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Tipps für die anspruchsvollste Beziehung Ihres Lebens Eltern sind die wahren Helden unserer Zeit. Digitalisierung, Wandel der Arbeitswelt, neue Weltordnung. Keine Generation zuvor musste in so kurzer Zeit so viel Veränderung verstehen, bewältigen – und kommunizieren. Mit Kindern (und Jugendlichen) ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben ist die Lebensaufgabe, auf die uns niemand vorbereitet hat. Das einzige Werkzeug, das dafür zur Verfügung steht, ist zugleich die größte Herausforderung: die Kommunikation. Hier liegen die größten Chancen, aber auch die größten Stolperfallen. René Borbonus erklärt, wie wir Kindern mit den Mitteln der Kommunikation fördern, durch kooperatives Verhalten das Familienleben zu erleichtern und Verletzungen auf beiden Seiten vermeiden können. Wie reagiere ich auf Ängste meines Kindes? Wie spreche ich mit ihm über schwierige Themen? Wie gestalte ich Lernen so, dass es Freude macht? Wie reguliere ich den Gebrauch von Smartphone und Social Media? Wie begegne ich meinem Kind auf Augenhöhe, ohne mir die Butter vom Brot nehmen zu lassen?
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Das Buch
Eltern sind die wahren Helden unserer Zeit. Noch keine Generation musste so viel Veränderung bewältigen – und kommunizieren. Mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben ist die Lebensaufgabe, auf die uns niemand vorbereitet hat. Vom ersten Urschrei über die eskalierte Lappalie bis zur Grundsatzdiskussion: Hier gibt es Rat für alle Not-, Präzedenz- aber auch Lachanfälle der Eltern-Kind-Kommunikation.
Der Autor
René Borbonus ist Spezialist für Rhetorik und Kommunikation. Topmanager, Politiker und Spitzensportler lassen sich von ihm ausbilden und auf schwierige Gespräche vorbereiten. Bei Econ sind von ihm folgende Bücher erschienen: Respekt! (2011), Klarheit (2015) und Relevanz (2019).
René Borbonus
Ich zähle jetzt bis drei!
Wie Sie mit Kindern ins Gespräch kommen, im Gespräch bleiben und mit Fehlern umgehen
Econ
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ISBN 978-3-8437-2736-5
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Redaktion: Silke Pachal, Berlin
Umschlaggestaltung: total italic, Thierry Wijnberg
Covermotive: Shutterstock/photomaster (Ente),
Shutterstock/Tsekhmister (Küken)
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für meine beiden Lehrer: Leo und Johann
Prolog
Redebedarf
Kommunikation als Schlüssel zu einer guten Eltern-Kind-Beziehung
»Kinder großziehen ist ganz einfach. Nur das Ergebnis lieben ist schwer.«
Kommentar eines Vaters (nicht meines Vaters)
Vor Kurzem wurde ein guter Freund meiner Familie 50. Rolf ist dreifacher Vater. Aus diesem Anlass hatte Lili, seine Tochter im Teenagerinnen-Alter, sich eine besondere Überraschung ausgedacht. Sie berührte mich als Vater genauso tief, wie sie mich als Kommunikationstrainer beeindruckte. Das Mädchen überreichte Rolf zu seinem Geburtstag ein selbst hergestelltes Buch. Dafür hatte sie viele Jahre lang Highlights der Kommunikation zwischen ihr und ihrem Vater gesammelt. In dem liebevoll gestalteten Band kommentierte sie diese besonderen Momente ihrer Vater-Tochter-Beziehung. Zum Beispiel fand sich darin die Geschichte einer für sie besonders schwierigen Zeit, die einige Jahre zurücklag. Lili hatte nach der Rückkehr der Familie nach Deutschland von einem langen Auslandsaufenthalt in Kanada große Adaptionsschwierigkeiten. Darüber zu sprechen war ihr allerdings schwergefallen.
Just in dieser Zeit schien sich eine Fee namens Titania im Hause der Familie häuslich eingerichtet zu haben. Gutes Timing, denn Rolf hatte den umgekehrten Kulturschock seiner Tochter genauso bemerkt wie ihr Zögern, darüber zu sprechen. Er riet Lili, sich an Titania mit Zettelchen zu wenden, auf denen sie ihre Sorgen niederschreiben könne. Zwischen den beiden entspann sich ein Briefwechsel, in dem Rolfs Tochter sich endlich öffnen konnte. Stets erhielt sie einfühlsame Antworten und Ratschläge, und schon bald ging es ihr wieder viel besser in ihrer neuen, alten Heimat.
Wie das Lili in ihrem Geschenkband nun Jahre später berichtete, hatte sie damals zwar durchaus eine Ahnung gehabt, dass Titania in Wahrheit Rolf hieß. Doch wen kümmerte das schon? Die Verbindung war geknüpft, die Kommunikation zeigte Wirkung. Die Absenderin oder der Absender der zauberhaften Antwortbriefe, wer auch immer sie oder er sein mochte, nahm großen Einfluss auf ihr Leben in dieser für sie prägenden Zeit. So groß, dass sie als fast erwachsene Teenagerin das Bedürfnis verspürte, Danke zu sagen für das, was ihr Vater, die Fee, mit seinen Worten bewegt hatte. In ihrem Geburtstagsbuch für Rolf schrieb Lili unter anderem Folgendes:
»Falls irgendwann jemand mal gesagt hat, dass Väter keine Feen sein können, dann liegt diese Person falsch. […] Das erste Mal, dass ich etwas über meine liebe Titania erfuhr, war ich sieben Jahre alt. Ich lernte sie durch mein Feenbuch kennen. […] Ich glaube, ich wusste sogar, dass du die Person warst, die sich hinter Titania verbarg, habe mich aber unterbewusst dagegen entschieden, es zu glauben, bis ich sie nicht mehr brauchte. Als ich dann einmal einen Brief von ihr oben auf deinem Schreibtisch gefunden habe, war ich nicht enttäuscht oder überrascht, sondern einfach glücklich, dass ich eine Fee hatte, die mir so sehr geholfen hat, mich an mein neues Leben in Deutschland zu gewöhnen. Du wirst immer meine Fee bleiben, ob du dich nun Tata, Titania oder was ganz anderes nennst.«
Wie es in dieser Erzählung anklingt, war Rolf nicht nur in dieser besonderen Phase der Eingewöhnung als Gesprächspartner für Lili da, sondern ihr ganzes Kinderleben lang, was auch immer ihr Redebedarf gerade war. Das ist auch der Grund, warum ich Ihnen von Rolf und Lili erzähle. Denn das ist es, was Kommunikation in der Familie bewirkt: Die Gespräche mit Kindern prägen ihr Leben. Mit unseren Worten entscheiden wir Eltern darüber, wie diese Prägung aussieht. Vielleicht bekommt nicht jede oder jeder von uns am 50. Geburtstag ein Best-of-Album des eigenen Eltern-Werks geschenkt. Respekt, lieber Rolf! Doch der Einfluss, den die Eltern-Kind-Kommunikation auf ein Kind und sein späteres Leben hat, kann gar nicht überschätzt werden.
