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Klarheit wird in Zeiten der Informationsflut und der zahlreichen technischen Möglichkeiten zunehmend wichtig. Wir kommunizieren immer häufiger, schneller und auf unterschiedlichen Kanälen. Wir leben unseren Alltag in den sozialen Medien öffentlich, gleichzeitig leiden die Klarheit und Substanz unserer Botschaften, was zu Missverständnissen und Streit führt. Um den vielfältigen Rollen im Alltag als Führungskraft, Mitarbeiter, Kollege, Kunde, Partner, Mutter oder Vater gerecht werden zu können, müssen wir lernen, Dinge zu priorisieren und Bedürfnisse präzise zu formulieren. René Borbonus zeigt neue Methoden, mit denen man den wirklich wichtigen Botschaften Gehör verschafft. Anhand einfacher Grundregeln erklärt er, wie Klarheit für Sie zum Erfolgsfaktor wird – beruflich wie privat.
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Das Buch
Klarheit war das große Versprechen der vernetzten Informationsgesellschaft. Endlich sollten wir alles wissen, alles durchschauen und jedem jederzeit alles mitteilen können. Stattdessen ist das Stimmengewirr zu einem Meinungsbrei verschmolzen. Herauszufiltern, was wirklich zählt, ist zur Lebensaufgabe geworden. Wir sehnen uns nach den Stimmen der Vernunft, die uns endlich wieder Klarheit bieten.
Klarheit ist ein Alleinstellungsmerkmal in jeder Form der Kommunikation. Klare Menschen können andere überzeugen, an sich binden und effektiver führen. Sie verstehen andere leichter und werden selbst besser verstanden. Sie sind in der Lage Breschen zu schlagen, wo andere den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Sie können besser mit anderen zusammenarbeiten und Ziele schneller erreichen. Klare Kommunikation macht uns erfolgreicher und sogar glücklicher: Die Qualität unserer Beziehungen, die auf Kommunikation beruhen, entscheidet in hohem Maße über unsere Lebensqualität.
Dieses Buch ist für alle gedacht, die überzeugend wirken und andere besser verstehen wollen. René Borbonus hat sich selbst als Lernender auf den Weg zur Klarheit gemacht. Er zeigt, welche Klarheitsbremsen die Verständigung im Alltag stören und was wir tun können, um einander wieder besser zu verstehen.
Der Autor
René Borbonus ist Trainer, Coach und Vortragsredner und zählt zu den gefragtesten Experten für professionelle Kommunikation im deutschsprachigen Raum. Topmanager und Politiker lassen sich von ihm ausbilden und auf schwierige Gespräche vorbereiten. Er ist einer der meistgebuchten Redner zu seinen Themen Rhetorik und Kommunikation.Sein Buch Respekt! Wie Sie Ansehen bei Freund und Feind gewinnen ist 2011 bei Econ erschienen.
René Borbonus
Klarheit
Der Schlüssel zur besseren Kommunikation
Econ
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ISBN: 978-3-8437-1149-4
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Alle Rechte vorbehalten
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Vorwort:
TEIL I
Früher war mehr Lametta
Warum wir die Vergangenheit verklären
Bei Unklarheiten: Alles auf Anfang?
Das Ende des Klarheitskonsums
Der große Kontrollverlust: Keine Zeit für Klarheit
Klarheit kann man nicht besitzen
Gestalten statt kontrollieren
Anmerkungen zum Kapitel
Was heißt hier klar?
Klarheit über die Klarheit
Was heißt eigentlich »klar«?
Philosophie: Führt Wahrheit zur Klarheit?
Sorgfaltspflicht für alle: Kriterien für Klarheit in der Kommunikation
Vollständigkeit: Nichts Relevantes weglassen
Verlässlichkeit: Fakten und Quellen prüfen
Transparenz: Fakten und Meinung klar trennen
Sorgfalt im Alltag: Kleine Schritte, große Wirkung
Kurz und bündig: Was ist Klarheit in der Kommunikation?
Anmerkungen zum Kapitel
Feinde der Klarheit
Klarheit hat viele Feinde
Der Fluch der vielen Worte
Verschleiernde Sprachmuster
Meinungs- und Beteiligungsdruck
Verschleiernde Sprachmuster: Anleitung zum Unklarsein
Sprachtrends und unkonventioneller Sprachgebrauch
Harmoniesucht
Angst
Klischees, Ressentiments und Stereotypen
Anmerkungen zum Kapitel
TEIL II
Schwarmintelligenz: Ein Irrtum?
Auf nach Neuland
Teilen, bis der Arzt kommt
Schwarmdummheit: Der wahre Millenniumsvirus
Wachsen, indem wir Grenzen anerkennen: Der selektive Schwarm
Anmerkungen zum Kapitel
Die Stimmen der Vernunft
Die Stimme der Vernunft
Meinungslobbyismus: Ein Kampf mit harten Bandagen
Widde-widde-wie sie uns gefällt
Wem kann ich glauben?
Experten nennen die Fakten
Experten können die Fakten in einen Kontext stellen
Experten haben einen »Track-Record«
Experten argumentieren differenziert
Experten wahren den Respekt
Fakten sind die Mitte
Anmerkungen zum Kapitel
Den Tatsachen ins Auge blicken
Klarheit erzeugt Vertrauen
Memento mori: Der ultimative Countdown
Anmerkungen zum Kapitel
Heilige Kühe schlachten
Der zweite Blick
Die Diktatur der Ahnungslosen: Lassen Sie mich durch, ich bin kein Arzt!
Das Spiel mit den Emotionen
Das Recht auf Irrtümer
Anmerkungen zum Kapitel
TEIL III
Klarheitsbremsen lösen: Unklarheiten vermeiden
Es geht auch verständlich!
