Ihm ergeben - Sylvia Day - E-Book

Ihm ergeben E-Book

Sylvia Day

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Beschreibung

London, 1780. Die junge und schöne Amelia Benbridge ist verlobt mit Lord Ware. Auf einem festlichen Ball sieht sie einen Mann mit weißer Maske, der sie fasziniert, und wider besseren Wissens folgt sie ihm in den dunklen Park des Anwesens. Er stellt sich als Graf Montoya vor, und die Anziehung zwischen den beiden ist unmittelbar und überwältigend. Doch er scheint ein dunkles Geheimnis vor ihr zu verbergen. Und Amelia ist vergeben ...

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Seitenzahl: 387

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SYLVIA DAY

IHM

ERGEBEN

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Evelin Sudakowa-Blasberg

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe A PASSION FOR HIM erschien

bei Kensington Books, New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 01/2015

Copyright © 2007 by Sylvia Day

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung von shutterstock/Forewer

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-12354-3V003

www.heyne.de

Meinen lieben Freundinnen Shelley Bradley und Annette McCleave. Ich danke euch für die Freundschaft, die Unterstützung und die kreativen Anregungen, die ihr mir beim Schreiben dieses Buches habt zuteilwerden lassen. Eure Hilfe war unendlich wertvoll.

1. Kapitel

London, 1780

Der Mann mit der weißen Maske stellte ihr nach.

Amelia Benbridge wusste nicht genau, wie lange er ihr schon heimlich gefolgt war, aber dass er ihr folgte, stand außer Zweifel.

Ganz auf die Bewegungen des Mannes konzentriert, schlenderte sie am Rand des Langston-Ballsaals entlang und sah sich dann und wann mit gespieltem Interesse um, um den Mann genauer in Augenschein zu nehmen.

Bei jedem ihrer verstohlenen Blicke stockte ihr der Atem.

Eine andere Frau hätte inmitten dieses ganzen Trubels wahrscheinlich gar nichts bemerkt. Ein Maskenball mit all den schillernden Gestalten, den Geräuschen und Gerüchen konnte eine überwältigende Wirkung haben. Die leuchtend bunten Stoffe, die üppige Spitze … die Vielzahl der Stimmen, die versuchten, sich über das unermüdliche Orchester hinweg Gehör zu verschaffen … die unterschiedlichen Parfümdüfte, die sich mit dem Geruch von heißem Wachs aus den massiven Kronleuchtern vermischten …

Doch Amelia war nicht wie andere Frauen. Sie hatte die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens unter strenger Bewachung verbracht, und jeder ihrer Schritte war genau beobachtet worden. Wehrlos den Blicken anderer Leute ausgesetzt zu sein erzeugte ein seltsames, unverkennbares Gefühl. Amelia kannte dieses Gefühl zu gut, um sich zu täuschen.

Mit Sicherheit konnte sie indes sagen, dass sie noch nie von einem derart … faszinierenden Mann so genau gemustert worden war.

Denn er war faszinierend. Das ließ sich nicht leugnen, trotz der Entfernung zwischen ihnen und der Halbmaske, die den oberen Teil seines Gesichts verbarg. Allein schon seine Gestalt war beeindruckend – groß und wohlproportioniert, mit maßgeschneiderter Kleidung, die sich eng um seine muskulösen Schenkel und die breiten Schultern schmiegte.

An einer Ecke des Ballsaals angekommen, wandte sie sich um und veränderte sowohl für sich als auch für den Fremden den Blickwinkel. Sie blieb stehen und nutzte die Gelegenheit, um ihre Halbmaske anzuheben, die sie an einem mit langen, bunten Bändern verzierten Stab hielt. Während sie vorgab, den tanzenden Paaren zuzusehen, beobachtete und begutachtete sie in Wahrheit den Fremden. Das war ihrer Meinung nach nur fair. Wenn er sie ungeniert mustern konnte, so konnte sie das umgekehrt genauso.

Er war ganz in Schwarz gekleidet, bis auf die schneeweißen Socken, die Krawatte und das Hemd. Und die Maske. Ganz schlicht, ohne Verzierung oder Federn und nur mit einem schwarzen Satinband am Kopf festgebunden. Während die meisten anderen Gentlemen in bunte, schillernde Farben gehüllt waren, um Aufsehen zu erregen, schien die strenge, düstere Kleidung des Fremden wie geschaffen zu sein, um ihn im Schatten dunkler Nischen untertauchen zu lassen. Damit man ihn nicht bemerkte – was freilich unmöglich war. Im Schein der zahllosen Kerzen schien sein schimmerndes, dunkles Haar geradezu lebendig zu sein und lud eine Frau geradezu ein, ihre Finger darin zu vergraben.

Und dann sein Mund …

Amelia atmete scharf ein. Sein Mund war Fleisch gewordene Sünde. Wie in Stein gemeißelt waren die Lippen weder voll noch schmal, aber fest. Schamlos sinnlich. Umrahmt von einem kräftigen Kinn, einer scharf geschnittenen Kieferpartie und dunkler Haut. Vielleicht kam er aus einem anderen Land. Amelia konnte nur mutmaßen, wie sein Gesicht ohne die Maske aussah. Wahrscheinlich so betörend, dass es einer Frau den Schlaf raubte.

Doch neben den körperlichen Merkmalen faszinierte sie vor allem sein Gang – entschlossen, aber mit raubtierhafter Geschmeidigkeit und hoch konzentriert. Seine Bewegungen waren weder affektiert noch gelangweilt, wie man es bei Männern aus höheren Kreisen sonst häufig beobachtete. Dieser Mann wusste, was er wollte, und hielt sich nicht damit auf, seiner Umgebung etwas anderes vorzutäuschen.

Im Moment war er offenbar entschlossen, Amelia zu verfolgen. Sein intensiver Blick war wie ein heißer Atemhauch, der sie berührte – ihr Haar, ihren Nacken, ihre nackten Schultern und der dann ihre Wirbelsäule hinabglitt. Begehrlich.

Amelia hatte keine Ahnung, weshalb gerade sie die Aufmerksamkeit des Fremden erregte. Sie war durchaus hübsch, doch keineswegs attraktiver als die meisten anderen hier anwesenden Frauen. Ihr Kleid mit den raffinierten, silberfarbenen Spitzenunterröcken und den kunstvollen Blüten aus rosafarbenen und grünen Bändern war zwar bezaubernd, aber es gab weitaus faszinierendere Roben. Zudem wurde sie von Männern, die eine romantische Beziehung suchten, in der Regel nicht beachtet, da man allgemein davon ausging, dass ihre langjährige Freundschaft mit dem beliebten Earl of Ware irgendwann zum Altar führen würde. Wenn auch sehr langsam.

Was also wollte dieser Mann von ihr? Warum sprach er sie nicht einfach an?

Entschlossen wandte Amelia sich ihm nun vollends zu, senkte die Maske und starrte ihn unverhohlen an, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass er gemeint war. Sie hoffte, seine langen Beine würden ihren entschlossenen Schritt wieder aufnehmen und ihn zu ihr bringen. Sie wollte sämtliche seiner Facetten kennenlernen – den Klang seiner Stimme, den Duft seines Eau de Cologne, die Wirkung ihrer Nähe auf seinen starken Körper.