Gelingende Kommunikation ist nichts weniger als das Fundament eines funktionierenden Zusammenlebens. Das ist sie immer und für jeden von uns, aber ganz besonders in Familien mit Kindern. Kommunikation formt Beziehungen, und Beziehungen formen Lebensqualität. Wenn die Gespräche zwischen Eltern und Kindern gelingen, ist das nicht nur eine gute Basis für die Entwicklung der Kinder. Es geht auch uns Eltern wesentlich besser damit, und zwar an jedem einzelnen Tag unseres Lebens.
Leider, und da erzähle ich Ihnen bestimmt nichts Neues, gelingen Gespräche nur eben nicht jedes Mal. Das weiß ich als Trainer genauso sicher, wie ich es schon viele Male als Vater schmerzlich am eigenen Leib gespürt habe. Ganz bestimmt weiß selbst Rolf aus eigener Erfahrung, wie sich eine misslingende Kommunikation mit den eigenen Kindern anfühlt. Manchmal höre ich einen meiner Söhne mit dem anderen reden und erkenne den Tonfall meiner Frau oder meinen eigenen wieder. Das kann ein fröhliches Erwachen sein oder ein schmerzhaftes. Wahrscheinlich gelingt mir auch vieles. Doch auffallen werden uns immer eher die Verbalunfälle: Im Umgang mit Kindern spürt man bis ins Mark, wenn die Verbindung nicht gelingt. Weichen Sie dem Schmerz nicht aus. Nehmen Sie ihn an. Er zeigt das tiefe emotionale Potenzial, das in jedem Gespräch steckt.
Ziemlich sicher spreche ich Ihnen aus der Seele, wenn ich behaupte: Eltern-Kind-Kommunikation ist die Lebensaufgabe, auf die uns niemand vorbereitet hat. Hinzu kommt, dass es nie schwieriger war als heute, mit Kindern ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben. Schließlich sind unser Alltag und unsere Kommunikation auch ohne die Elternrolle schon anspruchsvoll genug: Klimawandel, Digitalisierung, Wandel der Arbeitswelt. Noch keine Generation musste in so kurzer Zeit so viel Veränderung verstehen, bewältigen – und kommunizieren. All das verblasst im Vergleich zu der Verantwortung, in dieser komplexen und ungewissen Zeit Eltern zu sein. Nicht nur müssen wir die Welt für unsere Kinder irgendwie zusammenhalten, nein, wir müssen ihnen all das Durcheinander auch noch erklären können. Vom ganz normalen Familienwahnsinn mal ganz zu schweigen: Auch im 21. Jahrhundert lachen und weinen unsere Kinder, und oft verstehen wir als Erwachsene noch immer nicht, warum. Wie eh und je brauchen sie unsere volle Zuwendung, unsere Liebe und unsere Konsequenz, um von Mini-Menschen zu großen Persönlichkeiten heranzureifen. Aller Ablenkung und Überforderung zum Trotz verdienen sie unsere volle Aufmerksamkeit.
Ich selbst erlebe die Wachstumsschmerzen täglich. Nicht die meiner Kinder, nein: meine eigenen. Gestandene Politikerinnen und Politiker, Managerinnen und Manager habe ich auf schwierige Gespräche vorbereitet. Aber der Dialog als Vater mit meinen Kindern ist meine mit Abstand größte persönliche Herausforderung. Aus dieser doppelten Insider-Perspektive heraus habe ich dieses Buch geschrieben und hoffe, Ihnen als Experte und Lernender in eigener Sache zugleich eine helfende Hand zu reichen.
Im Grunde, da mache ich mir gar nichts vor, erzähle ich in diesem Buch die Geschichte meines eigenen Scheiterns. Besonders als Eltern tun wir uns alle einen großen Gefallen, wenn wir das von vornherein anerkennen: Jede Geschichte über Kommunikation ist immer im selben Maße eine Geschichte des Scheiterns, wie sie eine Geschichte des Wachstums ist. Und das ist völlig okay, denn daraus lernen wir lebenslang weiter – gemeinsam mit unseren Kindern. Eltern müssen eben nicht perfekt sein, um für ihre Kinder perfekt zu sein. Alles, was Sie tun müssen, ist, im Gespräch zu bleiben. Redebedarf gibt es immer.
Diese Haltung der Achtsamkeit gegenüber den eigenen Möglichkeiten und Grenzen ist das Thema des ersten Kapitels. Kommunikation ist immer auch eine Frage der persönlichen Ressourcen. Eltern laufen ständig Gefahr, die eigenen Grenzen zu überrennen. Doch wenn wir nicht auf uns selbst aufpassen, können wir auch nicht achtsam mit den Menschen kommunizieren, die darauf am meisten angewiesen sind: mit unseren Kindern.
Am besten geht es uns natürlich, wenn die ganze Familie an einem Strang zieht. Kinder zur Kooperation zu bewegen ist wahrscheinlich die größte Herausforderung in der Eltern-Kind-Kommunikation, weil sie sich rund um die Uhr stellt. Ihr ist das zweite Kapitel gewidmet. Die Tipps und Strategien für kooperatives Verhalten werden Ihren Alltag mit Kindern vielleicht nicht zu einem einzigen unbeschwerten Spaziergang machen, aber immerhin zu einer Mission Possible mit Spaßfaktor für alle.