Klarheitsbremse Nr. 1: Schachtelsätze
Klarheitsbremse Nr. 2: Zahlenwüsten
Klarheitsbremse Nr. 3: Wortungetüme
Klarheitsbremse Nr. 4: Euphemismen und Dysphemismen
Klarheitsbremse Nr. 5: Unzulässige Zuspitzungen
Klar sprechen oder schweigen
Anmerkungen zum Kapitel
Menschen überzeugen: Klar argumentieren
Kein Weg ohne Ziel
Sprachlich klar argumentieren
Menschen durch Klarheit überzeugen: Die Struktur einer logischen Argumentation
Widerstände überwinden: Klarheit durch Reihenfolge
Anmerkungen zum Kapitel
Um die Ecke denken: Anschaulich sprechen
Klarheit ist nicht immer der direkte Weg
Welches Bild passt?
Trojanische Pferde
Reduktion: Qualifiziert vereinfachen
Anmerkungen zum Kapitel
Wege ebnen: Kommunizieren mit Struktur
Struktur: Der Anfang von allem
Das Credo: Konzentrieren auf das, was zählt
Bauen Sie eine Pyramide!
Anmerkungen zum Kapitel
Ohren öffnen: Klärende Gespräche führen
Das Unschuldsprinzip
Der Dialog als Klärungshilfe
Zwei Dimensionen des Dialogs: Haltung und Verhalten
Wer fragen kann, ist klar im Vorteil
Methoden für klärendes Fragen
Fragetechnik Nr. 1: Die Ebenen einer Aussage erfragen
Fragetechnik Nr. 2: Begriffliche Hintergründe klären
Fragetechnik Nr. 3: Die Beobachtung hinterfragen
Fragetechnik Nr. 4: Den Teufel an die Wand malen
Aufrichtige Dialoge: Klarheit durch Selbsterkenntnis
Anmerkungen zum Kapitel
Unterschiede verstehen: Aufhören aneinander vorbeizureden
Eine Frage des Stils
Wenn Stilwelten aufeinanderprallen
Individuelle Gesprächsrituale
Das Entschuldigungsritual
Das Oppositionsritual
Das Klageritual
Direkter vs. indirekter Stil
Welcher Stil ist der klarste?
Anmerkungen zum Kapitel
Kühlen Kopf bewahren: Schwierige Situationen meistern
Klarheit sucht nach Sinn, nicht nach Schuld
Worum geht es eigentlich?
Vergangenheit: Gespräche über Schuld
Gegenwart: Gespräche, in denen es um Werte geht
Zukunft: Gespräche, in denen es um eine Entscheidung geht
Gespräche neu lernen: Der kontrollierte Dialog
Der kontrollierte Dialog im Alltag
Verstehen und verstanden werden: Ein gutes Gefühl für beide
Klarheit kennt keine Opferrolle
Anmerkungen zum Kapitel
An die Zukunft denken: Von Kindern lernen
Kinder: Ein Spiegel für Unklarheit
Keine Klarheit ohne Konsequenz
Aussagen statt Fragen
Kommentieren statt diskutieren
Konsequent sein statt drohen
Klar loben
Klarheit ist Zukunft
Anmerkungen zum Kapitel
Klarheit wagen
Nachwort
Literatur
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Die Sehnsucht nach Klarheit
»Zu größerer Klarheit über seine Gedanken gelangt man, indem man sie anderen klar zu machen sucht.«
Joseph Unger
Die Informationsgesellschaft hatten wir uns anders vorgestellt. So aufgeklärt wie nie zuvor würden wir sein, alles und jeden verstehen können. Endlich sollten sie vorbei sein, die Zeiten des Hoheits- und Elfenbeinturmwissens. Wenn jedem alle Informationen überall und jederzeit zur Verfügung stünden, dann würden wir einen Quantensprung vollziehen, glaubten wir: von Untertanen mit Lehrwissen zu Informationsbürgern mit Deutungshoheit. Lauter aufrechte Menschen mit Durchblick, denen niemand mehr ein X für ein U vormachen kann. Die permanent miteinander kommunizieren und sich in Echtzeit gegenseitig Klarheit verschaffen.
Und was ist aus uns geworden, seit wir die Welt in der Hosentasche mit uns herumtragen? Informationsjunkies, krumm vor Weltwissen. Blicken Sie sich mal um, morgens in der Bahn oder abends in der Talkrunde: Die meisten schauen eher verklärt drein als aufgeklärt. Lauter Fragen, lauter Meinungen, lauter Überforderte. Und unsere Kommunikation? Mehr Kanäle als Botschaften, mehr Selbstdarsteller als Aufklärer. Mehr Unklarheit als zuvor.
Auch mir schwirrt der Kopf. Wie wir alle kann ich mich vor lauter Wissen und Meinungen gar nicht mehr retten. Die Welt in der Hosentasche lässt sich zwar theoretisch ausschalten. Ich tue es bloß nicht, oder viel zu selten. Ich ziehe mir das alles rein. Selbst, was ich konsumiere, lasse ich mir noch diktieren: Jedes Mal, wenn ich auf »Aktualisieren« tippe, sortiert irgendein Algorithmus den unablässigen Informationsstrom für mich neu – damit ich nicht selbst entscheiden muss, was wichtig ist. Schließlich kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Japan einen Orkan in Deutschland auslösen. Kann er doch? Jedenfalls hat das mal irgendjemand behauptet. Konsequenz: Wir müssen auf der Stelle alle Schmetterlinge in Japan töten.
Sie lachen, doch das ist ungefähr der Differenzierungsgrad, mit dem manche heute ihre Schlüsse ziehen – und damit dann auch noch vor eine Kamera treten. Oder vor ein Publikum. Oder auf die Straße zum Demonstrieren. Die nennen das: Meinungsfreiheit. Ich nenne das: klarheitsfeindlich.