Außerdem wollte sie wissen, was er von ihr wollte. Während ihrer gesamten mutterlosen Kindheit hindurch war Amelia von einem geheimen Ort zum nächsten gebracht worden; man hatte sie von ihrer Schwester und allen ihr nahestehenden Menschen getrennt, und ihre Gouvernanten hatten so häufig gewechselt, dass sich keinerlei emotionale Bindung entwickeln konnte. Aufgrund dieser Erfahrung misstraute sie allem Unbekannten. Das Interesse dieses Mannes war nicht normal und bedurfte einer Erklärung.

Ihr herausfordernder Blick verfehlte seine Wirkung auf ihn nicht. Sein ganzer Körper spannte sich an. Er erwiderte ihren Blick, und seine Augen glitzerten hinter der Maske. Einige lange Momente verstrichen, eine Zeitspanne, die Amelia kaum wahrnahm, weil sie ganz auf seine Reaktion konzentriert war. Gäste gingen an ihm vorbei, verdeckten ihn und gaben die Sicht wieder frei. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, sein Kiefer zusammengepresst. Gebannt beobachtete Amelia, wie sich sein Brustkorb unter einem tiefen Atemzug dehnte –

– als sie plötzlich unsanft von hinten angerempelt wurde.

»Bitte vielmals um Entschuldigung, Miss Benbridge.«

Stirnrunzelnd drehte sie sich um, um den Tölpel zu identifizieren, und sah sich einem Mann mit Perücke und rotbrauner Satinkleidung gegenüber. Mit ein paar Floskeln und einem knappen Lächeln tat sie die Sache ab, um sich sogleich wieder dem maskierten Fremden zuzuwenden.

Doch der war verschwunden.

Verwirrt blinzelte sie. Verschwunden. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, spähte in die Menschenmenge. Er war groß und mit extrem breiten Schultern gesegnet. Auch die fehlende Perücke war ein gutes Erkennungszeichen, doch so sehr sie sich bemühte, sie konnte ihn nirgends entdecken.

Wohin war er gegangen?

»Amelia.«

Die leise, kultivierte Stimme war ihr herzlich vertraut, und mit abwesendem Blick wandte sie sich dem attraktiven, ein Meter achtzig großen Mann zu, der jetzt neben ihr stand. »Ja, Mylord?«

»Wen sucht Ihr?« Der Earl of Ware ahmte Amelias Pose nach, indem er wie sie den Hals reckte. Jeder andere Mann hätte dabei lächerlich gewirkt, doch nicht der Earl of Ware. Egal, was er tat, er sah vom Scheitel seiner Perücke bis hin zu den diamantbesetzten Absätzen seiner Schuhe immer tadellos aus. »Es wäre wohl vermessen zu hoffen, dass Ihr nach mir Ausschau haltet.«

Verlegen lächelnd wandte sich Amelia dem Earl zu und hakte sich bei ihm unter. »Eher nach einem Phantom.«

»Ein Phantom?« Seine blauen Augen funkelten amüsiert hinter den Schlitzen seiner bemalten Maske. In Wares Miene spiegelte sich in der Regel entweder tödliche Langeweile oder warmherzige Heiterkeit. Doch Letzteres konnte nur Amelia in ihm wachrufen. »War es ein Schreckgespenst? Oder etwas Interessanteres?«

»Wenn ich das nur wüsste. Da war ein Mann, der mich verfolgt hat.«

»Alle Männer verfolgen Euch, meine Liebe«, erwiderte er mit leichtem Lächeln. »Wenn nicht auf zwei Beinen, dann zumindest mit Blicken.«

Tadelnd drückte Amelia seinen Arm. »Ihr verspottet mich.«

»Keineswegs.« Er zog eine arrogant geschwungene Braue in die Höhe. »Ihr wirkt oft so, als wäret Ihr ganz in Eurer eigenen Welt versunken. Eine Frau, die sich selbst genügt, übt auf Männer einen ungeheuren Reiz aus. Wir möchten in sie eindringen und uns mit ihr verbinden.«

Das intime Timbre in Wares Stimme entging Amelia nicht. Mit kokettem Augenaufschlag blickte sie zu ihm empor. »Schlingel.«

Er lachte, worauf sich etliche Gäste nach ihm umdrehten. Auch Amelia betrachtete ihn entzückt. Die Heiterkeit verwandelte den Earl von einem überdrüssigen, gelangweilten Aristokraten in einen lebensprühenden, anziehenden Mann.

Ware setzte sich in Bewegung und führte Amelia mit sich. Sie kannte ihn inzwischen sechs Jahre, seit seinem achtzehnten Lebensjahr. Sie hatte miterlebt, wie er zu dem Mann herangereift war, der er heute war, hatte beobachtet, wie er seine ersten zarten Bande knüpfte und sich durch seine Beziehungen zu Frauen verändert hatte, obwohl keine seiner Angebeteten ihn lange zu fesseln vermocht hatte. Sie sahen nur sein Äußeres und seinen Titel als Marquis, der nach dem Tod seines Vaters an ihn übergehen würde. Vielleicht hätte er mit dieser oberflächlichen Haltung leben können, wäre er nicht vorher Amelia begegnet. Doch sie waren einander begegnet und enge Freunde geworden. Nun missfielen ihm seichte Beziehungen. Er hatte Geliebte, um seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen, doch seine emotionalen Bedürfnisse stillte er bei Amelia.

Irgendwann würden sie heiraten. Das war eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen. Ware wartete auf den Tag, da sie bereit sein würde, ihn nicht mehr nur als Freund, sondern als Geliebten zu akzeptieren. Amelia liebte ihn für seine Geduld, obwohl sie nicht in ihn verliebt war. Sie wünschte, sie wäre es; wünschte es jeden Tag. Doch sie liebte einen anderen Mann, und obwohl der Tod ihn ihr geraubt hatte, gehörte ihm nach wie vor ihr Herz.

»Woran denkt Ihr?«, fragte Ware, während er mit einer leichten Verbeugung den Gruß eines anderen Gastes erwiderte.

»An Euch, Mylord.«

»Wie schön«, schnurrte er, und seine Augen leuchteten vor Freude. »Erzählt mir mehr. Ich will alles wissen.«

»Ich dachte gerade, dass es mir gefallen wird, mit Euch verheiratet zu sein.«

»Ist das ein Antrag?«

»Ich weiß es nicht so genau.«

»Hmmm … nun ja, immerhin kommen wir der Sache etwas näher. Das beruhigt mich ungemein.«

Sorgsam musterte sie ihn. »Werdet Ihr allmählich ungeduldig?«

»Ich kann warten.«

Irritiert durch die vage Antwort runzelte Amelia die Stirn.

»Keine Sorge!«, ermahnte Ware sie sanft und führte sie durch die offenen Flügeltüren auf die überfüllte Terrasse hinaus. »Ich bin zufrieden, solange Ihr es seid.«

Die kühle Abendbrise strich über ihre Haut, und sie holte tief Luft. »Ihr seid nicht ganz aufrichtig.«

Amelia blieb an dem breiten Marmorgeländer stehen und sah den Earl an. In der Nähe standen mehrere Paare, die sich unterhielten, aber immer wieder neugierige Blicke in ihre Richtung warfen. Der Mond war von Wolken verhüllt, und in der Dunkelheit leuchteten Wares cremefarbener Gehrock und die Reithosen wie Elfenbein. Die Damenwelt tuschelte bewundernd.

»Dies ist nicht der geeignete Ort, um etwas so Verheißungsvolles wie unsere Zukunft zu besprechen.« Er nahm die Maske ab und enthüllte ein edles Profil, das einer jeden Münze zur Zierde gereicht hätte.

