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Lebenswege rebellischer Frauen, die ihr Gewissen über das Gesetz stellten. Wenn sie kompromisslos für ihre Überzeugung eintreten und sich über gesellschaftliche und politische Konventionen hinwegsetzen, sind Männer Helden - und Frauen fanatisch. Michaela Karl porträtiert Frauen, die wie Antigone im antiken Mythos ihr Gewissen über das Gesetz stellten. Die sich couragiert für Frauen- und Menschenrechte, für Freiheit und Frieden einsetzten - wenn nötig, auch mit Gewalt. Ihr hoher moralischer Anspruch an sich selbst und andere bewahrte sie jedoch nicht vor Fehlentscheidungen, doch trugen sie ohne Furcht die Konsequenzen ihres radikalen Handelns. Mit feinem Gespür für innere Widersprüche und Selbstzweifel zeichnet Michaela Karl auf der Grundlage von Briefen, Tagebüchern, Schriften und Erinnerungen beeindruckende Lebenswege gegen den Strom nach: Charlotte Corday, die Mörderin Jean Paul Marats Mathilde Franziska Anneke, die badisch-pfälzische Amazone Harriet Tubman, der Moses ihres Volkes Bertha von Suttner, die Streiterin für den Weltfrieden Vera Figner, die Gefangene des Zaren Clara Zetkin, die Grande Dame der deutschen Arbeiterbewegung Emmeline Pankhurst, die Queen der Suffragetten Constance Markievicz, die rebellische Gräfin Emma Goldman, die gefährlichste Frau der Vereinigten Staaten Tina Modotti, die Jeanne d'Arc mit der Kamera Tamara Bunke, die Companera Che Guevaras Phoolan Devi, die Königin der Banditen
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Seitenzahl: 376
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Michaela KarlStreitbare Frauen
Mit zwölf Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.residenzverlag.at
© 2009 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!
Covergestaltung: Joe P. WannererUmschlagbild: Bundesarchiv, Bild 183-G0319-0204-002
ISBN ePub:978-3-7017-4218-9
ISBN Printausgabe:978-3-7017-3150-3
Zu diesem Buch
I
»Ich that es um hundert tausend Menschen zu retten!«
Charlotte Corday (1768–1793), die Mörderin Jean Paul Marats
II
Für Freiheit und Frauenrechte
Mathilde Franziska Anneke (1817–1884), die badisch-pfälzische Amazone
III
Move or Die!
Harriet Tubman (1822–1913), der Moses ihres Volkes
IV
Die Waffen nieder!
Bertha von Suttner (1843–1914), die Streiterin für den Weltfrieden
V
Volkswohl und Volkswille
Vera Figner (1852–1942), die Gefangene des Zaren
VI
Für Sozialismus und Frauenrechte
Clara Zetkin (1857–1933), die Grande Dame der deutschen Arbeiterbewegung
VII
Votes for Women!
Emmeline Pankhurst (1858–1928), die Queen der Suffragetten
VIII
Für die Republik Irland
Constance Markievicz (1868–1927), die rebellische Gräfin
IX
Die Propaganda der Tat
Emma Goldman (1869–1940), die gefährlichste Frau der Vereinigten Staaten
X
Der Blick der Güte
Tina Modotti (1896–1942), die Jeanne d’Arc mit der Kamera
XI
Venceremos!
Tamara Bunke (1937–1967), die Compañera Che Guevaras
XII
Mein ist die Rache
Phoolan Devi (1963–2001), die Königin der Banditen
Anmerkungen
Literatur
Personenregister
Bildnachweis
Gewidmet meiner geliebten MutterChristl Karl (1946–2007)und Maria Stern (1940–2008)
»Wer nach seiner Überzeugung handelt,
und sei sie noch so mangelhaft,
kann nie ganz zugrunde gehen,
wohingegen nichts seelentötender wirkt,
als gegen das innere Rechtsgefühl
das äußere Recht in Anspruch zu nehmen.«
Annette von Droste-Hülshoff1
»Heiß ich doch, weil ich fromm war, Frevlerin!
Ja, wenn es den Göttern wohlgefällt,
Dann seh ich ein: Ich leide, weil ich fehlte.
Doch fehlten diese, treffe sie nichts Ärgeres,
Als was sie wider Recht an mir getan!«
Sophokles, Antigone2
Sophokles erzählt in seinem Drama von Antigone, der Tochter des Ödipus, über die sich der Fluch der Götter legt, nachdem ihr Vater seinen eigenen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat. Antigones Brüder Polyneikes und Eteokles erschlagen sich gegenseitig beim Kampf um Theben. Der neue König Kreon versucht die Ordnung wiederherzustellen und verbietet die Bestattung Polyneikes, der als Verräter gilt. Doch Antigone widersetzt sich den Gesetzen des Herrschers. Das Gebot der Götter, die Toten zu bestatten, gilt ihr als höheres Recht und auch die Androhung von Strafe kann sie nicht von ihrem Weg abbringen. Sie handelt gemäß ihrer moralischen Überzeugung und bestattet den Bruder. Damit stellt sie ihr Gewissen über das Gesetz; sie ist bereit, für ihr Streben nach Gerechtigkeit das eigene Leben zu opfern.
Im Mythos der Antigone, der schon Hegel als Symbol für das sittliche Recht galt, drückt sich der Widerstreit von gerechtem Handeln und positivem (vom Menschen gemachtem) Recht aus. Antigone wird gefasst und nach einem Verhör, in dem sie ihre Gründe darlegt, zum Tode verurteilt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie die zukünftige Schwiegertochter Kreons ist. Noch im Kerker geht sie in den Freitod, ihr Verlobter, Kreons Sohn Haimon, und dessen Mutter, Kreons Ehefrau Eurydike, folgen ihr.
Antigone hatte gegen zwei Gesetze verstoßen, die nicht nur in der antiken Welt Gültigkeit hatten, sondern auch lange danach noch galten: Zum einen missachtete sie ein Gesetz der Regierung und zum anderen hatte sie die ihr zugedachte Rolle als Frau, wonach sie sich dem Mann unterzuordnen und sich von der politischen Bühne fernzuhalten hatte, verlassen. Statt sich den politischen und gesellschaftlichen Geboten zu beugen, kämpfte sie unbeirrbar, mutig und entschlossen für die Umsetzung eines höheren Zieles. Der Einsatz für ein höheres Gut überstrahlte alle menschlichen Beziehungen und stand über ihrem eigenen Wohl und Wehe.
Die in diesem Buch porträtierten Frauen gleichen ihr darin. Auch sie glaubten an ein höheres Ideal, dem sie sich verpflichtet fühlten. Sie waren Überzeugungstäterinnen, die für die Durchsetzung ihrer Ziele gegen sittliche und staatliche Gebote verstießen. Die Umsetzung ethischer Werte hatte bei ihnen stets Vorrang vor der Umsetzung weltlicher Gesetze. Sie fühlten eine tiefe moralische Verantwortung für die Menschen in sich, die sie dazu brachte, sich gesellschaftlichen und politischen Zwängen zu verweigern und Gesetze zu brechen.
Angetrieben von Wut und Empörung angesichts gesellschaftlicher oder politischer Missstände hatte ihr Einsatz jenseits aller politischen Analyse immer auch eine persönlich-moralische Dimension, die bei Frauen ungleich stärker zum Tragen kommt als bei Männern. Ein Umstand, der sicherlich die erstaunliche Radikalität und Konsequenz erklärt, mit der diese Frauen ihre Ziele verfolgten. Couragiert und furchtlos stritten sie für ihre Überzeugungen, allen Widrigkeiten zum Trotz.
