Im Land des ewigen Frühlings - Christiane Lind - E-Book
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Im Land des ewigen Frühlings E-Book

Christiane Lind

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Beschreibung

So schön es auch wäre, ein gemeinsames Leben mit ihm, so sehr blieb es ein Wunschtraum. 1902: Auf der Reise nach Guatemala kreuzen sich schicksalhaft die Wege der selbstbewussten Margarete und der zaghaften Elise. Während Margarete es kaum erwarten kann, zu ihrer heimlichen Liebe Juan zurückzukehren, fürchtet Elise sich vor dem Unbekannten. Gemeinsam entdecken die jungen Frauen auf den Pfaden der Maya, was im Leben wirklich zählt: Der Mut, ihrem Herzen zu folgen. Über 100 Jahre später: Nach dem bitteren Scheitern ihrer Ehe findet Isabell Trost in den bewegenden Tagebüchern ihrer Ururgroßmutter. Ihre Spurensuche führt sie zu Fabian, dem Chef einer Bremer Kaffeerösterei. Ist auch er bereit, sich den Geheimnissen der Vergangenheit zu stellen? Eine emotionale Familiensaga vor der mystischen Kulisse des Maya-Landes, die von der Kraft der Liebe und der Schönheit des eigenen, mutigen Lebens erzählt. Stimmen von Leserinnen … eine schöne Mischung aus Abenteuer, geschichtlichem Hintergrund und Liebe … so spannend und anschaulich, dass man fast vergisst zu atmen … viel über das Land, die Kultur und die Zeit erfahren … Garant für packende und kurzweilige Unterhaltung … eine absolute Kauf- und Leseempfehlung aussprechen … für jeden, der Familiensagas mag … Figuren sind sympathisch und ebenso lebendig … bildhafte Beschreibungen … äußerst vielseitiger Roman, der keine Lesewünsche offen lässt … eine romantische, spannende, emotionale und fesselnde Familiengeschichte … ein Buch über starke Frauen früher und heute … wunderbares Lesevergnügen, welches mich sehr gut und kurzweilig unterhalten hat … sehr schöne bewegende Geschichte … wundervolle Lesemomente … … schönes, informatives und spannendes Lesevergnügen … Geschichte hat mich schnell in ihren Bann gezogen

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Sammlungen



Im Land des ewigen Frühlings

Guatemala-Roman

Christiane Lind

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Epilog

Glossar

Nachwort

Danksagung

Weitere Bücher der Autorin

Über die Autorin

Christiane Lind hat sich immer schon Geschichten ausgedacht, die sie ihren Freundinnen erzählte, aber nur selten zu Papier brachte. Erst zur Jahrtausendwende erinnerte sie sich daran und begann Kurzgeschichten zu schreiben.

Beim Schreiben begibt sich Christiane am liebsten auf die Spur von Familien und deren Geheimnissen, sei es im Mittelalter, dem 20. Jahrhundert oder auf anderen Kontinenten.

Sie teilt sich in Kassel eine Wohnung mit unzähligen und ungezählten Büchern, einem Ehemann und vier Katern. Die Samtpfoten erwarten von Christiane, dass mindestens eine Katze in ihren Geschichten vorkommt, was inzwischen ihr Markenzeichen ist.

www.christianelind.de

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Über das Buch

Würdest Du für Deine Familie die wahre Liebe aufgeben?

1902: Auf der Reise nach Guatemala kreuzen sich schicksalhaft die Wege der selbstbewussten Margarete und der zaghaften Elise. Während Margarete es kaum erwarten kann, zu ihrer heimlichen Liebe Juan zurückzukehren, fürchtet Elise sich vor dem Unbekannten. Gemeinsam entdecken die jungen Frauen auf den Pfaden der Maya, was im Leben wirklich zählt: Der Mut, ihrem Herzen zu folgen.

Über 100 Jahre später: Nach dem bitteren Scheitern ihrer Ehe findet Isabell Trost in den bewegenden Tagebüchern ihrer Ururgroßmutter. Ihre Spurensuche führt sie zu Fabian, dem Chef einer Bremer Kaffeerösterei. Ist auch er bereit, sich den Geheimnissen der Vergangenheit zu stellen?

Eine emotionale Familiensaga vor der mystischen Kulisse des Maya-Landes, die von der Kraft der Liebe und der Schönheit des eigenen, mutigen Lebens erzählt.