»Ihr wisst doch, dass mich so etwas nicht abhalten kann.«

»Und Ihr wisst, dass ich Euch deshalb so sehr schätze.« Er lächelte verhalten. »Mein Leben ist reglementiert und strukturiert. Alles hat seinen festen Platz. Ich weiß um meine Rolle und komme den gesellschaftlichen Erwartungen an mich in jeder Hinsicht nach.«

»Aber Ihr macht mir nicht den Hof.«

»Ja, den mache ich Euch nicht«, stimmte er zu und ergriff ihre Hand. Gleichzeitig drehte er sich zur Seite, um diesen skandalösen Körperkontakt vor neugierigen Blicken zu verbergen. »Ihr seid meine Märchenprinzessin, die von einem berüchtigten Piraten aus ihrem Turm befreit wurde. Die Tochter eines Viscounts, der wegen Hochverrats gehängt wurde, und die Schwester einer wahren Femme fatale, der man nachsagt, sie habe zwei Ehemänner ermordet, ehe sie einen heiratete, der zu gefährlich war, um ihn zu töten. Ihr seid meine Torheit, mein exzentrischer Spleen, meine kleine Sünde.«

Er strich mit dem Daumen über ihre Handfläche, und Amelia erbebte. »Im Gegensatz dazu diene ich Euch als Stütze und Anker. Ihr hängt an mir, weil Ihr Euch bei mir sicher und geborgen fühlt.« Rasch ließ er den Blick über die anderen Paare auf der Terrasse gleiten, ehe er den Kopf zu ihr hinunterbeugte und murmelte: »Doch gelegentlich erinnere ich mich an das junge Mädchen, das so kühn seinen ersten Kuss von mir verlangte, und dann wünsche ich mir, ich hätte damals anders reagiert.«

»Tatsächlich?«

Ware nickte.

»Habe ich mich seitdem so sehr verändert?«

Die Maske in der einen und Amelias Hand in der anderen Hand, drehte er sich abrupt um und zog Amelia über die Steintreppe in den Garten hinunter. Über einen von niederen Eibenhecken gesäumten Kiesweg gelangten sie zu einem Rasenrondell mit einem eindrucksvollen Brunnen.

»Die Zeit verändert uns alle«, sagte er. »Doch ich glaube, der Tod Eures geliebten Colin hat Euch am meisten verändert.«

Allein beim Klang von Colins Namen überfiel Amelia eine tiefe Traurigkeit und schmerzhaftes Bedauern. Colin war ihr engster Freund und später dann ihre große Liebe gewesen. Er war der Neffe ihres Kutschers und ein Zigeuner, doch in Amelias abgeschotteter Welt waren sie gleichgestellt gewesen. Als Kinder waren sie Spielgefährten gewesen, bis ihre Beziehung sich nach und nach veränderte. Vertiefte. An Unschuld verlor.

Colin war zu einem jungen Mann herangewachsen, dessen exotische Schönheit und starker Charakter Amelia auf eine Art berührte, auf die sie nicht vorbereitet gewesen war. Tagsüber kreisten ihre Gedanken nur um ihn, und nachts quälten sie Träume von heimlichen Küssen. Er war klüger als sie gewesen, hatte klar erkannt, dass es für die Tochter eines Aristokraten und einen Stallburschen niemals eine gemeinsame Zukunft geben könnte. Und so hatte er sie zurückgewiesen, hatte ihr vorgegaukelt, nichts für sie zu empfinden, und ihr das junge Herz gebrochen.

Doch am Ende war er für sie gestorben.

Zitternd atmete sie aus. Manchmal, bevor sie in den Schlaf hinüberglitt, gestattete sie es sich, an ihn zu denken. Sie öffnete ihr Herz und ließ die Erinnerungen herausströmen – heimliche Küsse in den Wäldern, wilde Sehnsucht und knospendes Verlangen. So tief hatte Amelia seither nie wieder empfunden, und sie wusste, dass dies auch nie mehr geschehen würde. Kindliche Schwärmereien verblassten mit der Zeit. Doch ihre Liebe zu Colin war aus härterem Material geschmiedet und blieb bestehen. Nicht mehr als verzehrendes Feuer, sondern als weiche Wärme. Eine innige Liebe, die durch die Dankbarkeit für sein Opfer erhöht wurde. Eingesperrt zwischen den Männern ihres Vaters und Agenten der Krone, hätte sie getötet werden können, wäre Colin nicht zu ihrer Rettung herbeigeeilt. Eine tollkühne, liebestrunkene Heldentat, die Amelia gerettet und Colin das Leben gekostet hatte.

»Eure Gedanken sind wieder bei ihm«, murmelte Ware.

»Bin ich so leicht durchschaubar?«

»Für mich ja.« Er drückte ihre Hand, und sie lächelte.

»Vielleicht glaubt Ihr, meine Zurückhaltung habe mit meinen noch immer anhaltenden Gefühlen für Colin zu tun, doch in Wahrheit geschieht das aus Zuneigung zu Euch.«

»Wirklich?«

Amelia sah ihm an, dass ihre Worte ihn überrascht hatten. Sie machten kehrt und gingen zum Herrenhaus zurück. Aus den offenen Türen drang helles Licht und die süßen Klänge von Saiteninstrumenten. Der magischen Anziehungskraft der Musik konnte sich kaum jemand entziehen, und so entfernten sich auch die Gäste im Garten niemals allzu weit vom Haus.

»Ja, Mylord. Ich befürchte, Euch der Möglichkeit zu berauben, doch einmal die große Liebe zu erleben.«

Ware lachte leise. »Ihr habt eine blühende Fantasie«, sagte er schmunzelnd und sah dabei so attraktiv aus, dass Amelia ihm einen bewundernden Blick zuwarf. »Ich gestehe, dass ich nachdenklich werde, wenn Ihr diesen abwesenden Blick habt, doch damit ist mein Interesse an Herzensdingen erschöpft.«

»Ihr habt keine Ahnung, was Euch entgeht.«

»Verzeiht meine gefühllosen Worte, doch auf das melancholische Flair, das Euch umgibt, verzichte ich gerne. Bei Euch wirkt es attraktiv und verleiht Euch eine rätselhafte Aura, die ich unwiderstehlich finde. Doch ich fürchte, bei mir sähe es ziemlich erbärmlich aus, und das wollen wir doch nicht.«

»Der Earl of Ware erbärmlich?«

Er tat, als würde er erschauern. »Das ist natürlich völlig ausgeschlossen.«

»Natürlich.«

»Ihr seht also, Amelia, Ihr seid perfekt für mich. Ich genieße Eure Gesellschaft. Ich schätze Eure Ehrlichkeit und die Fähigkeit, über nahezu alles offen zu sprechen. Ihr habt keine Angst, wegen einer unbedachten Äußerung zurückgewiesen zu werden. Ihr könnt mich nicht verletzen, und ich kann Euch nicht verletzen, weil wir hinter unseren Worten und Taten keine feindselige Gesinnung vermuten. Wenn ich mal gedankenlos bin, dann nicht, weil ich Euch bewusst kränken will, und das wisst Ihr. Unsere Beziehung bedeutet mir sehr viel, und ich werde sie bis zu meinem letzten Atemzug in Ehren halten.«

Ware hielt inne, da sie nun an der Treppe zur Terrasse angelangt waren. Der Zauber dieses intimen Augenblicks war fast vorbei. Amelia hätte gern viel mehr Zeit mit ihm verbracht, was ebenfalls für eine Ehe sprach. Doch dann würden ihre gemeinsamen Abende im Bett enden, und diese Vorstellung widerstrebte ihr.