Politische Frauen waren zu allen Zeiten ein heikles Thema. Oppositionelle Frauen hatten und haben es weitaus schwerer als diejenigen, die im Gleichschritt mit der Macht marschieren. Trotzdem sind es gerade die Rebellinnen, jene Frauen, die gegen den Strom schwammen, die noch heute faszinieren. Ihr unbedingter Einsatz für unpopuläre Themen wie Frauen- und Menschenrechte, Freiheit und Frieden veränderte die Welt und brachte zahlreiche Neuerungen mit sich, von denen nicht nur Frauen profitieren konnten. Der Einsatz von Frauenrechtlerinnen wie Mathilde Franziska Anneke oder Clara Zetkin verbesserte die rechtliche Situation von Frauen überall auf der Welt. Der Kampf von Harriet Tubman gegen die Sklaverei trug entscheidend zur Ächtung derselben bei.
Dabei galt politisches Engagement lange Zeit als unweiblich und nicht gesellschaftsfähig. Als Bertha von Suttner sich an die Spitze der europäischen Friedensbewegung setzte, wurde sie verlacht und verhöhnt. Dass Frauen in der Öffentlichkeit als Rednerinnen auftraten, wurde als höchst unschicklich und unpassend bewertet. Eine restriktive Gesetzgebung sorgte lange Jahre dafür, dass Frauen ohnehin von jeglicher politischen Betätigung ausgeschlossen blieben. Traten Frauen öffentlich in Erscheinung, dann höchstens als Gefährtinnen und Helferinnen männlicher Helden, als selbstständige Akteurinnen wurden sie nicht geduldet. Frauenengagement galt als etwas Unnatürliches, und dass viele der im Folgenden porträtierten Akteurinnen ein äußerst turbulentes Privatleben aufzuweisen hatten und dadurch zusätzlich gegen gesellschaftliche Schranken verstießen, war Wasser auf die Mühlen ihrer Gegner. Dabei ist es nur allzu gut vorstellbar, dass Frauen, die sich dem Diktum widersetzten, sich von der Politik fernzuhalten, sich auch im privaten Bereich nur wenig um gesellschaftliche Konventionen scherten.
Während man sich heute an Frauen in Öffentlichkeit und Politik gewöhnt hat, fällt es noch immer schwer, Frauen im Zusammenhang mit verübter Gewalt zu betrachten – Frauen nicht nur als Opfer, sondern auch als Täterinnen zu sehen. Männer können Helden werden, auch wenn sie Gewalt anwenden. Frauen, die zur Gewalt greifen, gelten als Fanatikerinnen oder Verrückte wie Charlotte Corday. Dass Frauen wie Emmeline Pankhurst oder Emma Goldman den Staat mit Gewalt bekämpfen wollten, löst Unbehagen aus. Derart radikale Frauen machen Angst, steht das Weibliche doch für die friedlichen Mittel in der Auseinandersetzung. Noch beängstigender jedoch sind Frauen wie Phoolan Devi, die auf männliche Gewalt mit massiver Gegengewalt reagierten und damit eine Männerwelt auf den Kopf stellten. Frauen sollen dulden oder sich zumindest mit humanen Mitteln wehren – selbst gegen Inhumanität. Feldzüge für die Gerechtigkeit sollen ihre Sache nicht sein.
Widerstand zu leisten ist immer mit einschneidenden Konsequenzen verbunden, bei Frauen ist deren Tragweite jedoch ungleich größer. Für Constance Markievicz und Vera Figner bedeutete ihr politisches Engagement den vollständigen Bruch mit ihrem bisherigen Leben. Für sie gilt in extremer Weise das, was für alle hier vorgestellten Frauen gilt: Sie schlugen einen Weg ein, den man ihrer sozialen Herkunft und Sozialisation nach nicht von ihnen erwartete. Doch anstatt sie dafür zu bewundern, begegnete man ihnen mit Skepsis. Menschen, die keine Rücksicht auf ihre Familien nehmen und für ihre politische Überzeugung gar ihre Kinder verlassen, nennt man »Helden«, wenn sie Männer sind, und »Rabenmütter«, wenn es sich um Frauen handelt. Dabei zeigt die Geschichte, dass Frauen, die sich einmal zu einem derartigen Schritt durchgerungen haben, weder durch Gefängnis noch durch Folter von ihrer Mission abgebracht werden konnten. Der Bruch mit Familie, Freunden und Partnern, den Tamara Bunke und Tina Modotti erlebten, konnte sie zu keiner Zeit von ihrem aufrechten Gang abhalten.
Sicherlich können sie nicht für alle ihre Aktionen unser Verständnis erwarten, manches macht den Umgang mit diesen Frauen schwierig. Auch Frauen sind nicht unfehlbar. Es mag nicht jede Entscheidung akzeptabel sein, eine Gewissensentscheidung war sie trotzdem. Diese Frauen stellten einen hohen moralischen Anspruch an das Leben und an sich selbst und umso interessanter ist es, zu erfahren, wie es innerhalb dieses hohen Anspruches zu gravierenden Fehlentscheidungen und Taten kommen konnte, die diesem Anspruch nicht gerecht werden. Um eine gerechte Bewertung der Akteurinnen leisten zu können, ist es wichtig, sie noch einmal in Selbstzeugnissen zu Wort kommen zu lassen. Durch die Hinterlassenschaft von Briefen, Tagebüchern, Autobiografien, Schriften und Artikeln ist es auch so viele Jahre später möglich, in ihre Gedankenwelt einzutauchen und den Entscheidungsfindungsprozess, der ihrem Handeln vorausging, nachzuvollziehen.
Es ist offensichtlich: Für Frauen und Männer gelten in der Politik nicht dieselben Maßstäbe. Um wahrgenommen zu werden, müssen Frauen nicht nur besser, sondern auch radikaler sein. Lange Zeit standen ihnen nicht die gleichen Mittel zur Verfügung wie Männern, um ihre politischen Ziele umsetzen zu können. Bemächtigten sie sich dieser Mittel, wie öffentlicher Auftritte, Provokationen oder Militanz, stießen sie auf heftige Gegenwehr, deren Überwindung sie radikalisierte und zum Teil auch fanatisierte.
Doch wie immer man auch zu ihnen stehen mag, eines ist unbestritten: Sie waren charakterfest, geradlinig und von unbeugsamem Willen. Ihr Einsatz verfolgte stets ein höheres Ziel. Der Wille zur Macht, der männliches Engagement zumeist bestimmt, fehlte ihnen gänzlich.
Für Leserinnen und Leser von heute mögen die Porträts dieser zwölf Frauen beispielhafte Lebenswege sein, die zeigen, dass es zu jeder Zeit, überall auf der Welt, schwierig war, als Frau politisch gegen den Strom zu schwimmen, dass es aber, zu jeder Zeit, überall auf der Welt, Frauen geben muss, die dies versuchen.
München, im Juli 2009
Michaela Karl
»Oh mein Vaterland! Dein Unglück zerreißt mir das Herz, ich kann dir nichts bieten als mein Leben, und ich danke dem Himmel, dass ich die Freiheit habe, darüber zu verfügen.«1
»Hast Du Thatsachen von der Corday, so sende sie mir; auf Böttigers Zureden versprach ich etwas für den Berliner Historien-Kalender (…) und nahm diese Königin. So viel entsinn’ ich mich noch, dass sie dem Marat das Lebenslicht ausgeblasen.«2 In dieser etwas despektierlichen Form schreibt der Dichter Jean Paul im März 1799 an seinen Freund und Biografen Christian Otto, ehe er sich zu einem glühenden Bewunderer der jungen Französin wandelt. Genau 20 Jahre später wird der Student Karl Ludwig Sand Jean Pauls Text über Charlotte Corday bei sich tragen, als er den Schriftsteller August von Kotzebue erdolcht.