Kapitel 1

Guatemala, departamento Alta Verapaz 1901

Margarete! Mar-ga-rete!« Die Stimme ihrer Gouvernante klang verärgert. »Wo treibt sich das verflixte Mädchen nur wieder herum?«

»Pst, Juan. Lass sie uns ruhig suchen.« Margarete, zierlich und schmal für ihre fast 17 Jahre, lächelte den Jungen an und hob den Finger vor die Lippen. Sie ließ die Hand sinken und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Er zuckte mit den Schultern und lief ihr nach, tiefer in die Schatten des Dschungels hinein.

Die gefiederten Blätter der Farne schlossen sich hinter ihnen und niemand würde vermuten, dass sie beide diesen Weg gegangen waren. In der Hitze des frühen Nachmittags wirkte der Regenwald still wie ein Dom. Nur ab und zu durchbrach das Zwitschern eines Vogels oder das leise Zirpen der Grillen die Ruhe. Es wirkte beinahe, als ob alle Tiere auf die Kühle der Nacht warteten. Hinter ihnen raschelte es. Juan fuhr herum und stellte sich vor Margarete, bereit, sie gegen alles und jeden zu beschützen. Doch es war nur ein stämmiges Gürteltier, das sich schnaufend seinen Weg durch das dichte Unterholz bahnte. Sie sahen sich an und lächelten.

»Sieh nur, wie schön.« Margarete blieb stehen und bewunderte die Blüte einer Orchidee. Feine rote Streifen zeichneten sich auf den gelben Blättern ab. »Ich werde sie so sehr vermissen, die Schönheit unseres Waldes.«

»Ich werde dich vermissen.« Sanft strich Juan ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Sie werden dich bestrafen.«

Margarete lachte nur und lief davon, tiefer in das Halbdunkel des Waldes hinein. Erschreckt stoben rote und grüne Aras vor ihr auf wie exotische Blumen, die plötzlich aus dem Grün des Waldes wuchsen.

»Dein Vater wird dich bestrafen«, wiederholte Juan, nachdem er sie eingeholt hatte. Sein kantiges Gesicht unter tiefschwarzen Haaren wirkte weicher, als er Margarete aufmerksam betrachtete. In der Aufregung hatten sich ihre Wangen gerötet und ließen die Sommersprossen beinahe verschwinden. Schmutzflecken bedeckten ihr helles Kleid und die Haube war ihr vom Kopf gerutscht. In der Nachmittagssonne glänzten ihre blonden Haare beinahe weiß, wie die MonjaBlanca, die weiße Nonne, die Juan ihr heute geschenkt hatte. Er hatte Margarete die Orchidee nur überreichen wollen, um sich von ihr zu verabschieden. Doch sie war aus dem großen Herrenhaus davongelaufen und mit ihm in den Nebelwald, der die Kaffeefinca umgab, geflohen. Schon nach kurzer Zeit waren die lauten Rufe ihrer Gouvernante, die nach ihnen suchte, verklungen. »Sie wird sehr wütend sein, wenn du nicht bald zurückkehrst.«

»Ach was.« Margarete machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. »Sie ist immer ärgerlich. Lass uns heute ein Abenteuer erleben.«

Ihr Lächeln verschwand hinter einem Schleier aus Traurigkeit. Juan schaute sie prüfend an und strich ihr sanft die Strähne zurück, die ihr immer wieder vorwitzig ins Gesicht fiel. Sie legte ihre Hand über seine und lehnte ihre Wange an sie. Gemeinsam schwiegen sie einen Augenblick. Vorsichtig entzog er ihr die Hand und öffnete den Mund.

»Bitte, bitte«, kam sie seinen Worten zuvor. Schwermut umschattete ihre hellen Augen und ließ sie älter, erwachsener wirken. »Heute ist unser letzter gemeinsamer Tag. Schenk mir ein bisschen Zeit.«

»Mehr als das.« Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf den Scheitel, schloss die Augen und flüsterte: »Ich habe dir mein Herz geschenkt.«

Sie schwieg und lehnte sich an ihn, spürte seinen Herzschlag an ihrer Wange. Er hielt sie fest, so fest, dass es schmerzte, aber sie zog ihn nur enger an sich, als ob sie eins mit ihm werden und die Welt und das Wissen um den Abschied ausschließen wollte.