Die Erinnerung an Colins heiße Küsse war nach wie vor in ihr lebendig, und sie fürchtete, mit Ware nicht dieselbe Leidenschaft zu erleben und enttäuscht zu werden. Es wäre schrecklich, wenn sich Unsicherheit und Verlegenheit in ihre innige Vertrautheit einschleichen würden. Der Earl war attraktiv, charmant und in jeder Beziehung perfekt. Wie würde er mit erhitztem Gesicht und zerzaustem Haar aussehen? Welche Laute würde er von sich geben? Wie würde er sich bewegen? Und was würde er von ihr erwarten?

Bei diesen Gedanken empfand sie keine Vorfreude, sondern nur Sorge.

»Und was ist mit Sex?«, fragte sie.

Den Fuß bereits auf der Treppe, blieb er stehen und starrte Amelia an. Seine blauen Augen funkelten vor Vergnügen. Er kam zurück und sah ihr in die Augen. »Was soll damit sein?«

»Habt Ihr keine Bedenken, es könnte …?« Sie suchte vergeblich nach einem passenden Wort.

»Nein.« Er schien voller Zuversicht zu sein.

»Nein?«

»Wenn mir vorstelle, mit Euch zu schlafen, habe ich keinerlei Bedenken. Ich bin voller Erwartung, ja. Doch ohne Angst.« Er trat näher, beugte sich zu ihr hinunter. Jetzt flüsterte er nur noch. »Lasst Euch von solchen Gedanken nicht beirren. Wir sind jung. Wir können heiraten und warten, oder wir können warten und dann heiraten. Selbst wenn Ihr meinen Ring am Finger tragt, werde ich nichts von Euch fordern, was Ihr mir nicht von selbst geben wollt. Noch nicht.« Seine Mundwinkel zuckten. »In einigen Jahren werde ich womöglich nicht mehr so rücksichtsvoll sein. Irgendwann muss ich mich fortpflanzen, und ich finde Euch ausgesprochen verführerisch.«

Nachdenklich neigte Amelia den Kopf zur Seite. Dann nickte sie.

»Gut«, sagte Ware mit offenkundiger Zufriedenheit. »Ein Fortschritt, so klein die Schritte auch sein mögen, ist immer positiv.«

»Vielleicht wäre es an der Zeit, das Aufgebot zu bestellen.«

»Bei Gott, das wäre dann aber mehr als nur ein kleiner Schritt!«, rief er mit übertriebener Begeisterung. »Wir kommen tatsächlich voran!«

Sie lachte, worauf er ihr verschmitzt zuzwinkerte.

»Wir werden glücklich miteinander«, versprach er.

»Ich weiß.«

Während Ware seine Maske wieder am Hinterkopf festband, ließ Amelia den Blick schweifen. An der Außenmauer unterhalb des Marmorgeländers rankte sich Efeu empor. Etwas weiter unten befand sich noch eine weitere Terrasse, die allerdings unbeleuchtet war, damit die Gäste sich nicht zu lange weit vom Ballsaal entfernt aufhielten. Gleichwohl standen dort zwei Männer, die diesen subtilen Hinweis entweder nicht verstanden hatten oder sich schlicht nicht darum scherten. Doch ihre Gründe waren Amelia gleichgültig. Weit mehr interessierte sie, wer die beiden waren.

Obwohl die zweite Terrasse im Dunkeln lag, erkannte Amelia in einer Gestalt ihren Verfolger wieder: Es lag an der schlichten weißen Maske und der Art, wie Kleidung und Haar mit der Dunkelheit verschmolzen.

»Mylord«, murmelte sie, sich unwillkürlich an den Arm ihres Begleiters klammernd. »Seht Ihr die beiden Gentlemen dort drüben?«

»Ja.«

»Der dunkel gekleidete Mann ist derjenige, der vorhin dieses auffällige Interesse an mir gezeigt hat.«

Schlagartig wurde der Earl ernst. »Ihr habt die Sache bagatellisiert, aber jetzt bin ich doch beunruhigt. Hat dieser Mann Euch belästigt?«

»Nein.« Sie beobachtete, wie die beiden Männer sich trennten und davongingen – das Phantom in entgegengesetzter Richtung, der andere Mann auf sie zu.

»Trotzdem seid Ihr beunruhigt.« Ware löste ihre Hand von seinem Ärmel und bettete sie auf seinen Unterarm. »Dieses Treffen der beiden Männer ist ebenfalls merkwürdig.«

»Ja, das sehe ich genauso.«

»Obwohl es nun schon Jahre her ist, seit Ihr aus den Fängen Eures Vaters befreit wurdet, halte ich es für ratsam, Vorsicht walten zu lassen. Wenn man einen berüchtigten Verbrecher in der Familie hat, ist jeder Unbekannte verdächtig. Wir können nicht zulassen, dass Ihr von suspekten Individuen verfolgt werdet.« Rasch führte Ware sie die Treppe hinauf. »Vielleicht solltet Ihr für den Rest des Abends in meiner Nähe bleiben.«

»Ich habe keinen Grund, mich vor dem Mann zu fürchten«, entgegnete Amelia gelassen. »Ich glaube, mich überrascht weniger sein Interesse an mir als die Art und Weise, wie ich auf ihn reagiere.«

»Wie Ihr reagiert?« Ware blieb im Türrahmen stehen und zog Amelia zur Seite, um den hinein- und herauskommenden Gästen Platz zu machen.

Amelia hob die Maske vor das Gesicht. Wie sollte sie ihre Bewunderung für die kraftvolle Gestalt und die starke Präsenz des Mannes in Worte kleiden, ohne dieser Empfindung mehr Gewicht zu verleihen, als sie es verdiente? »Ich war fasziniert. Und wünschte mir, dass er auf mich zukäme, die Maske abnahm und mir sagte, wer er war.«

»Sollte ich beunruhigt darüber sein, dass ein anderer Mann Eure Fantasie so rasch fesseln konnte?«, fragte der Earl eindeutig belustigt.

»Nein.« Sie lächelte, genoss die Vertrautheit, die zwischen dem Earl und ihr herrschte. »Mich beunruhigt es ja auch nicht, wenn Ihr Euch für andere Damen interessiert.«

»Lord Ware.«

Der Earl und Amelia wandten sich dem Mann zu, der raschen Schrittes auf sie zukam. Er war auffällig klein und korpulent, sodass er trotz seiner Maske leicht identifizierbar war – Sir Harold Bingham, ein Friedensrichter am ehrwürdigen Bow Street Magistrates’ Court.

»Guten Abend, Miss Benbridge«, sagte der Richter mit freundlichem Lächeln. Er war für seine harten Entscheidungen bekannt, galt jedoch als gerecht und weise.

Amelia hatte ihn gern und begrüßte ihn entsprechend herzlich.

Ware senkte den Kopf und flüsterte Amelia zu: »Würdet Ihr mich für einen Moment entschuldigen? Ich möchte mit dem Richter über Euren geheimnisvollen Verehrer sprechen. Vielleicht finden wir heraus, um wen es sich handelt.«

»Selbstverständlich, Mylord.«

Während sich die beiden Herren entfernten, ließ Amelia auf der Suche nach bekannten Gesichtern den Blick durch den Ballsaal schweifen. In der Nähe entdeckte sie eine kleine Gruppe Bekannter und machte sich auf den Weg dorthin.

Nach einigen Schritten blieb sie nachdenklich stehen.

