müssen!

Für Unity Mitford stellte sich diese Frage übrigens nie. Bei allem Fanatismus blieb ihr Flirt mit dem Nationalsozialismus in gewisser Weise immer auch ein Spiel für sie – ein brandgefährliches Spiel, an dessen Ende 60 Millionen Menschen tot waren.

In diesem Sinne: Darf ich Sie zu einer Partie Russisch Roulette einladen?

Asthall Manor, Oxfordshire, im Sommer 2016

»Dieser glückliche Stamm von Menschen, […] dieser kostbare Stein, der in die silberne See eingefasst ist, […] dieser gesegnete Fleck, diese Erde, dieses Königreich, dieses England.« William Shakespeare, ›RichardII.‹

I.»Man verbrüdert sich nicht mit Frogs, Amerikanern und den Nachbarn.«

Ein Souvenir aus Swastika

»Mein Vater war der zweite Sohn eines englischen Peers; meine Mutter war eine Schönheit. In England bekommen nachgeborene Söhne kein Geld, und so wurde ich in einem armen Londoner Slum geboren. Da mein Vater unbedingt sieben Bluthunde und ein Pony zum Reiten für mich halten wollte, herrschte ein ziemliches Gedränge. Doch während des ersten Krieges gegen die Deutschen fiel der älteste Bruder meines Vaters, und mein Vater wurde Lord Redesdale. Danach lebten wir in einem geräumigen Haus in den Cotswolds-Bergen. Ich hatte fünf Schwestern und einen Bruder. Mein Vater und meine Mutter, beide selbst ungebildet, waren gegen Bildung, und uns Mädchen wurde auch keine zuteil, wenngleich man uns Reiten und Französisch beibrachte. Mein Bruder ging nach Eton.«22 Mit diesen Worten beschrieb die für ihren Zynismus berühmte Schriftstellerin Nancy Mitford ihre außergewöhnliche Familie, die in den dreißiger Jahren in England für mehr als nur eine Schlagzeile gut war.

Unsere Geschichte beginnt jedoch nicht in Europa, sondern jenseits des Atlantiks in Ontario, Kanada, in der kleinen Gemeinde Swastika – Hakenkreuz. Ihren Namen entlehnt die 1908 gegründete Siedlung einer nahegelegenen Goldmine. Goldsucher hatten die Mine so benannt, weil das Kreuzsymbol mit den abgewinkelten Armen im Sanskrit als Glückssymbol galt. Erst die Nationalsozialisten machten daraus ein Symbol des Schreckens. Auf die Spitze gestellt und nach rechts abgewinkelt, wurde das Hakenkreuz zum schaurigen Ausdruck für den Rassenwahn der Nazis. Als die kanadische Regierung den Bewohnern des Örtchens mit dem zweifelhaften Namen während des Zweiten Weltkriegs eine Namensänderung vorschlug, verweigerten die sich allerdings. Und das tun sie bis heute.

Den ersten Goldsuchern waren zahlreiche Abenteurer nachgefolgt, und so wurde aus dem ehemaligen Eisenbahner-Camp rasch ein Verkehrs- und Versorgungsknoten. Die Wellblechhütten wichen einer kleinen Gemeinde mit Kirche, Schule und Geschäften. Unter denen, die hier ihr Glück suchen, ist auch David Bertram Ogilvy Freeman-Mitford, Oberhaupt einer stetig wachsenden Familie. Obwohl aus angesehenem britischem Elternhaus, sind seine finanziellen Mittel beschränkt. Aufmerksam geworden durch Berichte über sagenhafte Goldfunde in Kanada, hat er sich in Swastika an einem Claim beteiligt. 1912 betritt er zum ersten Mal kanadischen Boden. Zurück in England, begeistert er mit seinen Schilderungen der rauen Natur, des freien Lebens und der Kameradschaft unter den Männern auch seine Frau Sydney, eine äußerst unkonventionelle Person. Das Paar beschließt, die Kinder in der Obhut des Personals zu belassen und gemeinsam nach Kanada aufzubrechen. Ein waghalsiger Plan – trotz zunehmendem Reisekomfort. Erst vor wenigen Monaten ist der neueste Luxusliner der White Star Line vom Stapel gelaufen. Was für ein Spaß wäre es gewesen, auf diesem Schiff zu reisen, dessen technische Raffinesse alles bisher Dagewesene übertrifft. Doch als die RMS Titanic am 15. April 1912 sinkt, sind Mr und Mrs Mitford glücklicherweise nicht an Bord. Ihre älteste Tochter Nancy aber lässt sich vom Untergang der Titanic inspirieren: »Ich hoffte sehr, dass auch ihr Schiff […] untergehen und dass ich dann die Zügel des Haushalts in die Hände nehmen würde, um ›die anderen‹ herumzukommandieren. Jedenfalls erinnere ich mich, dass ich die Daily News auf die Nachricht von einem Schiffsunglück absuchte: ›Unter den bedauernswerten Opfern sind Mr und Mrs Mitford.‹ Ich wusste, dass dieser wunderbare Traum niemals wahr werden würde, und wenn doch, wäre ich so traurig gewesen wie jede Siebenjährige.«23

Im Herbst 1913 landen Mr und Mrs Mitford wohlbehalten in Kanada. Sie leben in einer Holzhütte, Sydney kocht und putzt selbst. In der Rückschau erscheint beiden dieses spartanische Leben als die schönste Zeit ihrer Ehe. Die Winter in Kanada sind lang und einsam, und als sie im Frühjahr nach England zurückkehren, ist Sydney schwanger. Vier Tage nachdem Großbritannien dem Deutschen Kaiserreich den Krieg erklärt hat, wird am 8. August 1914 in London ein Mädchen geboren: »Wie üblich war meine Mutter damit beschäftigt, die Anzahl der anderen zu erhöhen, was ich extrem überflüssig fand«, quittiert Nancy die Geburt der Schwester. »Sie erhielt die Namen Unity, nach der Schauspielerin Unity Moore, die meine Mutter sehr verehrte, und Valkyrie, wie die Schildjungfern. Das war die Idee von Großvater Redesdale; er sagte, die Schildjungfern seien nicht deutsch, sondern skandinavisch: Er musste es wissen, war er doch ein großer Wagnerfreund.«24 Auch die Freude der Eltern ist leicht getrübt – schon wieder ein Mädchen. Dabei wäre etwas mehr Dankbarkeit durchaus angebracht: Das Kind wird das Einzige sein, was die Mitfords je aus Kanada mitbringen. Während der Besitzer des Nachbarclaims mehrfacher Millionär wird, erweist sich ihre Mine als völlig wertlos.