Im dritten Kapitel geht es um die Rolle, die das Timing bei der Kommunikation mit Kindern spielt – und nicht nur mit ihnen. Viele Gespräche scheitern einfach daran, dass sie im falschen Moment und unter den falschen Voraussetzungen geführt werden. Vermeiden lässt sich das mit dem nötigen Hintergrundwissen darüber, wie Wahrnehmung in Gesprächen funktioniert.
Empathie ist die wohl wichtigste Kompetenz, um tiefgreifend auf die Bedürfnisse von Kindern eingehen zu können. Deshalb ist sie Gegenstand des vierten Kapitels. Während Kinder von Natur aus Meisterinnen und Meister der Empathie sind, haben sich viele Erwachsene im Laufe ihres Lebens Empathie recht effektiv abgewöhnt. Die Kommunikation mit Kindern ist das ideale Spielfeld, um sie zu trainieren und so der Eltern-Kind-Beziehung eine ganz neue Qualität zu verleihen.
Alle Eltern wünschen sich, besser zu ihren Kindern durchdringen zu können – gerade auch bei Themen, auf die sie zuverlässig keinen Bock haben. Dafür hält die Rhetorik ein riesiges Repertoire an Möglichkeiten bereit, von denen wir im hektischen Familienalltag die meisten einfach liegen lassen. Das fünfte Kapitel zeigt Ihnen, wie Sie mit sprachlichen Mitteln Brücken in die Welt Ihrer Kinder bauen können.
Auch die Wortwahl bestimmt maßgeblich darüber, ob Botschaften bei Kindern ankommen und wie es ihnen damit geht. Leider gehen wir unter Druck und Stress oft nicht sehr sorgsam mit unseren Worten um. In der Kommunikation mit Kindern ist das ein echter Verlust, denn sie nehmen Worte wörtlich. Deshalb kauen wir im sechsten Kapitel einmal gründlich darauf herum.
Ein Thema, das vielen Eltern Bauchschmerzen macht, ist der Umgang mit extremen Gefühlen bei ihren Sprösslingen. Wut, Angst, Scham und andere Empfindungen können bei Kindern so stark sein, dass sie uns überfordern und sogar das Familienleben dominieren. Deshalb ist es extrem hilfreich, zu wissen, wie man entspannter und konstruktiver damit umgehen kann. Genau darum geht es im siebten Kapitel.
Das achte Kapitel widmet sich der wichtigen Frage, wo in Gesprächen der Spaß aufhört und die Verletzungen beginnen. Leider ist Sprachgewalt auch in Familien viel verbreiteter, als uns lieb sein kann. Es gehört nicht viel dazu, einem empfindsamen Kind wehzutun. Gleichzeitig reicht schon ein bisschen mehr Achtsamkeit aus, um die meisten Verletzungen zu vermeiden.
In Kapitel neun schließlich steht zur Debatte, was wir Kindern in Gesprächen für die Zukunft mitgeben. Denn was in der Familie geschieht, wirkt sich auf den Rest ihres Lebens aus. Wenn Sie Ihren Sprösslingen also nur noch einen Gefallen mehr tun wollen, ersparen Sie ihnen den späteren Besuch bei der Motivationstrainerin oder dem Motivationstrainer. Dafür braucht es nicht mehr, aber auch nicht weniger als gelingende Gespräche über die besonders kniffligen Lebensthemen – und Ihr gutes Vorbild.
Wenn ich von gelingender Kommunikation spreche, meine ich damit zwei große Ziele, die ich mit Ihnen verfolgen möchte. Beide sind untrennbar miteinander verknüpft. Zum einen sorgen wirkungsvolle Gespräche mit Ihren Kindern dafür, dass das Zusammenleben als Familie funktioniert und alle Beteiligten sich wohlfühlen. Zum anderen sind Sie Ihrem Kind bei jedem Gespräch gleichzeitig immer auch Vorbild für gute Kommunikation im Allgemeinen. Kommunikation ist Leben, Eltern-Kind-Kommunikation ist Familienleben, Ihre gelebte Kommunikation ist Vorbild für das Leben Ihrer Kinder.
Wenn wir als Eltern unsere Sache in der Kommunikation so gut machen, wie wir eben können, erweisen wir unseren Kindern damit den größten Liebesdienst, dessen wir mächtig sind. Gelingende Kommunikation ist jede kleine und große Mühe, jeden aufgearbeiteten Streit, jeden Moment des Scheiterns, jede Träne und jeden Lacher wert, den wir uns unterwegs verdienen.
Kommen Sie gut an!
Ihr René Borbonus
Kapitel 1
Selbstfürsorge
Wie Sie Ihren Kindern helfen, indem Sie auf sich selbst achten
Verschleiß auf leisen Sohlen
Wenn Sie Kinder haben, muss ich Sie von der folgenden Feststellung nicht erst überzeugen: Unterschätzen Sie nicht, was das Elternsein mit Ihnen macht. Zu 95 Prozent meine ich das so positiv wie nichts anderes, was ich je gesagt habe: Es ist einfach unvorstellbar, welche Bereicherung meine Söhne für mich sind, und das seit den Tagen ihrer Geburt. Das gilt, und das war einer der Hauptgründe, dieses Buch zu schreiben, auch für meine Kommunikation. Aber wem sage ich das?
Die übrigen fünf Prozent Lebensveränderung sind allerdings trotzdem nicht von der Hand zu weisen. Sie sind deshalb so tückisch, weil wir sie dank unserer grundsätzlichen Begeisterung über die kleinen Wunderwesen nicht wahrnehmen, oder zumindest nicht ernst genug: Selbst die Müdigkeit und die Erschöpfung erscheinen uns noch entzückend. Wenn wir mit anderen jungen Eltern reden, sieht auch meistens alles nach eitel Sonnenschein aus, denn sind wir ehrlich: Da sind wir oft eben nicht ehrlich miteinander. Wir wollen die perfekten Eltern mit den perfekten Kindern sein und setzen uns damit gegenseitig unter Druck. Diese Echokammer zu durchbrechen und offen übers Reden zu reden war ein weiterer Beweggrund für dieses Buch. Denn der Verschleiß junger Eltern kommt auf leisen Sohlen und bleibt oft viel zu lange unbemerkt. Aber er kommt. Verlassen Sie sich drauf.
Kommunikation mit unseren Kindern und miteinander kann ihm entgegenwirken und die Elternschaft zu etwas noch Größerem, noch Schönerem machen – und zwar für unsere Kinder und für uns selbst. Das war die dritte, zentrale Motivation des Buches, das Sie in Händen halten.
