Im Frühling singt zum letzenmal die Lerche - Johannes Mario Simmel - E-Book

Im Frühling singt zum letzenmal die Lerche E-Book

Johannes Mario Simmel

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Beschreibung

Dieser Roman ist das Ergebnis dreijähriger intensiver Beschäftigung mit dem wohl wichtigsten Thema unserer Zeit,der globalen Zerstörung unserer Umwelt. Er erzählt vom Kampf einer kleinen Gruppe, die versucht, die ökologische Katastrophe aufzuhalten, und macht deutlich, daß es noch nicht zu spät ist, unsere Erde zu retten.

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Johannes Mario Simmel

Im Frühling singt zum letzenmal die Lerche

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologErstes Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelZweites Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelDrittes Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelViertes Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelEpilogDank

Frau Universitätsdozent

Dr. Ilse Kryspin-Exner gewidmet,

voll Bewunderung für ihre Person

und ihren Beruf,

sich der Sorgen und Ängste

von Menschen anzunehmen

und in ihnen Hoffnung,

Mut und Kraft zu wecken.

Jeder von uns kann in seiner Welt etwas verändern.

Dabei genügt es nicht, nur aus Vergangenem zu lernen.

Ebenso wichtig ist es, mögliche katastrophale Folgen

von Handlungen vorwegzunehmen. Das bleibt die einzige

Chance des Menschen, Unheil abzuwenden.

 

J. M. S.

[home]

Prolog

»Der Mensch sollte sich auf der Erde

leichtfüßig bewegen und möglichst

wenige Spuren hinterlassen.«

 

Aus diesem Buch

 

 

»Ein Anstieg der Welttemperatur

auch um nur drei Grad Celsius

würde das Weltklima in einen Bereich

jenseits der menschlichen

Erfahrungen katapultieren.

Ein Belastungszustand der Atmosphäre,

der einen solchen Klimasprung

unausweichlich macht,

ist bereits um das Jahr 2030

zu erwarten –

das ist von jetzt an nicht länger,

als der Zweite Weltkrieg zurückliegt.«

 

Dr. Kate Matthews,

Biophysikerin

 

 

Auf die Frage ihres Vaters, ob sie wahnsinnig geworden sei, antwortete die achtzehnjährige Susanne Marvin, einen Stapel Blusen aus ihrem Kleiderschrank hebend und in einen offenen Koffer werfend: »Ich bin vollkommen normal. Wenn einer wahnsinnig ist, dann bist es du.«

»Warum willst du hier sofort ausziehen?«

Dr. Markus Marvin war vor wenigen Minuten nach Hause gekommen.

»Weil ich mit dir nicht eine Stunde länger unter einem Dach leben kann.« Susanne nahm weitere Blusen aus dem Schrank und packte sie in den Koffer, der auf dem Bett lag. Neben ihm lag ein zweiter. »Was hast du genommen?«

»Was, was habe ich genommen?«

»Drogen. Geht’s damit jetzt auch noch los bei dir?«

»Bei mir geht gar nichts los. Drogen werde ich niemals nehmen.« Pullover und Unterwäsche flogen in den ersten Koffer. Susanne war in Eile.

»Verflucht noch mal, sag mir, was du hast!«

»Ich habe genug«, sagte das schlanke Mädchen mit dem brünetten Haar und den grauen Augen. »Ich hab’ die Nase voll von dir und deinen Freunden. Ich kriege kaum noch Luft, seitdem du da bist. So sehr gehofft habe ich, du kommst erst später und ich bin schon weg. Daß mein Vater da mitmacht, war schon schlimm genug für mich. Daß er auch bei dieser Riesensauerei mitmacht, kommt selbst für mich unerwartet. Ohne die ›Frankfurter Rundschau‹ hättet ihr das doch weiter verschwiegen!«

»Ach so«, sagte Dr. Markus Marvin. Plötzlich fühlte er sich todmüde. Schwer ließ er sich auf das zerwühlte Bett fallen. »Das meinst du. Hätte ich mir denken können. Laß diese blödsinnige Packerei! Wir haben überhaupt nichts verschwiegen.«

»Ihr habt nichts …« Sie begann hysterisch zu lachen.

»Lach nicht! Wir, die Aufsichtsbehörde im Hessischen Umweltministerium, haben überhaupt nichts verschwiegen. Nicht einen Tag! Nicht eine Stunde! Der Betreiber hat uns den Störfall mit einer falschen Klassifizierung gemeldet, nämlich mit der niedrigsten. Weil wir ein schlechtes Gefühl hatten, gingen wir der Sache nach, rekonstruierten die Geschichte und stellten fest, daß das kein Fall N, sondern ein Fall E gewesen ist. Du sollst mit der Packerei aufhören!« Er warf einen der beiden Koffer auf den Boden. Wäsche fiel heraus. Vor dem Haus am stillen Heideweg auf dem Sonnenberg in Wiesbaden donnerten fünf schwere japanische Motorräder vorbei. Junge Männer in schwarzen Lederanzügen und mit bunten Sturzhelmen saßen auf ihnen.

»Heute haben wir den fünften Februar 1988. Am sechsten Februar 1987, also vor einem Jahr – vor einem Jahr! –, hat es einen äußerst schweren Störfall im Block A von Biblis gegeben«, sagte Susanne Marvin mit ungemein ruhiger Stimme, aber ihre Hände zitterten, als sie den Koffer aufhob und die Wäsche wieder hineinstopfte.[1] »Im Kühlkreislauf des Reaktors war ein Ventil nicht geschlossen. Radioaktiver Dampf strömte damals ins Freie. Drei Schichten der Bedienungsmannschaft haben fünfzehn Stunden lang – fünfzehn Stunden lang! – die Warnlampen nicht bemerkt. Die ›Rundschau‹ schreibt, es bestand die Gefahr der Kernschmelze.[1] Die Betreiber haben euch einen N-Fall gemeldet, ja? Einen Normal-Fall. Ihr habt fünf Monate gebraucht, um einen E-Fall daraus zu machen, einen Eilt-Fall. Und heute, ein Jahr später, kommt – aber nur durch die Zeitungsmeldung – heraus, daß wir um ein Haar an einem Super-GAU vorbeigeschrammt sind bei diesem gottverfluchten AKW! Du sollst meinen Koffer in Ruhe lassen! Wenn du ihn noch einmal anrührst, hau ich hier ohne Nachthemd ab. Daß alle Atomkraftwerke Todesfallen sind, wissen wir. Darum protestieren wir ja seit Jahren gegen sie – ich noch dazu mit so einem Vater! Aber daß ihr den phantastischen Zynismus habt, diesen Fast-Super-GAU ein Jahr lang geheimzuhalten und jetzt zu tun, als wäre ein Stückchen Beton runtergefallen, das ist so infam, daß ich nur noch eines weiß: Ich muß weg hier. Weg von dir. So schnell ich kann!«

Dr. Markus Marvin, ein schlanker Mann von zweiundvierzig Jahren mit schmalem Gesicht und schwarzem Haar, in dem sich mehrere Wirbel befanden, so daß es ständig ungekämmt wirkte, brüllte plötzlich: »Es hat niemals, zu keinem Zeitpunkt, die Gefahr eines Super-GAUs bestanden! Niemals die Gefahr einer Kernschmelze!«

»Hör auf mit dieser Brüllerei!« sagte Susanne. »Hättest besser woanders und vor einem Jahr gebrüllt. Aber da hast du schön das Maul gehalten. Die ›Rundschau‹ hat einen Artikel aus einer amerikanischen Fachzeitschrift abgedruckt …«

»Maul? Susanne, so wirst du nicht mit deinem Vater sprechen, verstanden? So nicht!«

»… in dem die Ansicht der amerikanischen Atomaufsichtsbehörde über diesen Störfall zitiert wurde.« Susanne riß Kleider, Kostüme und Strumpfhosen aus dem großen Schrank und warf alles mit immer schnelleren Bewegungen in die beiden Koffer. »Die amerikanische Atomaufsichtsbehörde erklärte, in Biblis hätte es zu einer Kernschmelze kommen können.«

»Das weiß ich selber.« Marvin war nun um Ruhe und Beherrschung bemüht. »Mit Wonne haben die das dramatisiert. Uns eins anhängen – ist doch ihr Schönstes! Haben sie schon x-mal getan. Susanne, ich flehe dich an, hör auf mit dieser Packerei! Vor elf Jahren hat mich deine Mutter verlassen! Du bist alles, was ich habe.«

»Was du hast? Gehabt hast! Ich haue ab. Hätte ich längst tun müssen. Mit einem Vater, der zur Atom-Mafia gehört!«

»Ich verbiete dir …«

»Du verbietest mir gar nichts! Glaubst du, es macht mir Spaß, so was zu sagen? Ein Mitglied der Atom-Mafia habe ich zum Vater! Bei der Aufsichtsbehörde arbeitet er! Angeblich eingerichtet zur strengsten Überwachung. Überwachung – ein Witz ist das! Längst gekauft seid ihr von dieser Mafia! Was habt ihr noch alles verschwiegen? Wie viele andere Fast-Super-GAUs? Wieviel hast du genommen dafür, daß du mitmachst bei diesen mörderischen Lumpen?«

»Wenn du dich dafür nicht sofort entschuldigst, dann …« Marvin war aufgesprungen.

»Ja, ja, ja, was dann?« Nun schrie auch Susanne. Schwer atmend standen sie einander gegenüber, das Bett zwischen sich. »Schlägst du mich dann? Dann mußt du mich schon totschlagen, wenn du willst, daß ich mich entschuldige. Nie, nie tu ich das! Jetzt sehe ich erst, was für einen feinen Charakter du hast. Jetzt erst verstehe ich Mama. Eure Behörde hat geschwiegen, das kannst du nicht bestreiten!«

»Zuerst! Weil wir vom Betreiber zuerst einen Normal-Fall gemeldet bekamen. Von denen gibt’s inzwischen vier-, fünftausend. Wenn wir die jedesmal bekanntgegeben hätten …«

»Wäre es längst aus mit euerm Geschäft.«

»… wären wir unverantwortliche Panikmacher.« Marvin keuchte. »Was glaubst du, was Tag für Tag im Flugverkehr an N-Fällen passiert? Geben die Piloten das den Passagieren bekannt?«

»Ihr habt aber doch herausgefunden, daß es ein E-Fall war.«

»Ja, das haben wir herausgefunden. Wir!«

»Nach fünf Monaten. Laß die Schuhe los! Du sollst die Schuhe loslassen!« Sie schlug nach ihm.