Charlotte Corday ist 25 Jahre alt, als sie mit einem Paukenschlag die politische Bühne betritt. Am 13. Juli 1793 ermordet die junge Frau den radikalen Revolutionär Jean Paul Marat in der Badewanne. Bis zu diesem Tage war Charlotte Corday nach außen hin kaum in Erscheinung getreten. Die revolutionären Zeiten hatte sie fern der Hauptstadt Paris in Caen verbracht. Sie war weder am Sturm auf die Bastille, noch am Marsch der Pariser Marktweiber nach Versailles beteiligt gewesen, sondern hatte viele Jahre das Leben einer unbescholtenen Bürgerin geführt. Ein einziger Tag genügte, um sie zu einer der berühmtesten Frauen Frankreichs zu machen und ihren Namen für immer untrennbar mit der Französischen Revolution zu verbinden.
Marie Anne Charlotte Corday d’Armont wird am 27. August 1768 in Saint-Saturnin-des-Ligneries in der Normandie geboren. Sie ist das vierte Kind eines verarmten Adeligen, ihr Urgroßvater ist der berühmte französische Dramatiker Pierre Corneille. Die Familie lebt ganz im Geiste der Aufklärung und erzieht die Kinder in diesem Sinne. 1782 übersiedelt sie nach Caen. Hier stirbt die Mutter 45-jährig bei der Geburt des sechsten Kindes. Da die drei älteren Geschwister das Elternhaus bereits verlassen haben, muss nur für Charlotte und die zwei Jahre jüngere Eleonore eine Lösung gefunden werden. Der Vater sieht sich außerstande die beiden Mädchen aufzuziehen und bringt sie im Benediktinerinnenkloster Abbaye-aux-Dames in Caen unter. Charlotte ist ein nachdenkliches und ruhiges Kind, das sich hier in der Abgeschiedenheit intensiv mit den Denkern der Aufklärung Guillaume-Thomas Raynal und Jean-Jacques Rousseau beschäftigt. Große Begeisterung wecken in ihr die antiken Autoren, allen voran Plutarch, dessen Parallelbiografien im 18. Jahrhundert das meistgelesene Werk der Antike ist. Die Tugend der großen griechischen und römischen Persönlichkeiten beeindruckt sie und beeinflusst Charlottes Charakterbildung und ihr Denken.
Es gefällt ihr so gut im Kloster, dass sie nach Ende der Schulzeit beschließt zu bleiben und für die Äbtissin als Privatsekretärin zu arbeiten. Ohne große Aufregungen gehen die nächsten Jahre ins Land. Hinter den dicken Klostermauern ist nicht viel zu spüren von den sich ankündigenden revolutionären Umwälzungen, die Europa für immer verändern und zum wichtigsten historischen Ereignis der Neuzeit werden sollten. Charlotte fühlt sich wohl in der Gemeinschaft der Benediktinneren und trägt sich bald gar selbst mit dem Gedanken, Nonne zu werden. Dies käme auch ihren finanziellen Verhältnissen, die eine Heirat ohnehin erschweren würden, entgegen.
Während Charlotte in Caen ein beschauliches Klosterleben führt, gärt es überall im Land. Besonders die Unzufriedenheit des Dritten Standes wächst. Frankreich erlebt einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung, die politische Einflusslosigkeit der Bürger widerspricht bald ihrer ökonomischen Macht. In einer Zeit rapider sozioökonomischer Strukturveränderungen fühlen sich die Bürger durch das überkommene Ancien Régime in ihrer Entfaltung gehemmt. Der Geist der Aufklärung trägt dazu bei, dass der Dritte Stand ein neues politisches Selbstbewusstsein entwickelt und es nicht länger hinnehmen will, von einem dekadenten Adel bevormundet zu werden. Denker wie Montesquieu oder Rousseau entziehen dem absolutistischen System sukzessive seine Legitimationsgrundlage. Die Freiheitsideale der von den Franzosen unterstützten amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung finden hier ihr Echo. Dazu kommt, dass sich der Staat gerade durch seine Beteiligung am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg in einer dauerhaften finanziellen Krise befindet. Als der Generalkontrolleur der Finanzen Jacques Necker 1781 zum ersten Mal die Zahlen des französischen Budgets offenlegt, erkennen die Bürger voll Empörung, welche Unsummen das Ancien Régime verschlingt. Alle Versuche Neckers, den Staatshaushalt zu sanieren, scheitern am Widerspruch der Ersten Stände Adel und Klerus, die ihre Privilegien, wie zum Beispiel die Befreiung von direkten Steuern, mit Klauen und Zähnen verteidigen. Diese Verweigerungshaltung gegenüber den Steuergesetzen der Krone ergreift schließlich auch das Volk. Ludwig XVI. sieht sich gezwungen, die seit 1614 nicht mehr zusammengetretenen Generalstände einzuberufen, um die Finanzkrise zu regeln.
Die Majorität der Bevölkerung hat jedoch mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in diesen Jahren immer weiter auseinander. Die französischen Bauern, die 85 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind arm und, obwohl persönlich frei, durch die dreifachen Abgaben an Staat, Kirche und Grundherren unterdrückt. Ihnen bleibt kaum mehr als ein Drittel ihres Einkommens zur Ernährung der Familie. Die städtische Unterschicht ist völlig verelendet, das Lumpenproletariat wächst kontinuierlich. 1788 kommt es, bedingt durch eine verheerende Missernte sowie einen darauf folgenden harten Winter, zu einem enormen Preisanstieg für Brot. Während die Bevölkerung hungert, sind die Getreidespeicher von Adel und Klerus jedoch gut gefüllt. Es bilden sich erste Demonstrationszüge, bei denen ein gerechter Brotpreis gefordert wird. In den Städten spitzt sich die Situation bedenklich zu. 1789 ist Brot dreimal so teuer wie üblich. Einfache Hand-werker müssen längst die Hälfte ihres Verdienstes für Brot ausgeben. Im April stürmen aufgebrachte Arbeiter die Fabrik des Industriellen Réveillon, der über zu hohe Löhne geklagt hatte. Die herbeigerufene Nationalgarde richtet ein Blutbad an, den Volkszorn zu stoppen vermag sie nicht.
Am 5. Mai 1789 werden in Versailles die Generalstände eröffnet. Unter der Führung Graf Mirabeaus erklärt sich der Dritte Stand zum Vertreter des Volkswillens, da er 95 Prozent der Bevölkerung vertritt. Man fordert, die Abstimmung von nun an nach Köpfen, nicht nach Ständen vorzunehmen. Dies würde dem Dritten Stand, dessen Abgeordnete zuvor auf 600 verdoppelt worden waren, eine enorme Machtfülle geben. Die Abgeordneten des Dritten Standes verwerfen die Ständeordnung und erklären sich selbst zur Nationalversammlung. Der Klerus schließt sich ihnen mit knapper Mehrheit an, der Adel setzt weiterhin auf den König und die alte Ständeordnung. Am 20. Juni geloben die Deputierten des Dritten Standes im sogenannten Ballhausschwur nicht eher auseinanderzugehen, bis sie dem Land eine Verfassung gegeben haben. Da sich nun auch Teile des Adels solidarisieren, gibt der König nach. Am 9. Juli 1789 erklärt sich die Nationalversammlung zur Verfassungsgebenden Versammlung.