Ihren nahezu prophetisch klingenden zweiten Vornamen Valkyrie wird Unity in späteren Jahren wie in Wagners Ring des Nibelungen »Walküre« schreiben und hartnäckig behaupten, ihre Eltern seien über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs so empört gewesen, dass sie damit ihre Solidarität mit Deutschland zum Ausdruck bringen wollten. Dass ihr Vater lange Jahre ein ausgesprochener Deutschenhasser war, übersieht sie dabei geflissentlich. Stattdessen wird sie sowohl ihren Zeugungsort Swastika als auch ihren zweiten Vornamen als schicksalhaft begreifen und sich mit den auserwählten Schlacht- und Schildjungfern der nordischen Mythologie gleichsetzen.

David und Sydney Mitford hingegen sind keineswegs mythisch veranlagt, sondern waschechte Edwardians, festverankert im rationalen Denken ihrer Zeit. Während David mit jedem Zoll den britischen Gentleman verkörpert, ist Sydney ganz die junge Lady aus der Upperclass, die mit Hilfe von reichlich Personal den Haushalt führt und sich ansonsten den Wünschen ihres Mannes unterordnet. 1894 sind sich die beiden zum ersten Mal begegnet, in Batsford Park, Gloucestershire, dem großen Anwesen von Davids Vater Algernon Bertram Freeman-Mitford, 1. Baron Redesdale. Sydneys Vater, der konservative Parlamentsabgeordnete Thomas Gibson Bowles, ist als Freund des Hauses zu Besuch und hat seine 14-jährige Tochter mitgebracht. Die verliebt sich auf der Stelle in David. Eine Leidenschaft, die nach der Abreise rasch wieder abkühlt und sich anderen Objekten zuwendet.

Thomas Bowles und Lord Redesdale sind Viktorianer wie aus dem Bilderbuch: Männer voll Energie und Tatendrang, gesegnet mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein und der gottgegebenen Überheblichkeit der britischen Imperialisten. Thomas »Tap« Bowles ist der illegitime Sohn des liberalen Parlamentsabgeordneten Thomas Milner Gibson und seiner Geliebten Susannah Bowles, einem Dienstmädchen. Mit drei Jahren kommt er ins Haus seines Vaters, dessen außergewöhnliche Gattin den kleinen Thomas nicht nur in die Familie integriert, sondern sich auch stets wie eine Löwin vor ihn stellt: »Das ist Thomas Bowles. Seien Sie nett zu ihm oder verlassen Sie mein Haus.«25 Obwohl Thomas sich als der intelligenteste seiner Söhne entpuppt, schickt sein Vater ihn nicht nach Eton, sondern auf ein Internat nach Frankreich, um die feine britische Gesellschaft nicht noch mehr zu brüskieren. Nach seiner Rückkehr studiert der attraktive junge Mann am King’s College in London, woran sich eine steile Karriere als Journalist der Morning Post anschließt. 1868 gründet er das Gesellschaftsmagazin Vanity Fair und wird zu einem der erfolgreichsten Verleger der Insel. Zusammen mit seiner geliebten Frau Jessica hat er vier Kinder. Als Jessica 1887 mit nur 35 Jahren an ihrer fünften Schwangerschaft stirbt, übernimmt er höchstpersönlich die Erziehung seiner Kinder. Während die Söhne Geoffrey und George ins Internat kommen, bleiben die Töchter Sydney und Dorothy, genannt Weenie, beim Vater. Eine ungewöhnliche Entscheidung, doch Thomas Bowles hatte sich bereits zu Lebzeiten seiner Frau um die Erziehung der Kinder gekümmert und mit seinen für viktorianische Verhältnisse seltsam anmutenden Erziehungsmethoden sämtliche Kindermädchen zur Verzweiflung gebracht. In einer Zeit, in der man kühle Nachtluft für gesundheitsgefährdend hält, verfügt er, dass die Fenster im Schlafzimmer nachts immer einen Spalt offen stehen. Er schwört auf Naturheilkunde, setzt auf drei Mahlzeiten täglich und verbietet seinen Kindern strikt, zwischen den Mahlzeiten zu essen. Statt reichhaltiger Kost empfiehlt er – im scharfen Kontrast zu den Gepflogenheiten seiner Zeit – leicht Verdauliches und viel Bewegung. Auch dass er tägliches Duschen einem wöchentlichen Vollbad vorzieht, befremdet viele Zeitgenossen.

Bowles’ große Liebe gilt dem Meer. Als kleiner Junge hatte ihm sein Vater das Segeln beigebracht. Nach dem Tod seiner Frau erwirbt er einen Schoner und sticht mit seinen Töchtern in See. Die Weltmeere werden das Zuhause der Familie. Auch nachdem sie sich in London niedergelassen haben, verbringen sie die Sommermonate auf See. Sydney, die die Liebe des Vaters zum Meer teilt, erlebt die Zeit an Bord als frei und unbeschwert. Dabei bringt Thomas Bowles seinen Töchtern nur wenig Interesse entgegen. In Ermangelung selbsterfahrener Zärtlichkeit wird Sydney als Mutter später Schwierigkeiten haben, ihren Kindern gegenüber Gefühle zu zeigen. Die Erziehung der Bowles-Kinder folgt weit mehr den Gesetzen der christlichen Seefahrt als gesellschaftlichen Normen. So tragen die Mädchen keine Kleider, sondern maßgeschneiderte Matrosenanzüge von Gieves, London, dem Ausstatter der britischen Marine. Dass sie in diesem Aufzug auch bei offiziellen Anlässen erscheinen, versetzt die feine Londoner Gesellschaft in helle Aufregung. Thomas Bowles ist das egal. Hätten wohlmeinende Freunde nicht dezent darauf hingewiesen, dass Matrosenanzüge eine eher unpassende Bekleidung für junge Frauen sind, wären seine Töchter noch im Matrosenanzug vor den Traualtar getreten. So aber trägt Sydney, hübsch, blond und mit strahlend blauen Augen, ein Kleid, als sie in die Gesellschaft eingeführt wird. Zeit ihres Lebens wird sie ein Faible für schöne Kleider haben, wenngleich sie aus Sparsamkeit längst unmodern gewordene Garderobe mit Grandezza aufträgt, bis sie auseinanderfällt. Mit nur 14 Jahren übernimmt sie den Haushalt der Familie in London. Ihre frühen Erfahrungen mit respektlosen männlichen Dienstboten führen dazu, dass es im Mitford’schen Haushalt später nur weibliches Personal gibt. Die Ausbildung der Bowles-Kinder übernimmt die Gouvernante Rita »Tello« Shell. Sie bekommt im Laufe der Jahre drei Söhne von Thomas Bowles und wird mehr als 25 Jahre Chefredakteurin einer seiner Zeitungen sein. Heiraten werden die beiden nie. Die Kinder lieben Tello sehr, auch wenn sie lange keine Ahnung von deren Beziehung zum Vater haben. Der wiederum ist von der Männerwahl seiner Töchter keineswegs begeistert. Als junge Frau ist Sydney mehrmals heftig verliebt, nach Ansicht ihres Vaters meist unter ihrem Niveau. Erst nachdem ihr der Burenkrieg die vermeintlich letzte große Liebe genommen hat, wird sie David Mitfords Frau.