Brrr. Kaum habe ich auf den Button getippt, bereue ich es schon wieder: zwanzig neue Schlagzeilen über Fracking, die alle in die gleiche Richtung weisen. Schließlich noch ein Experte, von dem ich noch nie gehört habe und der das Gegenteil behauptet. Soll ich ihm glauben? Fünf verschiedene Zahlen von Ebola-Toten, eine höher als die andere. Und dann ein Politiker, der sagt: keine Gefahr für Europa. Wie hoch ist das Risiko wirklich? Der Islam bedrohe die westliche Welt, steht da auch, doch der arabische Geschäftsmann ein paar Meter weiter liest sehr friedlich seine Zeitung. Jeden Monat ein neues Rezept für Erfolg durch Work-Life-Balance, und dann ein Google-Boss, der sagt: Zwischen Erfolg und Balance muss man sich entscheiden. Kim Jong Un ist tot – und dann doch wieder quicklebendig.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Ich für meinen Teil komme oft, viel zu oft nicht mehr mit. Ich informiere mich, bis mir der Kopf brummt, und habe trotzdem den Eindruck, dass ich nicht adäquat informiert bin. Dieses Gefühl der Unsicherheit beschleicht mich gerade dann, wenn ich mich entscheiden muss. Meine Entscheidungen muss ich nämlich immer noch allein treffen, und dazu noch viel öfter und viel schneller als früher. Ich kann nicht behaupten, dass die Multi-Options-Gesellschaft oder der Schwarm mir das Leben einfacher gemacht hätten. Vielfältiger, offener, spannender, schneller, vielleicht – doch einfacher?
Immer öfter, wenn ich meine eigenen Schlüsse ziehen will oder muss, spüre ich eine tiefe Sehnsucht: Ich will besser mit all der Vielfalt umgehen können. Wissen, was richtig und wichtig ist. Was stimmt, was zählt, was den Unterschied macht. Und alles andere nicht. Ich will nicht mehr wissen, wer noch alles etwas zu sagen hat, sondern wem ich glauben soll. Ich will nicht noch mehr Informationen über alles, was mich nichts angeht, sondern die entscheidenden über das, was ich wissen muss. Nicht noch mehr unqualifizierte Meinungen, sondern mehr gute Gründe.
Ich will Klarheit.
Wir müssen es uns eingestehen: Die meisten Unklarheiten resultieren aus Mängeln in unserer Kommunikation. Oft machen wir uns das Leben schwerer, als es sein müsste. Die meisten Unklarheiten könnten wir durch klare Botschaften und klare Gespräche vermeiden. Ich will, dass wir effektiver kommunizieren, dass mehr Botschaften ihre Empfänger erreichen.
Und mein Eindruck ist, dass ich damit nicht allein bin: Alle wollen Klarheit. Ich glaube, dass Menschen sich in der Kommunikation nichts sehnlicher wünschen. Wie der Respekt ist sie ein starkes menschliches Bedürfnis. Mehr noch: Sie ist das Ordnungssystem für all unsere Bedürfnisse. Deshalb habe ich mich auf die Suche nach Klarheit gemacht und dieses Buch geschrieben. Als Lernender, nicht als Lehrender.
Klarheit ist auch eine Verantwortung. Wir schulden sie uns selbst, und wir schulden sie allen Menschen, mit denen und vor denen wir sprechen. Als Chefs und Kollegen: Klarheit taucht in vielen Firmenleitbildern auf und wird doch nicht gelebt. Den Begriff mit Leben zu füllen und in den Alltag zu tragen, ist nämlich gar nicht so einfach. Als Verwandte und Freunde, als Meinungsbilder und als Redner, ganz besonders gegenüber unseren Kindern: Von mehr Klarheit profitieren wir alle. Klarheit ist ein wichtiger Auftrag, eine Pflicht sogar.
Klarheit, das große Versprechen der Informationsgesellschaft, lässt sich nicht einfach konsumieren und deshalb auch nicht einfach lehren. Sie zu erlangen ist ein Prozess: ein großer gesellschaftlicher Dialog, der jeden Tag im Kleinen stattfindet. Wenn wir ihn richtig anpacken, sind wir heute tatsächlich im Vorteil gegenüber früheren Generationen: Die Informationen haben wir, jedenfalls viel mehr als je zuvor. Jetzt sind wir dran. Klarheit müssen wir uns selbst schaffen. Wir müssen uns aktiv darum bemühen, sie von anderen zu bekommen – und sie anderen zu geben.
All die Halbwahrheiten, Informationshäppchen und Klarheitsbremsen, mit denen wir täglich konsumierend konfrontiert werden, schleichen sich nämlich auch in unsere Alltagskommunikation von Mensch zu Mensch ein. Im Arbeitsleben sieht es nicht viel anders aus als in den Nachrichten: Klare Aussagen sind in brenzligen Situationen weder von Vorständen noch vom eigenen Vorgesetzten zu erwarten, denn die hängen auch an ihren Jobs. Kunden können sich oft nicht mehr festlegen. Ob der Pilot mich zum Termin fliegt oder unerwartet eine Frühverrentung erwirkt hat, weiß ich im Zweifel erst 24 Stunden vor Abflug. Eine einfache Frage zieht eine E-Mail-Lawine mit vierzig Antworten von zwölf Beteiligten im CC-Feld nach sich. Bei der internen Schulung wird über Arbeitsmoral gesprochen, nicht über Lösungen. Antworten gibt es nur auf die Fragen, die keiner gestellt hat, und oft ist das nicht mal Absicht. Die Märkte bewegen sich so schnell, dass es immer schwerer wird, sie Angestellten zu erklären. Fachwissen und Technologien werden immer komplexer, und von allem gibt es nächste Woche eine neue Version. Auch von uns selbst, wenn wir nicht aufpassen: Wer nicht klar sieht, kann sich auch keine klare Meinung bilden.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir das besser können. Was wir dafür tun können, ist kein Hexenwerk, denn es liegt uns in den Genen: Wir müssen denken – selbst. Und wir müssen reden – mit anderen. Es ist wichtig, dass wir über unsere Kommunikation nachdenken, dass wir sie hinterfragen.
Das ist nicht einfacher geworden, sondern anspruchsvoller. Doch wir haben die Sprache, und wir haben einen eingebauten Drang zur Klarheit. Mehr brauchen wir nicht. Denn jenseits aller analogen und digitalen Stolperfallen war und ist und wird Klarheit immer der Schlüssel zu gelingender Kommunikation sein. Klarheit ist das, was zählt, wenn wir vor oder mit anderen Menschen sprechen. Im Dialog unter Kollegen oder in der Familie, bei Vorträgen und Präsentationen, in öffentlichen Debatten, im Verkaufsgespräch, bei Verhandlungen: Wer keine Klarheit schaffen kann, kann andere nicht überzeugen und auch nicht binden.