Er wich zurück. »Susanne …«

»Hör auf mit ›Susanne‹! Dabei war es von Anfang an ein S-Fall! Ein Sofort-Fall! Die Kernschmelze …«

»Es hat zu keiner Zeit auch nur die geringste Gefahr einer Kernschmelze gegeben, zum Teufel noch mal!«

»Das weißt du ganz genau, ja?«

»Das weiß ich ganz genau, ja! Unsere AKWs sind so gebaut, daß sie selbst bei menschlichem Versagen sicher bleiben.«

»Deshalb konnte auch radioaktiver Dampf austreten. Deshalb habt ihr das ein Jahr lang verheimlicht. Und hättet es für alle Zeit verheimlicht, wenn die Amis nicht gekommen wären mit ihrer Meldung. Menschliches Versagen! Wie viele Menschen haben denn damals versagt?« Susanne hatte immer neue Kleidungsstücke in den ersten Koffer gepreßt und versuchte nun, ihn zu schließen. Sie sprang auf das Bett, kniete auf dem Deckel, kämpfte mit den Schlössern. Dabei schrie sie weiter: »Fünfzehn Stunden zucken Alarmleuchten! Zwei Bedienungsschichten ignorieren das, sehen es nicht, pfeifen drauf! Was haben denn die genommen? Drogen? Schnaps? Waren die alle total high?«

»Susanne …«

»Die dritte Schicht, offenbar nur halb duhn, merkt endlich etwas, tut prompt das Falsche – und erst im letzten Moment gelingt es, ein Tschernobyl mal tausend zu verhindern. So sicher sind eure AKWs gegen menschliches Versagen! Und nachdem all das passiert ist, stuft der Betreiber es in die niedrigste Kategorie ein. Weißt du, wie die Menschen auf der Straße, wie die Öffentlichkeit so etwas findet?«

Er stotterte: »Die Öffentlichkeit … natürlich … die Öffentlichkeit ist darüber mit Recht in höchstem Maß beunruhigt …«

»Beunruhigt! Hast du die Interviews in den Zwanzig-Uhr-Nachrichten gehört? Umbringen möchten sie euch, jeden einzelnen von euch! Und mit Recht!«

»Susanne! Bitte! Durch uns ist die Schwere des Störfalls doch überhaupt erst bekanntgeworden! Wir haben Verfahren in die Wege geleitet. Sie werden zur Bestrafung der Verantwortlichen führen.«

»Das glaubst du doch nie im Leben!«

»Davon bin ich überzeugt. Dazu ist unsere Behörde da.«

»Selbstgerecht bis zum Verrecken. Ihr habt euch nichts vorzuwerfen. Keiner hat sich etwas vorzuwerfen. Ein Sofort-Fall! Und was ist geschehen bis heute? Wurde der Betreiber bestraft? Nein! Wird er jemals bestraft werden? Nie! Unsere Politiker scheißen auf die Menschen. Sie sind genauso gekauft wie ihr. Noch mehr! Für mich ist die ganze Republik gekauft. Von der Atom-Mafia, von Krupp, von Thyssen, von den Stromern, von der Deutschen Bank.«

»Du bist grotesk! Unsere Aufgabe war es, zu prüfen und zu informieren. Das haben wir getan. Der Fall ist in den Gremien ausgiebig diskutiert worden, zum Beispiel im Plenum der Reaktor-Sicherheitskommission. Unter Beteiligung aller Verantwortlichen. Die einzelnen Bundesländer haben unsere Mitteilungen erhalten. Es sind auf der technischen und auf der personellen Seite sofort Schritte unternommen worden, damit so etwas nie mehr vorkommen kann.«

»Aua!« Sie hatte sich einen Finger eingeklemmt.

»Laß dir helfen!«

»Rühr mich nicht an! Rühr den Koffer nicht an!« Das erste Schloß war zugeschnappt. Susanne kniete über dem zweiten. »In den Nachrichten vorhin hat sogar der Kraftwerksdirektor von Biblis die Möglichkeit eines ›Größten Anzunehmenden Unfalls‹ zugegeben. Und da willst du dabei bleiben, daß am Unfalltag richtig gehandelt worden ist? Der ARD-Korrespondent in Washington sagte, in Amerika wäre sofort eine Untersuchungskommission eingesetzt worden.«

»Herrgott, genauso war es doch bei uns! Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit hat eingegriffen. Wir haben den TÜV beauftragt. Das sind die Gremien, an die wir uns zu wenden haben.«

»Noch einmal, bevor ich wirklich wahnsinnig werde: Du hältst es also für richtig, daß das Bundesumweltministerium von einem solchen Beinahe-Super-GAU, der im Februar 1987 passiert ist, erst im Februar 1988 erfährt?«

»Wir haben nicht das Bundesumweltministerium zu informieren, sondern die Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Wie oft soll ich das noch sagen? Übrigens wurde inzwischen vereinbart, daß wir in Zukunft auch das Umweltministerium sofort verständigen werden. Aber wir – wir, wir, wir! – waren es damals, die den Fall in seinem ganzen Umfang aufdeckten.«

»Vater?« Susanne kletterte vom Bett. Sie hatte jetzt beide Koffer geschlossen.

»Ja?«

»Du kotzt mich an.«

»Susanne … Bitte, Susanne …« Sie schleppte die Koffer zur Tür. Er trat ihr in den Weg. »Nicht … Bitte … Bitte, laß mich nicht allein!«

Sie ging weiter.

Er hielt sie fest.

Susanne sah ihn lange unverwandt an. Zuletzt verzogen sich ihre Lippen zu einem verächtlichen Lächeln. Er wandte den Kopf und trat zur Seite, denn dieses Lächeln war mehr, als er ertragen konnte. Sie ließ die beiden Koffer die Treppe hinab zur Halle gleiten und stolperte zwischen ihnen her. Nun stand er reglos da. Am Fuß der Treppe drehte Susanne sich um und stellte noch eine Frage. Marvin gab keine Antwort. Sie öffnete die Haustür und ging. Die Tür fiel ins Schloß. Kurze Zeit später heulte der Motor von Susannes VW-Passat auf.

Immer noch stand Markus Marvin so reglos, als wäre er aus Stein. Zuerst meine Frau, dachte er. Nun meine Tochter. Allein. Ganz allein bin ich jetzt. Seit zehn Jahren, seit ich den Regiejob aufgegeben habe, arbeite ich in der Behörde, davon überzeugt, das Richtige zu tun. Alle Kollegen sind davon überzeugt. Alle, die anfingen mit Kernenergie, waren es: Endlich haben wir die Lösung gefunden. Der Segen für die Menschheit ist Kernenergie. Sauber. Unschädlich. Kein Kohlendioxidausstoß. Die Sache in Biblis wurde vertuscht, ja. Aber doch nicht von uns, doch nicht von der Aufsichtsbehörde! Von wem immer sie vertuscht wurde, wer immer Schuld daran trägt – wir tragen keine, ich trage keine. Und doch hat Susanne mich verlassen.

Einmal waren wir eine glückliche Familie. Schöne Gegend. Schönes Haus. Lauter Liebe. Dann ging Elisa. Aber Susanne wurde mir zugesprochen bei der Scheidung. Ich hatte immer noch Susanne. Geliebte Susanne. Ich habe gesehen, wie rings um mich Kinder und Eltern einander nicht mehr verstanden, wie ihre Beziehungen zerbrachen, wie die Kinder revoltierten, wie sie fortgingen. Ich habe Susanne stets jede Freiheit gelassen. Sie kann für Greenpeace arbeiten, sogar für die Antiatombewegung. Alles, alles konnte sie tun, nur damit sie bei mir bleibt. Damit nicht auch ich zu den vielen gehöre, die immer mehr werden, von ihren Kindern verlassen. Nun ist es trotzdem geschehen. Was soll ich machen? Wie soll ich weiterleben?

Marvins Beine trugen ihn plötzlich nicht mehr, er sank auf eine Stufe der Treppe, als er daran dachte, daß seine Tochter ihm zuletzt die schmerzlichste Frage ins Gesicht geschrien hatte, die einem Menschen überhaupt gestellt werden kann:

»Wer um Himmels willen mußt du sein, um so etwas zu tun?«

[home]

Erstes Buch

»Die Geschichte lehrt die Menschen, daß die Geschichte die Menschen nichts lehrt.«

 

Mahatma Gandhi, geboren 1869,

ermordet 1948

1

Die Kuh stand langsam auf, schwankte und fiel um. Ein paar weitere Rinder der Herde erhoben sich, als der Landrover mit den zwei Männern über die große Weide auf sie zurollte.

»Wurden verkrüppelt geboren«, sagte Ray Evans hinter dem Steuer. »Laufen auf den Gelenken, nicht auf den Hufen. Sehen Sie, Mister – wie war der Name? Entschuldigen Sie, ich höre schlecht.«

»Marvin«, sagte der Mann neben ihm. »Markus Marvin.« Er sah elend aus, blaß, müde, traurig, total erschöpft.

»Natürlich. Marvin«, sagte Ray Evans. Er zeigte auf ein besonders verwachsenes Tier, welches überhaupt nicht aufstehen konnte. »Schauen Sie sich das an, Mister Marvin! Ist das nicht zum Heulen? Dabei sind die hier noch lange nicht die schlimmsten. Die schlimmsten werden schon als Kälber von den Kojoten gefressen.«

Zwei der Rinder, die sich erhoben hatten, fielen wieder um.