»Bring mich zu unserem Wasserfall«, bat Margarete schließlich und atmete tief ein. Sie wollte nicht weinen, doch sie kam nicht gegen die tiefe Verzweiflung an, die sie zu überwältigen drohte. Sie wandte den Kopf ab, aber er hatte ihre Tränen bereits bemerkt. Sanft berührte er ihr Kinn und drehte ihren Kopf zu sich.

»Es ist nur ein Jahr«, sagte er. Seine Stimme klang rau und er schluckte, als ob auch er gegen Tränen ankämpfte.

»Wirst du auf mich warten?« Margarete drehte sich ihm zu, näherte sich seinem Gesicht, bis sich ihre Nasen berührten. Ohne es zu bemerken, hielt sie den Atem an und leckte sich die trockenen Lippen. »Wirst du?«

Er nickte, unfähig zu sprechen. Ihre Nähe verwirrte ihn und das erste Mal, seit er sie kannte, wagte er es, sie zu küssen. Schnell und flüchtig, unsicher, ob sie ihn nicht zurückweisen würde. Sie lächelte mit feuchten Augen und zog seinen Kopf wieder heran, küsste ihn. Lange und zärtlich. Tastend, sich ganz dem Gefühl hingebend, das seine Nähe und der Kuss ihn ihr hervorriefen.

Schließlich lösten sie sich voneinander, beide etwas außer Atem. Sie schauten aneinander vorbei, verlegen über die Gefühle, die sie füreinander empfanden. Er wagte den nächsten Schritt und zog sie an sich.

»Du riechst gut«, flüsterte er in ihr Ohr. Seine Lippen glitten ihren Hals hinab. Er lachte und pustete leicht in die Beuge, die Stelle, wo der Spitzenkragen ihren Hals verhüllte. »Wie der Frühling.«

»Das kitzelt.« Sie schauderte und lachte. Mit einer Drehung löste sie sich aus seiner Umarmung und lief davon. »Komm, lass uns zu unserem Wasserfall gehen.«

Juan blieb noch einen Moment stehen und lauschte. Weit entfernt hörte er die hohe Stimme der Gouvernante. Beide würden sie für den gestohlenen Nachmittag büßen müssen. Das war ihm nur zu bewusst. Aber was konnte ihnen Schlimmeres geschehen als die Trennung voneinander?

Er horchte noch einmal, zuckte mit den Schultern und folgte Margarete zum Wasserfall. Den Ort, wo er sie das erste Mal gesehen hatte. Lächelnd erinnerte er sich. Vor vielen Jahren war sie schon einmal davongelaufen. War einem Quetzal in den Dschungel gefolgt, ohne sich den Weg zurück einzuprägen. Der bunte Vogel hatte sie weiter und weiter von ihrem Zuhause fortgeführt, bis der Nachmittag anbrach. Ihr Vater hatte alle Arbeiter und deren Familien zusammengerufen und demjenigen eine Belohnung versprochen, der seine Tochter zurückbrachte. Zum ersten Mal hatte der Junge an diesem Nachmittag einen Menschen in dem Herrn der Finca gesehen. Einen Vater, der bleich vor Sorge um seine Tochter war.

Nur mit viel Glück hatte Juan das leise Weinen des Mädchens gehört und die Tochter des Herrn gefunden. Die hellen Haare aufgelöst, die Augen gerötet von den Tränen, die Arme zerkratzt von Dornen und dennoch hatte Juan gedacht, dass er nie ein schöneres Mädchen gesehen hatte. Sie kauerte am Wasserfall. Die Nachmittagssonne spannte einen Regenbogen über der sprühenden Gischt. Einen Regenbogen, in dem das Mädchen saß. Wie eine Göttin der alten Mythen war sie ihm erschienen, wie Ix Chel, Herrin des Regenbogens, Göttin des Wassers.

Vorsichtig hatte er sich ihr genähert und Margarete sanft angesprochen. Ohne zu überlegen, war sie ihm in die Arme gestürzt und hatte ihn angefleht, dass er sie nach Hause bringen sollte.

Von der Belohnung hatte seine Familie die dringend notwendige Medizin für seinen kleinen Bruder kaufen können und ein Hochzeitskleid für seine Schwester. Juan jedoch war das Geld gleichgültig. Er war verzaubert von Margarete und suchte immer wieder ihre Nähe. Wohlwissend, dass er sich damit in Gefahr begab.