Kommunikation entscheidet in hohem Maße über unsere Lebensqualität. Bei den Faktoren für Wohlbefinden und Zufriedenheit kommt die Kommunikation aus meiner Sicht gleich nach der physischen und geistigen Gesundheit. Sie hat den größten Einfluss darauf, wie gut unsere Beziehungen funktionieren. Und die sind maßgeblich für unser Lebensglück. Beziehungen sind immer »under construction«, sie sind nie ausdefiniert. Das ist eine gute Nachricht, denn es bedeutet: Wir können immer darauf einwirken, indem wir an unserer Kommunikation arbeiten. Denn dafür, dass sie in hohem Maße zu unserer geistigen Gesundheit beiträgt, verbringen wir im Vergleich zur physischen Gesundheit viel zu wenig Zeit damit, uns Gedanken über unsere Kommunikation zu machen. Wie viel Zeit verschwenden wir dagegen darauf, schlechte Kommunikation zu bereuen? Wenn wir uns nur einen Bruchteil dieser Zeit nehmen würden, um unsere Kommunikation zu hinterfragen, könnten wir viel für unsere Beziehungen tun, für unsere Gesundheit – durch Klarheit.
Dabei können schon Kleinigkeiten viel verändern. Manche kleine Übung lässt sich einfach in den Alltag integrieren. Aus diesem Grund habe ich mich beispielsweise der Mission gestellt, das erste Buch ohne das A-Wort zu schreiben. Nicht, weil ich etwas gegen das Wort an sich hätte. Es steht im Duden und hat ein Recht benutzt zu werden. Nur setzen wir es oft falsch ein. Weil wir Sprache manchmal verwenden, ohne darüber nachzudenken. Ich nehme mich da nicht aus. Ich bin genauso ein Kommunikationsdepp wie alle anderen auch.
Das A-Wort dient dazu, Gegensätze zu kennzeichnen. Wir verwenden es oft bei Gelegenheiten, wo es gar nicht um einen Gegensatz geht: »Letztes Jahr waren wir erfolgreich, a… in diesem Jahr wollen wir noch erfolgreicher sein.« Durch die falsche Verwendung werte ich in diesem Satz alles ab, was bis zum A-Wort kam. Das geschieht beispielsweise auch sehr oft nach Respektsbekundungen oder bei der Einwandbehandlung: »Ich schätze Sie sehr, a… ich bin anderer Meinung.« Da kassiere ich die Wertschätzung doch gleich wieder ein, oder?
Weil wir das so oft tun, ist das Wort zu einem Reizwort geworden. Die A-Sager sind regelrecht zu einer sozialen Gruppe stilisiert worden. Wenn ich zum Beispiel in einem Training »ja, a…« sage, zucken alle zusammen und verdrehen die Augen. Wir verwenden A-Formulierungen oft, wenn irgendetwas nicht geht, nicht gewünscht ist, wenn etwas ausgeblockt werden soll.
Solcher Unklarheiten werden wir uns nur bewusst, wenn wir bewusst kommunizieren. Deshalb habe ich das A-Wort in diesem Buch ganz gezielt ausgeblendet: um mir darüber klar zu werden, wie oft ich es eigentlich verwende – und wie oft falsch. Machen Sie sich doch mal den Spaß, mir mit dieser kleinen Übung zu folgen: Achten Sie mal darauf, wie oft Sie A sagen und wie oft Sie eigentlich etwas anderes meinen, nämlich keinen Gegensatz. Indem wir solche Kleinigkeiten zum Thema machen, können wir der Klarheit in der Kommunikation auf die Sprünge helfen – bei uns selbst und anderen. Wir können viel verändern, indem wir einfach mehr übers Reden reden.
Eines kann ich Ihnen versichern: Wer anderen echte, polemikfreie Klarheit bieten kann in einer Zeit, in der es daran mangelt, fällt positiv auf. Klarheit macht Kompetenz erst erkennbar und zugänglich – und schafft genau deshalb Vertrauen. Nachhaltig erfolgreiche und geachtete Unternehmer, Redner und Staatsmänner sind immer klare Menschen mit klar definierten Zielen und der Fähigkeit, sie klar zu transportieren. Laut sein ist einfach – klar sprechen eine Herausforderung. Klar scheinen kann jeder, klar sein ist ein Alleinstellungsmerkmal. Denn wer Klarheit über sich und seine Umwelt hat, der kann sie auch anderen kommunizierend vermitteln.
Wie geht das? Wie finden wir heraus, was zählt, damit wir darüber reden können? Wie bilden wir uns eine begründete Meinung? Und vor allem: Wie können wir klar kommunizieren, damit Menschen uns zuhören und jeder sich seine eigene begründete Meinung bilden kann? Das sind die Fragen, um die es in diesem Buch geht.
»Ohne Klarheit in der Sprache ist der Mensch nur ein Gartenzwerg«, sang Sven Regener, Sänger der Gruppe Element of Crime und Schöpfer der Roman- und Filmfigur Herr Lehmann. Letzterer verbrachte seine Tage weitgehend in Kneipen, redend. Das Buch ist voller Dialoge. Warum? Der Mann hatte noch kein Smartphone. Der war immer drinnen – drin in der Kneipe, drin in seiner eigentümlichen Welt mit ihren schrulligen Protagonisten, drin in seinen Gedanken.
Ich glaube: Wir müssen alle wieder rein. Nicht zwingend in die Kneipe, sondern in den eigenen Kopf. Wir sind zu oft draußen und schauen in unser Leben hinein wie in ein Aquarium. Klarheit beginnt im Denken, und von dort strahlt sie aus: in unsere Sprache, unser ganzes Verhalten und in unser Umfeld. Wenn wir die Welt wieder besser verstehen wollen, müssen wir reden. Lieber heute als morgen, denn einfacher wird sie nicht mehr. Nur vielfältiger, offener, spannender, schneller.
Klarer können wir nur selbst werden. Dabei möchte ich Sie gern ein Stück weit begleiten. Und keine Sorge: Wir fangen von vorn an.
Alle Klarheiten beseitigt?