Weil sich im nahen Paris die Situation derweil zugespitzt hat, lässt der König Truppen in die Hauptstadt verlegen. Die Entlassung des angesehenen Finanzministers Necker am 11. Juli heizt die Stimmung zusätzlich an. Am 12. Juli gehen die Dragoner bei den Tuilerien gegen das Volk vor. Dieses reagiert mit der Aufstellung einer Nationalgarde. Einen Tag später stürmt die Menge das Invaliden-Haus, erbeutet Gewehre, aber kein Pulver. Am 14. Juli 1789 beginnt mit dem Sturm auf die Bastille die Französische Revolution. Er endet mit 98 toten Belagerern, mehreren toten Soldaten, einem gelynchten Befehlshaber und dem Sieg der Aufständischen.
Dieser städtische Aufruhr wird bald ergänzt durch die Revolte der Bauern. Hatten sich diese bis zum 14. Juli relativ bedeckt gehalten, wächst nun die sogenannte Große Furcht (Grande Peur) vor einer gewaltsamen Reaktion des Adels. Angespornt durch die Pariser Ereignisse fordern die Bauern die Aufhebung der Privilegien der Grundherren. Es kommt zu lokalen Bauernaufständen, die letztlich in der Nacht vom 4. auf den 5. August mit der Ablösung der Feudalrechte der Grundherren durch die Nationalversammlung enden. Am 26. August wird die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verabschiedet. Die Nation wird zum Souverän, aus Untertanen werden Bürger. Dass dies nur für männliche Bürger und nicht auch für die Bürgerin gilt, erscheint den Revolutionären kein Manko.
Von all diesen Ereignissen bleibt Charlotte Cordays Leben unberührt. Erst am 13. Februar 1790 verändert die Französische Revolution auch Charlottes beschauliches Klosterleben. An diesem Tag löst die Nationalversammlung alle Klöster Frankreichs, mit Ausnahme der in Krankenpflege und Schulwesen tätigen Orden, auf. Sie leitet damit die Neuorganisation des Klerus ein. Die Schwestern müssen sich bei staatlichen Behörden registrieren lassen und werden von nun an vom Staat entlohnt. Charlotte, die keine Nonne ist, geht leer aus.
Mit 21 Jahren kommt sie nun bei ihrer Tante Madame Le Coustellier de Bretteville-Bouville in Caen unter. Trotz ihrer persönlichen Unannehmlichkeiten begrüßt Charlotte Corday die Französische Revolution ausdrücklich. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – das sind die Ideale der Aufklärer, denen sie sich verbunden fühlt. Sie sieht in der Revolution die Wiedergeburt der von ihr so verehrten Antike. Damit steht sie nicht allein. Bereits im Dezember 1789 hatte eine Delegation bestehend aus 21 Künstlerinnen dem Präsidenten der Nationalversammlung in Versailles ihren Schmuck überreicht, analog zur Schmuckübergabe der römischen Frauen nach der Einnahme Veiis 396 v. Chr. Revolutionäre jeder Couleur, ob gemäßigt oder radikal, beziehen sich auf die Helden der Antike: auf Cato, Brutus und Cassius. Charlotte Corday selbst wird nach dem Attentat auf Marat von Anhängern mit Cassius und Brutus verglichen werden. Man solle ihr eine Säule stiften mit der Inschrift »Größer als Brutus«, lautet die Forderung später.3
Noch aber ist Charlotte Corday weit davon entfernt, selbst politisch tätig zu werden, setzt all ihre Hoffnung auf eine republikanische Verfassung nach altrömischem Vorbild. Sie verinnerlicht die Staatstheorien der Aufklärer und erwartet deren Umsetzung in der neuen Verfassung. Corday wird zu einer glühenden Verfechterin der Gewaltenteilung nach Locke und Montesquieu, welche die Verfassung vom 3. September 1791 maßgeblich beeinflussen werden. Diese Verfassung macht aus Frankreich eine konstitutionelle Monarchie. Die absolute Macht des Königs wird begrenzt, er behält allerdings ein aufschiebbares Veto gegenüber von der Nationalversammlung erlassenen Gesetzen. Ganz im Sinne der gemäßigten Bourgeoisie, der Konstitutionellen, wird das Zensuswahlrecht für Männer eingeführt. Die Konstitutionellen, welche die Mehrheit in der Nationalversammlung stellen, setzen im Gegensatz zu den Republikanern auf eine Zusammenarbeit mit dem König. Doch obwohl Ludwig XVI. sich öffentlich zu den Grundsätzen der Revolution bekennt, strebt er nach der Wiederherstellung früherer Zustände. Heimlich knüpft er Kontakte mit dem Ausland, um eine Gegenrevolution zu formieren. Ein Fluchtversuch der königlichen Familie scheitert. Es mehren sich die Stimmen, die seine Abdankung fordern. Am 17. Juli 1791 wird eine Petition zur Abdankung auf dem Altar des Vaterlandes auf dem Marsfeld niedergelegt. Die Nationalgarde schießt in die Menge, es gibt viele Tote. Zum ersten Mal hatte eine revolutionäre Armee auf das Volk geschossen. Der von den radikalen Republikanern besuchte Jakobinerklub setzt sich nun an die Spitze derjenigen, die die Abschaffung der Monarchie fordern. Ihm gehören die bedeutendsten Revolutionsführer, Robespierre, Danton und Marat an. Charlotte Corday erfährt von all dem nur aus den Zeitungen.
Während sich die innenpolitische Lage zuspitzt, nimmt auch die außenpolitische Bedrohung zu. Die ehedem zerstrittenen europäischen Großmächte eint die Furcht vor der Revolution. Sie fordern eine Wiederherstellung der Monarchie und drohen offen mit der militärischen Niederwerfung der Revolution in Frankreich. Die Kriegsgefahr wächst. Die Revolutionäre zerfallen in verschiedene Lager. Wichtigste Gruppierungen werden die gemäßigten Girondisten und die radikalen Montagnards. Während die Girondisten Gleichheit in erster Linie als Rechtsgleichheit auffassen und die Individualität des Menschen betonen, stellt die Bergpartei La Montagne die natürliche Gleichheit aller Menschen in den Mittelpunkt. Die existierende Ungleichheit sei das Ergebnis von Besitz, Milieu und Erziehung und die revolutionäre Gesellschaft müsse alles tun, um diese Ungleichheit zu beseitigen. Während die Girondisten eher die Interessen des Besitzbürgertums vertreten, stellt sich die Montagne auf die Seite der besitzlosen Volksmassen. Dabei entstammen Girondisten und Montagnards selbst demselben eher großbürgerlichen Milieu. Angesicht der drohenden Kriegsgefahr plädieren die Girondisten nun für den Krieg, um die Revolution zu sichern. Robespierre als Führer der Montagnards ist gegen dieses Abenteuer mit unkalkulierbarem Risiko. Die Girondisten setzen sich durch. Als in Österreich mit Franz II. ein entschiedener Gegner der Französischen Revolution den Thron besteigt, erklärt Frankreich am 20. April 1792 Österreich den Krieg. Preußen eilt Österreich umgehend zu Hilfe. Am 1. August droht der Oberbefehlshaber der österreichisch-preußischen Truppen Paris mit der Zerstörung für den Fall, dass der königlichen Familie Gewalt angetan werde. Die Lage spitzt sich zu. Die Pariser fordern die Absetzung des Königs, drohen unverhohlen mit Erhebung. In der Nacht zum 10. August kommen beim Sturm auf das Stadtschloss des Königs 300 Belagerer ums Leben. Einen Tag später wird das Zensuswahlrecht abgeschafft, ein neuer Nationalkonvent gewählt. Am 17. August fällt Verdun in die Hände der preußisch-österreichischen Truppen. Im September 1792 beginnen sie ihren Marsch auf Paris, ehe sie in Valmy durch ein französisches Heer gestoppt werden.