David Mitford wird am 13. März 1878 in eine angesehene Familie mit insgesamt neun Kindern hineingeboren. Als drittes Kind und zweitgeborener Sohn von Lord Redesdale wächst er im Schatten seines fabelhaften Bruders Clement auf, dem Erben des Titels. In Großbritannien ist im Gegensatz zum Kontinent einzig der Träger des Titels adelig, nicht aber seine Familie. Der britische Hochadel, zu dem die Redesdales gehören, setzt sich aus Peers, auch Lords genannt, zusammen, die zwar unterschiedliche Titel tragen, aber alle einen Sitz im Oberhaus haben. Die peerage ist ein Auszeichnungssystem, das sich auf die Person beschränkt, selbst wenn auch die Ehefrau mit Titel angesprochen wird. Meist wird der Titel in direkter Nachfolge auf den ältesten Sohn übertragen. Gibt es nur weibliche Nachkommen, läuft man, mit einigen Ausnahmen bei älteren Adelstiteln, Gefahr, den Titel zu verlieren. Nancy Mitford, überzeugte Anhängerin der britischen Aristokratie, erklärt Fremden die Bedeutung des Peersystems folgendermaßen: »Vielleicht sieht es so aus, als stünde die englische Aristokratie kurz vor ihrem Untergang, aber sie ist die einzige echte Aristokratie, die es auf dieser Welt heute noch gibt. Durch das Oberhaus verfügt sie über reale politische Macht und durch die Königin über eine reale Position in der Gesellschaft. Eine Aristokratie in einer Republik gleicht einem Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hat: Vielleicht läuft es noch munter umher, aber in Wirklichkeit ist es tot. Nichts kann einen Franzosen, einen Deutschen oder einen Italiener daran hindern, sich Herzog von Carabosse zu nennen, wenn ihm danach ist, und tatsächlich gibt es auf dem Kontinent Phantasietitel in Hülle und Fülle. In England aber ist die Königin die Quelle der Ehrentitel, und wenn sie einem ihrer Untertanen die Peerswürde verleiht, verleiht sie ihm etwas Wirkliches und Unverwechselbares.«26

Heute verleiht die englische Krone die Peerswürde nur mehr auf Lebenszeit. Diese Peers sind den erblichen zwar gleichgestellt, können ihre Titel aber nicht vererben. Seit 1963 besteht zudem die Möglichkeit, seinen ererbten Titel abzulegen und für einen Sitz im Unterhaus zu kandidieren. 1999 wurden bei der Reform des Oberhauses die meisten der erblichen Oberhaussitze abgeschafft, sodass sich das Oberhaus heute vorwiegend aus sogenannten life peerszusammensetzt. Wenn alle Nachkommen des ersten Titelinhabers verstorben sind, erlischt der Titel auch bei erblichen Peers. Der Titel kann dann von der Krone neu vergeben werden. Im Fall der Redesdales war der Titel 1886 erloschen und für Algernon Bertram »Bertie« Freeman-Mitford angesichts seiner Verdienste 1902 erneuert worden. Infolgedessen wird sein erstgeborener Sohn Clement einmal Lord Redesdale werden, sein zweitgeborener Sohn David aber immer Mr Mitford bleiben.

Während Clement auf seine künftigen Aufgaben vorbereitet wird, bleibt Davids Erziehung auf der Strecke. Schon früh zeigt sich die Ambivalenz seines Charakters. Bei aller Intelligenz ist er unberechenbar und neigt schon als Kind zu unerklärlichen Wutausbrüchen. Auf der anderen Seite ist er mit seinen strahlend blauen Augen, dem dunkelblonden Haar und der sportlichen Figur außerordentlich attraktiv und bringt andere mit seinem trockenen Humor oft und gern zum Lachen. Während Clement nach Eton geht, tut es für David auch das weniger elitäre Radley College in der Nähe von Oxford. Den Drill dort erlebt er als Tortur. Es wird ihm nie gelingen, sich in die streng reglementierte Gemeinschaft einzufügen. Zudem hasst er es, seine Zeit mit Büchern zu verbringen, es drängt ihn hinaus ins Freie. Das einzige Buch, das ihn wirklich begeistert, ist ein Buch von Jack London über das Leben in und mit der Natur: »Ich habe in meinem ganzen Leben nur ein einziges Buch gelesen, und zwar Wolfsblut. Es ist so unheimlich gut, dass ich mich nie mit einem anderen abgegeben habe«,27 pflegt er später seinen Kindern zu erwidern, wenn sie ihn mit seiner Unbelesenheit aufziehen. Das Zwangssystem englischer Eliteinternate verleidet David Mitford ein für alle Mal jegliche Freude an Bildung. Das zeigt sich auch an seinem beschränkten Musikgeschmack. Jahraus, jahrein wird auf dem Grammophon in seinem Arbeitszimmer das immer gleiche Werk von Puccini abgespielt. Zum Leidwesen seiner Kinder brummt David Mitford, wenn er gutgelaunt ist, dabei mit.