Warum wir die Welt nicht mehr verstehen
»Ich blick bald gar nicht mehr durch!«
Hört der Autor ständig
Was Klarheit bedeutet, weiß am besten, wer schon einmal tief in die Unklarheiten des Lebens abgetaucht ist. Welchen Unterschied Klarheit macht, lässt sich deshalb am besten zeigen, indem wir genau dort hinabsteigen: in die tiefsten Tiefen der Unklarheit, die Sprühnebel der Verschleierungspolemik, die Katakomben der Erinnerung, die manchmal unter dem Bundestag in Berlin zu liegen scheinen und manchmal gleich hinter der eigenen Stirn. Dort, irgendwo zwischen den Karteileichenkästen verblichener Wahlprogramme, der Zuschauertribüne des ZDF-Fernsehgartens und der eigenen Gehaltsabrechnung, sehen wir schemenhaft das größte verbliebene Rätsel der Menschheit aufragen, die Mutter aller Unklarheiten: die Rente.
Früher war die Rente eine klare Sache. Sie wurde sogar vom Staat garantiert. Noch vor weniger als zwanzig Jahren konnten sich Angestellte relativ verlässlich ausrechnen, wovon sie später leben würden. Jedenfalls wähnten sie sich ruhigen Gewissens in der Sicherheit, dass vierzig Jahre Arbeit zu einem stabilen Auskommen im letzten Lebensdrittel führten. Heute herrscht beim Thema Rente maximale Unsicherheit: Viele glauben längst nicht mehr daran, dass sie von der staatlichen Rente im Alter würdevoll werden leben können. Kaum jemand hat heute Klarheit darüber, wie viel Rente ihm später einmal zur Verfügung stehen wird – oder ob in einigen Jahrzehnten überhaupt noch Renten ausgezahlt werden. Die Unklarheit über die finanzielle Zukunft der überalternden Bevölkerung hat natürlich zu einer hitzigen Rentendebatte in der Politik geführt – Ausgang ungewiss. Rente mit 67, Rente mit 63, Rente mit 70, und wenn ja, wie viel? Niemand weiß es so genau, und klare einheitliche Positionen selbst innerhalb einer Partei gibt es kaum. Und was würde es helfen, wenn es sie gäbe? Stellte sich heute jemand vor eine Kamera und garantierte die Renten, dann würde ihm vermutlich kaum jemand glauben. Auch das war einmal anders.
Früher ließ sich Klarheit in öffentlichen Debatten noch recht simpel herstellen. In den »guten alten Zeiten« hatten Politiker noch weniger Angst vor klaren Aussagen als heute. Als es erstmals ernsthaft Unruhe um die Sicherheit der Rente gab, ging der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm im Wahlkampf 1986 einfach mal auf den Marktplatz in Bonn und kleisterte dort eigenhändig das Plakat mit seinem berühmten Ausspruch an eine Litfaßsäule: »Die Rente ist sicher.« Und als das Thema elf Jahre später so richtig hochkochte, da stellte sich derselbe Arbeitsminister im Bundestag hinter das Pult. Noch einmal ließ er mit stoischer Gelassenheit diesen Satz auf die Debatte herniederfahren wie Thor seinen Hammer: »Die Rende ist sischä!« Und dann war erst mal gut. Die umstrittene Rentenreform wurde verabschiedet, mit dem gleichen Argument, das mehr als ein Jahrzehnt zuvor schon einmal für Ruhe gesorgt hatte.
Die meisten fanden Blüm damals recht überzeugend, mindestens im ersten Anlauf. Mit seinem Satz brachte er, jedenfalls für einige Zeit, eine gewisse Ruhe in die Rentendebatte. Und das, obwohl damals eigentlich schon die gleichen Unsicherheiten gegen seine Behauptung sprachen wie heute: demografischer Wandel, zu wenige Beitragszahler, Progression – ganz zu schweigen von all den gesellschaftlichen Wandelerscheinungen und Haushaltslöchern zwischen heute und übermorgen, die seitdem noch hinzugekommen sind und weiterhin kommen.
Wo früher gefühlte Sicherheit war, ist heute die Befürchtung, dass die prall gefüllten Rentenkassen der Gegenwart in Zukunft die gleichen Sehnsüchte hervorrufen könnten wie das sagenumwobene Bernsteinzimmer: Scheint es mal gegeben zu haben, hat sich irgendwie in Luft aufgelöst.
War die Rente damals sicherer als heute? Wahrscheinlich – wirklich sicher war sie offensichtlich nicht. Trotzdem glaubte man Blüm, weil man eigentlich auch keine andere Wahl hatte. Wo man selbst nicht über Klarheit verfügt, muss man sich mit erklärter Klarheit zufriedengeben. Politiker, die sich klare Aussagen trauen, können Klarheit verkünden. Und dann ist vielleicht erst mal Ruhe.
Heute hören wir nur noch selten klare Aussagen von Politikern. Warum eigentlich? Die Welt ist nicht gerade unkomplizierter geworden. Wir sehnen uns geradezu danach, dass mal wieder einer Klartext redet wie Blüm damals und uns Sicherheit gibt – gefühlte Klarheit. Geht es den schweigsamen neuen Politikern mit ihren Ausflüchten darum, uns maximal im Unklaren zu lassen, damit sie ihre Meinung je nach Großwetterlage jederzeit wieder ändern können?
Wenn Sie mich fragen: Vielen von ihnen geht es einfach darum, dass sie überhaupt noch ihren Job machen können. Die Erfahrung zeigt nämlich: Klare Ansagen können sie in große Schwierigkeiten bringen. Im Kanzlerduell Merkel vs. Steinbrück 2013 ließ Angela Merkel sich in einem einzigen Punkt in eine Festlegung hineinmoderieren: Mit ihr werde es keine Autobahnmaut geben. Zwei Jahre später war die Maut Realität, und das Zitat flog der Kanzlerin um die Ohren. Für die Regierungschefin kann das nur eines bedeuten: beim nächsten Kanzlerduell möglichst in gar keinem Punkt mehr festlegen.