»Können sich nicht auf den Beinen halten, da haben Sie’s, Mister. Ein Elend ist das. Heulen könnte ich, den ganzen Tag heulen.«

Die Weide lag vor der kleinen Stadt Mesa auf der rauhen Hochebene im östlichen Teil des Bundesstaates Washington, der an Kanada grenzt. Hier bläst der Wind stets aus Südwest. Der Windrichtung nach befindet sich Mesa dem riesigen Atomreservat von Hanford am nächsten. Alles, was von den kommerziellen Reaktoren, den Versuchsendlagern, den Tritium- und Plutoniumfabriken und der Testanlage des Schnellen Brüters an Schadstoffen kommt, trifft den Ort. Der mächtige Columbia River, der um das Reservat herumfließt und mit dessen Wasser die Maisfelder, die Kartoffeläcker, die Weiden, Weingärten und Obstplantagen hier oben fruchtbar gemacht werden, ist dem Ausstoß der Anlagen von Hanford genauso ausgesetzt wie Mesa.

Anschwellendes Dröhnen ließ die Luft erzittern. Marvin sah nach oben. Ein Düsenjet überflog, sehr tief, die gut zwei Dutzend Reaktortürme von Hanford.

»Der landet auf dem Tri-Cities-Airport«, schrie Farmer Ray Evans. »Das hier ist die Einflugschneise.«

»Immer?«

»Ja, wo doch der Wind immer so weht.«

Markus Marvin war mit dem Wagen hierhergekommen, aber er wußte, daß der Tri-Cities-Airport für die Städte Richland, Kennewick und Pasco bestimmt war. Er hatte sich im Landrover umgedreht und erblickte nun die Gebäude und Türme von Hanford. Im hellen, kalten Sonnenlicht dieses Vormittags hatten sie harte, scharfe Umrisse. Marvin sah auf die Uhr. Es war achtundzwanzig Minuten nach elf am 11. März 1988, einem Freitag.

»Tri-Cities ist ein Großflughafen«, schrie er. »Haben die Atomkraftwerke Berstschutz?«

Der riesige Jet brauste über sie hinweg. Fast unerträglich laut war sein Toben nun geworden.

»Viele haben keinen«, brüllte Evans, »glauben wir jedenfalls.«

Marvin starrte den Farmer an. Er war außer sich – seit Tagen. Er hatte entzündete Augen, seine Lippen und seine Hände zitterten, er konnte nur mühsam sprechen. Marvin fühlte sich totenelend. Ich habe es nicht glauben wollen, dachte er. Ich habe gedacht, alle, die so was erzählen, sind Lügner. Dabei haben sie alle die Wahrheit gesagt. Wo immer ich hinkam in den letzten Wochen, habe ich dasselbe erlebt. Die schlimmsten Wochen meines Lebens waren das. Großer Gott, was für eine infame Schweinerei!

Susanne, dachte der müde, blasse Mann. Ach, Susanne.

Gleich nachdem sie ihn verlassen hatte, war er von seiner Behörde losgeschickt worden. Amerikanische Anlagen kennenlernen. Amerikanische Sicherheitssysteme. Große Aufregung herrschte in Deutschland wegen Biblis. Die Behörde wollte wissen, ob es in Amerika bessere Systeme gab als in der Bundesrepublik. Sie hatten ihn allerdings nicht gerade hierhergeschickt, wahrhaftig nicht. Zu den feinen Atomkraftwerken sollte er fliegen. Zu denen, die höchstens ein paar N-Fälle hatten. Er hatte sich nicht an die Reiseroute gehalten. So war er hierhergekommen in den Bundesstaat Washington, in das Atomreservat von Hanford.

Du hast recht, Susanne, dachte er. Alle deine Freunde haben recht. Aber es ist noch viel schlimmer, als ihr wißt, als ihr glaubt. Wie glücklich waren wir einmal, Susanne, ach, wie glücklich.

»Nessun maggior dolore …« Ein Satz von Dante Alighieri fiel ihm plötzlich ein: »Nichts bedeutet mehr Schmerz, als sich im Unglück an Zeiten des Glücks zu erinnern …« Die Zeiten des Glücks, dachte er verloren. Er starrte immer noch den Mann am Steuer an. Cordsamthosen trug der, Stiefel, eine Lederjacke über dem bunten Wollhemd. Marvin war ähnlich gekleidet. Er hielt eine Kamera in der Hand und fotografierte immer wieder. Ich muß es beweisen können in Deutschland, dachte er bebend. Beweisen können muß ich, was ich erzählen werde.

Farmer Ray Evans war siebenunddreißig Jahre alt, er hatte es Marvin gesagt. Er sah aus wie sechzig. Kaum noch ein Haar auf dem Kopf. Das Gesicht von tiefen Falten durchzogen. Glanzlose Augen. Mächtig geschwollene Schilddrüsen. Das haben viele hier, dachte Marvin. Mächtig geschwollene Schilddrüsen.

Am Rande des Atomkomplexes sah Marvin in wenigen Metern Höhe drei kleine Pestizidmaschinen, die ihre Giftwolken auf die Felder sprühten. Das ging so von Morgengrauen bis zur Abenddämmerung, hatte Evans berichtet. Der fuhr noch immer an seinen Tieren vorbei.

»Erinner’ mich genau, was mir vor ein paar Jahren passiert ist«, erzählte er. »Da wurden die Monster geboren in den Ställen. Schafe mit zu kleinem oder manchmal mit zwei Köpfen. Ohne Beine. Ohne Schwänze. Ausgesehen hat’s bei mir wie bei Frankenstein. Nur nicht so gemütlich. Doc, ich meine Doc Clayton, der Veterinär hier, der hat mir immer wieder gesagt, Mann, Ray, du fütterst die Tiere falsch, darum sieht der Nachwuchs so aus. Fucked-up Doc! Ich hab’ schon damals gewußt, warum es so aussieht, mein Jungvieh, das Jungvieh von vielen Farmern hier. Inzwischen wissen’s alle. Strahlung kommt raus da aus den Türmen, massenhaft Strahlung, und die bringt die Tiere um, die bringt die Menschen um, die verseucht den Boden und das Wasser.« Er wies mit einer Hand zu dem Reservat hinüber. »Da, der T-Reaktor, sehen Sie den, Mister?«

»Ja.« Marvin fotografierte.

»In dem haben sie im Krieg das Plutonium für die Nagasaki-Bombe hergestellt. So lange arbeitet das Ding schon. Mehr als vierzig Jahre! Was glauben Sie, was die seither Plutonium brauchten für ihre fucked-up Sprengköpfe, Mister? Mehr als vierzig Jahre strahlt das Ding! Können Sie sich das vorstellen? Mehr als vierzig Jahre dauert diese mörderische Sauerei hier schon.[2] Langzeitstrahlenschäden hat hier alles – Mensch, Tier, Wasser, Erde. Da drüben, in dem N-Reaktor, da haben sie bis Anfang des Jahres auch Plutonium hergestellt für Atomwaffen. Nun haben sie ihn endlich runtergefahren auf cold standby. Wegen Sicherheitsmängeln.« Der Landrover holperte. »Sicherheitsmängel!« sagte Farmer Evans verzweifelt. »Die hatte das beschissene Ding, seit es arbeitete. Hat’s wen gestört all die Jahre? Hell, no, keinen einzigen hat’s gestört! Private Betreiber, nicht? Die, denen das hier gehört, die goddamned bastards, die sich dumm und dämlich verdienen, die wohnen nicht hier, Mister, und ihre Kinder auch nicht.«

Susanne, dachte Marvin, Susanne. Sicher ist diese Art von Energiegewinnung, das war mein Glaube. Einmal in zehntausend Jahren kann – vielleicht – etwas passieren, das ist das Schlimmste, womit man rechnen muß. Einmal in zehntausend Jahren! Vor zwei Jahren ist Tschernobyl hochgegangen. Schlamperei des Ostens, haben alle gesagt, bei uns ist so etwas unmöglich, absolut unmöglich, auch ich habe das gesagt, auch ich, so oft, so oft. Und nun?

»Ja«, sagte der Mann mit den geschwollenen Schilddrüsen, »aber was hat passieren müssen, bevor sie ihn runtergefahren haben, diesen N-Reaktor? Was alles? Bürgerproteste noch und noch. ›Time‹ hat in einer Coverstory Skandal gemacht, ebenso ›Newsweek‹. Und die großen Fernsehstationen. Nachgewiesen haben sie, daß aus dem no-good-fucking N-Reaktor vierzig Jahre lang mehr Strahlung rauskam als aus dem in Tschernobyl. Das müssen Sie sich mal vorstellen, Mister Marvin!« Evans schrie jetzt wieder. »Vierzig Jahre lang! Vierzig Jahre lang mehr als aus Tschernobyl! Was ist das für eine gottverfluchte Dreckswelt, in der Sie jedes Verbrechen begehen können, wenn Sie nur genug Geld haben und ein big shot sind und eine Menge big shots zu Freunden haben? Sie sagen, Sie sind Physiker, Mister. Aber mit der Kamera gehen Sie um wie ein Profi.«

»Ich habe eine Zeitlang Dokumentarfilme gedreht«, sagte Marvin, »aber ich bin Physiker«, fügte er klanglos hinzu.