Sein Wunsch, in der Armee Karriere zu machen, scheitert schon an der Aufnahmeprüfung für die Militärakademie Sandhurst. Um weitere Schande von der Familie abzuwenden, wird David in die britische Kolonie Ceylon geschickt, wo er auf einer Teeplantage sein Glück versuchen soll. Während eines Heimaturlaubs in England bricht jedoch der zweite Burenkrieg aus, zwischen Großbritannien auf der einen Seite und dem Oranje-Freistaat und der Südafrikanischen Republik (Transvaal) auf der anderen. Die beiden Burenrepubliken stehen den Expansionsplänen Großbritanniens im Weg. Nachdem 1869 erste Gold- und Diamantenvorkommen auf deren Gebiet entdeckt worden waren, hatte Großbritannien die Südafrikanische Republik 1877 kurzerhand annektiert. Im ersten Burenkrieg 1880/81 hatten die Südafrikaner ihre Freiheit zurückerobert. Als jedoch 1886 in der Gegend rund um Johannesburg weitere Gold- und Diamantenfunde gemacht wurden, fielen zahlreiche Abenteurer aus den benachbarten britischen Kolonien in die Burenrepubliken ein, um dort schnelles Geld zu machen. Die Buren fühlten sich in ihrer Existenz bedroht, was Paulus Krüger, Präsident von Transvaal, dazu veranlasste, den »Uitlanders« die politische und rechtliche Gleichstellung zu verwehren. Da diese Ausländer aber bereits zwei Drittel der Bevölkerung stellten, bot er damit Großbritannien die Gelegenheit, sich zum Verteidiger seiner diskriminierten Staatsangehörigen zu stilisieren. Der vom britischen Empire favorisierte Kap-Kairo-Plan, der ein geschlossenes britisches Weltreich von Ägypten bis Südafrika vorsah, rückte nun in greifbare Nähe. Eine der treibenden Kräfte hinter diesem Plan war Cecil Rhodes, Premierminister der Kapkolonie und Namensgeber der Republik Rhodesien. Am 12. Oktober 1899 begann der zweite Burenkrieg.

David Mitford sieht in diesem Krieg die Chance, seinen Traum von einer Militärkarriere doch noch wahr werden zu lassen. In den Reihen der Royal Northumberland Fusiliers zieht er in den Krieg. Ceylon wird er nie wiedersehen. In Südafrika wird er bei Kampfhandlungen mehrmals schwer verwundet, am Ende verliert er einen Lungenflügel. 1902 kehrt er als Kriegsinvalide nach Hause zurück. Der mit äußerster Brutalität geführte Burenkrieg endet am 31. Mai 1902 mit dem Frieden von Vereeniging. Traurige Berühmtheit genießt dieser Krieg vor allem durch die vom britischen Befehlshaber Herbert Kitchener eingerichteten concentration camps. Im Zuge der von Kitchener verfolgten Strategie der verbrannten Erde wurden hier vor allem Frauen und Kinder interniert. Von den ca. 120000 Lagerhäftlingen starben mehr als 26000 an Hunger, Entkräftung und den katastrophalen hygienischen Zuständen.

Während dieser Jahre stehen Sydney und David in losem Briefkontakt. Nachdem Sydneys Galan im Burenkrieg gefallen ist, intensiviert sich der Kontakt derart, dass die beiden am 6. Februar 1904 in der St. Margaret’s Church in London vor den Traualtar treten. Sie sind ein schönes Paar und offensichtlich glücklich. Die Hochzeitsreise beginnt auf dem neuen Schiff von Thomas Bowles und schließt einen längeren Aufenthalt in Paris mit ein. Zurück in London, lassen sich Sydney und David in der Graham Street1 nahe dem Sloane Square nieder. Bereits am 28. November 1904 wird das erste Kind geboren. David Mitford ist, ungewöhnlich genug zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bei der Geburt anwesend. Schon von der Schwangerschaft seiner Frau war er restlos begeistert: »Ein solches Glück hätte ich mir nie träumen lassen. Ich hatte keine Ahnung, wie es sein würde – jetzt kann ich kaum an etwas anderes denken […]. Sydney wird genauso eine Mutter sein, wie ich sie hatte, also muss ein sehr glücklicher kleiner Junge aus ihm werden.«28 Dass der vermeintliche Junge ein Mädchen ist, tut Davids Freude keinen Abbruch: »Das Baby ist wunderbar, gute acht Pfund bei der Geburt und das niedlichste Kindchen, das Du Dir vorstellen kannst«,29 berichtet er seiner Mutter. Die kleine Nancy wird zum Liebling des großen Haushalts, bestehend aus einem Koch, einer Hausdame, einem Hausmädchen, einer Küchenhilfe und der Kinderfrau Ninny Kersey. Nancy wird nach einem neuartigen pädagogischen Konzept erzogen, wonach es keine Verbote, keine Strafen und auch keine harten Worte gibt, sondern einzig Verständnis und Nachsicht. Sie nutzt diese Ansätze moderner antiautoritärer Erziehung weidlich aus und entwickelt sich zu einer kleinen Tyrannin.

Da die Apanagen beider Väter ein sorgenfreies Leben nicht gestatten, sieht David sich genötigt, einen Geschäftsführerposten beim Magazin The Lady zu übernehmen. Die von Thomas Bowles 1885 gegründete Zeitschrift ist bis heute die erste Adresse für die englische Upperclass – von der Suche nach einem Butler bis zu allgemeinen Haushaltstipps. Wie es der natur- und freiheitsliebende David in den engen Büroräumen in Covent Garden aushalten soll, weiß er noch nicht. Als Erstes macht er sich mit seinem aus Ceylon mitgebrachten Mungo auf die Jagd nach den unzähligen Ratten, die das Bürogebäude fest im Griff haben. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wird David Mitford bei The Lady bleiben, eingesperrt in stickigen Räumen und beschäftigt mit Dingen, die ihn nicht interessieren.