Heimlich mussten sie sich treffen, stets in Sorge, dass jemand sie entdeckte. Ohne dass sie jemals darüber sprachen, wussten beide, dass ihre Freundschaft niemals geduldet werden würde. Und als sich aus der Freundschaft Verliebtheit entwickelte, waren sie noch vorsichtiger geworden. Und dennoch. Jemand musste sie miteinander gesehen und an den Herrn verraten haben. Zur Strafe hatte dieser beschlossen, Margarete wegzuschicken. Weit weg.

»Wo bist du mit deinen Gedanken?« Margaretes Stimme zog Juan aus seinen dunklen Gedanken. Sie saß am Wasserfall, wieder umrahmt von einem Regenbogen, dessen Farben blass und durchscheinend wirkten. Ihr helles Kleid hob sich von der roten Erde ab. »Woran denkst du?«

»Wie weiß deine Haut ist.« Der Junge streichelte die Hand des Mädchens. Zart, kaum spürbar, glitten seine dunklen Finger über ihren Unterarm. Margarete erschauerte und betrachtete seine Hand. Für einen Maya hatte Juan sehr helle Haut, beinahe wie ein Ladino. Sie wusste, dass Juan darunter litt auszusehen wie ein Mischling. Auch wenn sie arm war, war seine Familie stolz. Stolz darauf, in direkter Linie von den alten Herrschern, den Maya, abzustammen und niemals Kinder der spanischen Eroberer bekommen zu haben. Nachdem Juan geboren war, hatte seine Mutter ihn zu einem brujo, einem Schamanen, gebracht und ihn um Hilfe gebeten. Obwohl der Mann ihn mit einem Zaubermittel eingerieben hatte, war Juan hellhäutiger geblieben als die anderen Mitglieder der Familie.

Und er hatte in der Schule Lesen und Schreiben und Rechnen gelernt. Einen klugen Kopf hatte der Lehrer ihn genannt und bedauert, dass Juan nur ein Indio war. Ein Indio, dessen Wissensdurst ihn in Konflikt mit den engen Grenzen brachte, in denen sein Volk leben durfte, wenn es nach den deutschen Kaffeebauern ging, die den Nebelwald und das Hochland von Alta Verapaz beherrschten.

Als ob das nicht bereits schlimm genug war, hatte er sich auch noch in die Tochter des Herrn verliebt und weigerte sich, ein Maya-Mädchen zur Frau zu nehmen. Margarete wollte ihm danken, wollte ihm sagen, wie sehr sie seine Liebe zu schätzen wusste. Sie wollte ihm beistehen und versichern, dass sie ahnte, unter welchen Druck ihn seine Familie setzte, aber sie schwieg. Juan sprach nicht gern von seiner Familie und seinen Sorgen. Das respektierte sie. Also lehnte sie sich in seinen Armen zurück und schwieg gemeinsam mit ihm. Sanft brach sich das Licht im Wasser und der Fluss schien ihnen mit seinem leisen Glucksen etwas zuzumurmeln. Margarete reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen.

»Wir müssen zurück«, sagte Juan schließlich und sie spürte das Bedauern in seiner Stimme. Warum konnten sie nicht einfach hierbleiben, den Rest ihres Lebens am Wasserfall verbringen?

»Lass uns fliehen«, flehte Margarete mit leiser, aber eindringlicher Stimme. Sie waren jung und kräftig. Er würde sicher Arbeit auf einer der anderen Kaffeefincas finden oder bei den Holzfällern. Und sie … sie könnte vielleicht Kinder unterrichten. Allein der Gedanke daran, wie sie vor einer Schulklasse stand, brachte sie zum Schmunzeln. So schön es auch wäre, ein gemeinsames Leben mit ihm, so sehr blieb es ein Wunschtraum.

»Ich werde dich nicht vergessen«, flüsterte sie und hoffte, dass er verstehen würde, was dieser Satz bedeutete. All das Ungesagte, das zwischen ihnen stand und weiter stehen würde, wenn sich morgen für lange Zeit ihre Wege trennen würden. »Ich werde zurückkehren.«

Er schwieg.

Sie wagte es nicht, ihn anzuschauen, fühlte sich verloren in den Worten, die sie gesagt hatte und die er einsam stehen ließ.