»Atomphysiker? Ich meine – so einer wie die da drüben?«

»Nein, bei einer Aufsichtsbehörde.«

»Und in Deutschland ist noch nie was passiert? Noch nirgends Strahlung ausgetreten? Sie haben noch keinen Reaktor runterfahren und abschalten müssen?«

»Ein paarmal. Vorübergehend. Kleine Pannen. Absolut im Griff dank der Sicherheitssysteme.« Marvin mußte um jedes Wort kämpfen. Das bringt mich noch um, dachte er. Das bringt mich noch um, all das. Susanne. Susanne. Nichts bedeutet mehr Schmerz …

»Hören Sie auf!« schrie Evans. »Es gibt keine Sicherheit. Nirgendwo auf der Welt. Bei den Russkies nicht und nicht bei uns und nicht bei Ihnen. You bet your fucking life, Mister; dieselben Verbrechen an den Menschen passieren bei Ihnen. Sie wissen’s nur nicht.«

Weg, weit weg war Marvin plötzlich mit seinen Gedanken …

 

»Es gibt einen einzigen Weg, den drohenden Klimaschock abzuwenden: Wir müssen die umweltfreundliche Kernenergie noch viel, viel intensiver nützen!«

Er, Markus Marvin, hatte das gesagt, an einem Novembernachmittag des vergangenen Jahres, im Ferienhaus von Professor Gerhard Ganz auf der Nordseeinsel Sylt. Das Haus lag in Keitum, am Uwe-Jens-Lornsen-Wai, hoch über dem Wattenmeer. Nebelig war es an diesem frühen Wintertag gewesen und sehr kalt.

Professor Ganz, dreiundsechzigjährig, groß und kräftig, Leiter der Physikalischen Gesellschaft Lübeck, hatte Markus Marvin zu einem Gespräch eingeladen, in der Hoffnung, ihn von seiner Kernkrafteuphorie abzubringen. Es war eine vergebliche Hoffnung gewesen, wie sich mehr und mehr herausstellte. Der Atomphysiker Dr. Markus Marvin, Mitglied der Aufsichtsbehörde im Hessischen Umweltministerium, ließ sich durch nichts von seinen Überzeugungen abbringen. Ganz konstatierte es mit Trauer. Da war wieder einer, zu dem er vergebens redete, wieder einer von den vielen, mit denen er sich herumschlug, sein Leben lang. Und weiter herumschlagen würde.

»Nein!« sagte er leidenschaftlich. »Nein und nein und nein! Betrachten Sie das Problem global, dann wird sofort deutlich, wie falsch dieser Weg wäre! Gegenwärtig liegt der Anteil der Atomkraft bei knapp fünf Prozent, lächerlichen fünf Prozent.«

Auch Marvin war immer erregter geworden. »Dann müssen eben mehr Atomkraftwerke gebaut werden – schnellstens«, rief er.

Ganz fühlte sich elend an diesem Tag. Sein Magen schmerzte, er empfand heftiges Brennen. Und dieser Mann, den er da eingeladen hatte, weil ihm gesagt worden war, daß er über große Beziehungen verfüge, daß er klug sei, einsichtig und von raschem Verstand – er war nicht besser als all die anderen Idioten Ganz wollte auffahren, doch er beherrschte sich, nahm sich zusammen, um sachlich zu sprechen mit diesem Mann.

Er sagte: »Mehr Atomkraftwerke? Wie viele, Doktor Marvin? Wie viele? Um wirklich etwas Substantielles zu erreichen, müßten Sie jahrzehntelang fast täglich irgendwo in der Welt ein neues Atomkraftwerk der Größenordnung von Biblis in Betrieb nehmen. Jahrzehntelang!«

Sie saßen im großen Wohnraum des schönen alten Hauses mit seinen weißen Mauern und blauen Türen und blauen Fensterläden. Die Wände waren durch Bücherregale verdeckt, in einem Kamin brannten Holzscheite, darüber hing eine Lithographie von A. Paul Weber, die einen Mann zeigt, der im Nachthemd an einem Baumstamm lehnt und sich mit einem Hammer einen großen Nagel in die Stirn schlägt.

Eine dritte Person befand sich im Raum: Dr. Valerie Roth, Professor Ganz’ Assistentin. Mittelgroß war Dr. Roth und schlank, braun wie ihr Haar waren ihre Augen. Sie sagte: »Ganz abgesehen davon, Doktor Marvin, daß kein Staatshaushalt der Welt und keine privaten Geldgeber es schafften, täglich ein neues Werk zu bauen – wo sollten diese Werke denn stehen? Vor dem Bundeskanzleramt? Am Brahmsee? In Oggersheim? Hören Sie doch: Wir haben im Institut Studien aus den USA und für die EG, in denen nachgewiesen wird, daß jede Mark – jede Mark! –, die man in Energiesparmaßnahmen investiert, siebenmal – siebenmal! – soviel Kohlendioxid vermeidet wie die gleiche Investition in Atomkraftwerke. Und es ist ja hauptsächlich Kohlendioxid, mit dem wir Luft und Atmosphäre derart vergiften, daß es in vierzig bis sechzig Jahren zur endgültigen Weltkatastrophe, zum Ende der Welt kommen wird. Die Hälfte aller Menschen, die heute leben, wird diese größte aller Katastrophen noch erleben.«

»Es gibt«, sagte Ganz, »weltweit kein einziges Energieszenario, dem zufolge es bei einer Ausweitung der Atomenergie zu einer Reduzierung der CO2-Emissionen kommt. Die Weltprognose der Internationalen Energie-Agentur erwartet beispielsweise auch bei einer Verzwölffachung der Atomenergie einen Anstieg der Kohlendioxidmengen auf rund dreiundvierzig Milliarden Tonnen bis zur Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts – also mehr als eine Verdoppelung.«

»Und nichts«, sagte Dr. Roth, »wäre verantwortungsloser, als das eine Risiko – die drohende Klimakatastrophe – mit einem anderen Risiko – der Gefahr eines Super-GAUs – erhöhen zu wollen. Schon heute hat die Nuclear Regulatory Commission die Wahrscheinlichkeit einer Reaktorschmelze bis zum Jahr 2000 nur für die USA rechnerisch auf fünfundvierzig Prozent eingeschätzt. Auf fünfundvierzig Prozent!«

»Und warum«, fragte Marvin erbittert, »forderten dann die Teilnehmer der letzten Weltklimakonferenz gerade jetzt auch die Zuhilfenahme der Kernenergie, um die Kohlendioxidemissionen in den Industrieländern zu vermindern?«

Ganz trank einen Schluck Tee, seine Hände zitterten. Der Schmerz stieg nun aus dem Magen aufwärts, wurde stärker. Mit wie vielen Menschen, die ihm nicht glaubten, hatte er schon geredet, sie beschworen, nicht weiter mitzuwirken an der Zerstörung der Welt! Vielleicht hörte dieser Mann zuletzt doch noch auf ihn. Es hatten schon manche ihre Ansicht geändert. Warum nicht auch dieser Mann? Jetzt saß der Schmerz bereits in der Brust. Ganz zwang sich weiterzureden: »Es gab Atomkraftbefürworter in Toronto, die das in die Debatte warfen. Aber es wurde ganz deutlich gesagt, und so steht es im Statement: ›Wenn man die Atomenergie heranziehen möchte, dann muß zuerst unerschütterlich sicher sein, daß dabei alle mit ihr verbundenen Gefahren beherrscht werden können – nämlich das ungelöste Entsorgungsproblem des Atommülls, das ungelöste Problem der Weiterverbreitung von waffenfähigem Material und das im Prinzip unlösbare Problem möglicher Unfallkatastrophen‹. So steht es im Statement, Doktor Marvin, ich habe es mitentworfen. Und ich sage Ihnen: Von der Atomenergie können Sie niemals eine Lösung unserer Probleme erwarten – aber jederzeit eine unvorstellbare Katastrophe …«

Jederzeit eine unvorstellbare Katastrophe … Der Satz klang in Marvins Ohren nach, während Farmer Evans’ Jeep über dessen Weide holperte und er in die Gegenwart zurückglitt.

»… dieselben Verbrechen an Menschen passieren bei Ihnen. Sie wissen’s nur nicht.«

»Und Sie?« In seiner Verzweiflung wurde Marvin aggressiv. »Woher wissen Sie’s? Woher wissen Sie überhaupt was von Deutschland? Die meisten hier haben doch nicht mal eine Ahnung, wo das liegt.«

»Ich schon«, sagte Evans verbissen. »Ich weiß eine Menge über Ihr Land, Mister Marvin. Ich war dort.«

»Sie waren in Deutschland?«

»Sag’ ich doch.«

»Wann?«

»Vor zwölf Jahren. 1976. Zuerst in Frankfurt. Dann in München und Hamburg, in Berlin und Düsseldorf. Vier Monate war ich dort, Mister Marvin. Hab’ mir alles genau angeschaut. Hab’ mich genau umgesehen in Ihrem Germany, Mister Marvin …« Evans schwieg kurz, dann kam er auf sein ewiges Thema zurück: »Dieselben Verbrechen passieren bei Ihnen, glauben Sie mir! Unsere Reporter haben seinerzeit gedacht, sie machen einen Skandal, größer geht’s nicht. Haben ihn gemacht. Furchtbar aufgeregt die Herren in Washington, D. C. – ein paar Tage lang! Den Reaktor hier runtergefahren. Na bitte, wir tun doch alles! Und schon hatten die Menschen, die nicht direkt hier leben, alles vergessen. Ich sage Ihnen, Mister, die Großen und die Reichen und die ganze Mörderbrut, sie alle können sich seit Jahrtausenden nur halten, weil die Menschen so schnell vergessen. Blöd!« schrie er und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Blöd sind wir. Blöd werden wir erzogen. Blöd werden wir unser Leben lang gehalten. Die wissen schon, was sie tun. Wie sie uns abrichten müssen. Wie unser Leben ausschauen muß. Wissen Sie, wie unser Leben ausschaut, Mister? Fressen, ficken, fernsehen! Genauso ist es in Frankreich, in Rußland, in England. Wie war denn das mit dem großen Unglück in Windscale, das die Regierung dort fünfundzwanzig Jahre geheimgehalten hat, bevor’s rauskam?« Evans hatte sich in solche Rage geschrien, daß er mitten auf der Weide den Landrover anhielt, weil er nicht mehr fahren konnte. Er keuchte. Dann schrie er weiter: »Die Kinder, die hier in den vierziger oder fünfziger Jahren geboren wurden – so wie ich, so wie mein Vetter Tom –, die haben allein mit der Milch mehr Radioaktivität abbekommen fürs Leben als die armen Würmer, die in Nevada groß wurden, wo sie die Atomtests machten. Ein einziges gigantisches Verbrechen ist das, Mister Marvin! Was hat die Regierung dagegen getan? Die jetzt und die vorher und die davor? Alle fucked-up goddamned Regierungen seit 1945? A mother-fucking shit haben sie getan, alle miteinander, nothing, nothing, nothing! Mehr als vierzig Jahre lang nichts. Dann endlich den N-Reaktor runtergefahren jetzt, weil einmal – einmal! – der Skandal nach den Berichten der Zeitungen und TV-Stationen zu groß war. Ein schlechtes Jahr für die Reagan-Administration ist das. Ein Jahr, wo die Boys vom TV und von der Presse zu munter geworden sind. Hier und beim Savannah-River-Komplex in South Carolina und in Rocky Flats bei Denver, Colorado. Dort ging’s genauso zu wie bei uns hier. Auch dort hat die Regierung Reaktoren abgestellt. Auch dort. Müssen Sie unbedingt hin, Mister! Unbedingt müssen Sie da hin!«