Wenn sich ein Norbert Blüm früher hinstellte und zum Thema Renten festlegte, widersprachen ihm höchstens ein paar Volkswirte und Oppositionelle. Heute würden ihm Millionen von Debattierenden auf fast genauso vielen Kanälen antworten. In kürzester Zeit wäre sein Ruf geschädigt, und im schlimmsten Fall würde sich die Stimmung derart aufheizen, dass er möglicherweise sogar zurücktreten müsste. Eine klare Ansage aus prominentem Munde produziert meist mehr Widerspruch als Zuspruch, gefühlt zumindest. Denn die, die dagegen sind, sind immer lauter als die, die dafür sind. Würde sich heute Andrea Nahles, die amtierende Bundesministerin für Arbeit und Soziales, in den Bundestag stellen und vor laufenden Kameras verkünden, die Renten seien sicher, würde das eine Welle von Hohn und Spott auslösen. Kein Mensch würde ihr glauben.
Auf den ersten Blick könnte man das darauf zurückführen, dass wir heute einfach besser informiert sind. Das Internet hat dafür gesorgt, dass uns Berge von Informationen zur Verfügung stehen. Wir wissen, vermeintlich, alles. Wenn uns jemand Blödsinn auftischen will, können wir ihn also sofort entlarven.
Ist das so? Kennen wir uns heute tatsächlich alle bestens mit den Details der Rentenpolitik aus? Sind wir ökonomisch so gut informiert und gebildet, dass wir die Entwicklung des Staatshaushalts für die nächsten fünfzig Jahre voraussehen könnten? Könnten wir, weil wir vermeintlich alle Informationen bei der Hand haben, Frau Nahles qualifiziert widersprechen?
Bleiben wir ehrlich: Natürlich könnten die meisten von uns das nicht. Wir, als Einzelne, haben nicht so viel mehr Wissen zu hochkomplexen Themen parat als früher. Nicht die Klarheit in unseren Köpfen ist gestiegen, sondern die Menge und die Heterogenität der kursierenden Informationen und Meinungen. Eine einzelne, unpopuläre Aussage wird deshalb schnell von der Masse der Gegenaussagen überrollt und dem klar Sprechenden zum Verhängnis. Mit »aufgeklärter Öffentlichkeit« hat das nur bedingt zu tun.
Das ist der – hauptsächliche – Grund, warum Politiker heute keine klaren Ansagen mehr machen: Sie können es sich nicht mehr leisten.
Verständlich, wenn viele das begrüßen: Ist doch super, wenn Politiker keinen Bockmist mehr erzählen können, weil sie damit auffliegen würden. Die reale Folge sind allerdings nicht Politiker, die nur noch die Wahrheit sagen, sondern Politiker, die im Zweifel lieber gar nichts mehr sagen. Und das ist der Klarheit nicht zuträglich.
Also alles wieder auf Anfang? Zurück zu den Zeiten, als Politiker noch unbeschadet ihre Meinung sagen konnten, ohne gleich durch einen Shitstorm oder verheerende Meinungsumfragen in Echtzeit ihr Amt zu verlieren? Zurück zu den Zeiten, als wir uns nur zwischen zwei, drei deutlich voneinander abgegrenzten Parteipositionen zu entscheiden hatten?
Verständlich, dass viele sich nach der »guten alten Zeit« sehnen – da wusste man wenigstens, woran man war. Dieser Wunsch ignoriert allerdings das Wichtigste: Die Aussage von Norbert Blüm war zwar klar formuliert, bewahrheitet hat sie sich allerdings nicht. Die Renten sind womöglich nicht sicher; jedenfalls könnte niemand dafür garantieren, dass sie es sind. Ob Blüm uns, gemessen an seinem damaligen Kenntnisstand, angelogen hat, ist eine andere Frage; die Aussage ist heute jedenfalls nicht mehr haltbar. Wir müssen also festhalten:
Nicht jede klare Ansage bringt automatisch Klarheit.
Uns nach einer fernen Zeit der klaren Ansagen zurückzusehnen, bringt uns also keinen Schritt weiter. Eine klare Ansage kann falsch sein, und eine falsche Ansage kann klar sein. Klar heißt nicht wahr. Diese Warnung möchte ich allem voranschicken, was in diesem Buch noch folgt: Starke rhetorische Methoden bergen immer die Gefahr des Missbrauchs. Sie können für die eine und für die andere Seite jeder Medaille instrumentalisiert werden.
Klarheit ist nicht gleich Wahrheit. Doch Klarheit in der Kommunikation erlaubt es uns, Wahrheit von Unwahrheit unterscheiden zu können.
Klarheit hilft uns, Menschen und ihre Meinungen zu verstehen und auseinanderzuhalten. Und:
Klarheit ermöglicht uns, Fakten von Meinungen trennen zu können.
Eine klare Kommunikation ist deshalb die Voraussetzung dafür, dass wir uns eine eigene Meinung bilden können: Klarheit im Kopf.
Genau aus diesem Grund ist Klarheit heute, im Zeitalter der Informations- und Meinungspluralität, wichtiger als je zuvor. Wir haben früher nicht wirklich klarer gesehen. Wir hatten nur weniger Optionen zur Verfügung und es damit leichter, uns auf eine Meinung festzulegen. Heute ist es ungleich schwerer geworden, sich über ein Thema informiert zu fühlen. Doch es nützt nichts, uns nach der trügerischen Klarheit von früher zu sehnen. Die alten Zeiten werden nicht zurückkehren, und die alten Unwahrheiten wären heute nicht wahrer als damals.
Die neue Zugänglichkeit der Informations- und Meinungsvielfalt ist eine Realität. Die neuen Megastrukturen, die mit der wachsenden Verflechtung von Systemen und Interessen einhergehen, auch das Internet, globale Wirtschaftssysteme und Unternehmen sowie neu sortierte Staatenverbünde sind nur einige Beispiele. Die komplexe neue Welt, vor der wir uns seit Generationen fürchten, ist da – und wir müssen damit umzugehen lernen.
Dass das Bedürfnis nach Klarheit mit diesen Entwicklungen wächst, ist jeden Tag zwischen den Zeilen der Nachrichten ablesbar. Auch der Wunsch nach mehr Übersicht lässt sich dort herauslesen: Die Euphorie über die soziale Vernetzung weicht zunehmend der Frustration über unsichere Datenströme und der Angst, zum gläsernen Menschen zu werden. Extreme Maßnahmen sind längst im Raum.