Vor allem, solange die Kinder noch klein sind, gehen wir als Eltern einfach brutal über die eigenen Grenzen hinweg. Und wir merken es erst einmal nicht unbedingt in vollem Umfang, weil das Kinderglück (und auch die Hormone) dafür sorgen. Es beginnt damit, dass Sie, beginnend mit der Geburt, in eine jahrelang andauernde Phase des permanenten Schlafentzugs eintreten, von der Sie sich – so langsam ist das meine Vermutung – bis zur Rente nicht wieder erholen werden. Wenn das Kind dann doch mal schläft, versuchen Sie verzweifelt, allen anderen Ansprüchen und allen anderen Menschen in Ihrem Leben auch noch gerecht zu werden. Organisatorisch wäre es am besten, Sie schlafen immer dann, wenn das Kind auch schläft. Aber das ist ungefähr so realistisch wie das Cabrio, das Sie sich mindestens bis zur Midlife-Crisis abschminken können.
Eine ganze Weile können Sie den Schlafmangel kompensieren, aber irgendwann rächt er sich. Nicht umsonst gehört Schlafentzug zum Werkzeugkasten von Verhörspezialistinnen und -spezialisten und Folterfachangestellten: Wenn Sie mal lange genug darunter leiden, sind Ihre innere Klarheit und Ihre Resilienz irgendwann auf dem Level eines eingesperrten Streifenhörnchens auf Acid. Das Problem dabei ist nur, dass Sie selbst wahrscheinlich als Letzte oder als Letzter merken, wie verschlissen Sie eigentlich sind.
Für dieses Risiko möchte ich Sie sensibilisieren. Nicht aus dem Mitgefühl des Leidensgenossen heraus, sondern weil ich die Folgen aus zwei Perspektiven kenne: zum einen aus der des übermüdeten Vaters, der auch alles andere auf die Reihe kriegen muss. Zum anderen aus der des Kommunikationstrainers, der täglich mit den oberflächlichen Wunden und den tiefen Gräben konfrontiert ist, die misslingende Kommunikation reißt. Viel zu oft ist der Grund dafür, dass eine oder einer der Beteiligten überfordert ist. Sie müssen selbst in guter Verfassung sein, um gut auf andere eingehen und positiv auf die Beziehung einwirken zu können. Ganz besonders, wenn es sich bei Ihrer Gesprächspartnerin oder Ihrem Gesprächspartner um ein Kind handelt.
Um es ganz konkret zu sagen: Eltern dürfen egoistisch sein. Manchmal, nicht ständig, und in Maßen, nicht maßlos. Aber egoistisch. Das, was Eltern sich zuerst verbieten, ist genau das, was sie manchmal einfach brauchen. Nicht, weil man dem phasenweise entwicklungsbedingten Egoismus von Kindern etwas entgegensetzen müsste. Sondern weil Ihnen sonst niemand hilft oder helfen könnte. Wenn Sie in den, sagen wir: 18 bis 30 Jahren nach der Geburt nicht auf sich selbst achten, dann bekommen Sie keinen Schlaf, kein Mitspracherecht bei Mahlzeiten und Freizeitgestaltung und schon gar kein Cabrio. Sie bekommen noch nicht mal das letzte Wort. Bis zur Pubertät aus Unwissenheit nicht: »Warum brauchen Erwachsene überhaupt Schlaf, wenn sie gar nicht mehr wachsen müssen?« Ab der Pubertät aus Prinzip nicht: »Ich bin zwölf – was mischst du dich eigentlich in mein Leben ein?« Nach dem Schulabschluss aus Überzeugung nicht: »Halt dich raus, alter Mann, das verstehst du nicht.«
Daher lautet mein erster Tipp für eine gelingende Eltern-Kind-Kommunikation: Lernen Sie, egoistisch zu sein. Nicht nur Ihrem Kind, sondern auch allen anderen Anspruchsträgerinnen und -trägern in Ihrer Umgebung gegenüber. Arrangieren Sie sich damit, dass man es als Mutter oder Vater nicht immer um jeden Preis allen recht machen oder jeder und jedem gefallen kann. Für viele Eltern ist das besonders beim ersten Mal und besonders am Anfang eine riesige Herausforderung, die zusätzlich Kraft kostet. »Ich kann mich darum jetzt nicht kümmern, es geht einfach nicht!« Das kommt vielen Menschen schwer über die Lippen, die sich plötzlich auf einen ganz neuen Lebensstil und einen ganz neuen Energiehaushalt einstellen müssen. Von der Paarbeziehung und der Kommunikation mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner ganz zu schweigen, die von nun an auch unter ganz neuen Vorzeichen stehen.
Eine der wichtigsten Kompetenzen, die Sie lernen müssen. (Kapitel 6 liefert Ihnen Tipps, wie Sie zu Kindern und Erwachsenen gleichermaßen klar Nein sagen können, ohne verbrannte Erde zu hinterlassen.) Die Liebe, die Sie in sich tragen, ist bedingungs- und grenzenlos – Sie würden alles für Ihr Kind tun, bis zur Selbstaufgabe. Das hat die Natur so vorgesehen. In unserer Kultur kann daraus aber auch schnell ein Nachteil werden. Heute steht nicht das Leben auf dem Spiel, sondern die gesunde Balance. Je besser Sie auf sich selbst achtgeben, desto besser können Sie auf den kleinen Menschen aufpassen, den Sie in die Welt gesetzt haben. Denn er oder sie ist davon abhängig, dass Sie in guter Verfassung sind. Wenn Sie von Anfang an auf sich achten, wird alles andere leichter. Ganz besonders die größte Herausforderung von allen: die Kommunikation.
Nerven schonen, Perfektion aufgeben
Einer der größten Stressfaktoren, die Eltern sich selbst antun können, ist der Anspruch auf Perfektion. Schon in der täglichen Elternroutine, ganz besonders aber langfristig betrachtet birgt der hausgemachte Perfektionsdrang ein großes Risiko, sich emotional selbst zu verletzen – und im selben Zuge unsere Kinder ebenfalls.