Am 21. September fällt in Paris der Entschluss, die Monarchie abzuschaffen. Die Republik wird ausgerufen. Am 18. Januar 1793 verurteilt der Konvent Ludwig XVI. zum Tode. Drei Tage später wird der König guillotiniert. Seine Frau, die ungeliebte Königin Marie Antoinette, eine Tochter Maria Theresias, wird ihm im Oktober aufs Schafott folgen.
Am 1. Februar erklärt Frankreich England und den Niederlanden den Krieg. Doch der Vorstoß scheitert, Ende März droht dem Land eine neue Invasion. In der Vendée kommt es zu einem royalistischen Aufstand, die Brotpreise steigen erneut. Das Volk ruft nach Hilfe. Doch die Girondisten, deren Klientel das Besitzbürgertum ist, setzen auf den freien Wettbewerb und lehnen jegliches Eingreifen des Staates ab. Dies kostet sie viele Sympathien, die Sansculotten, eine Gruppierung radikaler Kleinbürger und Arbeiter, drohen offen mit Aufstand. Sie fordern die Festsetzung von Höchstpreisen sowie die Besteuerung von Handel und Industrie mit dem Ziel der Nivellierung von Besitz- und Einkommensunterschieden. Die Montagne nutzt die Sansculotten, um die Girondisten auszuschalten. Während die Girondisten die Revolution beenden wollen, fördern die Montagnards deren Radikalisierung. Gegen den Willen der Girondisten wird ein Getreidefestpreis eingeführt. Am 2. Juni 1793 wird der Nationalkonvent von 80 000 Sansculotten umstellt, welche die Auslieferung von 29 führenden Girondisten fordern. Im Oktober werden 21 davon zusammen mit Marie Antoinette vor das Revolutionstribunal gestellt werden. Sie werden als Aufrührer, Royalisten und Föderalisten, welche die Einheit der Republik zerstören wollen, zum Tode verurteilt.
Die übrigen Girondisten fliehen aus Paris nach Caen, das zum Zentrum des Widerstands gegen die Radikalen um Robespierre und Marat wird. Jetzt wird auch Charlotte Corday in den Strudel der revolutionären Ereignisse hineingezogen. Bisher hatte sie alles nur aus der Ferne verfolgen können, hatte bis zum Exzess Berichte gelesen und exzerpiert. Nach ihrem Tod findet man über 500 Traktate für und gegen die Revolution bei ihr.
In den Versammlungen der Girondisten erfährt sie nun aus erster Hand, was sich in Paris abspielt. Bald schält sich für sie heraus, wer die eigentlich treibende Kraft hinter all dem Unheil ist: Jean Paul Marat. Der am 24. Mai 1743 in der Schweiz geborene Marat ist Herausgeber der radikalen Zeitschrift L’Ami du Peuple (Der Volksfreund). Zuvor war er lange Jahre in Frankreich und London als Arzt tätig gewesen. 1774 hatte er in London das Werk The Chains of Slavery (Die Ketten der Sklaverei) veröffentlicht. Darin hatte er die Regierungen Europas als Verschwörung von Königen, Adel und Klerus gegeißelt. Seit 1777 lebt Marat nun in Frankreich, hat sich als Lungen- und Augenarzt einen Namen gemacht und einige Traktate über Physik, Recht und Politik verfasst. Sich selbst vermochte der an einer Hautkrankheit Leidende allerdings nicht zu helfen. Bei Ausbruch der Revolution schloss er sich dieser umgehend an und entfaltete besonderes Talent darin, die Unterschichten zu agitieren. Der Volksfreund, dessen Name sich auf Marat übertrug, ist die Stimme des revolutionären Volkes. Marat schreibt mit spitzer Feder gegen alle an, die seiner Ansicht nach der Revolution Schaden zufügen: Royalisten, Girondisten und die Bourgeoisie in der Nationalversammlung. Die Gegner jeglicher weiteren Radikalisierung der Revolution sind in seinen Augen Volksfeinde und müssen vernichtet werden. Er veröffentlicht in seiner Zeitung die Namen von Menschen, die er für Verräter hält, und zeichnet mitverantwortlich für zahlreiche Lynchmorde, welche die aufgehetzte Menge begeht. Am 26. Juli 1790 verkündet er in einer Wandzeitung, die in ganz Paris angeschlagen wird: »Fünf- bis sechshundert abgeschlagene Köpfe hätten euch Ruhe, Freiheit und Glück gesichert; eine falsche Humanität hat eure Arme zurückgehalten, und eure Schläge außer Kraft gesetzt; sie wird das Leben von Millionen eurer Brüder kosten; eure Feinde brauchen nur einen Augenblick zu triumphieren, und das Blut wird in Strömen fließen; sie werden euch ohne Mitleid erwürgen, sie werden euren Frauen den Bauch aufschlitzen, und um auf ewig unter euch die Liebe zur Freiheit zu ersticken, werden ihre blutigen Hände das Herz in den Eingeweiden eurer Kinder suchen.«4 Seine Aufrufe zur Gewalt lassen es nicht an Deutlichkeit fehlen. Der Staat fühlt sich bedroht und stellt derartige Aufrufe durch die Nationalversammlung am 31. Juli 1790 unter Strafe. Marat taucht unter, doch in der Illegalität verstärkt er seine Tätigkeit. Seine Zeitung erscheint jetzt sieben Tage die Woche. Verschiedentlich wird seine Verhaftung beantragt, doch Marat arbeitet unermüdlich weiter. Aus dem Untergrund verfolgt er den Sturz der Monarchie. Nach dem Sturm auf die Tuilerien vom 10. August 1792 schreibt er: »Niemand verabscheut Blutvergießen mehr als ich; aber um zu verhindern, dass das Blut in Strömen fließt, dringe ich in euch, einige Tropfen zu vergießen. Um die Pflichten der Menschlichkeit mit der Sorge für die öffentliche Sicherheit in Einklang zu bringen, schlage ich euch daher vor, die gegenrevolutionären Mitglieder des Stadtrates, der Friedensrichterkollegien, des Départements und der Nationalversammlung auszumerzen.«5 Er schließt sich den Jakobinern an und wird im September Deputierter des Nationalkonvents. Wiederholt klagen die Girondisten Marat im Konvent an, doch seine Popularität im Volk ist so groß, dass man ihm nichts anhaben kann. Die Volksmassen stehen hinter Marat, der offen für eine revolutionäre Diktatur eintritt, die den Staat von allen revolutionsfeindlichen Elementen befreien soll.
Im September 1792 kommt es zu einem der schlimmsten Gewaltakte während der Französischen Revolution, den Marat ausdrücklich befürwortet. Angesichts der herannahenden feindlichen Truppen wächst in Paris die Angst vor der Rache der Gegenrevolution. Es bricht eine Massenhysterie aus. Der Mob stürmt die Gefängnisse und tötet über 1200 Gefangene, viele davon einfache, völlig unpolitische Kriminelle. Das September-massaker gilt bis heute als Schandfleck der Revolution. Danton als zuständiger Justizminister sieht dem Wüten der Meute tatenlos zu.