Die Webseite seppukoo.com ermöglichte es zum Beispiel, sämtliche Informationen, die ein Nutzer je in sozialen Netzwerken veröffentlicht hat, vollständig auszuradieren. Der Name war Programm: »Seppuku« ist der japanische Begriff für den rituellen Selbstmord der alten Samurai-Krieger. Die Webseite stellte also das ultimative Kapitulationsangebot vor der Datenkrake dar: digitaler Selbstmord als Ausweg.1 Warum die Vergangenheitsform? Aufgrund einer Kontroverse mit Facebook musste der Service schließen. Stattdessen bieten die Betreiber nun denen eine Plattform, die ihr Facebook-Profil manuell gelöscht haben.
Auch politische und gesellschaftliche Visionen der jüngeren Vergangenheit wie der europäische Gedanke werden zunehmend von der Sorge vor ihren Folgen überlagert, weil sie unüberschaubar und potenziell instabil sind. Schon wollen viele zurück zu den alten, kleineren Einheiten – mehr Selbstkontrolle und vermeintlich weniger Kontext, den es zu berücksichtigen gilt. Beim Referendum über eine schottische Unabhängigkeit von Großbritannien verfehlten die Befürworter im September 2014 ihr Ziel nur knapp. Auch in Katalonien gibt es Unabhängigkeitsbestrebungen von Spanien, und selbst manche Bayern ließen sich vom Schwung der schottischen Separatisten anstecken. Nachdem in Europa jahrzehntelang Grenzen eingerissen wurden, erscheint vielen inzwischen die Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit als erstrebenswert: Klarheit durch Abgrenzung.
Doch auch engere Grenzen und kleinere Einheiten bringen nicht automatisch mehr Klarheit. Das Spielfeld zu verkleinern, bedeutet immer auch, die Möglichkeiten einzuschränken. So blendet man die Chancen, die im Neuen liegen, aus. Ein Smartphone kategorisch zu verweigern, ist heute ebenso wenig realistisch wie der Wunsch, politisch in die Zeit der »starken Männer« zurückzukehren. Aus dem Bedürfnis nach Sicherheit heraus Klarheit im Bekannten zu suchen, ist nichts anderes als Nostalgie. Mit der Sehnsucht nach den Zeiten der eindeutigen, dafür möglicherweise unwahren Ansagen ist unser Handlungsspielraum nicht erschöpft. Es ist lediglich die einfachste, weil instinktive Reaktion auf die unübersichtliche neue Welt: Klarheit zu konsumieren ist einfacher als nachzudenken.
Was wir wirklich brauchen – in der Politik, im Geschäftsalltag, im Internet, in der Ehe, ja schon in der Schule –, ist klare Kommunikation, die es jedem von uns ermöglicht, sich eine qualifizierte Meinung zu bilden. Und die Fähigkeit, klare von unklarer Kommunikation zu unterscheiden – ohne naive Euphorie und gleichzeitig ohne gewohnheitsmäßige Vorbehalte gegenüber der Multi-Informationen-Welt und der Multi-Optionen-Gesellschaft.
Die Verfügbarkeit von Informationen erzeugt noch keine Klarheit, sie schafft allerdings die Möglichkeit von Klarheit.
Der Unterschied zwischen früher und heute lässt sich einfach zusammenfassen: Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass Klarheit zu uns kommt, indem uns jemand die eine Wahrheit auf dem Silbertablett serviert. Stattdessen können wir uns selbst Klarheit schaffen, indem wir nachdenken über das, was uns serviert wird.
Wir haben heute die Chance, Informationen in die Breite und Meinungen in die Tiefe zu hinterfragen. Diese Möglichkeit hatten wir so nie zuvor. Das ist ein Segen, für den wir dankbar sein dürfen.
Die Informationsgesellschaft ist allerdings nicht nur Segen, sondern auch Fluch. Denn heute, wo wir die Möglichkeit haben, uns zu so vielen Themen eine eigene Meinung zu bilden, haben wir genau dafür keine Zeit mehr. Das ist auch ein Grund, warum so viele sich nach dem alten Muster des Klarheitskonsums sehnen.
Der Informationszuwachs betrifft alle Bereiche – auch die, in denen wir nicht die Wahl haben, ob wir Klarheit wollen oder nicht, oder mit denen wir uns früher mangels Möglichkeiten der Informationsbeschaffung gar nicht erst auseinandergesetzt haben. Wenn alle Medien gleichzeitig einen Skandal ausrollen, glauben wir mitreden zu müssen. Und wir informieren uns: Wir lesen das alles, auch wenn es uns gar nicht betrifft, weil das Thema scheinbar gerade wichtig ist.
Bei der gefühlten Unklarheit handelt es sich also auch um ein Selektionsproblem. Eigentlich stimmt es ja nicht, dass wir weniger Zeit hätten als früher: Der Tag hat immer noch 24 Stunden, und wir schlafen heute durchschnittlich weniger als früher. Knapp 7 Stunden im deutschen Durchschnitt, wie eine Studie der Universität Regensburg ergeben hat.2 Der Unterschied gegenüber früher liegt darin, was wir heute in die 17 wachen Stunden hineinpacken. Und das ist viel mehr als je zuvor, denn wir werden im Minutentakt mit Informationen und Entscheidungen bombardiert: von der Aktienkurswarnung per App über die Kontaktanfrage bei Facebook bis hin zu den Dutzenden von Mails, die uns überall erreichen und dafür sorgen, dass wir permanent in irgendetwas involviert sind. Früher nannte man das Spam – heute heißt das WhatsApp!
Trotzdem tun wir uns das alles an und versuchen auf dem Laufenden zu sein – weil unser Gehirn auf Klarheit programmiert ist. Wir sind von Natur aus neugierig und wissbegierig. Wir wollen die Welt verstehen, in der wir leben. Wir wollen nicht die Einzigen sein, die von etwas scheinbar Wichtigem nicht wissen. Also springen wir in die Informationsflut hinein und werden von ihr mitgerissen. Und können allzu oft nicht mehr unterscheiden, was eigentlich wichtig ist, für uns selbst, und was nicht.
