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Barnaby Adair verschwendet keinen Gedanken an die Ehe, zu sehr genießt er sein Leben als Detektiv. Bis er eines Abends Penelope Ashford begegnet, die ganz anders ist als die Damen der vornehmen Gesellschaft. Sie kümmert sie sich um die vergessenen Waisenkinder Londons und wendet sich an ihn, weil plötzlich einige ihrer Schützlinge wie vom Erdboden verschluckt sind. Barnaby zögert nicht und übernimmt den Fall. Denn seine Auftraggeberin weckt nicht nur seinen kriminalistischen Spürsinn, sondern auch leidenschaftliche Gefühle in ihm. Aber die temperamentvolle Penelope hat zu seiner großen Überraschung eigene Pläne … »Für Fans von romantischen Liebesromanen uneingeschränkt zu empfehlen.« LovelyBooks
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Seitenzahl: 784
Veröffentlichungsjahr: 2019
Zum Buch
Er staunt nicht schlecht, wer da so spät vor seiner Tür steht: Penelope Ashford. Und Barnaby muss sich eingestehen, dass er sich noch sehr gut an ihre letzte Begegnung erinnert – und wie sich ihre Hand in seiner angefühlt hat. Ihm ist bereits zu Ohren gekommen, dass Penelope ein Heißsporn sein soll und für ihre Überzeugungen vehement eintritt. Umso gespannter lauscht er dem Grund, warum die junge Lady ihn aufsucht: Er soll für sie verschwundene Waisenjungen finden. Bereits am nächsten Tag nimmt er die Ermittlungen auf, die in Londons Unterwelt führen – und nicht nur für ihn riskant sind, sondern auch für Penelope.
Zur Autorin
Stephanie Laurens wurde in Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, geboren. Sie begann mit dem Schreiben, um ihrem wissenschaftlichen Alltag zu entfliehen. Bis heute hat sie mehr als 50 Romane verfasst und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesgeschichten. Die preisgekrönte New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Melbourne.
Lieferbare Titel
Eine Lady riskiert alles
MIRA® TASCHENBUCH
Copyright © 2019 für die deutsche Ausgabe by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Copyright © 2008 by Savdek Management Proprietory Ltd. Originaltitel: »Where the Heart Leads« Erschienen bei: William Morrow, New York
Published by arrangement with William Morrow, an imprint of HarperCollinsPublishers L.L.C., New York
Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Jutta Nickel liegt beim Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Covergestaltung: HarperCollins Germany / Birgit Tonn Coverabbildung: Harlequin Books N.A. E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783745750324
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November 1835
London
»Danke, Mostyn.« Barnaby Adair, der dritte Sohn des Earl of Cothelstone, saß zufrieden im Lehnstuhl vor dem Kamin im Wohnzimmer seines eleganten Anwesens in der Jermyn Street und hob das Kristallglas von dem Serviertablett, das sein Butler ihm reichte.
»Ich brauche Sie nicht mehr.«
»Sehr wohl, Sir. Ich wünsche eine angenehme Nacht.« Mostyn, mustergültig in seinem Beruf, verbeugte sich formvollendet und zog sich geräuschlos zurück.
Barnaby lauschte angestrengt und hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Er lächelte, nippte an seinem Glas. Gleich nach seiner Ankunft in der Stadt hatte seine Mutter ihm den Mann aufgehalst, und zwar in der kühnen Hoffnung, dass er ihren Sohn, der, wie sie oft zu verkünden pflegte, kaum zu bändigen war, doch noch in eine angemessene Richtung zu lenken verstand.
Obwohl Mostyn die ungeschriebenen Gesetze, die im Unterschied von Rang und Namen lagen, strengstens befolgte und sehr genau wusste, welche Rücksichten er dem Sohn eines Earls schuldig war, hatten Herr und Diener sich schnell aneinander gewöhnt. Ohne die Unterstützung, die sein Butler ihm gewährte – weitgehend, ohne dass er etwas veranlassen musste, wie das Glas feinsten Brandys in seiner Hand bewies –, konnte Barnaby sich seinen Aufenthalt in London nicht mehr vorstellen.
Mit den Jahren war Mostyn milder geworden. Vielleicht auch beide; jedenfalls führten sie nunmehr ein sehr angenehmes Leben.
Barnaby streckte die langen Beine in Richtung Kamin, kreuzte die Fußgelenke, ließ das Kinn auf die Halsbinde sinken und betrachtete die Spitzen seiner polierten Stiefel, die im Widerschein des knisternden Feuers förmlich zu baden schienen. In seiner Welt hätte alles gut sein sollen. Hätte …
Ja, er fühlte sich wohl … und unruhig.
Friedlich – nein, eingelullt in eine gesegnete Ruhe – dennoch unbefriedigt.
Dabei war es nicht so, dass er die letzten Monate erfolglos verbracht hatte. Nachdem er neun Monate lang sorgfältig eine Spur verfolgt hatte, hatte er einen Kreis junger Leute enttarnt, sämtlich aus besten Familien, denen es nicht gereicht hatte, sich in Lasterhöhlen zu vergnügen, sondern die es für einen Spaß hielten, selbst welche zu betreiben. Er hatte genügend Beweise gesammelt, sie trotz ihres Standes vor Gericht zu bringen und bestrafen zu lassen. Es war ein schwieriger, langwieriger und mühseliger Fall gewesen, dessen erfolgreicher Abschluss ihm Lob und Dankbarkeit seitens der adligen Kreise eingebracht hatte, die in Londons Metropolitan Police Force die Aufsicht führten.
Als seine Mutter davon erfahren hatte, hatte sie zweifellos die Lippen geschürzt, hatte vielleicht bissig den Wunsch ausgestoßen, dass er doch ebenso viel Interesse für die Fuchsjagd aufbringen möge wie für die Verbrecherjagd, aber mehr würde – und konnte – sie nicht sagen, solange sein Vater zu den genannten adligen Kreisen zählte.
In keiner modernen Gesellschaft durfte das Recht parteiisch sein. Unparteiisch musste Recht gesprochen werden, furchtlos und ohne Ansehen der Person – jenen Angehörigen der besseren Gesellschaft zum Trotz, die sich zu glauben weigerten, dass auch sie den im Parlament verabschiedeten Gesetzen unterworfen waren. Der Premierminister höchstselbst war bewegt worden, ihn zu seinem jüngsten Triumph zu beglückwünschen.
Barnaby hob das Glas und nippte. Es war ein süßer Triumph gewesen, der ihn aber doch merkwürdig leer zurückgelassen hatte. Auf unerwartete Weise unzufrieden. Bestimmt hatte er damit gerechnet, größeres Glück zu empfinden anstelle dieser seltsamen Leere und Ruhelosigkeit, dieser Ziellosigkeit, mit der er durchs Leben driftete, jetzt, wo er keinen Fall mehr hatte, der ihn fesselte, der seinen Scharfsinn herausforderte und ihm die Zeit vertrieb.
Vielleicht war seine Stimmung auch nur ein Spiegel der Saison, die gerade herrschte. Wieder neigte sich ein Jahr dem Ende zu. Es war die Zeit, in der kalter Nebel sich über Stadt und Land senkte, in der die Gesellschaft sich an die wärmenden Feuerstellen auf den Anwesen ihrer Ahnen flüchtete und sich dort auf die Schwelgereien der kommenden Festsaison vorbereitete. Für ihn war diese Jahreszeit immer schwierig gewesen – schwierig, weil es galt, eine plausible Entschuldigung dafür zu finden, den geselligen Zusammenkünften aus dem Weg zu gehen, die seine Mutter mit größtem Geschick arrangierte.
Viel zu leicht war es ihr gelungen, seine älteren Brüder und seine Schwester Melissa zu verheiraten. In ihm war sie nun ihrem Waterloo begegnet, setzte den Kampf aber noch hartnäckiger und unermüdlicher fort als Napoleon. Denn sie war fest entschlossen, ihn, den Jüngsten aus ihrem Stall, angemessen verheiratet zu sehen, und sie war darauf eingerichtet, nichts unversucht zu lassen, um ihr Ziel zu erreichen – mit welchen Mitteln auch immer sie kämpfen musste.
Obwohl er übrig geblieben war, betrachtete er sich nicht als Kandidat ihrer Machenschaften in Sachen Ehestiftung, wollte sich ihr nicht auf Cothelstone Castle ausliefern. Was, wenn es schneite und er nicht die Flucht ergreifen konnte?
Rat-a-tat-tat. Unüberhörbar zerriss das Geräusch die behagliche Stille.
Als Barnaby den Blick zur Wohnzimmertür schweifen ließ, stellte er fest, dass er eine Kutsche auf dem Kopfsteinpflaster gehört hatte. Die ratternden Räder waren vor seinem Anwesen stehen geblieben. Er lauschte Mostyns gemessenem Schritt am Wohnzimmer vorbei zur Haustür. Wer wollte ihn um diese Stunde – es war bereits nach elf, wie ein rascher Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims ihm verriet – noch besuchen? Und in einer solchen Nacht? Jenseits der schweren Vorhänge vor den Fenstern herrschte finstere Dunkelheit, denn undurchdringlicher kalter Nebel waberte durch die Straßen, verschluckte die Häuser und verwandelte die vertrauten Ansichten in unheimliche und gespenstische Gebilde.
In einer solchen Nacht würde sich niemand ohne guten Grund nach draußen wagen.
Gedämpfte Stimmen drangen an sein Ohr. Es schien, als versuchte Mostyn den Besuch zu hindern, die Ruhe seines Herrn zu stören.