»Du wirst in deiner Welt leben«, antwortete Juan schließlich. So leise wie der Wind, der in den Blättern der Bäume spielte. »So viel Neues sehen, dass ich in deinen Gedanken verblassen werde …«

Er schaute zu Boden und spielte mit einem Stein, einem vom Wasser glattpolierten grauen Kiesel, ließ ihn von einer Hand in die andere gleiten.

»Nein!« Trotzig hob sie den Kopf, griff mit einer schnellen Bewegung nach dem Stein und warf ihn in den See. »Nein. Ich werde dich nie vergessen. Das schwöre ich.«

Er schaute sie an und lächelte. Mit einer fließenden Bewegung sprang er auf und reichte ihr die Hand. »Komm. Sonst wirst du großen Ärger bekommen. Das Fräulein sucht nur einen Grund, um dich anzuschwärzen.«

»Pfff«, antwortete sie und zwinkerte ihm zu. Sie griff nach seiner Hand, ließ sich von ihm hochziehen und lehnte sich gegen seine Brust. »Ich fürchte mich nicht vor Fräulein Dieseldorf.«

»Du fürchtest dich zu wenig.« Er hielt ihre Hand in seiner und gemeinsam gingen sie zurück.

Schon von Weitem hörten sie Stimmen, die ihren Namen riefen. Viele Stimmen. Die Gouvernante hatte Diener zu Hilfe gerufen, um die Ausreißerin zu suchen.

Juan drückte Margaretes Hand, bevor er sie losließ und zwei Schritte zur Seite trat.

»Warum?«, fragte das Mädchen und wollte nach seiner Hand greifen. »Bleib bei mir.«

Er entzog sich ihren suchenden Fingern und hob bedauernd die Schultern. »Ich muss an meine Familie denken …«

Sie nickte. Zu selten dachte sie daran, dass er nicht ihre Freiheiten teilte, dass er mehr Verantwortung auf seinen Schultern trug als sie.

»Mein Versprechen gilt«, flüsterte sie und trat aus dem Dunkel des Waldes auf die Lichtung. Er folgte ihr mit kleinem Abstand, den Kopf respektvoll gesenkt, wie es von einem Arbeiter erwartet wurde.

Dort warteten Fräulein Dieseldorf und zwei Diener, die dem Mädchen und dem Jungen neugierig entgegensahen. Mit einer herrischen Geste sandte die Gouvernante die Diener fort und eilte mit kleinen, hektischen Schritten auf Margarete und Juan zu.

»Du sollst dich nicht mit diesem Indio herumtreiben.« Ihre Worte klangen harsch. »Schau nur, wie du wieder aussiehst.«

Margarete blickte an sich herab. Grasflecken stachen dunkel von ihrem hellen Kleid ab. Im Saum hatte sich Erde verfangen und es war an einigen Stellen zerrissen. Sie hob die Hand mit einer Geste der Entschuldigung.

»Und du …« Alice Dieseldorf wandte sich dem Jungen zu, stach mit ihrem spitzen Zeigefinger auf ihn ein. »Du solltest es besser wissen. Wenn ich das dem Herrn berichte, wird er deine Familie entlassen.«

Triumphierend richtete sie sich auf. Ein kaltes Lächeln glitt über ihr Gesicht und ließ die hageren Züge wirken wie eine Maske.

»Nein! Nein!« Juan erbleichte. Alle Farbe schien aus seinem Gesicht zu weichen. »Bitte nicht. Es tut mir leid.«

»Das hättest du dir früher überlegen müssen.« Einzelne stumpfbraune Strähnen hatten sich aus Fräulein Dieseldorfs sorgfältig gelegter Frisur gelöst und standen wirr um ihr Gesicht. Sie erinnerte Juan an Darstellungen bösartiger Götter auf den verwitterten Steinen der alten Tempel. »Jetzt musst du mit den Konsequenzen deines Handelns leben.«

»Nein.« Leise und klar sagte Margarete nur das eine Wort. Sie stellte sich neben Juan und reckte das Kinn empor. »Lassen Sie ihn in Ruhe. Oder …«

Die Gouvernante schien in sich zusammenzufallen. Ihre Schultern sackten herab und sie kniff die dünnen Lippen zusammen.

»Komm jetzt«, sagte die Gouvernante dann mit einem Blick voller Verachtung.