Am 25. November 1907 wird den Mitfords ein weiteres Mädchen geboren: Pamela – für die dreijährige Nancy ein schwerer Schock. Sie wird Pamela deren Geburt niemals verzeihen und die kleine Schwester nach Kräften peinigen. Unvorstellbar, dass Nancy sich die geliebte Nanny mit Pamela teilt. Also wird Ninny Kersey durch ein neues Kindermädchen ersetzt. Es beginnt das Schreckensregiment einer Person, die als »die unfreundliche Nanny« in die Familienhistorie eingeht. Von den Kindern wird sie aus tiefstem Herzen gehasst. Am 2. Januar 1909 wird endlich der ersehnte Stammhalter geboren: Thomas, von allen nur Tom genannt. Eineinhalb Jahre später, am 17. Juni 1910, erblickt Diana das Licht der Welt. Sie wird einmal als schönste Frau Englands gehandelt werden. Und schon bei ihrer Geburt entlockt sie der »unfreundlichen Nanny« den Satz: »Sie ist zu schön. Die wird’s nicht lange machen.«30 Die nun schon recht große Kleinfamilie zieht jetzt nach Kensington, in ein geräumiges Haus in der Victoria Road 49.

Bald kommt ein neues Kindermädchen ins Haus. Angeblich hat man die »unfreundliche Nanny« dabei erwischt, wie sie Nancys Kopf gegen einen Bettpfosten schlug. Laura Dicks, genannt Nanny Blor, wird 40 Jahre lang die verehrte Ersatzmutter der Kinder sein. Bei ihrem Eintritt in den Mitford’schen Haushalt ist die Tochter eines Schmieds 39 Jahre alt. Die Kinder lieben ihre stets perfekt gekleidete Mary Poppins über alles. Mit ihrem grauen Rock, dem grauen Mantel, den robusten Schuhen, den Handschuhen und einer recht pragmatischen Gottesfurcht ist sie der Inbegriff der englischen Nanny. Allen Streichen zum Trotz verliert sie niemals die Geduld, und sie erzählt wunderbare Geschichten von Trollen und Prinzessinnen. Wenn sie den Kindern vor dem Schlafengehen ein Gutenachtlied vorsingt, herrscht pure Harmonie. Von Nanny Blor gibt es niemals ein lautes Wort, keine Rüge, keine Kritik. Ihr genügen ein dezenter Hinweis und ein Räuspern: »Hm, sehr albern, Liebling.« An ihrer Seite unternehmen die Mitford-Kinder Ausflüge in die große weite Welt der Kensington Gardens, in das Victoria and Albert Museum oder das Natural History Museum. An besonders guten Tagen besuchen sie für eine Tasse Tee und ein Stück original Fullers Walnusskuchen William Bruce Fullers legendären Tearoom. Der Geschmack der mehrschichtigen Walnusstorte wird zum unvergessenen Geschmack ihrer Kindheit und findet später sogar Eingang in Nancys Roman Liebe unter kaltem Himmel: »Mrs Heathery, die die Kinder anbetete, hatte das Geschrei gehört, als sie hereinkamen, und brachte nun frischen Tee und eine Torte von Fuller, die weiteres Gejubel auslöste. ›Oh, Mrs Heathery, Sie sind ein Engel, ist das etwa Fullers Walnuss? Wie kannst du dir das leisten, Fanny – seit Fas letzter Finanzkrise haben wir die nicht mehr gehabt – aber es geht aufwärts, wir sind schon wieder bei Bromo-Krepp und dem guten Briefpapier. Wenn das Klopapier dicker und das Briefpapier dünner wird, ist das immer ein schlechtes Zeichen.‹«31 Die puritanische Nanny Blor wird zur wichtigsten Bezugsperson der Kinder, die, wie in ihren Kreisen üblich, zweimal am Tag adrett gekleidet den Eltern vorgeführt werden. Ansonsten sind sie unter sich und bei Nanny Blor, die im Haus bleibt, auch als alle Kinder längst erwachsen sind. 1962 setzt Nancy ihr in der Sunday Times mit einem Essay ein literarisches Denkmal, das Sydney Mitford als Mutter abwertet und tief verletzt.32

Die Kinder sind die einzige Abwechslung im Leben des jungen Paares, das nicht zuletzt wegen der finanziell angespannten Lage zurückgezogen lebt. Von außen betrachtet, sind die Mitfords leibhaftige britische Exzentriker. Trotz seiner kaputten Lunge raucht David wie ein Schlot, ansonsten aber ist er strenger Abstinenzler und nimmt nur klares Wasser aus einem Pokal zu sich, den sein Vater einmal für seine Pferde gewonnen hat. Wann immer möglich, verlässt er London und fährt aufs Land. Er liebt das Reiten und die Jagd, auch dann noch, als er nach einem Sturz vom Pferd nicht mehr in der Lage ist, seinem Hobby nachzugehen. Ihre Leidenschaft für die Countryside verbindet David und Sydney, die vor allem die schottischen Highlands liebt. Auch sie kann hervorragend reiten und schießen, spielt begeistert Golf und Kricket. Beider Lieblingssport ist jedoch das Eislaufen.

David ist zwar immer gut gekleidet, als echter Brite aber kein Geck. Praktisch geht immer vor schick. Seine zahlreichen Vorurteile hegt und pflegt er wie zarte Pflänzchen, und nichts und niemand kann ihn von einer einmal gefassten Meinung abbringen. Die guten Manieren eines englischen Gentleman paaren sich bei ihm mit Intoleranz, Impulsivität und Ignoranz. Für David Mitford gibt es nur zwei Arten von Menschen: solche, die er mag, und solche, die er nicht mag. Seine Nachbarn verachtet er ebenso wie die Freunde seiner Kinder. Menschen, die ihm nicht zusagen, verweist er ohne weitere Erklärung des Hauses. Er be- und verurteilt im selben Augenblick, eine zweite Chance erhält niemand. Was andere von ihm denken, ist ihm gleichgültig. Sozialisiert durch das imperialistische Denken seiner Zeit, gehört die Herabwürdigung anderer Nationen, Religionen und Ethnien bei ihm schon fast zum guten Ton. Die Briten sind eine Nation voller Sendungsbewusstsein, und David Mitford wurde in dem festen Glauben erzogen, im Besitz einer höheren Moral zu sein, die man all denjenigen bringen muss, die ihrer entbehren. Getragen von der göttlichen Mission, die britische Kultur in aller Herren Länder zu bringen, blüht der Rassismus und mit ihm die englische Variante des Chauvinismus und Hurra-Patriotismus, der Jingoismus, seit Jahrzehnten auf der Insel. Ein besonders eifriger Verfechter des Imperialismus ist der Schriftsteller und Nobelpreisträger Rudyard Kipling, heute vor allem bekannt durch den Kinderbuchklassiker Das Dschungelbuch. Mit seinem gleichnamigen Gedicht von 1899 prägt er die Phrase von der Bürde des weißen Mannes, dessen ethische Pflicht es sei, den Wilden die Zivilisation zu bringen. Als literarisches Sprachrohr des britischen Imperialismus trägt er mit seinen Texten zur Idealisierung des Empires bei, über dem die Sonne niemals untergehen möge – ein Ideal, dem sich David Mitford voll und ganz verpflichtet fühlt.