Marvin setzte zweimal an, bevor er sprechen konnte. »Ich war schon dort, Mister Evans. Am Savannah River und in Rocky Flats.«

»Und Sie haben alles gesehen?«

»Ja«, sagte Marvin, »ich habe alles gesehen.«

»Und Sie wissen auch, was die Politiker jetzt aufführen?«

»Ja, Mister Evans.«

»Die scheißen sich in die Hosen!« schrie Evans. »Die heulen und jammern: Wenn wir noch ein paar von den Dingern abschalten, können wir keine Atomwaffen mehr bauen und uns nicht gegen die Russkies verteidigen. Wissen Sie, daß wir bis zum heutigen Tag in den ganzen großen Vereinigten Staaten nicht ein einziges Endlager für den Atommüll haben? Nicht ein einziges fucked-up Endlager! Haben Sie eines, ein einziges nur, in Germany?«

»Nein«, sagte Marvin leise.

»Was? Reden Sie lauter, Mann, ich hör’ schlecht. Haben Sie eines? Ein einziges?«

»Nein!« Jetzt schrie auch Marvin. Er war am Ende seiner Beherrschung. »Wir haben auch keines. Nicht ein einziges.«

»Na, dann meinen Glückwunsch, Mister Marvin! Und alles absolut im Griff dank der Sicherheitsbestimmungen.« Evans startete den Jeep wieder und ließ ihn zur Straße zurückrollen. Abermals kamen sie an einigen kranken Tieren vorüber, die herumlagen mit fehlenden Körperteilen, ohne Hufe. Es gab auch viele gesunde. Oder sie sehen nur gesund aus, dachte Marvin, der jetzt am ganzen Körper zitterte. Sehen nur gesund aus und sind todkrank. Gott im Himmel! Und ich mache da seit Jahren mit. Seit vielen Jahren. Und habe Susanne und Professor Ganz für gewissenlose Hetzer gehalten.

»Sicherheitsbestimmungen«, wiederholte Evans. »Sie haben die strengsten, sagen Sie. Nur kein einziges Endlager. Warum sollten Sie bessere Systeme haben als wir, Mister? Warum? Wir hatten doch die ersten überhaupt! Unsere Leute haben die größte Erfahrung. Schauen Sie, was für eine prima Sicherheit sie uns gegeben haben mit ihrer so großen Erfahrung! Schauen Sie sich um!«

»Das tu’ ich ja«, sagte Marvin.

»Was tun Sie, Mister?«

»Ich schau’ mich um, Mister Evans. Seit Wochen. Im ganzen Land. Ich fotografiere. Ich rede mit vielen Leuten. Leuten wie Ihnen. Mit Ärzten. Militärs. Politikern. Gesundheitsverantwortlichen. Nachts tippe ich meine Berichte.«

»Für Ihre Behörde?«

»Ja«, sagte Marvin und fühlte, wie er zitterte, doch nun vor Wut. »Für meine Behörde.«

»Da werden die sich aber freuen, Mister Marvin.«

»Da sollen die sich auch freuen, Mister Evans!«

»Wissen Sie, was die tun werden, Mister Marvin? Feuern werden die Sie.«

»Das weiß ich, Mister Evans.«

»Dafür sorgen, daß Sie keinen Job mehr kriegen, nicht mal als Scheißhausreiniger in Ihrem wunderbaren Germany. Das werden sie tun, Mister Marvin.«

»Ich weiß, Mister Evans. Aber da sind andere, viele andere. Die werden auch reden. Die werden auch ihre Berichte schreiben. Man kann uns nicht alle feuern, Mister Evans. Man kann nicht alle unsere Berichte verbrennen. Man kann nicht erreichen, daß wir alle das Maul halten.«

»Nein? Kann man nicht?« Evans grinste schief. »Schauen Sie sich unser Land an, Mister! Man kann Sie alle feuern. Man kann alle Ihre Berichte verbrennen. Hat man schon, und wird man immer weiter. Eine lange Weile habe ich mich gefragt, was das wohl für einen Sinn hat: Wir bauen Atomwaffen zum Schutz gegen die Russkies – und wir vergiften uns selber dabei! Sieht aus, als hätte das keinen Sinn, wie?«

»Ja.«

»Sieht aber nur so aus! Und ob das einen Sinn hat, Mister, und ob! Ich hab’s kapiert. Einen gottverflucht guten Sinn hat es. Der Profit! Der Profit! Der Profit für die, die das hier betreiben. So viele Milliarden von Milliarden gibt’s da zu verdienen. Und das hat doch Sinn, oder? Hat das nicht einen gottverflucht guten Sinn, Mister Marvin?«

Er erhielt keine Antwort.

Marvins Gedanken waren wieder weit, weit fort gewandert … Das Haus über dem Watt. Der Nebel. Die Kälte draußen. Das Kaminfeuer. Das Gespräch mit Professor Ganz und Dr. Roth. Die Zeichnung des Mannes, der sich einen Nagel in die Stirn schlägt. An diesen Nachmittag im November 1987 mußte Markus Marvin wieder denken …

 

»Atomenergie ist tödlich«, sagte Ganz. Er preßte kurz eine Hand gegen die Brust, der Schmerz war sehr arg geworden. Weiter, sagte er zu sich, rede weiter! »Sie haben die Toronto-Konferenz erwähnt, Doktor Marvin. Sie kennen das Abschlußdokument und seinen ersten Satz, nicht wahr?« Er zitierte: »›Die Menschheit veranstaltet ein Atmosphärenexperiment, welches nur mit einem Nuklearkrieg zu vergleichen ist …‹«

»Hören Sie, Professor …« begann Marvin ungeduldig, doch der andere unterbrach ihn: »Nein, lassen Sie mich reden!« Das Atmen fällt mir plötzlich schwer, dachte er. Was ist das? Was ist los? »Die Menschheit«, sagte er mit Mühe, »hat tatsächlich allein mit den von ihr hervorgerufenen, erzeugten und längst außer jede Kontrolle geratenen Gasen und Abgasen die Atmosphäre in eine chemisch-klimatologische Langzeitbombe verwandelt.«

»Also, das würde ich doch als übertrieben …«

»Das ist es keinesfalls, Doktor Marvin! Das ist, im Gegenteil, eine Untertreibung. Denn die ›Langzeit‹ der Bombenzündung besteht inzwischen nur noch aus einer sehr kurzen Reihe von Jahrzehnten. Wir Umweltschützer haben verzweifelt gewarnt, als diese Entwicklung sich anbahnte. Mittlerweile ist es unerbittliche Gewißheit: In den nächsten dreißig bis vierzig Jahren droht ein mittlerer globaler Temperaturanstieg zwischen eins Komma fünf und sechs Grad Celsius – schütteln Sie nicht den Kopf! Wenn sich an den Ursachen dafür nicht schnellstens – schnellstens! – etwas ändert, dann werden schon in der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts – sein Beginn liegt nur noch zwölf Jahre entfernt – die Temperaturen in den tropischen Breiten um zwei Grad, in den mittleren Breiten um zwei bis fünf Grad und in polaren Breiten sogar um acht bis zehn Grad ansteigen. Und das wissen Sie!«

Draußen auf dem Uwe-Jens-Lornsen-Wai spielten trotz Kälte und Nebel Kinder. Sie sangen. Ihre hellen Stimmen drangen in den großen Raum:

»Murmeltier kann ta-hanzen,

eins und zwei und drei und vier!

Murmeltier kann ta-hanzen,

das kleine Murmeltier!«

Schweiß brach auf Gerhard Ganz’ Körper aus. Er fühlte Tröpfchen vom Haaransatz den Nacken hinablaufen. Mit einem Taschentuch wischte er die Haut trocken. Weiter! sagte er sich. Und wenn dir immer noch übler wird. Du mußt weiterreden! Du hast das alles schon tausendmal gesagt. Tausendmal umsonst. Vielleicht ist es diesmal, dieses eine Mal nicht umsonst. Wegen dieses einen Males hast du dann gelebt.

»Die Ursachen für den Temperaturanstieg sind identifiziert«, sagte er. »Sie liegen vor allem in der Freisetzung von Kohlendioxid bei der Verbrennung fossiler Stoffe wie Kohle, Öl und Erdgas, also in Art, Struktur und Menge unseres Energieverbrauchs.«

»Unseres verbrecherisch und nur um der Bereicherung einiger weniger wegen ungeheuer überhöhten Energieverbrauchs«, sagte Valerie Roth.

»Aber nicht nur darin liegt die Ursache, wie Sie wissen«, sagte Ganz, »sondern auch in der Zunahme der Konzentration von Fluorchlorkohlenwasserstoffen in der Atmosphäre – jenen Stoffen also, die aus Abermillionen Spraydosen Stunde um Stunde frei werden, aus Abermilliarden Kühlschränken, aus Abermilliarden Autokühlern, Klimaanlagen und bei der Herstellung von Kunststoffen.«

»Warum erzählen Sie mir das alles? Was habe ich damit zu tun?« Marvin ärgerte sich, dieser Einladung gefolgt zu sein. Eiferer, dachte er. Grüne Narren.