Sie wollte wissen, wer sich hinter der weißen Maske verbarg. Die Neugierde nagte an ihr, überlagerte jeden anderen Gedanken und machte sie unruhig. Die Intensität, mit der er sie angesehen hatte, und der Moment, als ihrer beider Blicke sich trafen, wollten ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen.

Kurz entschlossen machte sie auf dem Absatz kehrt, ging wieder auf die Terrasse hinaus und über die Treppe in den Garten hinunter. Außer ihr befanden sich dort noch etliche andere Gäste, die dem Gedränge für eine kleine Weile entfliehen wollten.

Statt wie mit Ware geradeaus zu gehen oder nach rechts, wo sich die zweite Terrasse befand, wandte sie sich nach links. Nach ein paar Schritten gelangte sie an einen halbrunden Platz mit einer marmornen Venusstatue und einer halbmondförmigen Bank. Der Platz war von den gleichen niedrigen, perfekt getrimmten Eibenhecken umgrenzt, die auch den Rasen und den Brunnen umgaben, und war menschenleer.

Neben der Statue blieb Amelia stehen und pfiff eine bestimmte Melodie, der die Männer ihres Schwagers aus ihren Verstecken locken würde. Sie wurde immer noch bewacht, und wahrscheinlich würde sich daran nie etwas ändern. Es war die unvermeidliche Folge, wenn man die Schwägerin eines so berühmten Piraten und Schmugglers wie Christopher St. John war.

Manchmal war sie wütend über die ständige Überwachung und den damit einhergehenden Mangel an Privatsphäre. Dann wünschte sie inständig, sie könnte ein einfaches Leben führen, in dem derlei Vorsichtsmaßnahmen nicht nötig wären. Doch es gab auch Zeiten, in denen sie, so wie heute, den unsichtbaren Schutz als hilfreich empfand. Sie erhielt dadurch mehr Freiraum, konnte ungehindert umherstreifen und ihrer Neugierde auf den Phantommann nachgeben, da sie St. Johns Männer in der Nähe wusste.

Während sie wartete, klopfte sie ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Deshalb hörte sie das Nahen des Mannes nicht – doch sie witterte ihn. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, ihre Haut kribbelte. Mit einem leisen, überraschten Keuchen wirbelte sie herum.

Er stand am Eingang der halbkreisförmigen Lichtung, eine hochgewachsene, dunkle Gestalt, die vor kaum gezügelter Kraft förmlich zu vibrieren schien. Im bleichen Mondlicht glänzten seine tintenschwarzen Locken wie Rabenschwingen, und im Blick seiner glitzernden Augen lag jene Intensität, die Amelia dazu verleitet hatte, sich auf die Suche nach ihm zu machen. Er trug ein langes Cape, dessen graues Satinfutter seine schwarze Kleidung dramatisch hervorhob und seinen hochgewachsenen, athletischen Körper betonte.

»Ich habe Euch gesucht«, sagte Amelia leise und reckte das Kinn

»Ich weiß.«

2. Kapitel

Die Stimme des Phantoms war tief, leise und hatte einen leichten Akzent. Fremdländisch, was zur dunklen Haut des Mannes passte.

»Habt keine Angst vor mir«, sagte er. »Ich möchte mich nur für meine schlechten Manieren entschuldigen.«

»Ich habe keine Angst«, erwiderte sie, während sie über seine Schulter hinweg zu den im Park flanierenden Gästen hinüberspähte.

Er trat einen Schritt zur Seite und gewährte ihr mit schwungvoller Handbewegung den Vortritt zurück in den Park.

»Mehr habt Ihr mir nicht zu sagen?«, rief sie, als ihr klar wurde, dass er nicht vorhatte, sie zu begleiten.

Ein leichtes Lächeln umspielte seine schönen Lippen. »Sollte es denn noch mehr geben?«

»Ich …« Stirnrunzelnd wandte Amelia den Blick ab, während sie nach den passenden Worten suchte. Das Denken fiel ihr schwer, wenn er so dicht vor ihr stand. Was aus der Ferne betörend gewirkt hatte, war nun überwältigend. Er war so ernst … Das hatte sie nicht erwartet.

»Ich wollte Euch nicht aufhalten«, murmelte er in besänftigendem Ton.

»Ihr habt schlechte Manieren«, tadelte sie ihn.

»Ja. Ich habe Euch angestarrt.«

»Das habe ich bemerkt«, erwiderte sie trocken.

»Ich bitte um Verzeihung.«

»Nicht nötig. Ich bin nicht verärgert.«

Sie wartete, dass er irgendetwas unternahm. Als er aus dem kleinen Halbkreis trat und erneut auf den Park deutete, schüttelte Amelia den Kopf. Seine sichtliche Hast, sie loszuwerden, amüsierte sie.

»Ich bin übrigens Miss Amelia Benbridge.«

Der Mann stand reglos da, nur seine Brust hob und senkte sich. »Es ist mir eine Ehre, Miss Benbridge. Ich bin Count Reynaldo Montoya.«

»Montoya«, wiederholte sie leise und kostete den Klang auf der Zunge aus. »Das ist Spanisch, aber Ihr habt einen französischen Akzent.«

Er hob den Kopf und musterte sie eingehend, ließ den Blick wie eine Liebkosung von ihrer kunstvollen Frisur bis hinunter zu ihren Ziegenlederschuhen gleiten. »Und Ihr tragt einen englischen Nachnamen, obwohl Eure Gesichtszüge ebenfalls einen südländischen Einschlag haben«, parierte er ihre Bemerkung.

»Meine Mutter war Spanierin.«

»Und Ihr seid bezaubernd.«

Amelia atmete scharf ein, verblüfft darüber, wie sehr dieses einfache Kompliment sie berührte. Derlei Plattitüden hörte sie jeden Tag, und sie waren ebenso gehaltlos wie Bemerkungen über das Wetter. Doch Montoya verlieh den Worten einen anderen Klang. Aus seinem Mund waren sie voller Gefühl und Dringlichkeit.

»Offenbar muss ich mich noch einmal entschuldigen«, sagte der Count mit selbstironischem Lächeln. »Gestattet mir, Euch zum Ballsaal zurückzubegleiten, ehe ich weiterhin einen Narren aus mir mache.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen, besann sich dann aber eines Besseren und umklammerte stattdessen mit beiden Händen den Stab ihrer Maske. »Euer Cape … Wollt Ihr den Ball schon verlassen?«

Er nickte, und die Spannung zwischen ihnen steigerte sich. Er hatte keinen Grund, noch länger zu verweilen, aber Amelia spürte, dass er es genauso wollte wie sie.

Irgendetwas hielt ihn zurück.

»Warum?«, fragte sie leise. »Ihr habt mich weder um einen Tanz gebeten noch mit mir geflirtet oder beiläufig bemerkt, wo Ihr Euch in naher Zukunft aufzuhalten gedenkt, damit wir die Chance haben, auch später noch miteinander Kontakt aufzunehmen.«

Montoya trat in den kleinen Halbkreis zurück. »Ihr seid zu forsch, Miss Benbridge«, tadelte er sie barsch.

»Und Ihr seid ein Feigling.«

Er machte ein paar schnelle Schritte auf sie zu und blieb dicht vor ihr stehen.

Der kühle Abendwind strich über ihre Schulter, spielte mit einer ihrer langen, kunstvoll frisierten Locken, die ihren Rücken hinabhingen. Der Blick des Count heftete sich auf ihr schimmerndes Haar und wanderte dann zu ihrer üppigen Brust hinab.