Gesegnet mit unüberwindlicher Starrköpfigkeit, geht er durchs Leben und sorgt im Alltag seiner Familie immer wieder für skurrile Situationen. 1911 mieten die Mitfords Old Mill Cottage in High Wycombe, Buckinghamshire als Landhaus für den Sommer. Schon bei der Anreise mit dem Zug gibt es Probleme, als die Mitford-Kinder – begleitet von einem halben Zoo, bestehend aus einem Mungo, mehreren Hunden, Hamstern, Mäusen, Ringelnattern und einem Zwergpony namens Brownie, das David Mitford spontan auf dem Nachhauseweg vom Büro erstanden hat und das seitdem im ersten Stock des Londoner Hauses lebt – auf dem Bahnsteig aufmarschieren. Der entgeisterte Zugbegleiter verweigert der bunten Menagerie den Zugang zur ersten Klasse, worauf David Mitford kurzerhand mitsamt seinem Zirkus in der dritten Klasse reist. Ein Umstand, der weitaus aufsehenerregender ist als der Tierpark, den die Familie mit sich schleppt, oder die Tatsache, dass Klein Pamela im Gepäcknetz verstaut wird. Das unorthodoxe Verhalten ihrer Eltern wird aus den Kindern unbeugsame Freigeister machen. Auch ihnen wird es zeit ihres Lebens völlig egal sein, was andere von ihnen denken.

Die Sommer auf dem Land sind bei Kindern wie Eltern gleichermaßen beliebt. David kann den verhassten Schreibtisch gegen Gummistiefel tauschen und über die Felder stapfen. Sydney kutschiert die jauchzende Kinderschar im Ponywagen durch die Gegend, und im großen Obstgarten kann man nach Lust und Laune herumtollen. Sogar die kritische Nancy ist ausnahmsweise zufrieden, was nicht zuletzt an ihrem Zwerghuhn Specky liegt.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldet sich David freiwillig, obwohl er aufgrund seiner Verletzung aus dem Burenkrieg als untauglich gilt. Unmittelbar nach Unitys Geburt am 8. August 1914, bei der David entgegen seiner Gewohnheit nicht anwesend ist, reist Sydney ihrem Mann nach Newcastle hinterher. Das Zimmer, in dem sie eine Zeitlang zu dritt leben, ist so winzig, dass Baby Unity in der Kommodenschublade schlafen muss.

Nachdem David nach Frankreich abkommandiert worden ist, verbringen Sydney und die Kinder den Sommer 1914 abwechselnd in Old Mill Cottage, bei den Großeltern väterlicherseits in Batsford Park und in Bournhill Cottage, Großvater Bowles’ Haus am Meer, in dem Sydneys Schwester Weenie mit ihrer Familie lebt. Im Januar 1915 erleidet David Mitford einen gesundheitlichen Zusammenbruch und kehrt nach England zurück. Hier ereilt ihn im Mai die Nachricht vom Kriegstod seines älteren Bruders Clement. Davids tiefe Trauer über den Verlust des geliebten Bruders bleibt den Kindern lebenslang in Erinnerung. Es ist das einzige Mal, dass sie den Vater weinen sehen. Clement hinterlässt eine Tochter und seine schwangere Frau. Sollte das Baby ein Junge werden, so wird er als Nachfolger seines Vaters Erbe des Titels. Doch im Oktober 1915 wird ein Mädchen geboren, und David Mitford tritt an die Stelle seines Bruders – als Erbe des väterlichen Titels und Vermögens. Ungeachtet der neuesten Entwicklungen, kehrt er nach seiner Genesung als Nachschuboffizier an die Front zurück. Lustige Briefe sind das Einzige, was die Kinder in den nächsten Monaten von ihrem Vater haben. Zu Hause werden die Mittel langsam knapp. David Mitfords Sold reicht nicht aus, um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Als die Regierung zu Kriegszwecken die Steuern erhöht, sieht sich Großvater Bowles gezwungen, Sydneys Apanage zu kürzen, um seine Zeitungen zu halten. Dafür springt nun Lord Redesdale ein, für den sich mit Clements Tod auch das Verhältnis zu David und seiner Familie verändert hat. Er betrachtet es als seine Pflicht, die Familie seines Erben zu unterstützen, und bietet den Mitfords mit Malcolm House eine Bleibe auf seinem 9000 Hektar großen Besitz Batsford Park an. Obwohl sie nicht begeistert davon ist, ein Leben unter Aufsicht der Schwiegereltern zu führen, fügt sich Sydney angesichts der prekären finanziellen Lage ins Unvermeidliche. Alles wird in Kisten verstaut, dann geht’s auf nach Batsford Park. Das Haus in London wird vermietet – Rückkehr nicht ausgeschlossen.

David Mitford, dem Landedelmann, kommt der Umzug gerade recht. Endlich wieder unbekümmert durch die Natur streifen, Fuchsjagden beiwohnen und den Wechsel der Jahreszeiten erleben. Zudem ist Batsford Park sein Elternhaus. Hier kennt er jeden Busch, jeden Strauch. Auch die Kinder sind begeistert. Das große Herrenhaus, vollgestopft mit Andenken an Lord Redesdales Zeit in Asien, ist für sie ein einziger Abenteuerspielplatz. Und erst der außergewöhnliche Garten mit seinen exotischen Pflanzen und dem chinesischen Pavillon. Eine wahre Zauberwelt. Lord Redesdale hat sein komplettes Vermögen in den Ausbau von Haus und Garten gesteckt, Geld, das man nach Meinung von Architekten auch besser hätte anlegen können. Doch dem Lord gefällt’s.