Für Charlotte Corday sind es vor allem Marats Aufrufe, welche die Stimmung zusätzlich anheizen. Ihre Brüder emigrieren und schließen sich dem Emigrantenheer des Herzogs von Condé an. Charlotte bleibt, hofft auf eine Kehrtwendung. Doch mit der Hinrichtung des Königs wird ihr klar, dass alles Hoffen vergebens ist. Die radikalen Jakobiner um Robespierre, Danton und Marat setzen sich gegen die gemäßigten Girondisten durch.
Der Terror kommt nun auch nach Caen. Mehrere Menschen werden von Anhängern der Radikalen getötet. Charlotte Corday berichtet einer Freundin in einem Brief über die erlebten Gräuel: »Alle Schandtaten, die man begehen kann, an die fünfzig Personen sind geschoren und geschlagen, Frauen vergewaltigt worden; es scheint sogar, dass es nur auf sie abgesehen war; drei sind ein paar Tage darnach gestorben.«6 Viele Bewohner verlassen die Stadt, fliehen vor dem Terror der Revolutionäre. Die Girondisten planen nun von Caen aus mit einer Armee nach Paris zu marschieren, um den Terror der Jakobiner zu beenden. Doch als sie sich am 7. Juli 1793 auf einer Wiese vor Caen versammeln, kommen ganze 30 Mann zusammen. Zu dieser Zeit hat Charlotte Corday ihren Entschluss längst gefasst. Marat, als der Hauptschuldige an diesen Auswüchsen, muss sterben. Dabei hält sie sich nur an das, was ihr Opfer einst geschrieben hat: »Wenn die Rechte der Nationen nicht weniger geheiligt sind als die Menschenrechte, auf welche sie zurückgehen; und wenn der Mensch, im Naturzustand, das Recht hat, Gewalt durch Gewalt abzuwehren, das Recht, zu töten, um nicht getötet zu werden: so folgt daraus, dass ein unterdrücktes Volk das Recht hat, seine Unterdrücker zu bestrafen und seine Tyrannen zu vernichten; wenn es über keine anderen Mittel verfügt, sich der Tyrannei zu entziehen.«7
Charlotte Corday will die treibende Kraft hinter der zunehmenden Radikalisierung zur Rechenschaft ziehen. Marats Einfluss auf das Volk macht die Errungenschaften der Revolution zunichte. Um weiteres Blutvergießen zu verhindern, sieht sie nur einen Ausweg: Marat muss sterben. Einzig sein Tod werde Frankreich vor dem Untergang retten. Aus der Ferne Caens überschätzt sie Marats Bedeutung um ein Vielfaches. Robespierre heißt die wirklich einflussreiche Persönlichkeit der Jakobiner. Doch Charlotte Corday ist entschlossen, ihr eigenes Leben für Frankreich zu opfern. Dass sie das Attentat mit dem Leben bezahlen wird, ist ihr durchaus bewusst. Dennoch setzt sich in ihr der Gedanke fest, zur Rächerin und zugleich zur Märtyrerin zu werden, ihrem Leben den schmerzlich vermissten Sinn zu geben.
Systematisch beginnt sie damit, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Sie bittet den Girondisten Charles Jean-Marie Barbaroux um ein Empfehlungsschreiben an einen Deputierten in Paris, den sie für eine Freundin um etwas bitten möchte. Barbaroux verweist sie an Monsieur Duperret, einen der letzten freien Girondisten in Paris. Mit diesem einfachen Trick gelangt sie in den Besitz eines Passierscheins. Am 9. Juli 1793 fährt sie von Caen mit der Postkutsche ab. In Argentan besucht sie ein letztes Mal ihren Vater und erzählt ihm, dass sie auf dem Weg nach England sei. Am 11. Juli betritt sie zum ersten Mal die französische Hauptstadt. Sie bezieht ein Zimmer im Hotel de la Providence in der Rue des Vieux Augustins Nr. 17. Nachdem sie ausgepackt hat, geht sie in einen Laden am Palais Royal und kauft für 40 Sous ein Küchenmesser mit Ebenholzgriff und einer 20 cm langen Klinge. Zurück im Hotel schreibt sie einen Abschiedsbrief »Aux Français amis des lois et de la paix« (An Frankreichs Freunde von Recht und Frieden), in dem sie die Beweggründe für ihre Tat darlegt und ihre Mitbürger zum Kampf aufruft: »Franzosen! Ihr kennt eure Feinde, erhebt euch! Vorwärts marsch! (…) Ich will, dass mein letzter Hauch meinen Mitbürgern nützlich sei, dass mein Haupt, wenn es in Paris herumgetragen wird, ein Signal für alle Gesetzesfreunde sei und dass der wankende Berg seinen Untergang in der Schrift meines Blutes lese, dass ich ihr letztes Opfer sei und dass das gerächte Universum erkläre, ich habe mich um die Menschheit verdient gemacht.«8
Corday plant, den »Freund des Volkes« am 14. Juli, dem Jahrestag der Erstürmung der Bastille, als Fanal für die Revolution in aller Öffentlichkeit bei seiner Rede auf dem Marsfeld zu töten. Doch Marats Gesundheitszustand macht ihr einen Strich durch die Rechnung. Aufgrund seiner schweren Hautkrankheit ist Marat an die Badewanne gefesselt und kann das Haus nicht verlassen. Sie muss ihren Plan ändern. Von einem Mietkutscher erfährt sie die Adresse Marats: Rue des Cordeliers Nr. 30. Am Morgen des 13. Juli 1793 geht sie zu seiner Wohnung. Das Messer verbirgt sie unter ihrem Brusttuch. Mitgenommen hat sie zudem ihren Pass und ihren Taufschein, anhand derer man sie später identifizieren wird. Eine Aktion, die ihrer späteren Aussage widerspricht, sie habe eigentlich anonym bleiben wollen. Vor dem Haus verweigert man ihr den Eintritt, Marat sei zu krank, um Besucher zu empfangen. Charlotte Corday fährt zurück ins Hotel und verfasst einen Brief, in dem sie ihren Besuch ankündigt: »Bürger! Ich komme aus Caen. Ihre Liebe fürs Vaterland ist mir Bürge, dass sie die unglücklichen Begebenheiten von diesem Theil der Republik zu kennen wünschen. Gegen ein Uhr werde ich in Ihrer Wohnung seyn. Seyn Sie so gütig mich anzunehmen. Ich werde Sie in Stand setzen, Frankreich einen großen Dienst zu leisten.«9 Nachdem Sie keine Antwort erhält, geht sie ein zweites Mal zur Wohnung und wird erneut abgewiesen. Sie verfasst einen zweiten Brief: »Ich habe Ihnen diesen Morgen geschrieben, Marat! Haben Sie meinen Brief erhalten? Ich kann es nicht glauben; denn ich war in Ihrer Wohnung, und man wollte mich nicht vorlassen. Morgen hoffe ich werden Sie mir eine Unterredung bewilligen. Ich wiederhole es: Ich komme aus Caen, und habe Ihnen die wichtigsten Geheimnisse zur Rettung der Republik mitzutheilen. Außerdem bin ich verfolgt für die Sache der Freiheit; ich bin unglücklich, und dies alles ist hinreichend um ein Recht auf Ihren Schutz zu haben.«10
Nachdem sie auch diesen Brief über die innerstädtische Schnellpost überbringen lässt, wartet sie noch einige Zeit vergeblich auf Antwort, ehe sie sich noch einmal zur Wohnung auf den Weg macht. Marats Lebensgefährtin Simone Evrard versucht erneut sie abzuwimmeln. Doch diesmal hört Marat den Disput der beiden Frauen vom Badezimmer aus mit an und bittet Charlotte Corday einzutreten. Als Corday das Zimmer betritt, sitzt Marat aufgrund des ihn quälenden Juckreizes mit einem nassen Tuch auf Kopf und Schultern in der Badewanne. Die Krankheit hat sein Gesicht schwer entstellt. Quer über der Wanne liegt ein Brett, auf dem sich Papier, Tinte und Feder befinden. Marat weist ihr einen Stuhl zu. Sie wechseln einige Worte, Charlotte erzählt vom Komplott der Girondisten und nennt die Namen der Rädelsführer. Marat schreibt alles mit. Das Gespräch dauert nicht länger als zehn Minuten. Charlotte Corday schildert später Marats letzten Moment: »Ich höre man hat die letzten Worte Marats gedruckt; ich zweifle sehr, dass er noch welche hervorgebracht hat, aber ich kann Ihnen die letzten mittheilen, die er mir sagte. Nachdem er alle ihre Namen (…) hatte, sagte er, um mich zu trösten, er werde sie in wenigen Tagen in Paris guillotinieren lassen. Diese letzten blutrünstigen Worte entschieden sein Schicksal.«11
In diesem Augenblick zieht sie unvermittelt das Messer aus ihrem Brusttuch und sticht auf Marat ein. Sie verletzt dabei seine Lunge, die linke Herzkammer und die Aorta so schwer, dass Marat noch in den Armen der auf seine Hilferufe hin herbeieilenden Simone Evrard stirbt. Ein Redakteur des L’Ami du Peuple schlägt Charlotte Corday mit einem Stuhl nieder. Nachbarn und Freunde alarmieren die Polizei, Corday, die keinerlei Widerstand leistet, wird noch am Tatort verhaftet. Auf dem Weg zum Gefängnis hat die Polizei alle Hände voll zu tun, die aufgebrachte Menge daran zu hindern, Charlotte Corday zu lynchen.