Plötzlich schwiegen die Stimmen.
Ein paar Sekunden später trat Mostyn ein und schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Nach einem kurzen Blick auf die dünnen Lippen seines Dieners und dessen bemüht ausdruckslose Miene wusste Barnaby, dass der Mann den Besuch, wer auch immer es sein mochte, nicht billigte. Aber noch bemerkenswerter als Mostyns Missbilligung war die logische Voraussetzung, dass dessen Versuch, den Ankömmling abzuweisen, sichtlich gescheitert war – und zwar schnell und gründlich.
»Eine … Lady möchte Sie sehen, Sir. Eine Miss …«
»Penelope Ashford.«
Der klare und entschlossene Tonfall ließ Barnaby und Mostyn den Blick zur Tür wenden, die jetzt weit offen stand und eine Lady in einem dunklen, strengen, aber doch modischen Umhang zu erkennen gab. Ein Muff aus Zobel baumelte am Handgelenk, und die Hände waren in pelzgesäumte Lederhandschuhe gehüllt.
Der üppige mahagonibraune Haarknoten am Hinterkopf glänzte, als sie mit einer Würde und Selbstsicherheit durch den Raum schritt, die ihre gesellschaftliche Stellung noch deutlicher und unmissverständlicher betonten als die zarten und typisch aristokratischen Gesichtszüge. Gesichtszüge, in denen sich die lebhafteste Entschlossenheit ebenso spiegelte wie ein unbezwingbarer Wille, sodass die Kraft ihrer Persönlichkeit ihr wie eine Woge den Weg zu bahnen schien.
Mostyn trat zurück, als sie sich näherte.
Barnaby ließ sie keine Sekunde aus den Augen, als er ohne jede Hast seine überkreuzten Füße nebeneinanderstellte und sich erhob. »Miss Ashford.«
Ein außergewöhnliches Paar dunkelbrauner Augen, eingefasst von einer fein gearbeiteten goldumrandeten Brille, fixierte sein Gesicht. »Mr. Adair. Wir sind uns vor beinahe zwei Jahren begegnet. Morwellan Park. Im Ballsaal, bei Charlies und Sarahs Hochzeit.« Zwei Schritte vor ihm blieb sie stehen und musterte ihn so aufmerksam, als wolle sie sein Gedächtnis prüfen. »Wir haben uns kurz unterhalten, falls Sie sich erinnern.«
Sie bot ihm nicht die Hand. Barnaby schaute hinunter in das Gesicht, das sie ihm entgegenhob – ihr Kopf reichte kaum bis zu seiner Schulter –, und stellte fest, dass er sich überraschend gut an sie erinnern konnte. »Sie hatten gefragt, ob ich derjenige bin, der Verbrechen nachgeht.«
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Ja. Das stimmt.«
Barnaby blinzelte, er war ein wenig atemlos. Denn er konnte sich, wie er feststellte, nach all den Monaten tatsächlich noch daran erinnern, wie ihre schmalen Finger sich in seinen angefühlt hatten. Sie hatten sich nur flüchtig die Hand gegeben; trotzdem stand ihm die Szene glasklar vor Augen, prickelte ihm die Erinnerung förmlich bis in die Fingerspitzen.
Offensichtlich hatte sie Eindruck auf ihn gemacht, selbst wenn es ihm damals nicht besonders bewusst gewesen war. Zu der Zeit hatte er sich auf einen anderen Fall konzentriert, und mehr als an ihr war er daran interessiert gewesen, ihre Aufmerksamkeit abzulenken.
Seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie gewachsen. Allerdings nicht größer geworden. In der Tat, er konnte nicht behaupten, dass sie irgendwo ein paar Zentimeter zugelegt hätte; sie war so wohlgerundet, wie seine Erinnerung sie gemalt hatte. Dennoch hatte sie an Statur gewonnen, an Selbstsicherheit und Zutrauen, und obwohl er daran zweifelte, dass es ihr an Letzterem jemals gefehlt hatte, gehörte sie jetzt zu solchen Ladys, in deren Charakter selbst jeder Dummkopf eine Naturgewalt erblickte, die man nur auf eigenes Risiko herausforderte.
Kein Wunder, dass sie Mostyn aus dem Weg geräumt hatte. Ihr Lächeln hatte sich verflüchtigt. Sie hatte unverhohlen den Blick über ihn schweifen lassen; bei anderen hätte er es als dreist empfunden. Aber sie schien ihn eher intellektuell als körperlich abschätzen zu wollen.
Die rosigen Lippen, verwirrend üppig, pressten sich aufeinander, als hätte sie einen Entschluss gefasst.
Neugierig neigte er den Kopf. »Welchem Anlass verdanke ich diesen Besuch?«
Es war ein ungewöhnlicher, um nicht zu sagen: unter gegebenen Umständen sogar skandalöser Vorfall. Denn sie war eine höchst wohlerzogene Lady im heiratsfähigen Alter, die einen unverheirateten Gentleman, mit dem sie nicht verwandt war, sehr spät in der Nacht aufsuchte. Allein. Ohne Anstandsdame.
Er sollte protestieren und sie fortschicken. Mostyn würde es ganz sicher für richtig halten.
Ihre schönen braunen Augen trafen seinen Blick. Offen, ohne die geringste Spur von Arglist oder Beklommenheit. »Ich möchte, dass Sie mir helfen, ein Verbrechen aufzuklären.«
Er hielt ihren Blick fest.
Sie erwiderte ihm den Gefallen.
Ein bedeutungsschwangerer Augenblick verstrich, dann deutete er elegant auf den zweiten Lehnstuhl. »Bitte setzen Sie sich. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«
Ein Lächeln huschte über ihr ausgesprochen attraktives Gesicht, ließ es sekundenlang atemberaubend aussehen, als sie sich zum Lehnstuhl ihm gegenüber bewegte. »Vielen Dank. Aber nein. Ich fordere nichts außer Ihrer Zeit.« Mit einer Handbewegung schickte sie Mostyn fort. »Sie dürfen sich entfernen.«
Mostyn versteifte sich. Er warf Barnaby einen wütenden Blick zu.
Barnaby unterdrückte ein Grinsen, bekräftigte den Befehl aber mit einem Nicken. Es gefiel Mostyn zwar nicht, doch er verschwand mit einer Verbeugung und ließ die Tür halb angelehnt. Barnaby, der es bemerkte, sagte nichts. Mostyn war bekannt, dass die jungen Ladys auf der Jagd nach seinem Herrn waren, oftmals recht erfindungsreich; offenbar war er überzeugt, dass Miss Ashford ebenfalls solche Pläne geschmiedet hatte. Barnaby wusste es besser. Penelope Ashford mochte sich die klügsten Pläne ausgetüftelt haben, aber Heirat war ganz sicher nicht ihr Ziel.
Während sie ihren Muff auf dem Schoß richtete, ließ er sich in den Lehnstuhl sinken und betrachtete sie aufs Neue.
Sie war die ungewöhnlichste junge Lady, die ihm jemals begegnet war.
Zu diesem Schluss war er bereits gekommen, bevor sie das Wort ergriff. »Mr. Adair«, begann sie, »ich brauche Ihre Hilfe, um vier vermisste Jungen zu finden und um zu verhindern, dass noch mehr entführt werden.«
Penelope hob den Blick und ließ ihn auf Barnaby Adairs Gesicht ruhen. Und gab ihr Bestes, ihn doch nicht anzusehen. Als sie beschlossen hatte, ihn aufzusuchen, hatte sie sich nicht vorstellen können, dass er – oder seine äußere Erscheinung – die geringste Wirkung auf sie ausüben würde. Warum auch sollte sie nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden? Kein Mann hatte es jemals geschafft, ihr den Atem zu rauben. Warum also er? Trotzdem zerrte die Situation spürbar an ihren Nerven.
Allein die welligen Locken seines goldfarbenen Haars auf dem wohlgeformten Kopf, dessen kräftig gebogene Züge und die himmelblauen Augen mit dem durchdringend scharfsinnigen Blick waren zweifellos interessant genug. Aber ganz abgesehen von seiner Miene hatte er etwas an sich, lag irgendetwas in seiner Ausstrahlung, was sie in Verwirrung stürzte.
Dabei war es ein Rätsel, warum er überhaupt ihre Aufmerksamkeit erregen sollte. Er war groß, hochgewachsen mit langen Gliedmaßen, aber doch nicht größer als ihr Bruder Luc. Seine Schultern waren breit, aber doch nicht breiter als die ihres Schwagers Simon. Und ganz bestimmt war er nicht attraktiver als Luc oder Simon, obwohl er sich neben den beiden mit Leichtigkeit hätte behaupten können. Ihr war zu Ohren gekommen, dass man Barnaby Adair als Adonis beschrieben hatte, und sie musste sich eingestehen, dass der Vergleich nicht von der Hand zu weisen war.
All das war vollkommen nebensächlich, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, warum sie überhaupt darauf achtete.
Stattdessen konzentrierte sie sich auf die zahlreichen Fragen, die sich sichtlich hinter seinen blauen Augen zu formen begannen.
»Die fraglichen Jungen sind arm und verwaist. Aus diesem Grund bin ich bei Ihnen und nicht etwa ein Heer wütender Eltern.«
Er runzelte die Stirn.