Margarete tastete nach Juans Hand und hielt sie einen Moment. Er streichelte mit dem Daumen über die weiche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit einer raschen Bewegung zog er sie an seine Lippen und hauchte einen Kuss auf die Fingerspitzen. Dann drehte er sich abrupt um und lief in den Wald. Margarete schaute ihm nach. Tränen glitzerten in ihren Augen.

»Was du nur an ihm findest«, bohrte sich die spitze Stimme des Fräuleins in ihre Traurigkeit. »Dreckiger Indio. Ich sollte es deinem Vater erzählen.«

»Gar nichts werden Sie tun«, antwortete Margarete mit kalter Stimme. »Und im Übrigen: Er heißt Juan. Wie Sie sehr wohl wissen.«

Margarete und die Gouvernante maßen einander mit ihren Blicken.

»Vielleicht wirst du in Deutschland Manieren lernen«, sagte Alice Dieseldorf schließlich. Bevor Margarete etwas erwidern konnte, drehte sich die Gouvernante um und ging in Richtung des Herrenhauses davon.

Kapitel 2

Braunschweig 2016

Nie hätte Isabell erwartet, dass ihr der Gerichtstermin so nahegehen würde. Mit zitternder Unterlippe stand sie vor der Tür des Amtsgerichts und suchte in ihrer übergroßen Handtasche nach ihrem Schirm. Wie passend, dass es angefangen hatte zu regnen. Der trübe graue Himmel spiegelte wunderbar ihre Stimmung wider. Reiß dich zusammen, redete Isabell sich zu, während sie den Schirm immer noch nicht finden konnte. Was hast du denn erwartet? Es war doch klar gewesen, was heute geschehen würde. Aber dennoch tat es weh, viel mehr, als sie gedacht hätte.

Eigentlich handelte es sich doch nur um eine bloße Formalität, um die offizielle Feststellung, dass ihre Ehe nach elf Jahren gescheitert war. Das verflixte siebte Jahr hatten Sascha und sie geschafft und Isabell war sicher gewesen, dass ihre Ehe alle Höhen und Tiefen überstehen würde. Daher hatte es sie vollkommen überrascht, als ihr Mann vor mehr als einem Jahr zu ihr gesagt hatte: »Schatz, wir müssen reden.« An einem Freitagabend, das wusste sie noch wie heute.

Lag es am Tonfall seiner Stimme oder war es der Ausdruck seiner hellblauen Augen, der ihr damals verriet, was sie erwartete? Sein Wunsch traf sie dennoch unverhofft. Sicher, von Leidenschaft konnte zwischen ihnen nicht mehr die Rede sein. Irgendwann in den vergangenen Jahren hatte jeder von ihnen begonnen, sein eigenes Leben zu leben, aber trotzdem … Wenn es hart auf hart ging, wenn sie einander brauchten, konnten Isabell und Sascha sich aufeinander verlassen. Genau das hatte sie ihm auch gesagt, aber ihr Mann schüttelte nur den Kopf.

»Ach, Isa.« Niemand hatte sie je Bella genannt. Sascha seufzte. Auf seine ganz eigene Art, die Isabell so gut kannte. »Selbst du musst zugeben, dass wir uns auseinandergelebt haben.«

»Nicht mehr als andere Paare auch«, lautete ihre Antwort, die selbst in Isabells Ohren lahm und abgedroschen klang. »Wir haben uns doch so viel aufgebaut.«

Fiel ihr wirklich nichts Besseres ein, um ihren Ehemann zu halten? Wollte sie Sascha überhaupt noch halten? Liebte sie ihn noch? Diese Fragen konnte Isabell nicht beantworten, sein Ansinnen hatte sie überraschend und ohne Vorwarnung getroffen. Daher sagte sie das einzig Sinnvolle, das ihr einfiel: »Bitte gib mir Zeit zum Nachdenken.«

Erneut schüttelte Sascha den Kopf. Seine blonden Haare, die am Oberkopf deutlich schütter geworden waren und die er immer etwas zu lang trug, flogen und verdeckten sein Gesicht für einen Moment, sodass Isabell nicht darin lesen konnte. Aber sie spürte, dass es ihm ernst war, dass sie sagen konnte, was sie wollte, es würde nichts ändern. Ihr wurde übel. Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand mit der Faust in den Bauch geschlagen. Aus heiterem Himmel und hart.