Wir verlieren die Kontrolle. Diese ständige gefühlte Unklarheit ist eigentlich die schleichende Erkenntnis des zunehmenden Kontrollverlusts über unseren Informationskonsum und unser Kommunikationsverhalten. Die Multi-Optionen-Gesellschaft verlangt uns jeden Tag so viele Entscheidungen ab, dass wir uns ihnen nicht mehr gewachsen fühlen. Nicht weniger Zeit ist unser Problem, sondern die höhere Entscheidungsdichte in der gleichen Zeit.
Wenn ich früher mit dem Zug zu einem Termin oder abends wieder nach Hause fuhr, war die Zugfahrt eine Zeit der Muße. Schon der Bahnhof hatte damals noch mehr von einem Hafen, im doppelten Sinne: Wenn man dort auf den Zug wartete, war das wie eine Auszeit – eine Station zwischen der vorherigen Aktivität und der nächsten. Wenn ich am Gleis stand oder saß und noch mehr während der Fahrt, war ich auf mich zurückgeworfen. Ich genoss das: Die Zeit in einem fahrenden Zug, von einer Erfahrung zur nächsten, war Zeit zum Nachdenken. Ich war bei mir und konnte verarbeiten, was gerade passiert war – oder mich gedanklich einlassen auf das, was vor mir lag. Die gewonnenen Informationen auswerten und zu Erkenntnissen gelangen.
Heute nutze ich die gleiche Zeit, um mehr Informationen zu konsumieren. Der Hintern hat kaum Kontakt mit dem Sitzpolster, da haben wir schon das Smartphone in der Hand oder das Tablet oder den Laptop und erledigen irgendwelche Dinge. Arbeitszeit statt Auszeit. Und wenn wir schon nicht arbeiten, tun wir etwas anderes vermeintlich Notwendiges: Nachrichten lesen, informieren, auf dem Laufenden sein. Ich möchte mich da gar nicht ausnehmen, auch ich tue das. Und vergebe damit eine der wenigen Chancen auf eine Auszeit, die der Alltag uns heute noch bietet, ohne dass wir sie erkämpfen müssten.
Ich greife zum Smartphone, obwohl ich es besser weiß: Ohne Auszeiten, ohne Zeit für mich, ohne Gelegenheit zum Reflektieren ist das Gehirn in Wahrheit weniger produktiv. Das ungerichtete Smartphone-Gedaddel ist in den seltensten Fällen förderlich und in den meisten einfach nur ablenkend. Es gibt Menschen, die benutzen mittlerweile ihren Selfie-Stick als Blindenstock, um vor der Kollision mit anderen Smartphone-Benutzern gewarnt zu werden. Letztlich ist das Gedaddel eine Methode, um den eigenen Gedanken auszuweichen. Als würden wir mit dem Zug vor uns selbst abhauen, weil wir es nicht mehr gewöhnt sind, uns auf uns selbst einzulassen. Wer weiß, was uns da erwartet?
Sie wissen es, und ich weiß es auch: Durch Nachdenken entstehen Erkenntnisse. Erkenntnisse bewirken eine Haltungsänderung. Eine Haltungsänderung zieht Konsequenzen nach sich. Selbst zu denken ist gefährlich – für den Status quo.
Indem wir dem gefühlten Produktivitäts- und Wissenszwang nachgeben, verlieren wir nicht nur die Anbindung an unsere eigenen Gedanken und verhindern Erkenntnisse – wir weichen auch der Kommunikation mit anderen aus. Ich habe nie zu denen gehört, die im Zug nur darauf warten, von Mitreisenden angesprochen zu werden. Früher wurde mir das immer wieder mal bewusst, wenn ein Sitznachbar versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Doch manchmal stieg ich dann um einige Geschichten, Erkenntnisse und hin und wieder sogar eine interessante Bekanntschaft reicher aus dem Zug, als ich eingestiegen war. Heute verhalten sich alle anderen Reisenden genauso wie ich: Das ganze Zugabteil ist mit Bildschirmautisten besetzt, und Gespräche finden höchstens noch unter Freunden oder Kollegen statt, die dafür nicht selten genervte Blicke auf sich ziehen.
Nachdenken, um zu Erkenntnissen zu gelangen, im Zug oder anderswo, ist ein Luxus geworden, seit wir die Welt und all ihre Informationen in der Hosentasche mit uns herumtragen. Wir glauben, einfach keine Zeit mehr zum Nachdenken zu haben. Wir verbringen sie lieber damit, irgendwelche Gedanken von irgendwem einzusammeln – als könnten wir sie essen.
Mit diesen kognitiven Abschottungsmustern marschieren wir durchs Leben: immer schön geradeaus in den vorgegebenen Bahnen unseres Denkens, in die wir all die neuen Informationen verzweifelt einzusortieren versuchen. Deshalb verkriechen wir uns so bereitwillig hinter unseren Bildschirmen. Dort können wir mit einem Tippen auf den Bildschirm steuern, was wir an uns heranlassen und was wir schnell wieder wegklicken.
Aus dem gleichen Grund neigen wir dazu, die Vergangenheit zu verklären: Dort liegt das Bekannte. Kinder schauen nach vorn, wollen ständig mehr wissen, mehr lernen, »erwachsener« werden. Viele Erwachsene denken lieber zurück als nach vorn, wenn sie die Wahl haben. Sie beziehen sich auf die Vergangenheit, weil sich dort nichts mehr verändern kann. Sie ist sicher in der Kommode mit den Erinnerungen, und man kann den eigenen Zugriff darauf vollständig kontrollieren. In die Schubladen mit all den Erfahrungen werden neue Erlebnisse einsortiert. Gibt es keine Schublade dafür, ist eine neue Erfahrung nicht von Interesse; sie passt nicht ins Schema der gewohnten kognitiven Muster.
Das wäre alles schön und gut, wenn unser ordnungsfanatisches Denken über jeden Zweifel erhaben wäre. Das Problem an der Kommode mit den Schubladen, unserem persönlichen Set an kognitiven Mustern, ist jedoch, dass wir es mit der Realität verwechseln.
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