Penelope zupfte sich die Handschuhe von den Fingern und verzog kaum merklich das Gesicht. »Am besten, ich fange ganz von vorn an.«
Er nickte. »Das würde die Angelegenheit sicher deutlich erleichtern, namentlich mir das Verständnis.«
Sie legte die Handschuhe auf dem Muff ab. Ihr war nicht klar, ob sie seinen Tonfall guthieß, beschloss aber, sich nicht darum zu kümmern. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber meine Schwester Portia … inzwischen ist sie mit Simon Cynster verheiratet … und drei weitere Ladys aus den höheren Kreisen haben mit mir zusammen ein Findelhaus eröffnet. In Bloomsbury, gleich gegenüber dem Waisenhospital. Das war Anfang der 1830er-Jahre. Seither ist das Haus in Betrieb, nimmt verwaiste Kinder auf, meistens aus dem East End, und bildete sie zu Zofen oder Lakaien aus, neuerdings auch in verschiedenen Gewerben.«
»Bei unserer letzten Begegnung haben Sie Sarah nach ihrer Ausbildung der Waisenkinder gefragt.«
»In der Tat.« Penelope hatte nicht gewusst, dass er die Unterhaltung angehört hatte. »Meine ältere Schwester Anne, jetzt Anne Carmarthen, ist auch involviert. Aber seit ihrer Eheschließung und den Haushalten, die sie zu führen haben, müssen Anne und jüngst auch Portia sich in der Zeit einschränken, die sie im Findelhaus verbringen. Die anderen drei Ladys haben gleichermaßen viele gesellschaftliche Verpflichtungen. Folglich bin ich zurzeit mit der Führung und Aufsicht in der täglichen Verwaltung des Hauses betraut. In dieser Funktion suche ich Sie heute Nacht auf.«
Sie verschränkte die Hände über den Handschuhen und schaute ihn an, hielt seinen steten Blick fest. »Die gewöhnliche Prozedur sieht vor, dass die Kinder durch die Behörden auf amtlichem Weg in die Obhut des Waisenhauses gegeben werden. Oder durch den letzten überlebenden Vormund.«
Penelope hielt kurz inne. »Letzteres ist recht üblich. Es kommt oft vor, dass ein sterbender Verwandter, der erkennt, dass sein Mündel schon bald allein auf der Welt sein wird, die Verbindung zu uns herstellt. Wir machen einen Besuch und treffen die notwendigen Vorkehrungen. Üblicherweise bleibt das Kind bis zum Schluss bei seinem Vormund. Dann werden wir über dessen Tod informiert, oft durch hilfsbereite Nachbarn. Wir kommen ins Haus, holen das Waisenkind und bringen ihn oder sie ins Findelhaus.«
Er nickte, gab zu verstehen, dass er bis hierher verstanden hatte.
Sie atmete scharf ein, spürte, wie ihre Lungen sich füllten und ihr Tonfall vor Wut schneidend wurde, als sie fortfuhr. »Im vergangenen Monat ist es uns bei vier verschiedenen Gelegenheiten passiert, dass uns irgendein Mann zuvorgekommen ist, als wir einen Jungen abholen wollten. Der Mann hatte den Nachbarn erklärt, dass er von der örtlichen Behörde käme. Aber es gibt kein Amt, dessen Aufgabe es ist, Waisenkinder einzusammeln. Wenn es eines gäbe, wüssten wir Bescheid.«
Adairs blaue Augen blickten messerscharf. »War es immer derselbe Mann?«
»Könnte sein, nach allem, was ich gehört habe. Könnte aber auch anders sein.«
Penelope wartete, während er nachdachte, biss sich auf die Zunge und zwang sich, still zu sitzen und seinen konzentrierten Gesichtsausdruck zu beobachten, anstatt nervös herumzuzappeln.
Sie war versucht, ihn zu bestürmen und zu verlangen, dass er handeln solle, ihm sogar vorzuschreiben, wie. Denn sie war es gewohnt zu führen, die Verantwortung zu tragen und die Befehle zu erteilen, die sie für passend hielt. Gewöhnlich behielt sie recht mit ihren Überlegungen, und gewöhnlich waren die Leute viel besser dran, wenn sie einfach das taten, was sie angeordnet hatte. Aber … sie brauchte Barnaby Adairs Hilfe, und ihr Instinkt mahnte sie dringend, umsichtig vorzugehen. Mehr zu leiten, als zu drängen.
Zu überzeugen, anstatt zu befehlen.
Sein Blick war in die Ferne geschweift, richtete sich jetzt aber abrupt auf ihr Gesicht. »Sie kümmern sich um Jungen und Mädchen. Sind es nur Jungen, die vermisst werden?«
»Ja.« Sie nickte bekräftigend. »In den vergangenen Wochen haben wir zwar mehr Mädchen als Jungen aufgenommen, aber dieser Mann will nur Jungen.«
Ein paar Sekunden verstrichen. »Vier hat er an sich genommen. Erzählen Sie mir etwas über jeden Einzelnen. Fangen Sie beim Ersten an, mit allem, was Sie wissen, jedes Detail, ganz gleich, wie belanglos es scheinen mag.«
Barnaby beobachtete sie, während sie in die Erinnerung eintauchte; der dunkle Blick kehrte sich nach innen, die Züge wurden weicher und verloren ein wenig ihre typische Lebhaftigkeit.
Sie atmete tief ein, richtete den Blick starr auf das Feuer, als ob sie die Geschichte aus den Flammen ablesen könne. »Der erste Junge stammte aus der Chicksand Street in Spitalfields, jenseits der Brick Lane nördlich der Whitechapel Road. Er war acht Jahre alt, hat uns sein Onkel jedenfalls erzählt. Er, der Onkel, lag im Sterben, und …«
Barnaby lauschte, während sie, nicht ganz zu seiner Überraschung, seiner Forderung genau nachkam und ausführlich in allen Einzelheiten über jedes Ereignis berichtete, wann, wo und wie es geschehen war. Anders als bei den üblichen Befragungen musste er weder ihr noch ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.
Er war den Umgang mit den Ladys aus den Salons gewohnt, war es gewohnt, die jungen Damen zu verhören, deren Geist unruhig hin und her sprang, das Thema einzukreisen versuchte, förmlich um die Tatsachen herumflitzte und tanzte, sodass er salomonische Weisheit und eine geradezu göttliche Ruhe aufbringen musste, um ein Verständnis dessen zu gewinnen, was sie wirklich wussten.
Penelope Ashford war aus anderem Holz geschnitzt. Ihm war zu Ohren gekommen, dass sie ein Heißsporn sein sollte, jemand, der sich keinen Pfifferling um soziale Schranken scherte, wenn diese Schranken ihr den Weg versperrten. Er hatte gehört, dass sie klüger war, als es ihr guttat, dass sie offen und unverblümt den Finger in eine Wunde legen konnte – und dass die Mischung dieser Charaktereigenschaften üblicherweise als Begründung dafür herhalten musste, dass sie noch unverheiratet war.
Weil sie auf ungewöhnliche Art attraktiv war – nicht hübsch oder schön, aber so lebhaft, dass sie mühelos die Blicke der Männer auf sich zog –, weil sie als Tochter eines Viscounts über ausgezeichnete Verbindungen verfügte und weil ihr Bruder Luc, der gegenwärtig den Titel führte, überaus wohlhabend war und sie mit einer mehr als angemessenen Mitgift ausstatten konnte, mochte die weitverbreitete Einschätzung durchaus zutreffend sein. Ihre Schwester Portia hatte jüngst Simon Cynster geheiratet; während Portia sich in der Gesellschaft eher umsichtig verhielt, konnte Barnaby sich erinnern, dass die Cynster-Ladys, auf deren Urteil er in solchen Dingen vertraute, wenig Unterschiede zwischen Portia und Penelope ausmachen konnten, wenn man Penelopes unverblümte Art außer Acht ließ.
Und, wenn er sich recht erinnerte, ihren unbezwingbaren Willen. Zwar hatte er die Schwestern nicht oft erlebt. Aber schon nach den wenigen Begegnungen hätte auch er behauptet, dass Portia sich weit eher einer anderen Auffassung beugen oder doch wenigstens auf Verhandlungen einlassen würde als Penelope.
»Und es war genau wie bei den anderen. Als wir an jenem Vormittag in die Herb Lane gefahren sind, um Dick zu holen, war er fort. Morgens um sieben ist er von diesem mysteriösen Mann eingesammelt worden, kurz nach Sonnenaufgang.«
Ihr Bericht war zu Ende. Sie löste den zwingenden dunklen Blick vom Feuer und schaute ihn an.
Einen Moment lang erwiderte Barnaby ihren Blick, nickte dann bedächtig. »Irgendwie gelingt es also dieser Gruppe … lassen Sie uns annehmen, es sei eine Gruppe, die die Jungen abholt …«
»Ich kann nicht erkennen, dass es mehr als eine Gruppe sein soll. Noch nie ist so etwas vorgekommen, und jetzt gibt es vier Fälle in weniger als einem Monat. Und alle nach derselben Vorgehensweise.« Sie musterte ihn mit hochgezogenen Brauen.
»Genau«, stieß er knapp hervor, »wie ich bereits erwähnte, scheinen diese Leute, wer auch immer es sein mag, über Ihre baldige Verantwortung für die Kinder Bescheid zu wissen …«
»Bevor Sie den Verdacht äußern, dass die Männer ihre Informationen über die Jungen aus Kreisen innerhalb des Findelhauses erfahren, lassen Sie mich versichern, dass es höchst unwahrscheinlich ist. Wenn Sie die beteiligten Menschen kennen würden, würden Sie verstehen, warum ich mir so sicher bin. Außerdem, nur weil ich mit unseren vier Fällen zu Ihnen gekommen bin, heißt es noch lange nicht, dass nicht noch mehr frisch verwaiste Jungen aus dem East End verschwinden. Es gibt zahlreiche Waisen, auf die wir nicht aufmerksam gemacht werden. Es mag also viel mehr verschwundene Kinder geben, nur wer sollte Alarm schlagen?«
Barnaby starrte sie unumwunden an, während ihre Schilderung in seinem Kopf langsam Gestalt annahm.