»Ich ziehe aus und reiche die Scheidung ein.« Saschas Tonfall klang endgültig. Er schaute sie an. So distanziert und kühl, als wäre sie eine Fremde. Und nicht die Frau, der er vor elf Jahren auf dem Standesamt und in der Kirche versprochen hatte, dass er gute und schlechte Zeiten mit ihr durchstehen wollte. Das musste doch etwas bedeuten, nicht wahr?

»Sascha«, flüsterte Isabell und hasste sich dafür, wie piepsig und verzweifelt ihre Stimme klang. »Wir … wir gehören doch zusammen. Wir … wir könnten eine Eheberatung machen.«

»Verdammt, Isa.« Das kannte sie so gut. Wenn ihr Ehemann nicht mehr weiterwusste, wurde er laut. »Mach es uns doch nicht so schwer. Ich rufe dich an, damit wir alles Weitere klären.«

Mit diesen Worten ließ er sie einfach stehen, machte sich nicht einmal Gedanken, wie es ihr wohl ginge, mit wem sie ihr Leid teilen könnte. Isabell verbrachte das Wochenende heulend und tobend, trank zu viel, aß zu viel und schlief zu wenig. Am Montagmorgen rief sie auf ihrer Arbeitsstelle an und meldete sich krank. Bis Mittwoch hatte sie sich soweit gefangen, dass sie die bittere Wahrheit in Saschas Worten akzeptieren konnte. Ja, ihre Ehe war einfach am Ende. Ohne Pep, ohne Power – wie ein ausgelutschter Drops.

Das mussten die Schokolade und die Macarons vom Wochenende sein, die ihr solche Vergleiche nahelegten. Nachdem sie dreimal tief durchgeatmet hatte, rief Isabell Sascha an, um mit ihm ihre einvernehmliche Trennung zu besprechen.

»So wie Gwyneth Paltrow und Chris Martin«, sagte sie zu ihm, was Sascha nicht verstand. Aber das machte nun auch nichts mehr. Isabell holte tief Luft. In der Krise lag auch eine Chance, dachte sie.

Alles hätte gut sein können, wenn nicht …

Isabell presste die Lippen aufeinander, als sie an den Tag dachte, der alles in Scherben gehen ließ. Vergiss den Schirm. Sieh zu, dass du hier wegkommst, bevor Sascha rauskommt.Sascha und …

Zorn kochte brennend in ihr hoch. Von wegen »Wir haben uns auseinandergelebt, Isa. Das musst du doch auch einsehen, Isa.«

Wie hatte sie nur dermaßen naiv sein und ihm glauben können? Isabell hatte wirklich und wahrhaftig gedacht, dass ihr Ehemann, ihr Ex-Ehemann ehrlich zu ihr sein würde. Daher hatte sie der Schock völlig unvermutet getroffen, als sie ihn in ihrem Lieblingscafé gesehen hatte. Dort saß er einer Frau gegenüber, die aussah wie Isabell vor fünfzehn Jahren. Hochgewachsen, brünett, mit klaren Gesichtszügen, nur eben viel jünger. Sascha glotzte die Frau aus verliebten Augen an, während er ihre Hand tätschelte. Kurz hatte Isabell überlegt, an den Tisch zu gehen und ihn mit seinem Verrat zu konfrontieren. Dann jedoch war eine Kälte über sie gekommen, die sie alles wie durch ein Brennglas sehen ließ. Nein, ich werde ihn da treffen, wo es ihm wehtut.

An dem Tag hatte sie sich eine Anwältin genommen, die dafür sorgen sollte, dass Isabell all das bekam, was ihr zustand. Sie konnte Sascha nicht mehr vertrauen, dass er es ehrlich mit ihr meinte und nicht versuchen würde, sie über den Tisch zu ziehen. Zu ihrer Überraschung hatte Sascha sie angerufen und mit Vorwürfen überschüttet, weil Isabell – seiner Meinung nach – eine schmutzige Scheidung wollte.

Erst als Isabell gefragt hatte: »Wie heißt sie?«, war er still geworden.

Während des Trennungsjahres waren sie sich aus dem Weg gegangen, soweit es möglich war. Wenn sie sich in Braunschweig doch einmal trafen, blieben sie beide höflich und distanziert, wie Fremde. Isabell schmerzte das. Was Sascha davon hielt, wusste sie nicht und wollte es auch nicht mehr wissen.