»Ich werde Ihnen gleich erklären, warum wir Ihnen das alles erzählen«, sagte Ganz. Valerie sieht mich ernst an, dachte er. Schaue ich sehr elend aus? Mir ist auch sehr elend. Jetzt strahlt der Schmerz in den linken Arm aus. Na und! Weiter! Ich muß diesem Mann alles sagen. Das ist einer von denen, die wenigstens genug Verstand haben. Ich muß ihn für uns gewinnen. Er darf nicht weitermachen mit jenen, die diese Welt vernichten. Er darf nicht. Ich fühle, nein, ich weiß, er wird auf unsere Seite kommen.

Ganz sagte: »Dieser Treibhauseffekt wird noch verstärkt durch die rasante und absolut gewissenlose Abholzung der tropischen Regenwälder – da können Sie mir nicht widersprechen! – sowie durch das Waldsterben und die Bodenvernichtung …«

»Ich weiß wirklich nicht, warum Sie mir das alles erzählen«, unterbrach ihn Marvin. »Was kann ich denn tun?«

»Gleich. Das sagen wir Ihnen gleich«, sagte Valerie Roth. »Sie wissen, daß durch Kohlendioxidfreisetzungen bloß auf fossiler Basis fast einundzwanzig Milliarden Tonnen Kohlendioxid im Jahr entstehen. Allein das mutwillige Verbrennen von Wäldern erhöht die Kohlendioxidemission auf dem Globus um zwanzig Prozent. Brandrodung, Fluorchlorkohlenwasserstoffe, Methangas aus drei Milliarden Rindermägen – all das zusammen wirkt in der Verbindung mit Spurengasen wie das gläserne Dach eines Treibhauses, das über unsere Erde gestülpt ist, nicht wahr? All das stört den Wärmehaushalt der Erde, weil die Wärmeabstrahlung in den Weltraum mehr und mehr blockiert wird.«

Marvin hatte genug. »Wollen Sie mir Nachhilfestunden in Naturwissenschaft geben, Frau Doktor?«

»Gewiß nicht«, sagte Valerie Roth.

»Was dann?«

»Wir wollen, daß Sie zu uns kommen«, sagte Professor Ganz, während er fühlte, wie der Schmerz aus dem linken Arm bereits seine Hand, seine Finger erreichte. »Daß Sie mit uns arbeiten. Daß Sie gemeinsam mit uns versuchen, das Schlimmste zu verhindern …«

Das ist ja schon ekelhaft, dachte Marvin.

 

Das ist ja schon ekelhaft, habe ich damals gedacht, erinnerte sich Marvin, als er jetzt neben Farmer Evans im Landrover saß. Und nun? Und nun? Nun bin ich im Ersten Kreis der Hölle gelandet. Oh, verflucht, verflucht, verflucht!

Sie hatten die Straße erreicht und fuhren in Richtung der kleinen Stadt Mesa. Nach einer Weile sagte Marvin erschüttert und dazu zornig über sich selbst, zornig darüber, wie er sich vor Monaten betragen hatte in jenem Haus auf Sylt: »Ich war schon mal hier, Mister Evans. Nicht hier direkt, dazu reichte die Zeit nicht. Aber in Richland war ich. Und da habe ich mit vielen Leuten gesprochen.«

»Und?«

»Und da hat man mir gesagt, rund hundertfünfzigtausend Menschen leben im Tri-Cities-Gebiet direkt oder indirekt von der Atomenergie. Alle seien überzeugt, etwas Gutes, etwas Notwendiges zu tun. Kaum einer habe Bedenken. Sie wissen es so gut wie ich: In Richland gibt es einen Supermarkt mit einem riesigen Schild, darauf steht ATOMIC FOOD. Und die größte Kegelbahn heißt Atomic Lanes. Und die Football-Mannschaft der High-School – was haben die für ein Emblem auf ihren Jacken? Einen Atompilz haben die auf ihren Jacken, Mister Evans. Und wie nennen sie sich? Die Richland Bombers nennen sie sich. Ihre kleinen Leute, nicht wahr, Ihre kleinen Leute, die ganz hilflos sind …«

»Idioten! Idioten sage ich doch, systematisch verblödet!«

»Lassen Sie mich ausreden, Mister Evans! Eine große Reinigung gibt es in Richland, die heißt Atomic Laundry. Wie wirbt sie auf Plakaten und in Riesenannoncen? Ich hab’s gesehen. Ich hab’s fotografiert. So wirbt die Atomic Laundry: ›Wir detonieren den Schmutz aus Ihrer Wäsche – mit dem heißesten Wasser der Stadt.‹«

»Verflucht, ich sag’ doch: Idioten.« Ray Evans fuhr nun schnell. Seine Hände umklammerten das Lenkrad. Kein Mensch, kein Auto begegnete ihnen. »Idioten, Mister Marvin! Nur so kann diese Scheißwelt funktionieren. Idioten! Nehmen Sie Joe Webb! Leitet eine Bürgerinitiative hier. Für Hanford. Für die Atomfabriken. Hanford Family heißt die. Sie müssen zu dem Idioten hingehen, Mister Marvin, ihn besuchen, reden mit diesem Kerl! Bei dem liegt die Bibel aufgeschlagen auf dem Tisch, und bevor Sie ihm was sagen können, sagt er Ihnen was.«

»Nämlich was?«

»Nämlich das: Plutonium-Industrie schadet keinem! Nützen tut sie allen, sagt das Arschloch. Eine bösartige Kampagne ist im Gang gegen Hanford, sagt er. Und wenn Sie ihn fragen, wer sie denn betreibt, diese bösartige Kampagne, dann wird er antworten: Senator Brock Adams betreibt sie, und sogenannte Umweltgruppen und die Zeitungen und die Fernsehsender, die uns zugrunde richten wollen. Das sagt der Ihnen ins Gesicht, dieses Mörderarschloch! Dieser Joe Webb, das ist einer, der sagt, es hat noch nie einen Unfall in Hanford gegeben. Dafür, daß Jod-131 Krebs erzeugt, gibt es keinen einzigen Beweis, sagt der. Und daß sie den N-Reaktor runtergefahren haben, das nennt der son of a bitch eine ›Tragödie‹!«

Sie hatten die Main Street von Mesa erreicht. Tankstellen, Kinos, Banken, Geschäfte, ein paar hohe Gebäude. Wenig Verkehr.

Die Menschen, dachte Marvin. Die Menschen hier. Alle sehen bedrückt aus. Sorgenvoll. Keiner lacht. Sogar die Kinder sind ernst. Nur wenige spielen. Und auch die sind traurig beim Spielen. Die meisten sitzen oder stehen herum. Wie die Rinder auf der Weide. Traurig ist das hier alles, dachte Marvin, was für eine große Traurigkeit!

»Und so wie dieser Joe Webb denken viele«, sagte Ray Evans und hustete verschleimt. »Immer noch. Gerade jetzt. Nicht hier natürlich. Aber in Richland, Kennewick, Pasco. Sie haben schon recht mit dem Atomic Food und der Atomic Laundry und all dem anderen, Mister Marvin. Großes Maul, nix im Kopf. Diese Kerle, also, die sind so dämlich, wenn die ein Begräbnisinstitut hätten – kein Mensch würde mehr sterben! Aber nicht hier in Mesa, Mister! Hier haben wir eine Scheißangst, seit der N-Reaktor runtergefahren wurde. Immer mehr hauen ab. Häuser und Wohnungen gibt’s jetzt in Hülle und Fülle.« Er lachte wieder sein hoffnungsloses Lachen. »Und noch ’ne andere Angst gibt’s bei den Leuten hier.«

»Was für ’ne andere Angst?«

»Daß sie ihre Arbeitsplätze in der Atomindustrie verlieren. Daß noch mehr Reaktoren runtergefahren werden müssen. Und davor haben sie auch in Richland und in Kennewick und in Pasco Angst. Im ganzen Tri-Cities-Gebiet. Angst. Angst. Angst. Angst vorm Leben. Angst vorm Sterben.« Er lenkte den Landrover zum Straßenrand, während er mit brüchiger Stimme ein paar Worte aus dem alten Lied sang: »Ahm tired of livin’ An’ feared of dying, But Ol’man river, he jes keeps rollin’ along …«

Evans kletterte aus dem Landrover. »Kommen Sie, Mister«, sagte er und ging schon voraus, hinein in das Stardust Memories Cafe.

Ein Drugstore wie in hundert amerikanischen Filmen: lange Theke, an der man auf hohen Hockern ißt und trinkt. Bunte Nischen mit bunten Plastiktischen und Plastikstühlen. Daneben ein Krimskramsladen, Apotheke, Drogerie und Kaufhaus in einem. Hier konnte man eine Puppe ebenso kaufen wie ein Gewehr, eine Packung Präservative mit Himbeer- oder Orangengeschmack ebenso wie Angelruten, Taschenbücher, Geraniensamen oder eine elektrische Bohrmaschine.

Angestellte aus umliegenden Geschäften und Büros saßen hier, Arbeiter einer nahen Baustelle und drei Mädchen von der High-School mit ihren Freunden, die ein wenig herumalberten, während alle anderen ernst waren und gedämpft sprachen. Und die meisten, sah Marvin, hatten stark geschwollene Schilddrüsen.

Gleich beim Hereinkommen war ihnen Ray Evans’ Vetter Tom entgegengeeilt. Sie hatten einander begrüßt, und Marvin hatte gedacht, daß Tom ein, na ja, Sonderling war, um es milde zu formulieren. Tom, dem das Stardust Memories Cafe gehörte, bat um Ruhe, und es wurde still, und Tom stellte den Gentleman aus Germany vor, der von seiner Behörde rübergeschickt worden war, damit er einen Eindruck kriegte, wie es hier aussah. Er arbeite auch im atomic business, und er solle einen Report machen für seine Behörde, und maybe auch für eine amerikanische, über alles, was hier vorging, und vielleicht, who knows, würde dann hier einiges anders und besser. Und ob einer was dagegen hätte, wenn Mister Marvin fotografierte.