»Ihr seht mich an wie ein Mann seine Geliebte.«

»Ach ja?« Seine Stimme war nun leiser, weicher, der Akzent deutlicher. Es war die Stimme eines Liebhabers oder eines Verführers. Amelia fühlte die Stimme wie ein Streicheln auf der Haut, erregend und ungemein belebend. Sie war wie ein kühler Luftzug nach einem heißen Tag.

»Woher kennt Ihr diesen Blick, Miss Benbridge?«

»Ich kenne so manches. Doch da Ihr beschlossen habt, mich nicht näher kennenzulernen, werdet Ihr nie erfahren, was es damit auf sich hat.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust. Es war eine provozierende Pose, entlockte Amelia aber dennoch ein Lächeln, da sie ihr verriet, dass er bleiben würde. Zumindest noch ein Weilchen. »Und was ist mit Lord Ware?«, fragte er.

»Was soll mit ihm sein?«

»Ihr seid doch so gut wie verlobt mit ihm.«

»Richtig.« Sie bemerkte, wie sich seine Kieferpartie anspannte. »Hegt Ihr irgendwelchen Groll gegen Lord Ware?«

Der Count gab keine Antwort.

Erneut klopfte sie ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Irgendetwas geschieht hier zwischen uns, Count Montoya. Angesichts Eurer ungewöhnlichen Attraktivität wage ich zu behaupten, dass Ihr an weibliche Aufmerksamkeit gewöhnt seid. Ich für meinen Teil kann jedenfalls mit Sicherheit sagen, dass ich noch nie eine ähnliche Situation erlebt habe. Fantastisch aussehende Männer pflegen mich normalerweise nicht zu verfolgen –«

»Ihr erinnert mich an eine Frau, die ich früher einmal kannte«, fiel er ihr ins Wort. »Sie hat mir viel bedeutet.«

»Oh.« So sehr sie es auch versuchte, sie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Er hatte sie verwechselt. Sein Interesse galt nicht ihr, sondern der Frau, der sie ähnlich sah.

Gekränkt wandte sie sich ab, ließ sich auf die Bank sinken, ordnete nervös ihre Röcke und drehte abwesend den Maskenstab zwischen den behandschuhten Fingern.

»Jetzt ist es an mir, um Verzeihung zu bitten.« Den Kopf in den Nacken gelegt, blickte sie den Count an. »Ich habe Euch in eine peinliche Situation gebracht und Euch zum Verweilen überredet, obwohl Ihr gehen wolltet.«

Wie gern hätte sie seine Züge hinter der perlmuttweiß schimmernden Maske gesehen. Obwohl der Großteil seines Gesichts verdeckt war, fand sie ihn unglaublich attraktiv – die tiefe, leicht heisere Stimme … die sinnlichen Lippen … das unerschütterliche Selbstvertrauen, das er ausstrahlte …

Aber nein, eigentlich war er gar nicht unerschütterlich. Sie berührte ihn auf eine Art, wie eine fremde Frau es normalerweise nicht vermochte. Und er berührte sie gleichermaßen.

»Das war wohl nicht das, was Ihr hören wolltet«, bemerkte er und kam einen Schritt näher.

Sein Cape umspielte die glänzend polierten Stiefel. Er war eine imposante Erscheinung, doch Amelia hatte keine Angst vor ihm.

Da sie um eine Antwort verlegen war, tat sie seine Worte mit einer achtlosen Handbewegung ab. Er hatte recht; sie war zu forsch. Und gleichzeitig nicht mutig genug, um offen zuzugeben, dass sie sich über sein vermeintliches Interesse an ihrer Person gefreut hatte. »Ich hoffe, Ihr findet die Frau, nach der Ihr sucht«, sagte sie schließlich.

»Das ist leider nicht möglich.«

»Ach?«

»Ich habe sie vor vielen Jahren verloren.«

Die Wehmut in seiner Stimme berührte sie zutiefst. »Das tut mir leid. Auch ich habe einen geliebten Menschen verloren und weiß, wie sich das anfühlt.«

Schweigend nahm Montoya neben ihr Platz. Die Bank war schmal, und aufgrund der geschwungenen Form musste er sich dicht neben sie setzen, sodass ihre Röcke sein Cape berührten. Diese Nähe war höchst ungehörig, doch Amelia erhob keinen Einwand. Stattdessen holte sie tief Luft und stellte fest, dass der Count nach Sandelholz und Zitrone duftete. Frisch, erdig, viril. Wie der Mann selbst.

»Ihr seid zu jung, um so zu leiden wie ich«, murmelte er.

»Ihr unterschätzt den Tod. Er hat keine Skrupel und interessiert sich nicht für das Alter der Hinterbliebenen.«

Die Bänder an ihrem Maskenstab flatterten in der Brise, wehten über die behandschuhte Hand des Count und blieben dort liegen. Die lavendel-, rosafarbenen und blassblauen Streifen hoben sich reizvoll von seinem weißen Handschuh und dem dunklen Cape ab.

Was gaben sie wohl für ein Bild ab? Sie in silberner Spitze mit den bunten Blumen, und er wie ein düsterer Engel neben ihr?

»Ihr solltet nicht allein hier draußen sein«, sagte er, während er die Bänder zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. Obwohl er durch seine Handschuhe nichts spüren konnte, schien er den unwiderstehlichen Drang zu verspüren, etwas zu liebkosen, das Amelia gehörte.

»Ich bin Einsamkeit gewöhnt.«

»Mögt Ihr sie?«

»Sie ist mir vertraut.«

»Das ist keine Antwort.«

Amelia betrachtete ihn genauer, registrierte die kleinen Details, die man nur aus nächster Nähe erkennen konnte. Montoya hatte lange, dichte Wimpern und mandelförmige Augen. Wunderschöne Augen. Exotisch. Wissend. Von tiefen Schatten umgeben – innerlich wie äußerlich.

»Wie war sie?«, fragte Amelia. »Diese Frau, an die ich Euch erinnere?«

Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel, und in seinen Wangen zeichnete sich die Ahnung von Grübchen ab. »Erst müsst Ihr meine Frage beantworten«, sagte er.

Amelia seufzte dramatisch, worauf die Lippen des Count belustigt zuckten. Er ließ seinem Lachen nie freien Lauf, stellte Amelia fest. Sie fragte sich, warum er nicht offen lachte und wie sie ihn dazu bringen könnte. »Wohlan, Count Montoya. Ja, ich bin gern allein.«

»Viele Menschen finden das Alleinsein unerträglich.«

»Sie haben eben keine Fantasie. Ich wiederum habe viel zu viel Fantasie.«

»Ach ja?« Er wandte sich ihr zu, und die Haltung bewirkte, dass seine Hosen aus Hirschleder sich straff über seine muskulösen Oberschenkel spannten. Vor dem Hintergrund des grauen Satincapes zeichnete sich jedes winzige Detail seiner Schenkel ab, jeder Muskelstrang und jede Sehne. »Wovon handeln Ihre Fantasien?«

Amelia schluckte, konnte sich vom Anblick seiner herrlichen Schenkel kaum losreißen. Ihre Faszination war durch und durch sinnlich, ihr Interesse rein fleischlicher Natur.