»Ich hatte auf Ihre Zustimmung gehofft«, sagte sie, und das Licht spiegelte sich auf ihren Brillengläsern, als sie den Blick senkte und die Handschuhe glatt strich, »sich den letzten Fall anzusehen, zumal Dick erst heute Morgen entführt worden ist. Mir ist bekannt, dass Sie gewöhnlich nur in den Salons ermitteln. Aber ich habe mich auch gefragt, ob Sie vielleicht ein wenig Zeit für unser Problem erübrigen können, denn es ist November, und viele aus unseren Kreisen sind auf dem Lande beschäftigt.« Penelope hob den Kopf und schaute ihn an; es lag nicht die geringste Zaghaftigkeit in ihrem Blick. »Natürlich könnte ich mich selbst kümmern …«
Barnaby hatte größte Mühe, nicht zu reagieren.
»… aber ich dachte, es könnte unter Umständen schneller zu einer Lösung führen, wenn ich jemand beauftrage, der in solchen Angelegenheiten erfahren ist.«
Penelope hielt seinen Blick fest und hoffte, dass er so scharfsinnig war, wie man es von ihm behauptete. Und wieder tat es ihrer Erfahrung nach nur selten weh, wenn man offen sprach. »Um es in aller Deutlichkeit zu sagen, Mr. Adair, ich bin hier, weil ich Hilfe brauche, um unseren verlorenen Mündeln auf die Spur zu kommen – und nicht, weil ich irgendjemanden nur über deren Verschwinden informieren und anschließend die Hände in den Schoß legen wollte. Ich habe die unverrückbare Absicht, so lange nach Dick und den anderen drei Jungen zu suchen, bis ich sie gefunden habe. Und ich würde es vorziehen, jemanden an meiner Seite zu wissen, der mit Verbrechen seine Erfahrungen gemacht hat und mit den notwendigen Ermittlungsmethoden vertraut ist. Mehr noch, im Verlauf unserer Arbeit werden wir unvermeidlich im East End zu tun haben, sodass meine Fähigkeiten, in jenem Gebiet an Informationen zu gelangen, eingeschränkt sind.«
Sie hielt inne und ließ den Blick fragend über sein Gesicht schweifen. Sein Ausdruck gab wenig preis: Die breite Stirn, die geraden braunen Brauen, seine starken und markanten Wangenknochen und die eher strengen Züge der Wangen und des Kiefers blieben fest und ließen nichts erkennen.
Penelope breitete die Hände aus. »Ich habe unsere Lage beschrieben. Werden Sie uns helfen?«
Zu ihrer Verwirrung antwortete er nicht sofort. Sprang nicht ein, ließ sich zu nichts hinreißen, noch nicht einmal von der Vorstellung, dass sie auf eigene Faust durch das East End marschierte.
Aber er weigerte sich auch nicht. Verbrachte längere Zeit damit, sie mit undurchdringlicher Miene zu beobachten; so lange, dass sie sich fragte, ob er ihren Trick durchschaut hatte. Dann rührte er sich, lehnte sich mit den Schultern bequem in den Stuhl und deutete einladend auf sie. »Wie hatten Sie sich unsere Ermittlungen vorgestellt?«
Sie verbarg ihr Lächeln. »Ich dachte, dass Sie dem Waisenhaus morgen einen Besuch abstatten, falls Sie die Zeit erübrigen können, um einen Eindruck von unserer Arbeit zu gewinnen und die Kinder zu sehen, die wir zu uns nehmen. Dann …«
Barnaby hörte zu, während sie eine sehr kluge Strategie entwickelte, die ihn mit den wesentlichen Fakten so weit vertraut machen würde, dass er bestimmen konnte, in welche Richtung die Ermittlungen führen würden und wie man folglich am besten vorgehen solle.
Er behielt sie im Blick, während ihr überaus vernünftige Worte über die rubinroten Lippen perlten, üppige, reife und verwirrende Lippen, und er sah sich bestätigt, dass Penelope Ashford gefährlich war. Genauso gefährlich, wie ihr Ruf es von ihr behauptete, wenn nicht noch gefährlicher.
In seinem Fall ganz sicher noch gefährlicher, gemessen an der Faszination, die ihre Lippen auf ihn ausübten.
Außerdem bot sie ihm etwas an, was keine junge Lady ihm jemals zuvor unter die Nase gehalten hatte.
Einen Fall. Just in dem Augenblick, in dem er nichts dringender gebrauchen konnte als einen Fall.
»Ich hoffe, dass Sie in der Lage sein werden, einen Vorschlag über den weiteren Weg der Ermittlungen zu machen, nachdem wir mit dem Nachbarn gesprochen haben, der bezeugen kann, wie Dick abgeholt wurde.«
Ihre Lippen hörten auf, sich zu bewegen. Er hob den Kopf und suchte ihren Blick. »Allerdings.« Er zögerte; es lag auf der Hand, dass sie die Absicht hatte, die treibende Kraft in den folgenden Ermittlungen zu sein. Wenn man bedachte, dass er ihre Familie kannte, gehörte es zweifellos zu seinen Pflichten und zu seiner Ehre, sie von einem solch waghalsigen Unternehmen abzubringen. Aber es war ebenso unzweifelhaft, dass jeder Vorschlag, sich doch an den heimischen Herd zurückzuziehen und ihm die Verbrecherjagd zu überlassen, auf härtesten Widerstand treffen würde. Er senkte den Kopf. »Wie der Zufall es will, bin ich morgen noch frei. Vielleicht könnten wir uns vormittags im Waisenhaus treffen?«
Er würde sie aus den Ermittlungen herausdrängen, sobald er sämtliche Fakten kannte und alles in Erfahrung gebracht hatte, was sie über diese seltsame Angelegenheit wusste.
Ihr strahlendes Lächeln brach wieder einmal in seine Gedanken.
»Ausgezeichnet!« Penelope raffte ihre Handschuhe und den Muff zusammen, erhob sich. Sie hatte erreicht, was sie erreichen wollte. Höchste Zeit also, das Haus zu verlassen. Bevor er irgendetwas sagen konnte, was sie nicht hören wollte. Auf keinen Fall jetzt einen Streit vom Zaun brechen. Nicht in diesem Moment.
Er erhob sich ebenfalls und begleitete sie zur Tür. Sie ging voran und zog sich auf dem Weg die Handschuhe an. Barnaby hatte die zauberhaftesten Hände, die sie je an einem Mann gesehen hatte, mit langen Fingern, elegant und überaus verwirrend. Sie hatte seine Finger noch aus der früheren Begegnung in Erinnerung, weshalb sie ihm zur Begrüßung nicht die Hand geboten hatte.
Neben ihr durchquerte er die Eingangshalle. »Steht Ihre Kutsche draußen?«
»Ja.« Vor der Tür blieb sie stehen und schaute zu ihm auf. »Sie wartet vor dem Nachbarhaus.«
Seine Lippen zuckten. »Verstehe.« Der Butler lungerte in der Halle herum. Barnaby winkte ihn zu sich heran und griff nach dem Türknauf. »Ich werde Sie begleiten.«
Penelope senkte den Kopf und trat hinaus auf die schmale Veranda, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Ihre Nerven vibrierten, als er sich ihr anschloss. Groß und beinahe überwältigend männlich führte er sie die drei Stufen zum Gehsteig hinunter und dann dorthin, wo die Stadtkutsche ihres Bruders mit einem geduldigen Kutscher auf dem Bock wartete.
Adair griff nach dem Kutschenschlag, öffnete und bot ihr die Hand. Penelope hielt den Atem an, als sie ihm die Finger reichte – und bemühte sich verzweifelt, nicht die Empfindung zu registrieren, die sich einstellte, als ihre schlanken Finger in seine viel größeren gehüllt wurden, versuchte, nicht auf die Wärme seines festen Griffs zu achten, als er ihr in die Kutsche half.
Und versagte.
Sie hielt den Atem an, bis er ihre Hand losließ. Konnte nicht atmen. Dann sank sie auf den Ledersitz, brachte ein Lächeln zustande und nickte. »Danke, Mr. Adair. Wir sehen uns morgen Vormittag.«
Mit durchdringendem Blick musterte er sie in der Dunkelheit, verabschiedete sie mit erhobener Hand, trat zurück und schloss die Tür.
Der Kutscher ließ die Zügel klatschen, der Wagen ruckte an und rollte dann gleichmäßig davon. Seufzend lehnte Penelope sich zurück und lächelte in die Dunkelheit hinein. Zufrieden und mit einem Hauch Arroganz. Sie hatte Barnaby Adair für ihren Fall rekrutiert, und trotz ihres beispiellosen Gefühlsausbruchs hatte sie die Begegnung über die Bühne gebracht, ohne ihre innere Aufgewühltheit zu offenbaren.
Alles in allem konnte sie die Nacht als Erfolg verbuchen.
Barnaby stand im wabernden Nebel auf der Straße und schaute der davonfahrenden Kutsche nach. Nachdem das Rattern der Räder verklungen war, drehte er sich lächelnd zur Tür.
Während er die Treppe hinaufstieg, stellte er fest, dass seine Stimmung sich gebessert hatte. Seine frühere Niedergeschlagenheit hatte sich verflüchtigt und einer gespannten Erwartung Platz gemacht, was der nächste Tag wohl bringen würde.