Seine Frau Lady Clementine Ogilvy ist die Tante von Winston Churchills Frau Clementine. Die Mitfords sind also mit dem späteren Premierminister verwandt. Um die Herkunft von Clementine Churchill wiederum ranken sich wilde Geschichten. Eine davon besagt, dass Bertie Mitford, also Lord Redesdale, ihr Vater ist. Viel mehr dürfte Berties Frau allerdings gestört haben, dass sich hartnäckig das Gerücht hält, ihr Mann habe vor und während der Ehe eine Affäre mit seiner Schwiegermutter gehabt. Tatsächlich ist Bertie Mitford eine überaus schillernde Figur. Als Mitglied des diplomatischen Korps hat er in St. Petersburg, Peking und Yokohama gelebt, wobei Japan den nachhaltigsten Eindruck auf ihn ausübte. Obwohl er sich rühmt, perfekt Japanisch zu sprechen, kursiert in der Familie eine Geschichte darüber, wie Bertie einmal in Paris mit japanischen Kindern zu kommunizieren versuchte: »Sie haben nicht ein Wort von dem verstanden, was er sagte.«33

Nach seiner Rückkehr nach Großbritannien wird er 1874 von Premierminister Benjamin Disraeli zum Bauleiter für die Schlösser und Gärten Londons ernannt und schließlich 1902 für seine Verdienste um die Krone zum Lord. Seine 1915 publizierten Memoiren sind ein Bestseller, schließlich hat er nicht nur die halbe Welt bereist, sondern zählt Persönlichkeiten wie König Edward VII. zu seinen engsten Freunden. Der beruft den Lord zum Berater für die Gärten von Sandringham, was George VI. Jahre später zu der Aussage verleiten wird: »Der alte Redesdale brachte meinen Großvater dazu, Knöterich auf Sandringham zu pflanzen, und wir werden das Zeug jetzt nicht mehr los.«34 Großvater Redesdale verkehrte in seiner Jugend mit den Präraffaeliten um John Millais ebenso wie mit dem Schriftsteller William Thackeray und Premierminister Henry Palmerston. Er ist sehr beliebt und wie alle Mitfords restlos von sich überzeugt. Besonders stolz ist er auf seine enge Freundschaft mit Siegfried Wagner, Sohn des weltberühmten Komponisten. Auf dessen Schreibtisch in der Villa Wahnfried in Bayreuth steht gar ein Bild von Bertie Mitford, dem großen Wagnerverehrer.35 Zugang zum Wagner-Clan verschaffte ihm der englische Rassentheoretiker Houston Stewart Chamberlain, der seit 1908 in zweiter Ehe mit Wagners Tochter Eva verheiratet ist. Sein Hauptwerk Die Grundlagen des19. Jahrhunderts war 1899 erstmals in Deutschland erschienen. Ausgehend von der Rassenlehre Joseph Arthur de Gobineaus, entwirft Chamberlain ein Geschichtsbild, das die Historie als Kampf zwischen den Rassen interpretiert. Dabei sind die Rassen von unterschiedlicher Wertigkeit. Während die Germanen kulturschöpferisch sind, gelten ihm die Juden als minderwertige Rasse, deren Einfluss auf die christliche Kultur abgewehrt werden muss. Chamberlains Thesen verursachten großes Aufsehen und brachten ihm neben harscher Kritik auch viel Zuspruch ein. Zu seinen Bewunderern zählt der deutsche Kaiser Wilhelm II., der Chamberlain mehrfach empfangen hat. Der englischen Erstausgabe von 1911 hatte Bertie Mitford ein begeistertes Vorwort vorangestellt. Die hymnischen Besprechungen, die das Buch in Großbritannien erhielt, sahen großzügig über Chamberlains Antisemitismus hinweg. Zum einen waren antisemitische Tendenzen auch in Großbritannien weitverbreitet, zum anderen galt Chamberlains pseudowissenschaftliche Rassenlehre als sehr modern: Und so legte selbst ein Sozialist und Pazifist wie der spätere Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw, Mitglied der reformorientierten Fabian Society, seinen Lesern das Buch ans Herz.36

Chamberlains Thesen fielen auf fruchtbaren Boden in einem Land, das sich einerseits als Weltmacht begriff und mit anderen Nationen in erbittertem Wettstreit um die koloniale Aufteilung der Welt stand, sich andererseits aber bedroht fühlte durch Armutsimmigranten aus Irland und Osteuropa. Den größten Widerhall fanden Chamberlains Thesen bei denen, die gerade ihre eigene Entmachtung erlebten: der britischen Aristokratie. Nicht nur dass die Arbeiterbewegung immer stärker wurde, mit der Labour-Partei hatte sie längst auch einen höchst erfolgreichen politischen Arm. Auf die Liberalen konnten sich die Lords ohnehin nicht verlassen. 1908 hatte David Lloyd George als Schatzkanzler ein Reformpaket im Parlament eingebracht, zu dem eine Sozialversicherung für Geringverdiener mit Krankenversicherung und Arbeitslosengeld gehörte. Finanziert werden sollten diese Reformen durch höhere Steuern vor allem auf Einkommen aus Grundbesitz. Das Oberhaus lehnte die Gesetzesvorlage erwartungsgemäß rundweg ab. Die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Oberhaus führten zu zwei kurz aufeinanderfolgenden Neuwahlen, die ein klares Votum für die Regierungspolitik brachten. Als der König dem noch immer widerspenstigen Oberhaus schließlich mit einem Peers-Schub drohte, also damit, so viele neue Peers zu ernennen, bis der Widerstand zusammenbrechen würde, beugte sich das Oberhaus schließlich und stimmte im Parliament Act von 1911 seiner eigenen Entmachtung zu. Die Lords büßten ihr absolutes Vetorecht zugunsten eines suspensiven Vetos ein. Damit war die Macht des Oberhauses gebrochen und die Stellung des Unterhauses als wichtigste politische Institution bestätigt.