»Ähm …« Verwirrt von der Richtung, in die ihre Gedanken abschweiften, löste sich Amelia aus ihrem Bann und blickte zu Montoya auf. »Geschichten. Märchen und dergleichen.«

Obwohl seine Züge unter der Halbmaske nicht zu erkennen waren, nahm Amelia an, dass er fragend eine Braue anhob. »Schreibt Ihr die Geschichten nieder?«

»Manchmal.«

»Und was macht Ihr dann damit?«

»Ihr habt jetzt bereits mehrere Fragen gestellt, ohne meine Frage beantwortet zu haben.«

Montoyas dunkle Augen glitzerten belustigt. »Ach, das habt Ihr nachgehalten?«

»Damit habt Ihr schließlich angefangen«, rief sie verächtlich. »Ich folge einfach nur Euren Regeln.«

Da! Ein Grübchen! Sie sah es ganz deutlich.

»Sie war wagemutig«, murmelte er. »Wie Ihr.«

Amelia errötete und wandte den Blick schweren Herzens von dem hinreißenden kleinen Grübchen in seiner Wange ab. »Haben Sie das an ihr gemocht?«

»Ich habe es an ihr geliebt.«

Das warme, intime Timbre seiner Stimme ließ Amelia erbeben.

Er stand auf und reichte ihr die Hand. »Ihr fröstelt, Miss Benbridge. Ihr solltet ins Haus zurückgehen.«

Sie blickte zu ihm auf. »Kommt Ihr mit?«

Er schüttelte den Kopf.

Mit einer graziösen Bewegung legte sie die Finger in seine Hand und ließ sich von ihm aufhelfen. Seine Hand war groß und warm, sein Griff stark und beschützend. Amelia widerstrebte es, ihn loszulassen, und zu ihrer Freude schien es ihm genauso zu ergehen. Einen langen Moment standen sie Hand in Hand da, die tiefe Stille ringsum nur durchbrochen von ihren Atemzügen … bis der Abendwind die zarten, verführerischen Klänge eines Menuetts zu ihnen hinübertrug.

Montoyas Griff wurde fester, und sein Atem geriet ins Stocken. Amelia wusste, dass seine Gedanken in dieselbe Richtung eilten wie die ihren. Amelia hielt sich die Maske vor das Gesicht und knickste tief. »Ein Tanz«, drängte sie sanft, als er sich nicht rührte. »Tanzt mit mir, als ob ich die Frau wäre, nach der Ihr Euch sehnt.«

»Nein.« Einen Herzschlag lang zögerte er, ehe er sich über ihre Hand neigte. »Ich möchte lieber mit Euch tanzen.«

Amelias Kehle schnürte sich zusammen, erstickte jede Antwort, die sie hätte geben können. Also begann sie einfach zu tanzen, bewegte sich auf ihn zu und ging wieder zurück. Drehte sich langsam um die eigene Achse und schritt dann im Kreis um ihn herum. Das Knirschen des Kies unter ihren Füßen übertönte die Musik, doch Amelia hörte die Musik in Gedanken und summte die Melodie mit. Er fiel in die Melodie mit ein, begleitete Amelia mit tiefer, wohlklingender Stimme, die eine wunderbare Ergänzung zu ihrer eigenen bildete.

Die Wolken rissen auseinander, ließen einen hellen Mondstrahl hindurch, der ihre kleine Tanzfläche erleuchtete, der die Hecken mit Silber übergoss und Montoyas Maske in schimmerndes Perlmutt verwandelte. Das schwarze Satinband um seinen Haarzopf verschmolz mit der tintigen Schwärze seiner Locken und schimmerte mit ihnen um die Wette. Amelias Röcke streiften sein wehendes Cape, und sein Parfüm mischte sich mit ihrem Parfüm. Zusammen tauchten sie in eine eigene, zeitlose Welt ein. Amelia war darin gefangen, verzaubert, und sie wünschte sich – für einen kurzen Moment nur – sie niemals wieder verlassen zu müssen.

Dann wurde der Kokon von dem unmissverständlichen Vogelpfiff zerrissen.

Eine Warnung von St. Johns Männern.

Amelia taumelte, doch Montoya hielt sie fest. Sie ließ den Arm sinken, der die Maske hielt. Montoyas Atem roch nach Brandy. Ganz sanft und warm streifte er ihre Lippen. Durch den Größenunterschied zwischen ihnen befanden sich ihre Brüste auf einer Höhe mit seinem Oberbauch. Er hätte sich bücken müssen, um sie zu küssen, und Amelia ertappte sich bei dem Wunsch, dass er es tat. Sie wollte wissen, wie sich diese herrlich geformten Lippen auf den ihren anfühlten.

»Lord Ware ist auf der Suche nach Euch«, flüsterte er, während er sie weiterhin intensiv ansah.

Sie nickte, versuchte jedoch nicht, sich von ihm zu lösen. Ihr Blick blieb mit seinem verbunden. Auffordernd. Wartend.

Als sie schon aufgeben wollte, nahm er das schweigende Angebot an und berührte ihren Mund sanft mit seinen Lippen. Leise aufstöhnend küsste er sie, wich dann jedoch sofort wieder zurück. Die Maske fiel Amelia aus der Hand und landete mit einem leisen Scheppern auf dem Kies.

»Auf Wiedersehen, Amelia.«

Mit flatterndem Cape eilte er davon, sprang wie ein Schatten über eine niedrige Hecke und tauchte in der Dunkelheit unter. Er kehrte nicht zur Terrasse auf die Rückseite des Hauses zurück, sondern lief zur Vorderseite und war binnen weniger Augenblicke verschwunden. Benommen durch den jähen Aufbruch, drehte Amelia sich langsam zum Park um und sah, wie Ware im Gefolge einiger anderer Männer raschen Schritts auf sie zukam.

»Was treibt Ihr hier?«, fragte er barsch, während er sich erregt nach allen Seiten umsah. »Ich habe Euch überall gesucht und war schon krank vor Sorge.«

»Es tut mir leid.« Sie war außerstande, mehr zu sagen. Ihre Gedanken weilten bei Montoya, der den warnenden Vogelpfiff offensichtlich erkannt hatte.

Für einen Moment war Montoya real gewesen, aber nicht länger. Er war flüchtig, wie das Phantom, für das sie ihn gehalten hatte. Und sehr verdächtig.

»Würdest du mir bitte erklären, was gestern Abend los war?«

Amelia seufzte innerlich, doch nach außen hin zeigte sie ein strahlendes Lächeln. »Was erklären?«

Christopher St. John – extravaganter Pirat, Mörder, Schmuggler – erwiderte ihr Lächeln, doch seine saphirblauen Augen blickten scharf und abschätzend. »Du weißt genau, was ich meine.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal bist du deiner Schwester so ähnlich, dass es erschreckend ist.«

Für Amelias Dafürhalten war es eher erschreckend, wie jemand, der so göttlich aussah wie St. John, einen derart teuflischen Charakter haben konnte. Obwohl sie schon seit Jahren in seinem Haushalt lebte, erschütterte sie seine Schönheit immer noch jedes Mal, wenn sie ihn sah.

»Oh, was für ein reizendes Kompliment!«, rief sie und meinte jedes Wort ernst. »Vielen Dank.«

»Kleines Biest! Und jetzt raus mit der Sprache!«

Jeder andere Mann hätte es schwer gehabt, Amelia Informationen zu entlocken, die sie nicht preisgeben wollte. Doch wenn der Pirat mit seiner heiseren Stimme etwas von ihr erbat, konnte sie es ihm unmöglich abschlagen. Mit seinem goldenen Haar, der goldenen Haut, den schmalen, aber fleischigen Lippen und den schillernden Saphiraugen erinnerte er sie an einen Engel, denn nur ein himmlisches Wesen konnte von Kopf bis Fuß derart vollkommen sein.