Der Erfolgsdruck, den wir Eltern heute verspüren, ist auch so schon hoch genug. Gegenüber früheren Generationen ist er deutlich gestiegen, wie eine repräsentative Forsa-Umfrage für die Zeitschrift Eltern ergab. Überraschenderweise ist daran nicht in erster Linie der viel zitierte Zeitmangel schuld, obwohl viel mehr Menschen als früher Beruf und Familie auf ganz neue Weise jonglieren müssen. Das größere Problem ist das Selbstverständnis heutiger Eltern. Im Vergleich zu den Vorgängergenerationen legen sie viel mehr Wert darauf, in allem gleichzeitig perfekt zu sein: im Beruf, als Partnerin oder Partner, als Eltern.1
Allgemein zeigten sich zwar die meisten Eltern überzeugt davon, dass heute die Latte höher hängt als früher: Rund 60 Prozent der befragten Mütter und Väter gaben an, dass ihrer Meinung nach die Erwartungen und Anforderungen an Eltern gegenüber denen vor 30 Jahren gestiegen seien. Nur 30 Prozent waren der Ansicht, dass es sich um andere Erwartungen handele, aber nicht um höhere. In einer Talkshow hat der Kabarettist Florian Schroeder die gesellschaftliche Erwartungshaltung, insbesondere an Mütter, auf den Punkt gebracht: »Was muss die Frau alles sein: Sie muss Topmodel, mager, schlank sein, aber sie muss auch Kinder wollen. Die muss sie im richtigen Moment wollen, also nicht mit 20, aber auch nicht mit 40. […] Sie muss Karriere machen, und zwar selbstbewusst, aber nicht als Emanze […], feministisch, organisiert und überhaupt gut drauf. Und während sie Karriere macht, muss sie gleichzeitig zu Hause bleiben. […] Man darf ihr die Kinder, die sie gekriegt hat, nicht ansehen. Zu Hause muss sie außerdem Hure, Liebhaberin, beste Freundin, Mutter und alles auf einmal sein. Und den Stress, den sie hat, den darf man niemals spüren.«2
Gleichzeitig waren sich die meisten befragten Eltern bewusst, dass sie selbst sich den schlimmsten Druck auferlegten. Über die Hälfte (56 Prozent) der Männer und sogar fast drei Viertel (73 Prozent) der Frauen gaben an, sehr hohe Ansprüche und Anforderungen an sich selbst zu stellen. Das Spektrum reichte dabei von der Auswahl des Kinderwagens bis hin zur Wahl der Schule, die das Kind besuchen soll.3
Auch über die Folgen des hohen Erfolgsdrucks für die Selbsteinschätzung als Eltern gab die Studie Aufschluss: Ebenfalls drei Viertel der befragten Mütter räumten ein, dass sie mit sich als Mutter häufig oder wenigstens gelegentlich nicht zufrieden seien. Bei den Männern trafen etwa zwei Drittel die Aussage, dass sie ihrer Vaterrolle nicht gut genug gerecht würden.4
Sie finden das bedenklich? Warten Sie ab, es wird noch verrückter: In einer von der Zeitschrift Eltern parallel durchgeführten Studie wurden Kinder gefragt, was sie denn so von ihren Eltern hielten. Rund 90 Prozent von ihnen waren überzeugt, die besten Eltern der Welt zu haben. Gut ein Drittel (36 Prozent) hatte sogar durchschaut, dass ihre Eltern gestresst seien, »… weil sie immer alles perfekt machen wollen«.5
Die Quintessenz dieser Ergebnisse lässt sich in einem Satz festhalten: Den meisten Stress machen wir uns als Eltern selbst, und zwar meistens umsonst. Denn diejenigen, für die wir doch schließlich »alles tun«, wollen gar nicht, dass wir als Eltern besser oder gar perfekt werden.
Wenn wir ehrlich sind, können wir alle dieses Ergebnis aus dem Stand bestätigen: Unsere Kinder hätten uns lieber entspannter, gelassener und freundlicher als permanent angespannt und gestresst. Vor lauter Druck, dem wir uns als Vorbilder aussetzen, vergessen wir nämlich, welches Vorbild wir damit abgeben: Wir leben unseren Kindern Stress und Nervosität als Normalzustand vor. Da können wir uns noch so oft mit den gestiegenen Leistungsanforderungen der Gesellschaft herausreden: Die Entscheidung, uns einem hausgemachten Perfektionsanspruch zu unterwerfen, treffen wir selbst. Nicht die Gesellschaft, und schon gar nicht unsere Kinder.
Das kommt natürlich nicht von ungefähr: Die meisten Menschen bekommen Kinder heute in einer Lebensphase, in der unglaublich viel gleichzeitig passiert. Nicht selten geht das Kinderkriegen mit einer Art Nestbau einher, zum Beispiel, wenn wir ein Haus kaufen oder bauen. Gleichzeitig werden im Beruf die entscheidenden Hürden für die Wunschkarriere erklommen, damit die junge Familie (und das Haus) auch langfristig auf einem soliden Fundament stehen – beides für sich genommen schon Herausforderungen, die geeignet sind, Menschen in den Ausnahmezustand zu treiben. Abends muss natürlich allem Zeitdruck zum Trotz das ausgewogene Menü auf dem Tisch stehen und die Bude blitzblank sein. Und selbstverständlich schaffe ich die Fortbildung nebenbei im Homeoffice, Chef! Alles muss zum sorgfältig ausgetüftelten Lebensentwurf passen: perfekte Freundinnen und Freunde, perfektes Innendesign, perfekte Hobbys. Und natürlich muss der Rückbildungskurs dafür sorgen, dass man als Mutter nach zwei Monaten wieder reif für den Laufsteg und den Vollzeitjob ist – Heidi Klum lebt es vor, geht doch! Alles Luxusprobleme, versichert uns Oma aus sicherer Entfernung am Telefon: »Früher haben wir das doch auch alles geschafft und die Kartoffeln noch selbst vom Acker geholt, mit dem Kind auf dem Rücken.« Genau: So schwierig kann das alles nicht sein, andere kriegen es doch auch hin.
Kriegen sie?