Am 15. Juli wird Marats einbalsamierte Leiche in Paris öffentlich aufgebahrt. Seine Badewanne wird wie eine Reliquie durch die Straßen getragen. Einen Tag später wird er unter den Bäumen des Kreuzganges des ehemaligen Couvent des Cordeliers begraben. Ende September 1794 wird seine Leiche exhumiert und ins Panthéon überführt. Erst 1795 findet der Sarg seine endgültige Ruhestätte auf dem Friedhof St. Étienne du Mont.
Die Attentäterin wird eingekerkert. Bei den Verhören wird sie vor allem nach ihren Hintermännern befragt. Doch Corday weist dies weit von sich. Sie übernimmt die volle Verantwortung und antwortet auf die Frage nach ihren Mitschuldigen stolz: »Alle rechtschaffenen Menschen in Frankreich. Kennen Sie das menschliche Herz so wenig, um nicht einzusehen, dass es weiter keiner fremden Eingebungen bedurfte, und dass man besser seinen eigenen Willen vollführt, als einen fremden.«12
Die Hoffnungen, weitere Girondisten als Komplizen Cordays hinrichten zu können, erfüllen sich nicht. Auf die Frage, was sie dazu getrieben habe, ausgerechnet Marat zu töten, antwortet sie: »Seine Verbrechen. (…) Die Verwüstungen, welche die Anarchie in meinem Vaterland anrichtet. Er hat unseren National-Charakter verderbt, die Moral des Volkes zerstört. Das Ungeheuer hat uns vier Jahre lang durch seine Verbrechen entehrt. Glücklicherweise war er kein Franzose.«13
Der Verteidiger, den sie erbittet, erhält ihren Brief erst nach ihrem Tode und steht somit nicht zur Verfügung. Kurz überlegt sie gar, Robespierre zu ihrer Verteidigung zu bestellen. Mit Claude François Chauveau-Lagarde wird ein Pflichtverteidiger ernannt, der später auch Königin Marie Antoinette vertreten wird. Er plädiert auf Geisteskrankheit, wohl auch, um der Tat die politische Brisanz zu nehmen. Nur dies könnte Charlotte Cordays Leben retten. Sie selbst verteidigt sich in Anspielung auf die Äußerung Robespierres bei der Hinrichtung Ludwigs XVI. mit den Worten: »Ich that es um hundert tausend Menschen zu retten.«14 Sie ist gefasst und ruhig, auch als das Todesurteil verkündet wird. Ihr letztes Bekenntnis gilt der Republik: »Ich liebe sie und kenne sie besser als jemand; aber den Franzosen fehlt es an Geist und Energie, Republicaner zu seyn. Ich sehe nichts als Egoisten, die ihr Vermögen auf den Ruinen ihrer Mitbürger zu erheben suchen. Ich sehe in der Versammlung des Convents unwissende und feige Memmen, die da dulden, dass einige wenige Bösewichter die Menschheit mit Füssen treten und den Bürgerkrieg anzünden. Ich bin müde länger unter einem so sehr herabgewürdigten Volk zu leben.«15
Nachdem das Todesurteil gesprochen ist, wird sie in die Conciergerie gebracht. Hier verfasst sie mehrere Briefe, einen auch an Barbaroux, in dem sie schildert, was sie zur Tat getrieben hat: »Wer das Vaterland rettet, achtet nicht auf das, was die Tat kostet. Möge der Friede so schnell kommen, wie ich es wünsche! (…) Ein großer Verbrecher ist nun aus der Welt geschafft, ohne diesen Schritt war kein Friede zu hoffen.«16
Sie bittet Barbaroux, sich um ihre bedrängten Verwandten zu kümmern, fürchtet sie doch, dass diesen eine Art Sippenhaft drohen könnte. Doch Barbaroux wird sich ein Jahr später nicht einmal selbst helfen können. Im Sommer 1794 stirbt auch er unter der Guillotine. Ihren Vater bittet Charlotte um Verzeihung für alles: »Verzeihen Sie mir, mein lieber Papa, dass ich ohne Ihre Erlaubnis über mein Dasein verfügt habe. Ich habe viele unschuldige Opfer gerächt, habe vielen anderen unglücklichen Ereignissen vorgebeugt, wenn sich dem Volk erst die Augen öffnen, wird es froh sein, von einem Tyrannen befreit zu sein.«17 Ihrem letzten Wunsch gemäß wird sie von einem Offizier der Nationalgarde porträtiert. Als Dank schenkt sie ihm vor der Hinrichtung eine Locke zur Erinnerung: »Morgen um acht Uhr richtet man mich, wahrscheinlich mittags werde ich gelebt haben, um mich römisch auszudrücken. Man wird glauben müssen, dass die Bewohner des Calvados etwas taugen, da selbst die Frauen dieses Landes der Festigkeit fähig sind, im übrigen weiß ich nicht, wie die letzten Augenblicke sein werden, und das Ende krönt das Werk. Ich brauche keinerlei Unempfindlichkeit über mein Schicksal affektieren, denn bis zu diesem Augenblick habe ich nicht die mindeste Todesfurcht, ich habe das Leben immer nur um des Nutzens willen geschätzt, den es bringen konnte.«18
Am 19. Juli 1793 wird Charlotte Corday mit geschorenen Haaren in einem roten Hemd auf einem Karren zum Schafott auf der Place de la Révolution gefahren. Auf priesterlichen Beistand hatte sie verzichtet. Sie stirbt ruhig und gefasst. Der deutsche Revolutionär Adam von Lux schreibt voll Bewunderung: »Sie bestieg das Schaffott – sie starb – und die große Seele erhob sich zu den Catonen, zu den Brutus, und den wenigen anderen, deren Verdienste sie gewiss besitzt, und vielleicht sogar übertrifft. (…) Caen! Du hast eine Heldin hervorgebracht, deren Byspiel man vergebens in Rom und Sparta sucht.«19 Nach Charlotte Cordays Hinrichtung hebt einer der Helfer des Henkers ihren abgeschlagenen Kopf aus dem Korb und zeigt ihn der Menge. Dabei schlägt er ihn auf die Wange. Die Umherstehenden berichten später von einem Ausdruck eindeutiger Entrüstung auf ihrem Gesicht. Bei der Obduktion der Leiche wird festgestellt, dass Charlotte Corday noch Jungfrau war. Sie wird in einem Massengrab nahe Ludwig XVI. beigesetzt. Unklar ist, ob auch ihr Kopf bestattet oder als Kuriosität einbehalten wurde. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll er sich bis ins 20. Jahrhundert im Besitz der Familie Bonaparte befunden haben.