Das einzige äußerliche Zeichen seiner Sterblichkeit waren die Falten um seinen Mund und die Augen, das Ergebnis eines anstrengenden und unruhigen Lebens. Die Falten hatten sich seit seiner Heirat mit Amelias Schwester sehr gemildert, doch sie würden niemals ganz verschwinden.

»Mir fiel das ungewöhnlich starke Interesse eines Mannes auf. Er merkte, dass ich es merkte, und nahm Kontakt zu mir auf, um zu erklären, was es damit auf sich hatte.«

Christopher lehnte sich in seinem schwarzen Ledersessel zurück und schürzte nachdenklich die Lippen. Hinter ihm befand sich ein großes Fenster, von dem man in den Garten hinaussah – oder besser in das, was ein Garten hätte sein können. Eigentlich erstreckte sich dort nur ein schmuckloser, gemähter Rasen, der jede heimliche Annäherung an das Herrenhaus unmöglich machte. Wenn man so viele Feinde hatte wie St. John, durfte man bei der Sicherheit keine Abstriche machen, schon gar nicht wegen einer so banalen, rein ästhetischen Angelegenheit wie einem Garten. »Welche Erklärung hat er gegeben?«

»Er behauptete, dass ich ihn an eine verlorene Liebe erinnere.«

St. John gab einen schnaubenden Laut von sich. »Ein raffinierter Trick, der Ware beinahe in eine äußerst peinliche Situation gebracht und einen fürchterlichen Skandal heraufbeschworen hätte. Ich kann nicht glauben, dass du auf so ein sentimentales Gefasel hereingefallen bist.«

Das schlechte Gewissen trieb Amelia das Blut in die Wangen, aber sie protestierte trotzdem. »Er war aufrichtig!« Sie glaubte nicht, dass man eine melancholische Stimmung so gut vortäuschen konnte. Sicher, auch ihr war klar, dass mit dem Mann irgendetwas nicht stimmte, doch seine emotionale Reaktion war ehrlich gewesen.

»Meine Männer sind ihm gestern Abend gefolgt.«

Amelia nickte, hatte nichts anderes erwartet. »Und?«

»Sie haben ihn verloren.«

»Wie kann das sein?«

St. John schmunzelte über ihr Erstaunen. »So etwas kommt vor, wenn jemand weiß, dass man ihm folgt, und gelernt hat, wie man Verfolger abschüttelt.« Sein Lächeln schwand. »Er ist kein liebeskranker, harmloser Mann, Amelia.«

Abrupt stand sie auf, worauf St. John gezwungen war, sich gleichfalls zu erheben. Ihre geblümten Röcke wogten sacht um ihre Beine, als sie sich langsam umdrehte und den Blick durch den Raum wandern ließ. Äußerlichkeiten konnten täuschen. Dieser Raum und der Verbrecher, dem dieser Raum gehörte, waren dafür das beste Beispiel. Das in Rot, Cremeweiß und Gold gehaltene Arbeitszimmer hätte, wie das gesamte Herrenhaus, auch einem Mitglied des Oberhauses gehören können. Nichts deutete darauf hin, was dieses Haus in Wahrheit war – das Hauptquartier eines großen und höchst illegalen Schmugglerrings.

»Was könnte er von mir wollen?«, fragte sie, während sie die Ereignisse des gestrigen Abends mit kristallklarer Deutlichkeit vor sich sah. Sie konnte noch seinen exotischen Duft riechen und seine von fremdländischem Akzent gefärbten Worte hören, die sie innerlich erbeben ließen. Ihre Lippen kribbelten von seinem Kuss, und ihre Brüste schwollen bei der Erinnerung an seinen straffen Bauch.

»Alles Mögliche, vielleicht wollte er mich warnen, vielleicht hatte er auch noch weit Schlimmeres im Sinn.«

»Was zum Beispiel?« Fragend sah sie ihn an. Er warf ihr einen wissenden Blick zu. »Vielleicht wollte er dich verführen und dadurch für Ware ruinieren. Oder er wollte dich verführen und fortlocken, um dich als Druckmittel gegen mich zu benutzen.«

Als sie das Wort »verführen« im Zusammenhang mit dem mysteriösen, maskierten Montoya hörte, wurde ihr ganz anders zumute. Eigentlich hätte es ihr Angst machen sollen, doch das war nicht der Fall.

»Du weißt so gut wie ich«, fuhr St. John fort, »wie glücklich du dich schätzen kannst, dass du Ware in der Zeit, als dein Vater dich wie eine Gefangene hielt, kennengelernt hast und dass er bereit ist, deine skandalöse Vergangenheit und familiären Verbindungen zu ignorieren.« Er trommelte mit den Fingern leicht auf die Schreibtischplatte. »Dein Sohn wird ein Marquis sein, deine Kinder werden sämtliche Privilegien genießen. Alles, was deine Zukunft gefährdet, sollte also Grund zur Sorge sein.«

Amelia nickte und wandte den Blick ab. Sie wollte nicht zeigen, wie elend sie sich fühlte, wenn ihre Beziehung zu Ware auf rein materielle Vorteile reduziert wurde. Natürlich wusste sie, dass sie am meisten von der Verbindung profitierte. Doch als Wares Freundin wollte sie nur das Beste für ihn. Ob eine Heirat das Beste für ihn war, wagte sie freilich zu bezweifeln. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Keine riskanten Unternehmungen. Wenn der Mann noch einmal auftaucht, dann halte ihn auf Abstand.« Seine strenge Miene wurde weicher. Heute war er in Himmelblau gekleidet, eine Farbe, die sowohl sein dunkelgoldenes Haar und den Teint wie auch die wunderschön bestickte Weste hervorhob, die seine schlanke Mitte umschmeichelte. »Es liegt mir fern, dich zu tadeln. Ich bin nur um deine Sicherheit besorgt.«

»Ich weiß.« Sie hatte ihr gesamtes Leben in goldenen Käfigen verbracht. Einerseits liebte sie die damit verbundene Sicherheit, andererseits ärgerte sie sich über die Einschränkungen. Sie versuchte, sich angemessen zu benehmen und die für sie aufgestellten Regeln zu befolgen, doch manchmal fiel es ihr schwer, sich anzupassen. Vermutlich lag das an dem väterlichen Blut, das in ihren Adern floss. Diese Neigung wollte sie unbedingt in den Griff bekommen. »Darf ich mich zurückziehen? Ware wird mich gleich zu einer Kutschfahrt durch den Park abholen, und ich muss mich noch umkleiden.«

»Natürlich. Amüsier dich gut.«

Nachdem Amelia gegangen war, setzte sich Christopher wieder hin, nur um gleich darauf erneut aufzuspringen, als seine Gattin in einer duftigen Wolke aus blassrosa Röcken hereinschwebte. Wie immer begann sein Herz bei ihrem Anblick vor Bewunderung und Freude schneller zu schlagen.

»Heute siehst du besonders entzückend aus«, sagte er und ging zu ihr, um sie zu umarmen. Und wie immer, seit sie sich kannten, schmolz Maria ihm förmlich entgegen, ein weicher, warmer Körper, den er vergötterte.

»Das sagst du jeden Tag«, murmelte sie, doch ihr Lächeln war voller Freude.

»Weil es jeden Tag so ist.« Er presste ihre weichen, sinnlichen Rundungen an seinen harten Körper. Trotz des Größenunterschieds passten sie so perfekt zusammen wie zwei zusammengehörige Puzzleteile.