Die Lords verloren ökonomisch, politisch und gesellschaftlich sukzessive an Einfluss und wurden anfällig für die Thesen eines Houston Stewart Chamberlain, der 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, die deutsche Staatsbürgerschaft annahm – nur folgerichtig für einen Mann, der Deutschland im Ranking der Nationen auf dem ersten Platz sah. Sein ideologischer Einfluss auf Hitlers Mein Kampf ist nicht von der Hand zu weisen. Im Sommer 1923 begegnen sich die beiden zum ersten Mal in Bayreuth, und kurz vor dem Novemberputsch 1923 schreibt Chamberlain an den »lieben Herrn Hitler«: »Sie sind ja gar nicht, wie Sie mir geschildert worden sind, ein Fanatiker, vielmehr möchte ich Sie als den unmittelbaren Gegensatz eines Fanatikers bezeichnen. Der Fanatiker erhitzt die Köpfe, Sie erwärmen die Herzen. Der Fanatiker will überreden, Sie wollen überzeugen, nur überzeugen. […] Ich möchte Sie ebenfalls für das Gegenteil eines Politikers – dieses Wort im landläufigen Sinne aufgefasst – erklären, denn die Asche aller Politik ist die Parteiangehörigkeit, während bei Ihnen alle Parteien verschwinden, aufgezehrt von der Glut der Vaterlandsliebe. […] Mein Glauben an das Deutschtum hat nicht einen Augenblick gewankt, jedoch hatte mein Hoffen – ich gestehe es – eine tiefe Ebbe erreicht. Sie haben den Zustand meiner Seele mit einem Schlage umgewandelt. Dass Deutschland in der Stunde seiner höchsten Not sich einen Hitler gebiert, das bezeugt sein Lebendigsein.«37 Es ist die Mitford-Wagner-Chamberlain-Connection ihres Großvaters, der Unity Mitford nicht nur ihren zweiten Vornamen, sondern auch den Zugang zu höchsten NS-Kreisen verdankt.

Viel Zeit bleibt den Kindern nicht, ihren Großvater väterlicherseits näher kennenzulernen. Am 17. August 1916 stirbt Bertie Mitford, 1. Baron Redesdale, der den Tod seines geliebten Sohnes Clement nie verwunden hat, wohl auch an gebrochenem Herzen. Damit ist David Mitford nun 2. Baron Redesdale. Erstes Anzeichen der neuen Herrlichkeit ist die Tatsache, dass die Familie Mitford ins Herrenhaus übersiedelt. Großmutter Redesdale zieht sich nach Redesdale Cottage in Northumberland zurück. Zum Entzücken ihrer Enkel, die oft zu Besuch kommen, hält sich die schrullige alte Dame als Haustier ein Berkshire-Schwein, von dem sie sonntags auch zum Gottesdienst begleitet wird. Nach einer weiteren Verwundung an der Front kehrt der neue Lord Redesdale endgültig nach England zurück. Bis Kriegsende wird er seinen Dienst an der Heimatfront in Oxford, eine Motorradstunde von Batsford Park entfernt, verrichten.

Was auf den ersten Blick wie ein kometenhafter Aufstieg wirkt, birgt große Probleme für die Familie des Lords. Batsford Park ist ein riesiges Anwesen, die Kosten für den Unterhalt sind immens. Wie viele Erben großer Landgüter kämpfen die Mitfords einen aussichtslosen Kampf gegen marode Dächer, schimmlige Wände, bröckelnden Putz und drohenden Bankrott. Barvermögen wird im englischen Landadel nur selten vererbt, das Geld ist gebunden in Häusern, Grund und Boden. Zwar sind die meisten Äcker an zuverlässige Landwirte verpachtet, doch die Zeiten, in denen arme Pächter sich halbtot schufteten, um ihre Pacht zu bezahlen, sind lang vorbei. Die Industrialisierung hat neue Arbeitsplätze geschaffen, viele Menschen sind in die Städte abgewandert. Die Allherrlichkeit des englischen Landadels ist dahin. Einzig mit einer niedrigen Abgabe lassen sich noch Pächter für die riesigen Ländereien finden. Zwar ist diese für viele immer noch zu hoch – um ein Anwesen wie Batsford Park zu unterhalten, reicht sie dennoch nicht aus. Ein Verkauf steht im Raum, doch solange Krieg herrscht, lässt sich kein guter Preis erzielen. Da hilft nur sparen. Die Familie zieht sich in einen Trakt des Hauses zurück, in den anderen 50 Räumen werden die Möbel abgedeckt und die Türen verschlossen. Selbst im bewohnten Teil wird nur auf Sparflamme geheizt; man gewöhnt sich daran, dick eingemummelt zu dinieren. Lady Redesdale entwickelt rege Phantasie in der Haushaltsführung. Dass sie als Erstes die Benutzung von Servietten abschafft, erwähnt sogar die Lokalzeitung und führt dazu, dass die seltenen Gäste in Batsford Park angehalten werden, nicht zu kleckern. Toilettenpapier gibt es zwar, es ist jedoch rationiert. Als ausgesprochener Zahlenmensch versucht Lady Redesdale auch ihre Kinder zur Sparsamkeit zu erziehen. Im Alter von zwölf Jahren erhält jedes Kind monatlich elf Shilling zur freien Verfügung. Davon müssen Strümpfe, Handschuhe, Süßigkeiten, Geschenke und sonstige Anschaffungen finanziert werden. Da die Ausgaben mit dem Alter steigen, wird der Betrag jährlich erhöht. Ab 16 Jahren erhält man hundert Pfund im Jahr, wovon die gesamte Garderobe sowie alle Reisen bezahlt werden müssen. Als Lady Redesdale die Mädchen später einmal bittet, einen fiktiven Haushaltsplan für ein Jahreseinkommen von fünfhundert Pfund zu erstellen, zeigt sich allerdings, dass ihre Bemühungen fruchtlos waren. Auf Nancys Plan ist zu lesen: »Blumen: 499 Pfund. Alles andere: ein Pfund.«38 Keine der Schwestern, deren Taschengeld als Teenager dem Jahresgehalt einer Gouvernante entspricht, wird jemals Sparen lernen.

Am 11. September 1917 kommt Jessica, genannt Decca, zur Welt. Schon wieder eine Tochter. Lady Redesdale bleibt nicht viel Zeit, sich um das Baby zu kümmern, sie muss Geld verdienen. Mittlerweile hat sie Hühner angeschafft und verkauft selbstgemachten Honig, der so exzellent ist, dass sie sogar Anfragen aus London