Mehr als auf alles andere im Elternalltag wirkt sich der selbst auferlegte Stress dort aus, wo er am meisten Schaden anrichten kann: in der Kommunikation. Doch genau die ist der wichtigste Hebel für gesunde Beziehungen. Bei näherer Betrachtung stellen Eltern mit Perfektionsanspruch sich also selbst ein Bein: Durch den zusätzlichen Druck werden sie schlechter in dem, was den größten Erfolg verspricht. Fast alle Menschen kommunizieren unachtsamer und machen mehr Fehler, wenn sie unter Druck stehen. Es ist ein Teufelskreis: Die Kommunikation steht so nur noch mehr unter Dampf, was wiederum den Stressfaktor weiter erhöht. Wenn wir uns gehetzt und überfordert fühlen, kochen die Emotionen schneller hoch – und Affektkommunikation ist selten klar und respektvoll. Dennoch neigen die meisten Menschen leider eher dazu, Abstriche bei der Kommunikation zu machen, als ihre Überforderung bei der Wurzel zu packen und den Stress zu reduzieren. Spätestens auf lange Sicht entpuppt sich das fast immer als Milchmädchenrechnung – wenn es um Kinder geht, ganz besonders.
Ein weiterer Grund, warum der Perfektionsanspruch in der Eltern-Kind-Kommunikation hinderlich ist, mag gerade den Perfektionisten unter uns sauer aufstoßen: Der Wirkung von Worten auf Kinder sind Grenzen gesetzt. Ich meine das nicht böse, ich möchte nicht zynisch sein, und ich will mich damit auch nicht selbst beruhigen. Naturgemäß bin ich als Kommunikationstrainer ein glühender Verfechter von Kommunikation als Universalstrategie für viele Lebensthemen. Doch gerade, weil ich mich beruflich wie privat mit dem Thema beschäftige, habe ich gelernt, Kommunikation und ihr Potenzial realistisch einzuschätzen. Leider kommt es nun mal vor, dass Kommunikation an ihre Grenzen stößt. Wenn dies in der Kommunikation mit Kindern geschieht, wiegt es besonders schwer, weil uns diese Dialoge so viel bedeutsamer erscheinen als andere.
Schon als Zivildienstleistender im Pflegeheim habe ich diese Erfahrung gemacht: Menschen können vieles überstehen und überwinden. Aber wenn die Beziehung zu ihren Kindern zerrüttet ist, kommen sie ganz oft damit überhaupt nicht klar. Nie werde ich vergessen, wie plötzlich an einem Weihnachtsabend vor vielen Jahren ein Bewohner ins Stationszimmer des Pflegeheims stürmte. An seine Geschichte erinnere ich mich besonders gut, denn sie war eine von gescheiterter Kommunikation. Sein Sohn und er waren so zerstritten, dass die Funkstille schon lange Zeit angedauert hatte – viel länger, als ich den Mann nun schon kannte. Doch an diesem Tag, nach all den Jahren des Schweigens, hatte sein Sohn sich plötzlich und unerwartet einen Schritt auf seinen Vater zubewegt und war ihn besuchen gekommen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatten sie einander in die Augen gesehen und geredet. Nun stand der alte Mann vor uns, in Tränen aufgelöst, und konnte sein Glück kaum fassen.
Und dennoch können wir nicht mehr tun als unser Bestes. Letztendlich können wir nichts daran ändern: Auch das Reden mit Kindern hat Grenzen. Akzeptieren Sie diese Grenzen, und es wird Ihnen besser gehen.
Wir müssen als Eltern nicht perfekt sein. Wir müssen auch nicht auf alles eine Antwort haben. Und schon gar nicht müssen, nein, dürfen wir uns als Eltern selbst aufgeben. Kinder können manchmal auch davon profitieren, sich an den Fehlern der Eltern zu reiben und zu erproben. Das nicht perfekte Vorbild liefert ihnen eine Vergleichsfolie für ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung. Unserer Eitelkeit als Eltern mag das nicht immer schmeicheln. Unseren Wert als Bezugspersonen aber schmälert es nicht. Persönlichkeiten wachsen an Unterschieden; starke Persönlichkeiten akzeptieren das.
Letztlich führt der Perfektionsanspruch sowohl bei Ihnen als auch bei Ihren Kindern nur zu Frust, Enttäuschung und Vorwürfen. Denken Sie einmal an die letzten drei Gespräche mit Ihrem Kind: Perfekte Dialoge mit Kindern sind eine Mission Impossible. Viele Gesprächsanlässe mit Kindern sind nicht lösbar, und so manche Argumentation ist irrational. Selbst wenn Sie alles richtig machen, können Sie in Gesprächen mit Ihren Kindern scheitern. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern immer wieder mal. Binden Sie sich diese Momente des Scheiterns nicht als Klötze ans Bein, die Sie fortan mitschleifen müssen. Suchen Sie nicht auf Biegen und Brechen den Fehler immer nur bei sich. Wir alle geben uns Mühe, bestmöglich zu kommunizieren. Das zeigt allein schon die Tatsache, dass Sie dieses Buch in Händen halten. Wenn wir es manchmal trotzdem nicht schaffen, müssen wir diese Baustelle eben ausnahmsweise an eine höhere Macht delegieren. Hin und wieder bleibt uns einfach nichts anderes übrig.
Bei einem Elterngespräch in der Grundschule meines Sohnes berichtete mir eine Lehrerin, dass der Perfektionsanspruch der Eltern manchmal der Entwicklung ihrer Kinder im Weg steht. Sie erzählte mir von einem Fall, bei dem ein Kind das Arbeitsblatt für eine Hausaufgabe im Klassenzimmer hatte liegen lassen. Dank Vollvernetzung der Eltern untereinander war das Problem schnell gelöst: Eine andere Mutter fotografierte das Papier einfach ab und schickte es per WhatsApp rüber. Das Problem, so die Lehrerin, ist allerdings: Auf diese Weise kann man den Kindern gar nicht mehr beibringen, an ihre Sachen zu denken. Das vergessliche Kind bekommt nicht die Kritik, die ihm helfen würde, besser auf seine Sachen zu achten; die Entwicklungschance wird ihm einfach verweigert. An dieser Stelle, und an vielen anderen, wäre ein bisschen weniger Perfektion besser für den Lerneffekt, und ein bisschen mehr Gelassenheit wäre lehrreicher für das Kind – zumal die Lehrerinnen und Lehrer einem Grundschulkind ja nicht den Kopf abreißen, wenn es mal etwas vergisst.