Keiner hatte was dagegen, die Leute nickten dem Fremden zu, jetzt lächelten ein paar, kurz und freundlich, und die Schönheit hinter der Theke, der die Jungs sagten, daß sie wie Marilyn Monroe aussah, schminkte schnell ihre Lippen nach. Hatten schon die seltsamsten Wege nach Hollywood geführt.

»Einen Drink?« erkundigte sich Tom.

»Vielleicht ein Cola.«

»Drei cokes, Corabelle!«

Und während Marilyn an der Theke servierte, redeten die Menschen leise weiter miteinander, und die drei Teenies mit ihren Freunden flüsterten. Auch hier fühlte Marvin wieder jene große Trauer, jene scheue Ergebenheit ins arge Leben, jene Hoffnungslosigkeit, die über allen und allem lag wie schmutziger Tau. Selbst ein kleiner Hund auf einem uralten Korbstuhl unter einem großen Plakat, das aufforderte, AIDS keine Chance zu geben, schaute Marvin bekümmert an mit glanzlosen Knopfaugen. Sein Fell war räudig, viele Haare waren ausgefallen, man sah die weiße Haut. So winzig der Hund, so riesig die stumme Jukebox zwischen dem Korbstuhl und der Tür zu den Klosetten.

Wie als Pendant zur Jukebox hing an der anderen Seite neben der Tür eine große Tafel, und auf die hinkte Tom nun, schief und krumm gewachsen, zu, sein Vetter und Marvin folgten. Ray Evans hatte Marvin gesagt, daß Tom ihm etwas zeigen werde, das er fotografieren solle. Mit seltsam blecherner Stimme erklärte der Vetter nun, er habe diese Tafel selbst beschriftet, word by word, und was da stehe, sei die heilige Wahrheit, cross my heart and hope to die.

Da stand also in roter Schrift ganz oben: DEATH MILE FAMILIES. Und neunundzwanzig Familiennamen standen darunter.

»Fotografieren Sie das, Mister!« sagte Tom. »Take some pictures! Take the names! All of them.« Nun wurde es ganz still in dem großen Raum, und Marvin fotografierte, und alle sahen zu. Also der Gentleman aus Germany interessierte sich wirklich für diese Geschichte. Wer wußte, wer das war, some bigshot, von einer Versicherung maybe, also ändert sich vielleicht wirklich was. Diese verfluchte Hoffnung, die du immer noch hast.

Auf der Tafel stand:

DIE LIVESEYS – Mutter und Tochter Schilddrüsenkrebs

DIE HAMMONDS – Mary und Bob, Brustkrebs, Leberkrebs

DIE FORRESTS – der Sohn Chlorakne, die Mutter Brustkrebs

MIKE UND HELEN LEE – beide Krebs, die Jungs sind weg

DIE HOLMES – Mutter Knochenkrebs

So ging das weiter, neunundzwanzig Namen lang, zuletzt stand da: TOM EVANS.

Der erklärte hurtig selber, was ihm fehlte: »Am 25. März 1947 wurde ich hier geboren. Mit krummen Beinen und krummen Fingern.« Er zeigte sie her. »Finger- und Zehennägel verwachsen. Oft operiert, bis sie sie halbwegs auseinandergekriegt haben – die da nicht. Muß Spezialschuhe tragen. Bin impotent. Frau ist mir nach der Hochzeitsnacht weggelaufen. Weiß jeder hier. Kann ruhig drüber reden. Geht vielen wie mir. Das Café hier ist eine Goldgrube, zugegeben. Aber da scheiß’ ich drauf. Mir ist das alles zum Kotzen. Ich will nur noch eines, for Christ’s sake!«

»Ach, hör schon auf, Tom!« sagte ein Gast.

»Ich werd’ nie aufhören«, sagte Tom.

»Mensch, man kann’s nicht mehr hören!« sagte ein anderer.

»Dann hau ab, wenn du’s nicht mehr hören kannst, Fred!«

»Du mußt wirklich davon runterkommen, Tom!« sagte eine Frau. Vielleicht gehört ihr der kleine Hausratladen nebenan, dachte Marvin. »Bei uns ist’s ja egal, wir kennen dich. Aber die Leute …«

»Was, was, was, die Leute?«

»Die Leute reden, Tom. Sie sagen, du bist ein Querulant. Das ist noch das Harmloseste, was sie sagen. Sie sagen auch, you’re nuts, du bist verrückt, du hast sie nicht mehr alle, die Strahlung ist dir aufs Gehirn gegangen. Hör endlich auf damit, Tom! Noch dazu vor dem Gentleman aus Germany!«

»Gerade vor dem Gentleman aus Germany!« sagte Tom trotzig. »Gerade der soll’s hören und mich fotografieren, sooft er will. Los, knipsen Sie weiter, Sir, immer zu! Und die Leute können ihr dämliches Geschwätz nehmen und sich’s in den Arsch stecken.«

»Was ist das, was Sie unbedingt haben wollen?« fragte Marvin.

»Gerechtigkeit«, sagte der krumme, verwachsene Tom, und ein paar seiner Gäste lachten ein böses Lachen, und der kleine Hund winselte dünn, als wolle er sagen: Gerechtigkeit will er, du liebe Güte!

»Jawohl, Gerechtigkeit«, sagte Tom. Nun nickten sie nur noch und aßen weiter ihr kaltes Huhn oder ihr T-bone-Steak mit Pommes frites und viel Ketchup drüber. Alle, die Tom kannten, schienen ihn für meschugge zu halten, harmlos meschugge. Hatte eben einen Hieb mit seiner Gerechtigkeit. Gab es ja selber zu.

»Schon gut«, sagte Tom, »ich bin verrückt. Okay, folks, I’m nuts, viele sagen das, besonders dieser Scheißkerl Joe Webb, dieser no-good-fucked-up-son-of-a-bitch! ›Tom Evans, ach der Spinner!‹ sagt er. ›Der ist angeblich durch Hanford krebskrank geworden, Schilddrüsenkrebs, sagt er, dabei ist es seine Veranlagung, genetisch, also das weiß ich, alle Ärzte hier haben es gesagt, genetisch defekt und ein kommunistischer Hetzer, das ist Tom Evans‹. So spricht diese Topsau Joe Webb. Bin ich a goddamned commie, folks? Ihr kennt mich, ihr wißt, daß das eine dreckige Lüge ist. Oder?«

Sympathiegemurmel und wieder die Bitte, er möge doch endlich aufhören.

»Natürlich bist du kein commie, Tom«, sagte ein Dicker mit dicker Schilddrüse, »aber das mit deiner Gerechtigkeit, sei nicht böse, also das geht schon allen auf den Geist, Junge.«

Manche gaben dem Dicken recht. Andere protestierten. Nun waren sie beim Thema.

»Gerechtigkeit willst du«, sagte ein junger Mann, das Gesicht voller Sommersprossen. »Geld. Entschädigung für deine Krankheit. Die kriegst du nie, kapier es endlich, Mann!«

»Warum kriegt er die nie?« fragte Marvin, der dauernd fotografierte.

»Weil sie dann Milliarden zahlen müßten an Tausende im ganzen Land.« Ein Mann in blauem Anzug mit weißem Hemd und blauer Krawatte mischte sich ein, vielleicht der Chef der Bankfiliale gegenüber. »Und so schieben alle Behörden, alle Ärzte, alle Versicherungen alles auf genetische Defekte. Das ist ihr Lieblingswort. Genetisch! Tom Evans und die Leute in der Todesmeile und alle, die noch krank sind, ich auch, wir haben keine Chance, no goddamned chance, no Sir, kein Mensch hat eine gottverfluchte Chance.«

»Weil«, sagte ein Mann, dessen Gesicht von Ausschlag entstellt und dessen Augen entzündet waren, »es eben immer heißt, daß alles, was wir haben, alle Krankheiten genetisch bedingt sind, oder daß der Schilddrüsenkrebs von natürlichem Jodmangel kommt – das gibt es ja auch wirklich, was, Mister?«

»Ja«, sagte Marvin und fotografierte den Mann mit dem zerfressenen Gesicht und fühlte sich elend wie nie zuvor im Leben. Er dachte verzweifelt an Susanne und sein Gespräch mit Professor Ganz und Dr. Valerie Roth auf der winterlichen Insel Sylt und sagte: »Aber wenn Sie doch, wenn nötig vor Gericht, beweisen können, daß Ihre Krankheiten eben nicht genetisch bedingt sind, daß Sie – wie die vielen Tiere – krank geworden sind durch die Strahlung hier … Ich meine, Gerechtigkeit hin, Gerechtigkeit her, so was gibt’s doch nicht! Das muß so ein Gericht doch einsehen. Es können doch nicht alle Menschen Schweine sein.«

»Vielleicht doch. Ist jedenfalls noch kein einziger von uns durchgekommen damit«, sagte der im blauen Anzug. »Und versucht haben’s viele, believe you me, das können Sie mir glauben!«

»Da in Richland«, sagte Corabelle hinter der Theke und strich das blonde Haar zurück, drückte die Brüste heraus und war schon something to look at, eine heiße Nummer, oh yeah, »also da in Richland gibt es ein Science Center und einen Computer. Ich war mal dort. Auf dem Computer steht FÜR IHRE PERSÖNLICHE DOSIS.« Marvin fotografierte sie, und sie wandte sich nun an ihn und lächelte wie Marilyn, während sie erzählte, und machte Marilyns Stimme nach. Man konnte wirklich nie wissen, ein paar von diesen Superstars sollen sie aus dem Puff geholt haben, nicht wahr, und Marilyn nach den Nacktfotos in diesem Kalender. »Na, da stelle ich mich also hin, Mister Marvin, und der Computer fragt: ›Wo wohnen Sie?‹ Tippe ich ein: ›Mesa, State of Washington‹. Kommt die grüne Schrift auf dem Schirm: ›Strahlung von der Erde – sechsundzwanzig Millirem pro Jahr.‹«

Marvin dachte: Millirem, das ist hier ein Wort wie Pepsi. Kennt einfach jeder.