Ihren Anspruch, weiteres Sterben zu verhindern, kann Charlotte Corday nicht erfüllen. Marat wird zum Märtyrer der Revolution. Der Mord an ihm radikalisiert die Revolution erneut, führt zu einer neuen Welle der Gewalt. Für die weiblichen Revolutionäre hat Charlotte Cordays Tat ebenfalls weitreichende Folgen. Sämtliche Frauenvereinigungen werden verboten und aufgelöst. Es kommt zu einer groß angelegten Kampagne gegen politische Frauen, nicht zuletzt deshalb, weil es eine Frau war, die das angebliche Unglück Frankreichs verursachte. In der Folgezeit werden so berühmte Frauen wie Olympe de Gouges und Madame de Roland hingerichtet. Das Rachebedürfnis des Volkes ist immens und liefert die endgültige Legitimation für die Errichtung der jakobinischen Terrorherrschaft, der schließlich auch die Potentaten Danton und Robespierre selbst zum Opfer fallen. Am Ende frisst die Revolution ihre Kinder selbst.
Charlotte Corday jedoch lebt fort, in Gemälden, Dramen und Geschichten, als jene Frau, über die Jules Michelet, der als bedeutendster französischer Historiker des 19. Jahrhunderts gilt, in seinem Buch Die Frauen der Revolution geschrieben hat: »Der alte Schutzherr heroischer Morde, Brutus, verblasstes Andenken an ein fernes Altertum, tritt jetzt seine Herrschaft ab an eine neue Gottheit, die mächtiger und verführerischer ist. An wen denkt der junge Mann heute, der eine große Tat träumt, heiße er Alibando oder Sand? Wen sieht er in seinen Träumen? Das Phantom des Brutus? Nein, die hinreißend schöne Charlotte, so wie sie war, in dem düsteren Glanz des roten Mantels, in dem blutigen Widerschein der Julisonne, im Purpur des Abends.«20
»Nicht der Krieg hat mich gerufen, sondern die Liebe, (…) aber auch der Hass, der glühende, im Kampf des Lebens erzeugte Hass gegen die Tyrannen und Unterdrücker der heiligen Menschenrechte.«1
»Viele von Euch im fremden wie im Heimathlande werden mich schmähen, dass ich, ein Weib, dem Kriegsrufe gefolgt zu sein scheine. Ihr besonders, ihr Frauen daheim, werdet mit ästhetischer Gravität sehr viel schönreden über das, was ein Weib thun darf, thun soll. Ich habe auch das einst gethan, bevor ich noch gewusst habe, was ein Weib thun muss, wenn der Augenblick vor ihm steht und ihm gebietet.«2
Mit diesen Worten beginnen die Memoiren von Mathilde Franziska Anneke, einer der wenigen Frauen, deren Namen mit der deutschen Revolution 1848 in Verbindung gebracht wird. Zusammen mit Emma Herwegh, Amalie Struve, Louise Aston und anderen ist sie eine der Amazonen, die in der badisch-pfälzischen Erhebung für Demokratie und Emanzipation kämpften. Ihr ganzes Leben war vom Wunsch nach Selbstbestimmung geprägt, ein Verlangen, das sie auch nach Ende des Revolutions-donners nicht aufgab, sondern couragiert bis an ihr Lebensende weiterverfolgte.
Mathilde wird am 3. April 1817 als älteste Tochter von zwölf Kindern des wohlhabenden Domänenrats Karl Giesler und seiner Frau Elisabeth auf Gut Oberlevringhausen in Westfalen geboren: »Der wechsel- und wundervolle Monat April trug mich ins Leben. Ob er als wüster Unhold oder als lächelnder Frühlingsbote sich angetan hatte oder gar im Tränenmantel erschien – ich weiß es nicht. So viel ist mir erzählt worden, dass es gerade Mittag zwölf Uhr geschlagen hatte (…) als ich meiner sehr jungen, wunderschönen Mutter, meinem heiteren Vater und der Welt geschenkt wurde«, schreibt sie später über den Beginn ihres Erdendaseins.3 Mathilde wächst in großer Freiheit auf und erhält eine für damalige Verhältnisse umfangreiche Mädchenbildung, denn neben dem Besuch der Elementarschule wird sie zu Hause zusätzlich von Hauslehrern unterrichtet. Sie wächst zu einer hübschen und gebildeten jungen Frau heran, die sich schwärmerisch für Preußen begeistert. 1834 gerät die Familie aufgrund fehlgeschlagener Spekulationen des Vaters in finanzielle Schwierigkeiten. Die veränderte Situation zwingt die junge Frau 1836 in eine Vernunftehe mit dem Mühlheimer Weinhändler Alfred von Tabouillot, der die Schulden der Eltern übernimmt. Doch der zehn Jahre ältere Tabouillot ist ein grobschlächtiger Trunkenbold, der Mathilde schwer misshandelt. Am 27. November 1837 wird die gemeinsame Tochter Fanny geboren, nur einen Monat später verlässt Mathilde ihren Mann und reicht die Scheidung ein. Das zuständige Gericht in Duisburg weist ihre Klage ab und verpflichtet sie nach dem Ehegesetz des Allgemeinen Landrechts, zu ihrem Mann zurückzukehren. Denn auch wenn eine Scheidung im 19. Jahrhundert prinzipiell möglich ist, so wagt es doch kaum eine Frau, diese tatsächlich zu beantragen. Mathilde jedoch geht in Berufung und kehrt auch nach erneuter Ablehnung ihrer Klage durch das Oberlandesgericht Hamm nicht zu Tabouillot zurück. Stattdessen beeidet sie die Übergriffe ihres Mannes vor Gericht, sodass die Klage endlich angenommen wird.
Über drei Jahre wird sich der Scheidungsprozess hinziehen. Zuletzt wird beiden Parteien eine Mitschuld am Scheitern der Ehe gegeben. Mathilde erhält das Sorgerecht für ihre Tochter, bekommt aber durch ihre Mitschuld nur wenig Unterhalt. Darauf hin geht sie in Revision und ficht das Urteil an. Jetzt wird ihr, entgegen aller bisherigen Erkenntnisse, wegen böswilligen Verlassens des Ehemanns die Alleinschuld am Scheitern der Ehe angelastet. Am Ende dieser leidigen Geschichte ist Mathilde um viele Illusion ärmer und um eine wichtige Erkenntnis reicher, nämlich »dass die Lage der Frauen eine absurde und der Entwürdigung der Menschheit gleichbedeutende sei. Und so begann ich durch Wort und Schrift für die geistige und sittliche Erhebung des Weibes so viel ich mochte zu wirken.«4