Und das hatte er Penelope Ashford zu verdanken.
Nicht nur, dass sie ihm einen Fall anvertraut hatte, der ihn über die Grenzen seiner üblichen Ermittlungen hinausführen, ihn deshalb höchstwahrscheinlich herausfordern und sein Wissen erweitern würde; es war viel bedeutsamer, dass noch nicht einmal seine Mutter die Übernahme der Ermittlungen missbilligen würde.
In Gedanken verfasste er bereits den Brief, den er früh am nächsten Morgen an sie schreiben wollte. Leise pfeifend betrat er das Haus und ließ Mostyn die Tür hinter sich verriegeln.
»Guten Morgen, Mr. Adair. Miss Ashford hat uns angewiesen, Sie zu empfangen. Die Lady befindet sich im Büro. Wenn Sie bitte hier entlangkommen wollen …«
Barnaby überschritt die Schwelle des Findelhauses und blieb stehen, bis die sauber gekleidete Frau mittleren Alters, die auf sein Klopfen hin geöffnet hatte, die schwere Eingangstür wieder schloss und den oberen Riegel vorschob.
Sie drehte sich weg und gab ihm ein Zeichen mit der Hand. Er folgte ihr auf dem Weg durch das große Foyer und einen langen Korridor mit Räumen an der rechten und linken Seite. Auf den schwarz-weißen Fliesen verursachten ihre Schritte nur ein schwaches Echo. Die schmucklosen Wände waren in einem blassen cremefarbenen Gelb gestrichen. Baulich schien das Haus in bestem Zustand zu sein; allerdings gab es nicht die geringste Dekoration, auch keine bescheidenen Verzierungen, weder Bilder an der Wand noch Teppiche auf den Fliesen.
Nichts, was über die Tatsache hinwegtäuschte, dass es sich um eine Anstalt handelte.
Ein rascher Blick von der gegenüberliegenden Seite der Straße hatte ein großes älteres Herrenhaus gezeigt, weiß gestrichen, mit zwei Stockwerken über dem Erdgeschoss und einem Dachboden, in der Mitte ein großer Block, der von zwei Flügeln flankiert wurde. Vor jedem Flügel befand sich ein großer Kiesgarten, der durch ein schmiedeeisernes Gatter vom Gehsteig getrennt wurde. Ein schmaler, schnurgerader Pfad führte vom schweren Tor am Eingang zur Veranda vor der Tür.
Soweit Barnaby den Bau hatte begutachten können, strotzte er vor solider Sachlichkeit.
Er konzentrierte sich wieder auf die Frau vor ihm. Obwohl sie keine Uniform trug, erinnerte ihr schneller, entschlossener Schritt ihn an die Hausdame von Eton, auch wegen der Art, wie sie den Kopf wendete, um einen raschen Blick auf die Jungen in jedem Zimmer zu werfen, an dem sie vorbeikamen.
Er schaute ebenfalls in die Zimmer, entdeckte Kinder verschiedenen Alters, die gruppenweise auf dem Boden oder um Tische herumsaßen und mit gespannter Aufmerksamkeit den vorlesenden und unterrichtenden Frauen lauschten; in einem Fall auch einem Mann.
Schon längst hatte die Frau, der er folgte, ihren Schritt verlangsamt und war vor einer Tür stehen geblieben, als er begann, seine Notizen zu Penelope Ashford gedanklich zu ergänzen. Es war der Anblick der Kinder – ihrer rötlichen runden Gesichter mit unauffälligen Zügen, des ordentlich geschnittenen, aber unfrisierten Haars, der anständigen, aber schlichten Kleidung –, der ihm die Augen öffnete. Denn er sah Kinder, die überaus anders zu sein schienen als die, mit denen sie beide gewöhnlich zu tun hatten.
Indem sie sich für diese machtlosen, verwundbaren und unschuldigen Wesen engagierte, die einer ganz anderen gesellschaftlichen Sphäre angehörten, verlor Penelope sich nicht in einer schlichten, selbstlosen Geste. Nein, indem sie die Grenzen dessen weit überschritt, was die Gesellschaft bei einer Lady ihres Standes für ein angemessenes wohltätiges Engagement halten würde, riskierte sie sogar – wissentlich, wie er überzeugt war – die Missbilligung der Salons.
Sarahs Waisenhaus und Penelopes Verbindung zu ihm hatten nichts damit zu tun, was sie hier tat. Sarahs Kinder waren auf dem Lande erzogen worden, waren Kinder von Farmern und ansässigen Familien, die sich auf den herrschaftlichen Anwesen verdingten, dort lebten und arbeiteten. Adel verpflichtet, dachte er, Grund genug, sich um jene Kinder zu kümmern.
Aber die Kinder im Findelhaus entstammten den Slums und endlosen Mietskasernen in London, hatten keinerlei Verbindung zur Aristokratie, und die Familien schlugen sich eher schlecht als recht durchs Leben, kämpften mit allen Mitteln für ihr tägliches Brot.
Und manchmal würde dieser Kampf einem wohlwollend prüfenden Blick nicht standhalten können.
Die Frau winkte ihn mit einer Handbewegung durch die Tür.
»Miss Ashford erwartet Sie im hinteren Büro, Sir. Wenn Sie bitte eintreten wollen?«
Auf der Schwelle des Vorzimmers hielt Barnaby inne. Drinnen saß eine adrette Frau mit gesenktem Kopf an einem schmalen Schreibtisch, der vor einer Phalanx verschlossener Schränke stand, und sortierte eifrig einen Stapel Papiere. Sanft lächelnd dankte Barnaby seiner Begleitung, überschritt die Schwelle und betrat das Heiligtum.
Die Tür stand ebenfalls offen.
Leise näherte er sich, hielt inne und linste hinein. Penelopes Büro – »Hausverwaltung« war auf einem Messingschild an der Tür zu lesen – war ein strenges, schmuckloses Viereck mit weißen Wänden. An der Wand befanden sich zwei große Schränke, vor dem Fenster ein großer Tisch und zwei Stühle mit gerader Lehne. Penelope saß auf dem Stuhl hinter dem Tisch und konzentrierte sich auf einen Stapel Papiere. Die dunklen Brauen über ihrer kleinen geraden Nase hatten sich zu einer beinahe waagerechten Linie verzogen, als sie kaum merklich die Stirn runzelte.
Er bemerkte, dass sie die Lippen fest und beinahe unfreundlich zusammengepresst hatte.
Sie trug ein dunkelblaues Straßenkleid; die blaue Farbe betonte ihren porzellanzarten Teint und das füllige tiefbraune Haar. Natürlich bemerkte er den rötlichen Schimmer in der üppigen Pracht.
Er hob die Hand und klopfte einmal an die Tür. »Miss Ashford?«
Sie schaute auf. Einen Moment lang blieben ihr Blick und ihre Miene verständnislos, dann blinzelte sie, erinnerte sich und winkte ihn herein. »Mr. Adair. Willkommen im Findelhaus.«
Kein Lächeln, notierte Barnaby in Gedanken, wie erfrischend.
Vollkommen geschäftlich.
Ungezwungen betrat er das Büro und blieb neben einem Stuhl stehen. »Vielleicht können Sie mir das Haus zeigen und auf dem Spaziergang meine Fragen beantworten.«
Penelope dachte kurz über seinen Vorschlag nach, richtete den Blick auf die Papiere vor sich. Er konnte förmlich hören, wie sie mit sich zurate ging, ob sie ihn mit ihrer Gehilfin auf die Tour schicken sollte. Aber dann presste sie die rubinroten Lippen, die zu ihrer faszinierenden natürlichen Fülle zurückgefunden hatten, wieder fest zusammen, legte den Stift zur Seite und stand auf. »In der Tat. Je schneller wir die verschwundenen Jungen finden können, desto besser.«
Sie umrundete den Tisch und verließ den Raum mit schnellem Schritt. Barnaby hatte die Brauen kaum merklich hochgezogen, drehte sich um und heftete sich ihr an die Fersen, wiederum folgte er einer Frau, obwohl sie ihn diesmal nicht im Geringsten an eine gestrenge Hausdame erinnerte.
Trotzdem verursachte sie eine beachtliche Betriebsamkeit, als sie das Vorzimmer durchquerte. »Das ist meine Gehilfin, Miss Marsh. Sie ist selbst einmal ein Findelkind gewesen. Jetzt arbeitet sie bei uns und sorgt dafür, dass unsere Akten in Ordnung sind.«
Barnaby lächelte über die mausgraue junge Frau, die errötend den Kopf neigte und sich gleich wieder über ihre Papiere beugte.
Während er Penelope in den Korridor folgte, überlegte er, dass die Bewohner des Findelhauses in ihren Mauern sicher nur selten einen Gentleman der feinen Gesellschaft zu Gesicht bekamen.
Er beschleunigte seinen Schritt und hielt sich neben Penelope, die ihn tiefer ins Haus führte, mit ausgreifenden, beinahe männlichen Schritten, die eine deutliche Geringschätzung gegenüber dem eleganten, anmutigen Dahingleiten, das gerade in Mode gekommen war, auszudrücken schienen. Er suchte ihren Blick. »Gibt es viele Ladys der Gesellschaft, die Sie in Ihrer Arbeit hier unterstützen?«
»Nein, nicht viele.« Es dauerte einen Moment, bis sie fortfuhr.