»›Vom Wohnhaus – sieben Millirem pro Jahr‹. Dann fragt der Computer nach Röntgenuntersuchungen. Wie viele habe ich hinter mir? Wie oft sehe ich fern? Wie oft bin ich schon geflogen? Fragt nach Essen und Trinken, und ich tippe alles brav ein, und es kommen immer neue Zahlen auf den Schirm, alle einfach idiotisch, idiotisch niedrig. Zum Schluß fragt der Computer: ›Wie weit entfernt vom nächsten Atomkraftwerk wohnen Sie?‹« Corabelle strahlte Marvin ohne Unterlaß an, während sie sprach. »Na, denke ich, Spaß muß sein, und tippe: ›Direkt am Zaun‹. Just for the bell of it, you know. Bloß so, aus Quatsch«.

»Und?« fragte Marvin.

»Ganze drei Millirem mehr hat der Computer gerechnet, Mister Marvin! Ganze drei Millirem – direkt am Zaun!«

Alle hatten Corabelles Bericht verfolgt. Ein Mann fluchte laut und lange. Einer lachte. Der kleine Hund winselte wieder.

»Also, meine persönliche Dosis ist zweitausendeinhundertachtundsechzig Komma fünfzehn Millirem jährlich«, sagte Corabelle. Sie hatte auf einen Zettel gesehen, der an die Innenwand der Theke gepinnt war. »Zwei Röntgenärzte haben wir hier. Bei denen war ich auch. Der eine hat ein paar hundert Millirem weniger festgestellt, der andere ein paar hundert mehr. Alles genetisch, Mister Marvin, alles genetisch. Auch bei mir.«

»Wieso? Was haben Sie denn?«

»Leukämie«, sagte Corabelle. »Bin in ständiger Behandlung. Blutbild gerade etwas besser geworden. Damit kann ich noch jahrzehntelang leben, hat der Doktor gesagt.« Zehn Jahre Hollywood würden mir genügen, dachte sie. Mehr hatte Marilyn auch nicht. »Untypisch«, sagte sie.

»Was ist untypisch?«

Corabelle schob die weiße Seidenbluse energisch in den engen schwarzen Rock. Wirklich schöne Brüste hatte sie.

»Na, daß ich Leukämie habe. Haben mehr Männer als Frauen. Gab da eine große Untersuchung in Tennessee. über genetische Defekte natürlich, nicht über Strahlungsschäden, i wo! Also, bei Männern mehr Leukämie und Hirnkrebs. Bei Frauen Brustkrebs. Wie gesagt: Ich bin untypisch.« Sie schenkte Marvin ein verheißungsvolles Lächeln, und der sagte voller Zorn: »Warum lassen Sie alle sich das gefallen? Warum protestieren Sie nicht?«

»Haben wir doch schon tausendmal!« sagte ein Arbeiter.

»Aber es ist besser, wir hören damit auf«, sagte Ray Evans, der Marvin herumgefahren hatte. »I keep telling you again and again. Ich sage es euch wieder und wieder, auch dir, Tom. Gebt Ruhe! Sehen Sie, Mister Marvin, die meisten von uns sind verschuldet bei den Banken. Das ist eben so in Amerika. Wenn einer hier mit den Atomfabriken zu tun hat, und das haben die meisten, also wenn so einer Krach macht, dann fliegt er raus und kann seine Bankschulden nicht bezahlen. Wenn er sagt, er ist krank, verliert er den Job. Und die Bank kündigt ihm sofort den Kredit. Ich bin Farmer, ich habe nichts zu tun mit den Atomfabriken. Aber verschuldet bei der Bank bin ich auch. Wenn ich was sagen würde von Krankheit– auch mein Kredit würde gekündigt, sofort. Außerdem: Sie haben ja gesehen, was hier alles wächst, was aus der Gegend kommt – Mais, Kartoffeln, Obst, Wein. Würde doch kein Mensch mehr unser Zeug kaufen, wenn sich herumspricht, daß das, was wir liefern, auch ich mit meinem Rindfleisch, aus einer verseuchten Gegend kommt, nicht?«

Professor Ganz, dachte Marvin. Dieser Nachmittag bei ihm. Was sagte er dann noch? Was geschah dann noch …

 

»Und das Ozonloch«, sagte Professor Gerhard Ganz. »So viel wurde schon zerstört, Doktor Marvin. Eine Minute vor zwölf ist es. Nur gemeinsam können wir die Katastrophe, wenn auch nicht mehr abwenden, so doch so klein wie möglich halten.« Auf einmal schien er keine Schmerzen mehr zu haben und sich großartig zu fühlen. »Die Erde wird, das wissen Sie, im Abstand von fünf bis fünfzig Kilometern von einem Ozonmantel umgeben. Dieser Mantel schützt alles irdische Leben vor der gefährlichen ultravioletten Strahlung aus dem Weltraum. Jedes Jahr im antarktischen Frühling, in den Monaten September und Oktober, verschwinden hier mehr als fünfzig Prozent, stellenweise sogar neunzig Prozent der Ozonmoleküle. Auf dramatische Weise hat sich dieses Areal äußerst verdünnten Ozons in den letzten Jahren durch die Art und Weise, wie wir die Atmosphäre verpesten, erweitert. Zur Zeit ist das ›Loch‹ schon so groß wie die USA. Hautkrebs, andere Krebsarten, unbekannte Krankheiten und der Zusammenbruch aller bisherigen Vorgänge in der Natur werden die unausweichliche Folge sein, wenn dieses Loch noch größer wird.«

»Bitte«, sagte Marvin. Er schüttelte den Kopf und sah durch das große Panoramafenster hinab auf das Watt. Es wurde langsam Nacht.

»Was, bitte?«

»Bitte, lieber Professor, keine Panikmache!« sagte Marvin, plötzlich schwer verärgert. Der alte Trottel, dachte er. Und diese Roth, seine dämliche Assistentin! Habe ich nötig gehabt, hierherzukommen und mir das alles anzuhören?

»Panikmache?« Valerie Roth war verblüfft.

»Ja«, sagte Marvin erbittert. »Ja, ja, ja! Ozonloch! Klimakatastrophe! Seit Jahren höre ich nichts anderes mehr. Alle Zeitungen, das Radio, das Fernsehen leben davon. Kein Blatt kann man mehr aufschlagen, ohne zu lesen, daß die teuflische Industrie die Erde kaputtmacht. Daß wir alle verantwortungslose Verbrecher sind. Zum beliebtesten Partygespräch ist diese Lüge geworden.«

»Doktor Marvin …« begann Ganz, aber der ließ sich nicht mehr unterbrechen.

»In Büros. In Schulen. In der Straßenbahn. Nur noch dieses Geschwätz. Nur noch die Lust am Untergang. Jedes Groschenblatt hat jeden Tag eine neue, noch gräßlichere Meldung. Kongresse jagen einander. Enqueten. Greenpeace-Heroen. Bürgerproteste. Bürger, die keine Ahnung haben, protestieren, klagen an! Jeder Politiker muß jeden Tag vor einer Kamera erklären, daß er, daß sich seine Partei mit allen Kräften für die Rettung der Welt einsetzt – als ob sie nicht ohnedies alles tun, was nur möglich ist!«

»Was tun sie, die Politiker?« rief Valerie Roth, nun ebenfalls äußerst erregt. »Was, Herr Marvin? Nichts! überhaupt nichts!«

»Das ist nicht wahr!« rief Marvin.

»Bitte!« sagte Ganz. »Bitte …« Doch die beiden hörten nicht auf ihn.

»Das ist wahr!« rief Valerie Roth. »Versprochen wird alles. Getan wird nichts. Im Bundestag wurde ein sofortiges Verbot der Fluorchlorkohlenwasserstoffe beantragt. Und abgelehnt! Begründung des Kanzlers, wörtlich: ›Wir dürfen der Industrie nichts befehlen. Sie ist sich ihrer Verantwortung der Gesellschaft gegenüber sehr wohl bewußt.‹ Eine größere Bankrotterklärung einer der Industrie absolut ausgelieferten Regierung hat es nie gegeben.«

In der Ferne, aus Dämmerung und Nebel ertönte klagend die Sirene eines Zuges, der über den Hindenburgdamm fuhr.

Valerie Roth rief, nun vollends außer sich: »Unsere Politiker sind im Show-Geschäft! Der Umweltminister durchschwimmt den Rhein und zeigt, daß man da tatsächlich lebend wieder rauskommt. In Bayern trinkt ein anderer einen Schluck der verstrahlten Molke, die seit Jahren durchs Land gefahren wird, und sagt: ›Des macht mir fei gar nix!‹ Der Finanzminister trinkt ein Glas Nordseewasser aus und beweist, daß man selbst das überleben kann.«

»Bitte, Valerie«, sagte Ganz, »bitte, hör auf!«

Aber Valerie Roth hörte nicht auf. »In einem Skandalland leben wir! Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen, Doktor Marvin, sehr enttäuscht. Sie finden es also richtig, daß hier sechzig Milliarden für Atomkraft ausgegeben wurden – und für umweltfreundliche erneuerbare Energie nur ein Bruchteil davon? Ja, Sie finden das richtig?«

»Hören Sie, ich …«

»Milliarden ›garantiert‹ diese Regierung den Mercedes-Leuten, die damit im Verbund mit MBB zur größten Waffenfabrik in Europa werden können! Zig Milliarden für den Jäger neunzig! Der Schnelle Brüter Kalkar, der nie ans Netz gehen wird, gehen kann – zig Millionen jährlich nur für seine Instandhaltung!«