Nicht nur kann zu viel Perfektionsdrang die Entwicklung hemmen, auch das Kind selbst mag sich irgendwann gestört fühlen. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz in der Kommunikation: Perfektion trennt. Ein Mensch ohne Ecken und Kanten frustriert uns – da bleiben wir lieber auf Distanz. Ein scheinbar perfekter Redner erreicht seine Zuhörer nicht – wir können uns nicht mit ihm identifizieren. Gegen Eltern, die Perfektion von uns verlangen, rebellieren wir. Warum? Weil wir ihre Imperfektionen kennen und lieben wollen, aber nicht dürfen. Menschen glauben Menschen und misstrauen Übermenschen. Perfektion hält auf Abstand, was Augenhöhe verbindet.
Warum Sie aufhören können, alles richtig zu machen
Aber haben wir als Eltern eigentlich das Recht, an uns selbst zu denken und der Perfektion zu entsagen? Dürfen wir uns mit weniger zufriedengeben, wenn wir für unsere Kinder doch nur das Beste wollen? Nicht nur das: Wir schulden es unseren Kindern, auf uns selbst aufzupassen! Gestresste, ausgebrannte, verletzte oder verzweifelte Eltern schaden potenziell nämlich nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Kindern.
Bis wohin das Streben nach Verbesserung noch hilfreich ist und ab wann es in belastenden Perfektionismus umschlägt, ist natürlich eine sehr individuelle Frage. Doch diese Abwägung könnten wir mit ein bisschen Achtsamkeit für die eigenen Bedürfnisse meistens recht zielsicher treffen. Das größere Problem ist, dass wir uns diese Frage – so wie viele, die ans eigene Wohlbefinden geknüpft sind – in der Hektik unserer modernen Lebensstile gar nicht mehr stellen. Stattdessen betrachten wir sogar das Thema Selbstfürsorge im Rahmen des Großprojekts Glück als eine Art Kompetenzerwerb: Wenn wir nur die richtigen Hebel auf den richtigen Wert stellen, wird alles perfekt sein. Ein bisschen Yoga hier, ein bisschen Powerfood da werden es schon richten und die allgemeine Überforderung ausbalancieren. »Wir suchen das ideale Gleichgewicht zwischen Arbeit und Entspannung, Beziehung und Selbstverwirklichung, zwischen Kind und Karriere, Familie und Zweisamkeit«, schreibt die FAZ-Journalistin und Mutter Florentine Fritzen in einem Beitrag über ihre eigene Generation der »Alleswoller«. Es ist auch meine Generation. »Wir machen keine Abstriche – aus Furcht, dass genau dort, wo wir nicht 100 Prozent investieren, das Glück verborgen liegt, das wir dann verpassen.«6
Das perfekte Leben als Investment-Portfolio: ein so absurder Lebensentwurf, dass unsere Großeltern uns wohl dafür ausgelacht hätten. Genau das tun sie vermutlich, wenn wir mit ihren perfekten Urenkeln zur Tür raus sind. Weil wir aber so hartnäckig an dieser abstrakten, lebensfernen Idealvorstellung festhalten, fehlt uns das Gespür dafür, wann wir es mit dem Zeitmanagement, mit der Selbstoptimierung und mit dem Perfektionismus übertreiben. »Weil wir glauben, dass wir uns ganz schön viel zumuten können, fühlen wir auch wenig Verantwortung für unser eigenes Wohlergehen. Dabei zehrt unser Perfektionismus an Körper, Geist und Seele.«7 Wann ist der Punkt erreicht, an dem wir merken, dass wir uns verspekuliert haben?
Denselben Eifer legen wir leider auch da an den Tag, wo stattdessen Empathie und Realismus gefragt wären: bei unserer »Elternkompetenz«. Auch sie betrachten wir als Katalog von Qualifikationen – Fähigkeiten, in denen man »gut« und »schlecht« sein kann. »Unser Kind soll nicht bloß geboren werden und eine möglichst schöne Kindheit haben, sondern es soll hübsch sein und klug und alle, aber auch wirklich alle Möglichkeiten bekommen.«8 Wir gehen an die Herausforderung Elternschaft heran wie an eine professionelle Aufgabenstellung: Als würde die Funktionsweise von Kindern auf Nullen und Einsen basieren wie unsere Smartphones. Als würde ihre Entwicklung sich prognostizieren lassen wie die eines Aktienpakets.
So krass würden Sie das nicht sagen? Nein, würden Sie nicht. Denn natürlich sieht die Realität anders aus, und wir erleben jeden Tag, dass der Wunsch, perfekte Eltern zu sein, eine Illusion ist. Und wie reagieren wir auf dieses permanente Scheitern? Indem wir es vor uns selbst und anderen verleugnen. Sollen alle anderen Eltern doch ebenfalls weiterhin denken, dass sie perfekt sein müssten, perfekt sein könnten.
Bleiben wir ehrlich: Viele Ansprüche erheben wir doch gar nicht, weil sie an tiefe Überzeugungen geknüpft wären. Wir beißen uns daran fest, weil Instagram uns Storys darüber erzählt, dass andere etwas haben, etwas können, etwas behaupten. Schau, deren Kind läuft schon; schau, deren Kind hat einen Wettbewerb gewonnen; schau, deren Kind hat eine Eins. Die perfekt gestylte Vorzeigeversion der Freundin, die nach dreimonatiger Vorausplanung »mal eben zum Kaffee« rüberkommt, ist ebenfalls bemüht, diesen Mythos aufrechtzuerhalten. Und was tun wir? Wir gehen bei ihrem Bluff mit.
Wir vergleichen, wo wir lieben sollten. Unsere Kinder und auch uns selbst.
Damit setzen wir uns nicht nur als Erwachsene selbst und gegenseitig unter Druck, sondern schlimmer noch: auch unsere Kinder. Sie spüren am schmerzlichsten, wenn sie nicht in das perfekte Bild passen, in das wir sie pressen wollen. Sie leiden am meisten an unserem Perfektionsanspruch. Wir bilden uns ein, ihnen zu helfen, wenn wir uns quälen. Aber das tun wir nicht. Sie quälen sich mit uns. Denn sie lieben auch da, wo wir vergleichen. Bedingungslos.