»Es kommen nur wenige. Portia, wenn ich sie darum bitte, oder die anderen wie unsere Mütter und Tanten, die uns in der Absicht besuchen, ihre Dienste anzubieten.«
Als der nächste Korridor kreuzte, der in den anderen Flügel führte, blieb sie stehen und drehte sich zu ihm. »Die Besucher kommen, sie schauen sich um … und gehen dann wieder fort. Die meisten stellen sich vor, vor den Gassenjungen die gute Fee spielen zu können, sofern die armseligen Wesen entsprechend dankbar sind.« Ein boshaftes Lächeln glitzerte in ihren Augen; sie drehte sich wieder weg und deutete den Flügel hinunter. »Aber das haben wir hier nicht zu bieten.«
Noch bevor sie die offene Tür drei Zimmer weiter den Korridor hinunter erreicht hatten, war der Krach unüberhörbar.
Penelope riss die Tür weit auf. »Jungs!«
Der Lärm brach so abrupt ab, dass die Stille beinahe schmerzte.
Zehn Jungen, ungefähr zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr, erstarrten mitten im Gewühl eines allgemeinen Ringkampfes, rissen Augen und Münder weit auf, als sie begriffen, wer hereingekommen war, rempelten sich an, als sie sich in einer Linie aufstellten, und bemühten sich um ein unschuldiges Lächeln, das trotz allem sehr aufrichtig wirkte. »Guten Morgen, Miss Ashford!«, riefen sie im Chor.
Penelope bedachte sie mit einem strengen Blick. »Wo ist Mr. Englehart?«
Die Jungen wechselten Blicke, bis der größte schließlich das Wort ergriff. »Er ist nur für ein paar Minuten ausgetreten, Miss.«
»Ich bin mir sicher, dass er euch eine Arbeit aufgegeben hat, nicht wahr?«
Die Jungen nickten. Wortlos kehrten sie an ihre Tische zurück, halfen den beiden wieder auf, die zu Boden gegangen waren, griffen nach Kreide und Schiefertafel, setzten sich und machten sich wieder an ihre Aufgaben. Bei einem Blick über die Schultern der Jungen stellte Barnaby fest, dass sie gerade Addition und Subtraktion lernten.
Das Geräusch entschlossener Schritte echote über den Korridor. Sekunden später erschien ein ordentlich gekleideter Mann um die dreißig in der Tür.
Er betrachtete die Jungen und Penelope, grinste und sagte: »Für einen kurzen Moment hatte ich die Befürchtung, sie hätten sich gegenseitig umgebracht.«
Gedämpftes Gelächter ertönte in der Klasse. Englehart nickte Penelope zu, musterte Barnaby neugierig und eilte nach vorn in das Zimmer. »Kommt schon, Jungs. Noch drei Reihen Addition, dann könnt ihr nach draußen gehen.«
Die Jungen stöhnten unterdrückt, beugten sich aber über ihre Tafeln. Nicht nur einer stieß mit der Zungenspitze gegen die Zähne.
Einer hob die Hand, Englehart ging zu ihm und schaute sich an, was der Schüler auf die Tafel geschrieben hatte.
Penelope ließ den Blick über die Gruppe schweifen und schloss sich dann Barnaby unmittelbar an der Tür an. »Englehart kümmert sich um die Jungen dieses Alters und bringt ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Die meisten lernen wenigstens genug, um eine bessere Arbeit zu verrichten als die eines niedrigen Burschen, während andere es sogar zu einer Lehre in verschiedensten Berufen bringen.«
Barnaby nickte, als er die Ernsthaftigkeit der Jungen im Umgang mit Englehart und umgekehrt bemerkte.
Er folgte Penelope nach draußen. »Englehart scheint genau die richtige Wahl für diese Arbeit.«
»Das ist er. Er ist auch Waise, aber sein Onkel hat ihn zu uns gebracht und ihn ausbilden lassen. Der Mann arbeitet in leitender Position in einer Anwaltskanzlei. Der Anwalt weiß um unser Haus, weshalb er es Englehart gestattet, uns sechs Stunden pro Woche zur Verfügung zu stellen. Für andere Fächer haben wir andere Lehrer. Die meisten verrichten ihre Arbeit freiwillig. Das bedeutet, dass sie sich wirklich um ihre Schüler kümmern und gewillt sind, das Beste aus einer Situation zu machen, die wohl kaum jemand als ideal bezeichnen würde.«
»Es scheint, als hätten Sie beachtliche und sehr nützliche Unterstützung gewinnen können.«
Sie zuckte die Schultern. »Wir haben Glück gehabt.«
Barnaby vermutete, dass das Glück sich nicht zufällig einstellte, wenn diese Frau sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. »Was ist mit den Verwandten, die ihre Mündel hierher überstellen … kommen die Leute vorher ins Haus, um es zu besichtigen?«
»Wer es noch kann, macht es meistens auch. Aber in jedem Fall schauen wir uns das Kind und dessen Vormund bei ihm zu Hause an.« Sie hob den Kopf und blickte ihn an. »Es ist wichtig, dass wir wissen, aus welchem Umfeld sie stammen und woran sie gewöhnt sind. Viele sind anfangs verängstigt, wenn sie zu uns kommen. Denn für sie ist es eine neue und oftmals fremde Umgebung mit unbekannten Sitten und merkwürdigen Gebräuchen. Wenn wir wissen, woran sie gewöhnt sind, können wir ihnen helfen, sich hier zurechtzufinden.«
»Sie machen die Besuche.« Er fragte nicht, sondern stellte eine Behauptung auf.
Penelope hob das Kinn. »Ich trage die Verantwortung. Also muss ich auch Bescheid wissen.«
Er konnte sich keine andere junge Lady vorstellen, die willentlich dorthin ging, wo sie hingehen musste. Es war nicht zu leugnen, dass jegliche Vermutungen über sie, über ihr Verhalten oder ihre Reaktionen, sofern man sich am durchschnittlichen Verhalten der jungen Ladys der guten Gesellschaft orientierte, bestens geeignet waren, sie völlig falsch einzuschätzen.
Sie führte ihn weiter, stoppte bei diesem oder jenem Klassenzimmer, zeigte ihm die Schlafsäle, die zurzeit leer standen, das Krankenzimmer und das Esszimmer, hielt einen kleinen Vortrag über ihre Arbeitsweise und stellte ihn dem Kollegium vor, das ihnen auf dem Weg begegnete. Er sog alles in sich auf, genoss es, die Menschen zu studieren – denn er hielt sich selbst für einen ausgezeichneten Menschenkenner –, und je mehr er sah, desto faszinierter war er, am meisten von Penelope Ashford.
Sie besaß einen starken Willen, war dominant, aber nicht tyrannisch, voller Geistesgegenwart und Scharfsinn, engagiert und hingebungsvoll – am Ende ihrer Tour hatte er genug gesehen, um sich seines Urteils sicher zu sein. Und er konnte hinzufügen, dass sie gereizt reagierte, wenn man sie drängte, selbstherrlich, wenn man sie herausforderte, und leidenschaftlich bis ins Mark, was er besonders dann jedes Mal feststellte, wenn sie mit Kindern umging. Er hätte einen Eid schwören können, dass sie jeden Namen kannte und die Geschichte eines jeden der achtzig Kinder, die sich unter dem Dach des Hauses aufhielten.
Irgendwann waren sie wieder im Foyer des Hauses angekommen. Penelope fiel nichts ein, was sie ihm noch hätte zeigen müssen, um ihm die Bedeutsamkeit der Angelegenheit vor Augen zu führen. Denn er war erfrischend aufmerksam und offenbar fähig, die Lage einzuschätzen, ohne dass man ihm jede Einzelheit minutiös erläutern musste. Sie hielt inne und schaute ihn an. »Gibt es noch irgendetwas, was Sie über die Vorgänge bei uns wissen müssten?«
Einen Moment lang erwiderte er ihren Blick und schüttelte dann den Kopf. »Zurzeit nicht. Alles scheint geradlinig, wohlüberlegt und bestens eingerichtet zu sein.« Er betrachtete das Haus. »Auf der Grundlage dessen, was ich vom Kollegium habe sehen können, stimme ich zu, dass sehr wahrscheinlich niemand aus diesem Kreis in die Sache involviert ist und auch keine Informationen an die … in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, an die Entführer weitergereicht hat.«
Wieder fixierte er sie mit seinen blauen Augen. Penelope gab sich die größte Mühe, so zu tun, als würde sie nicht merken, dass er sie eindringlich musterte.
»Mein nächster Schritt wird mich an den Ort des letzten Verschwindens führen. Ich will die ansässigen Leute befragen, will wissen, was sie wissen.« Er schenkte ihr ein überaus bezauberndes Lächeln. »Wenn Sie mir die Adresse geben, muss ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«
Ihre Augen wurden schmal, und sie biss die Zähne fest zusammen. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf wegen meiner Zeit. Bis wir die vier Jungen zurückhaben, ist diese Angelegenheit wichtiger als alles andere. Selbstverständlich werde ich Sie zur Unterkunft von Dicks Vater begleiten. Abgesehen von allen anderen Gründen, die mich zu diesem Entschluss bewogen haben, sind Sie den Nachbarn nicht bekannt, weshalb die Leute kaum bereit sein werden, sich mit Ihnen zu unterhalten.«
Barnaby hielt ihren Blick fest. Sie fragte sich, ob sie jetzt wohl in einen Streit ausbrechen würden, denn ihr war vollkommen klar, dass Streit sich nicht immer würde vermeiden lassen … aber er senkte den Kopf. »Wie Sie wünschen.«
Das letzte Wort ging im Getrappel der Schritte auf dem Korridor unter. Penelope wirbelte herum und entdeckte die Hausdame Mrs. Keggs. »Bitte, Miss Ashford, wenn Sie ein paar Minuten erübrigen könnten, bevor Sie das Haus verlassen.« Mrs. Keggs blieb stehen und fügte hinzu: »Es geht um die Besorgungen für die Schlafsäle und das Krankenzimmer. Ich muss heute dringend die Bestellung aufgeben.«
Penelope verbarg ihren Ärger – nicht über Mrs. Keggs, deren Notwendigkeit zu einem Gespräch unabweisbar war, sondern über den unglücklichen Zeitpunkt. Würde Adair die Verzögerung als Vorwand nutzen, um sie aus den Ermittlungen zu drängen? Sie drehte sich wieder zu ihm. »Es wird mich nicht mehr als zehn … vielleicht fünfzehn Minuten kosten«, kündigte sie an, fragte nicht, ob er warten könne, sondern fuhr gleich fort: »Danach können wir uns auf den Weg machen.«
Immer noch hielt er ihren Blick fest. Sie konnte nichts in seinen blauen Augen erkennen, außer dass er sie abschätzte, prüfte. Dann zuckten seine Mundwinkel, nicht wie bei einem Lächeln, sondern als ob er sich innerlich amüsierte.
»Ausgezeichnet.« Die Eingangstür war inzwischen geöffnet, die lärmenden Stimmen der Jungen drangen ihnen ans Ohr, und er deutete mit dem Kopf in die Richtung. »Ich warte draußen, schaue mir Ihre Mündel an.«
Sie war viel zu erleichtert, um noch fragen zu können, was genau er beobachten wolle, und nickte rasch. »Ich bin in Kürze bei Ihnen.«
Penelope gab ihm keine Gelegenheit, noch einmal seine Meinung zu ändern, drehte sich zu Mrs. Keggs und eilte mit ihr zusammen über den Korridor zu ihrem Büro.
Barnaby schaute ihr nach, vermerkte wohlwollend den forschen Schwung ihrer Hüften, während sie entschlossen über den Flur schritt, lächelte noch unverhohlener als zuvor und ging hinaus in den düsteren Tag.
Draußen auf der Veranda ließ er den Blick nach rechts schweifen. Ein ganzer Schwarm Jungen und Mädchen, ungefähr fünf und sechs Jahre alt, jagten einander lachend und kreischend durch den Garten, während sie sich mit weichen Bällen bewarfen. Bei einem Blick nach links entdeckte er eine ähnliche Anzahl Jungen, alle in einem Alter zwischen sieben und zwölf, zu denen die vermissten Kinder sehr gut gepasst hätten.
Er trat die Stufen hinunter und lenkte seine Schritte in Richtung dieser Gruppe. Es war nichts Bestimmtes, wonach er Ausschau hielt; aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es oftmals scheinbar belanglose Informationsfetzen waren, die sich für die Lösung des Falls als entscheidend erwiesen.
Er lehnte sich gegen die Mauer und ließ den Blick über die Gruppe schweifen. Es gab Jungen in allen möglichen Größen und Gestalten, einige plump, untersetzt und zupackend, andere dürr und schlank. Die meisten bewegten sich frei und unbefangen im Spiel, einige wenige hinkten, und ein Junge zog den Fuß nach.
Jede vergleichbare Kindergruppe aus der besseren Gesellschaft wäre körperlich einheitlicher gewesen, in den Gesichtszügen ähnlicher und mit gleich langen Gliedmaßen.
Und doch gab es eine Sache, die Kinder der besseren Gesellschaft nicht nur untereinander, sondern mit den Kindern dieser anderen gesellschaftlichen Sphäre teilten, und das war eine gewisse Sorglosigkeit, die man bei armen Kindern normalerweise nicht fand. In dieser Sorglosigkeit spiegelte sich das Vertrauen in ihre Sicherheit, darin, dass sie ein Dach über dem Kopf hatten und einen ordentlichen Lebensunterhalt, nicht nur heute, sondern ebenso morgen und für die vorhersehbare Zukunft.
Diese Kinder waren glücklich, viel glücklicher, als viele ihrer Altersgenossen es jemals sein würden.
Auf der Bank an der gegenüberliegenden Seite des Spielplatzes saß ein Betreuer und las ein Buch, ließ aber hin und wieder den Blick über seine Mündel schweifen.
Irgendwann gesellte sich einer der Jungen – ein sehniges, ungefähr zehn Jahre altes Kerlchen mit einem wieselartigen Gesicht – zu Barnaby. Er wartete, bis Barnaby den Blick auf ihn senkte, bevor er fragte: »Sind Sie der neue Betreuer?«
»Nein.« Offenbar erwartete der Junge weitere Erklärungen, sodass er hinzufügte: »Ich bin Miss Ashford in einer gewissen Angelegenheit behilflich. Ich warte auf sie.«
»Oh«, stieß der Junge hervor, während ein zweiter zu ihnen kam, einen Blick auf seine Freunde warf und sich mutig genug fühlte, ihn zu fragen: »Was sind Sie dann?«
Der dritte Sohn eines Earls. Barnaby grinste, versuchte sich vorzustellen, wie die Jungen darauf wohl reagieren würden. »Ich helfe Menschen, Sachen zu finden.«
»Welche Sachen?«
Normalerweise Verbrecher. »Besitztümer. Oder Menschen, die verloren gegangen sind.«
Einer der älteren Jungen runzelte die Stirn. »Ich dachte, das machen die Bobbys. Aber Sie sind kein Bobby.«
»Nee«, mischte sich ein weiterer Junge ein, »die Polizei ist sowieso dafür da zu verhindern, dass Sachen geklaut werden. Geklaute Sachen zu finden, das ist was anderes.«
Weisheiten aus dem Munde von Kleinkindern.
»Also …«, der erste Junge musterte ihn abwägend, »erzählen Sie uns eine Geschichte, wie Sie mal geholfen haben, eine Sache zu finden.« Sein Tonfall ließ die Worte eher hoffnungsvoll flehend als fordernd klingen.
Barnaby ließ den Blick über die Gesichter der Jungen schweifen, war sich vollkommen bewusst, dass jeder Einzelne seine Kleidung und deren Qualität registriert hatte, und überlegte. Eine Bewegung im Garten lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Der Betreuer hatte das Interesse der Jungen an Barnaby bemerkt, schaute ihn mit hochgezogenen Brauen an und fragte stumm, ob er gerettet zu werden wünschte.
Barnaby schickte ein beruhigendes Lächeln zurück und schaute sein Publikum an. »Die erste Sache, die ich geholfen habe wiederzufinden, war das Smaragdcollier der Herzogin von Derwent. Es ging auf einer privaten Festlichkeit im Hause der Derwents verloren …«
Sie bombardierten ihn förmlich mit Fragen; es wunderte ihn nicht, dass das Fest selbst, das herzogliche Anwesen und wie die »Snobs« sich amüsierten, im Mittelpunkt ihres Interesses stand. Smaragde hingegen spielten in ihrer Welt keine Rolle. Aber Menschen faszinierten sie, wie auch er von Menschen fasziniert war, und als er ihre Reaktionen auf seine Antworten beobachtete, musste er innerlich lachen.
In ihrem Büro bemerkte Penelope, dass Mrs. Keggs’ Aufmerksamkeit nachließ und auf irgendetwas hinter ihrer linken Schulter gelenkt war. »Ich denke, das sollte für die nächsten Wochen reichen.«
Sie legte ihren Stift beiseite und klappte den Deckel des Tintenfasses zu. Das Geräusch riss Mrs. Keggs aus ihrer Ablenkung zurück.
»Ah, vielen Dank, Miss.« Mrs. Keggs griff nach dem unterschriebenen Zettel, den Penelope ihr reichte. »Ich werde die Bestellung zu Connelly bringen und lasse noch heute Nachmittag ausliefern.«
Penelope lächelte und entließ Mrs. Keggs mit einem Nicken. Sie schaute zu, wie die Frau sich erhob, knickste und nach einem letzten Blick aus dem Fenster in Penelopes Rücken aus dem Büro eilte.
Sie schwenkte auf ihrem Stuhl herum, warf ebenfalls einen Blick hinaus – und entdeckte Adair, der von einer Gruppe Jungen förmlich gefangen gehalten wurde.
Entspannt beobachtete sie die Szene und registrierte ihre Überraschung. Trotz allem, was sie über ihn gehört hatte, hatte sie niemals erwartet, dass Adair die notwendigen Fähigkeiten oder sogar die Neigung besaß, frei und offen mit Menschen aus den unteren Ständen umzugehen; ganz sicher nicht so frei und offen, dass er sich je dazu herabließe, einen Haufen Kinder zu unterhalten, die um ein Haar in der Gosse gelandet wären.
Sein Lächeln schien allerdings aufrichtig.
Penelope war ängstlich und vorsichtig gewesen, als sie ihn aufgesucht hatte, und diese Ängstlichkeit ließ ein wenig nach. Die anderen Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands hielten sich außerhalb Londons auf. Obwohl sie den Vorstand über die ersten drei verschwundenen Jungen informiert hatte, hatte sie sie nicht über den jüngsten Fall benachrichtigt. Und auch nicht darüber, dass sie vorhatte, Mr. Barnaby Adairs Hilfe in Anspruch zu nehmen. Was das betraf, hatte sie auf eigene Faust gehandelt. Sie war überzeugt, dass Portia und Anne ihre Entscheidung unterstützen würden; bei den anderen dreien war sie sich nicht so sicher. Denn Barnaby hatte sich den Ruf erworben, der Polizei zu helfen, insbesondere die Angehörigen der besseren Gesellschaft vor Gericht zu bringen. Bemühungen, die nicht auf ungeteilte Zustimmung der Salons trafen.