Dieser Rat gilt für die Eltern-Kind-Kommunikation, um die es in diesem Buch geht, und an dieser Stelle ausnahmsweise auch für alle anderen Aspekte Ihrer Elternschaft, für die ich kein Experte bin: Geben Sie zuerst Ihren Perfektionsanspruch auf. Was unsere Kinder von uns brauchen, ist nicht Perfektion, sondern Präsenz. Kinder brauchen Eltern, die für sie da sind. Alles andere ist eine Frage des gemeinsamen Wachstums, und deshalb: ungeheuer individuell. Ihre Herangehensweise an Elternschaft und an Kommunikation funktioniert am besten, wenn sie zu Ihnen und Ihrer Familie passt. Perfektion dagegen passt zu niemandem.
Streben Sie stattdessen lieber nach Zufriedenheit. Das ist anspruchsvoll genug, denn es setzt ein hohes Maß an Gelassenheit, Geduld und Selbstreflexion voraus – nicht nur, aber vor allem in der Kommunikation. Doch wenn es auch nur hin und wieder gelingt, wird es damit allen Beteiligten besser gehen. Wenn Sie andere Familien in Ihrem Umfeld betrachten, wie wir es als Eltern ganz automatisch tun, wird Ihnen eines wahrscheinlich aufgefallen sein: Zufriedenere Eltern haben zufriedenere Kinder. Die vermeintlich perfekten Eltern hingegen …
Respekt ist in der Eltern-Kind-Beziehung keine Einbahnstraße
Kinder großzuziehen bedeutet, die Zukunft zu gestalten. Es bedeutet auch, in die eigene Vergangenheit zu reisen. Nichts beeinflusst unsere Kommunikation mit Kindern so sehr wie die Beziehung zu dem Kind, das wir einmal waren.
Alles, was Sie aus Ihrer eigenen Kindheit noch an unerfüllten Bedürfnissen, schmerzhaften Erinnerungen und verdrängten Traumata mit sich herumschleppen, wird sich in die Kommunikation mit Ihren Kindern einschleichen. Sehr oft geschieht das leider, ohne dass Sie es bemerken. Vermutlich werden Sie nicht jeden einzelnen inneren Konflikt ein für alle Mal auflösen können; das müssen Sie auch nicht, um eine gute Mutter oder ein guter Vater sein zu können. Doch es ist unschätzbar wichtig, dass Sie sich der Prägungen bewusst sind, die sich auf Ihre Gespräche mit Kindern auswirken. Nur dann können Sie echten Respekt für die Persönlichkeit mit ihren ganz eigenen Bedürfnissen und Themen aufbringen, die da unter Ihren Fittichen heranwächst. Schon die Kommunikation mit Kleinkindern muss auf Wertschätzung und Respekt gegenüber der Persönlichkeit des Kindes begründet sein, wenn eine gute Beziehung daraus erwachsen soll.9
Dem eigenen Kind Wertschätzung und Respekt zu zeigen funktioniert laut Expertinnen und Experten aber nur, wenn Erwachsene selbst Klarheit über ihr eigenes Bedürfnis nach Wertschätzung und Respekt haben. Diese Überlegung geht auf die Lehre der Gewaltfreien Kommunikation (GfK) nach Marshall B. Rosenberg zurück. Sie geht davon aus, dass jede Äußerung eines Menschen auf ein Gefühl schließen lässt, das mit einem Bedürfnis verknüpft ist. Wir sagen, was wir sagen, um uns ein Bedürfnis zu erfüllen – nicht um anderen zu schaden. Je nachdem, wie wir kommunizieren, können unsere Worte jedoch Schaden (Gewalt) anrichten, wenn die oder der andere sich dessen nicht bewusst ist und diese Perspektive nicht einnimmt. Wenn wir die Gefühle und Beobachtungen allerdings mitkommunizieren, die unser Verhalten beeinflussen, schenken wir der oder dem anderen Klarheit darüber, wie es uns geht und was wir brauchen. Auf dieser Grundlage können wir auch unser Gegenüber mit seinen Gefühlen und Wünschen akzeptieren. Statt unreflektierten Gefühlsausbrüchen können wir dann in Form klarer Bitten benennen, was wir brauchen oder gerade nicht gebrauchen können. Das macht die Kommunikation klarer, empathischer und zielführender – unabhängig vom Alter. Die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) ist nicht mein Kernthema als Trainer und auch keine durchlaufende theoretische Grundlage dieses Buches. Sie hat allerdings einige der Beispiele, Tipps und Methoden inspiriert.
Neben Methoden und Theoriemodellen der professionellen Kommunikation beruht alles, was Sie hier lesen, auf meinen eigenen Erkenntnissen und Erfahrungen als Kommunikationstrainer und vor allem natürlich: als Vater. Aus meiner lebenslangen Beschäftigung mit der Natur des Dialogs habe ich zum Beispiel eine Feststellung mitgenommen, die mein Leben und meine Art zu kommunizieren in hohem Maße geprägt hat: Respekt ist keine Einbahnstraße. Wenn wir dieses Bedürfnis selbst nicht als erfüllt empfinden, fällt es uns schwerer, anderen Menschen Respekt entgegenzubringen. Sogar unseren eigenen Kindern.
Dasselbe gilt auch umgekehrt: Die Voraussetzung dafür, dass Ihnen Ihre Kinder Respekt entgegenbringen, ist, dass Sie ihnen diesen Respekt vorleben. Das aber können Sie nur, wenn Sie sich selbst respektieren.
Leider ist das leichter gesagt als getan. Denn das Gefühl für die eigene Einzigartigkeit ist bei den meisten Erwachsenen schwach ausgeprägt. Es fällt ihnen deshalb auch schwerer, andere offen und wertfrei zu betrachten und zu behandeln, ohne sich dabei von Werturteilen leiten zu lassen. Wie wirkt sich das im Alltag aus? Sobald wir uns in einer (Gesprächs-)Situation wiederfinden, die mit den eigenen unerfüllten Bedürfnissen zu tun hat, kommen längst verdrängte Gefühle hoch – Gefühle wie Trauer, Wut, Verzweiflung, Neid oder Angst. Diese Gefühle, von denen wir uns vielleicht schon seit vielen Jahren versuchen, fernzuhalten, sind schwer zu ertragen. Statt also unserem Kind zu helfen, sich diesen Gefühlen zu stellen, lenken wir ab und umschiffen das Problem. Das ist natürlich kontraproduktiv, denn die Gefühle werden immer wieder hochkommen.