Entschlossen legte sie die Handflächen auf die Stuhllehne und erhob sich. »Es kümmert mich nicht«, erklärte sie ihrem leeren Büro, »um die Jungen zurückzubekommen, würde ich noch nicht einmal die helfende Hand meines Erzfeindes ausschlagen.«
Die Drohungen der Gesellschaft hatten keinerlei Macht über sie. Andere Bedrohungen dagegen …
Mit schmalen Augen beobachtete sie die große elegante Gestalt, umringt von der bunt gemischten Gruppe. Und gestand sich zögernd ein, dass diese Gestalt in gewisser Hinsicht eine Bedrohung für sie darstellte. In der Tat …
Für ihre Sinne, ihre plötzlich kribbelnden Nerven … und die noch nie da gewesene Launenhaftigkeit ihres Hirns. Noch nie war es einem Mann gelungen, ihre Gedanken durcheinanderzubringen.
Noch nie hatte ein Mann sie dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn er …
Sie drehte sich wieder zu ihrem Tisch und schloss das Bestellbuch.
Nachdem sie gestern sein Haus verlassen hatte, hatte sie sich eingeredet, dass das Schlimmste nun überstanden war. Dass, wenn sie ihm das nächste Mal begegnete, seine Wirkung auf ihre Sinne sich schon verflüchtigt haben würde. Oder zumindest abgeflaut wäre. Stattdessen hatte sie feststellen müssen, dass sie keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen konnte, als sie aufgeschaut, ihn im Türrahmen entdeckt und den überaus eindringlichen Blick aus seinen blauen Augen bemerkt hatte.
Es hatte sie echte Anstrengung gekostet, ihre Miene ausdruckslos zu halten und so zu tun, als wäre sie in Gedanken ganz woanders gewesen.
Es lag auf der Hand, dass sie sich innerlich wappnen, dass sie eine Art Rüstung anlegen musste, wenn sie wünschte, dass er an ihrer Seite ermittelte. Oder noch mehr …
Ihr war der Gedanke unerträglich, dass er wusste, wie tief er sie berührt hatte, und die Mundwinkel langsam zu diesem eigensinnig arroganten, unglaublich männlichen Lächeln verzog …
Sie presste die Lippen aufeinander und wiederholte mit fester Stimme: »Wie auch immer, es interessiert mich nicht.«
Penelope zog das Retikül und die Handschuhe aus der Schreibtischschublade und eilte mit erhobenem Kinn zur Tür.
Und zu dem Mann, den sie als Champion des Findelhauses engagiert hatte.
»Auf Geheiß von Dicks Vater haben Mrs. Keggs und ich ihm vor zwei Wochen einen Besuch abgestattet.« Durch das Fenster der Droschke betrachtete Penelope die vorbeifliegenden Straßenzüge. Draußen vor dem Findelhaus hatten sie die Droschke angehalten, der Kutscher hatte sie zufrieden aufgenommen, und nun ratterten sie zügig in Richtung Osten.
Die Geschwindigkeit verlangsamte sich, nachdem sie in das enge, überfüllte Gängeviertel eingebogen waren, das man in London das »East End« nannte. Es handelte sich um eine Ansammlung baufälliger Häuser, die auf Tuchfühlung errichtet worden waren, Mietskasernen, Läden und Lagerhäuser, die ursprünglich in den Dörfern draußen vor der alten Stadtmauer entstanden waren. Mit den Jahrhunderten hatten sich die provisorischen Gebäude zu einem ärmlichen, düsteren, unangenehm feuchten Mischmasch zerbrechlicher Wohnstätten entwickelt.
Clarkenwell, die Gegend, in die sie jetzt fuhren, war nicht ganz so schlimm, nicht ganz so überfüllt und bedrohlich wie andere Teile des East Ends.
»Er … Dicks Vater, Mr. Monger … litt an Auszehrung.« Sie schwankte, als die Droschke in die Farrington Road bog. »Es war klar, dass er sich nicht erholen würde. Der ansässige Arzt, ein gewisser Mr. Snipe, war auch dort. Er war es auch, der uns über Mr. Mongers Tod benachrichtigt hat.«
Adairs Miene verdüsterte sich immer mehr, seit sie in die ärmlicheren Straßen eingebogen waren. »Gestern Vormittag haben Sie Snipes Nachricht erhalten?«
»Nein. Schon am Abend zuvor. Monger ist gegen sieben Uhr gestorben.«
»Sie sind nicht im Findelhaus gewesen.«
»Nein.«
Er drehte sich zu ihr und schaute sie an. »Aber wenn es anders gewesen wäre …«
Schulterzuckend wandte sie den Blick ab. »Abends bin ich niemals dort.«
Nachdem vier Jungen entführt worden waren, hatte sie inzwischen Anweisung gegeben, dass die Nachricht vom Tod eines Vormunds ihr unverzüglich gemeldet werden solle, wo auch immer sie sich gerade aufhielt. Wenn es das nächste Mal ein Waisenkind abzuholen galt, würde sie sich die Kutsche ihres Bruders leihen, dazu seinen Kutscher und einen Burschen, und würde ins East End eintauchen, ganz gleich, wie spät es schon war … aber sie sah keinen Grund, ihre derzeitige Begleitung in ihren Entschluss einzuweihen.
Sie wusste, dass Adair mit ihrem Bruder Luc, der sie immer beschützt hatte, mindestens bekannt war, und es fiel ihr nicht schwer zu erraten, was ihm wohl durch den Kopf ging – dass Luc es unmöglich gutheißen konnte, wenn sie ihren Fuß in solche Gegenden setzte, noch dazu mehr oder weniger allein und am späten Abend.
Damit hatte Barnaby vollkommen recht. Luc ahnte nur entfernt, welche Pflichten ihr als Hausverwalterin auferlegt waren. Und sie zog es vor, ihn nicht aus seiner Ahnungslosigkeit aufzustören.
Bei einem Blick aus dem Fenster stellte sie erleichtert fest, dass sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten. »In diesem Fall haben drei Nachbarn den Mann, der Dick am Tag nach Mongers Tod abgeholt hat, gesehen und mit ihm gesprochen. Ihre Beschreibung des Mannes passt auf die Beschreibung, die die Nachbarn in den vorangegangenen drei Fällen gegeben hatten.«
Die Kutsche fuhr so langsam, dass sie beinahe stehen geblieben war, und bog dann schwerfällig in eine Gasse ein, die fast zu eng für den Wagen war.
»Endlich sind wir da.« Sie drängte nach vorn, kaum dass das Gefährt angehalten hatte. Aber Adair war schneller, schnappte nach dem Griff der Kutschentür, zwang sie zurückzuweichen, bis er geöffnet hatte.
Beim Aussteigen blockierte er den Ausstieg, während er sich umschaute.
Sie biss sich auf die Zunge und unterdrückte den Impuls, ihm heftig zwischen die Schulterblätter zu stoßen. Sehr schöne Schultern, gekleidet in einen modischen Übermantel, aber trotzdem waren sie ihr im Weg … sie musste sich darauf beschränken, sie anzustarren.
Irgendwann rührte er sich, so langsam und bedächtig, als wäre er sich gar nicht bewusst, was er tat. Trat zur Seite und bot ihr die Hand. Sie vergaß nicht ihre Manieren, riss sich zusammen und überließ ihm ihre Finger. Nein, die Wirkung seiner Berührung, das verstörende Gefühl seiner langen, starken Finger, die sich besitzergreifend um ihre schlossen, hatte sich nicht verflüchtigt. Bissig mahnte sie sich, dass er nur auf ihre Bitte hin erschienen war, auch wenn er viel zu viel Platz in ihrem Leben beanspruchte und ihren Geist verwirrte, ließ es zu, dass er ihr hinunterhalf, und löste rasch ihre Finger aus seinen.
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, machte sie ein paar Schritte nach vorn, gestikulierte in Richtung der Hütte vor ihnen. »Dort hat Mr. Monger gelebt.«
Natürlich hatte ihre Ankunft die Aufmerksamkeit der Menschen erregt. Gesichter drückten sich an die verschmierten Scheiben, Hände schoben Lappen beiseite, wo nie eine Scheibe gewesen war.
Sie betrachtete das Gebäude nebenan, vor dem ein Holztisch stand. »Mr. Mongers Nachbar ist Flickschuster. Er und sein Sohn haben den Mann gesehen.« Barnaby bemerkte das verwahrloste Individuum, das sie von einem Überstand aus beobachtete, unter dem der Tisch des Flickschusters aufgebaut war. Penelope ging zu ihm, er folgte ihr auf dem Fuße. Falls sie das Elend und den Dreck um sich herum überhaupt bemerkte, ganz zu schweigen von dem Gestank, ließ sie sich nichts anmerken.
»Mr. Trug.« Penelope nickte dem Schuster zu, der wachsam den Kopf senkte. »Das ist Mr. Adair, ein Experte, wenn es darum geht, seltsamen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen. Wie zum Beispiel Dicks Verschwinden. Ich frage mich, ob ich Sie bewegen kann, ihm zu erzählen, was das für ein Mann war, der gekommen ist und Dick mitgenommen hat.«
Trug linste Barnaby an, und der wusste auf Anhieb, was dem Mann durch den Kopf ging: Was versteht ein feiner Pinkel wie der vom Verschwinden eines Gassenjungen?
»Mr. Trug? Darf ich Sie bitten? Wir wollen Dick so schnell wie möglich wiederfinden.«