Den Gerichtstermin heute hätte sie am liebsten ignoriert, aber ihre Anwältin hatte Isabell dazu überredet, dort zu erscheinen. Kurz und förmlich war das Verfahren gewesen. Das einzige Ärgernis war, dass Sascha es sich nicht hatte nehmen lassen, seine Freundin mit zum Amtsgericht zu bringen. Isabell nahm ihm das übel, ließ sich jedoch nichts anmerken. Sie nickte der Frau zu, schüttelte ihrem nun Ex-Ehemann die Hand, verabschiedete sich von ihrer Anwältin und floh aus dem Gerichtssaal nach draußen.

Ihr Smartphone vibrierte. Isabell suchte eine Möglichkeit, wo sie sich vor dem Regen unterstellen konnte, ohne Sascha zu begegnen. Mit großen Schritten eilte sie in das nahegelegene Kaufhaus. Hier schüttelte sie sich und nahm ihr Handy aus der Tasche ihres hellen Sommermantels.

Ein WhatsApp-Video öffnete sich. Nicole, ihre beste Freundin, tanzte in der engen Personalkabine des Kreuzfahrtschiffes. Sie hielt ein Feuerzeug in der Hand, dessen Flamme auf- und abzuckte, während sie aus vollem Hals »Freiheit! Freiheit!« grölte.

Trotz ihrer elenden Stimmung musste Isabell lachen. Das konnte nur Nicole einfallen. Sie vermisste ihre Freundin, deren Job es war, die Passagiere einer Karibik-Kreuzfahrt bei Laune zu halten. Isabell wusste, wie sehr Nicole ihre Arbeit liebte, aber sie wünschte sich, dass ihre Freundin nicht so oft und vor allem nicht so weit weg von ihr wäre. Gerade heute nicht. Heute könnte sie Nicoles schwarzen Humor und ihre Schulter zum Anlehnen gut brauchen. Isabell schniefte und las die begleitende Nachricht.

Lass uns heute Abend skypen. Ich ruf dich um 8 an. Alles wird gut! Nicole

Isabell tippte eine eilige Antwort: Komm schon klar, aber danke. Freu mich auf heute Abend. Dabei rempelte sie ein Mann an, ohne sich zu entschuldigen. Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu, dann ging er weiter. Am liebsten hätte sie ihm hinterher gebrüllt: Wo ist Ihre Kinderstube? Doch obwohl Isabell sich sagte, dass der Mann einfach ein ungehobelter Flegel war, fühlte sie sich klein. 37 Jahre alt, geschieden, unsichtbar, selbst für so einen Kerl – so zog sie Bilanz. Dann kaufte sie einen Schirm und fuhr in ihre Wohnung. Die nun ihr allein gehörte.

»Hatte er die jüngere Version von dir dabei?«, fragte Nicole. Durch Skype verruckelte ihr Bild ab und zu, aber Isabell konnte die Sorge in den Augen ihrer besten Freundin erkennen. »Sei froh, dass du ihn los bist. Ehrlich.«

»Bin ich auch. Ehrlich.« Isabell bemühte sich um ein Lächeln, aber es wollte ihr nicht gelingen. »Ich wünschte, du wärst hier.«

»How I wish, how I wish you were here«, sang Nicole laut und falsch den Pink-Floyd-Song. »Warum buchst Du nicht ein Ticket und kommst zu mir? Zeit genug hast du ja.«

»Erinner mich nur nicht daran.« Isabell seufzte. Das, was das beste halbe Jahr ihres Lebens hätte werden sollen, würde ein verdammt unglückliches halbes Jahr werden. »Zum Glück konnte ich alles stornieren.«

Bevor sie sich »auseinandergelebt« hatten, hatten Sascha und sie eine halbjährige Tour ans andere Ende der Welt geplant: Australien, Neuseeland, Papua-Neuguinea, vielleicht auch Indonesien. Isabell hatte mit ihrem Arbeitgeber ausgehandelt, dass sie sich diese Zeit ansparte, weil sie keinen unbezahlten Urlaub nehmen wollte. Das erschien ihr zu riskant. Vor einer Woche hatte ihre Vertretung die Arbeit aufgenommen und Isabell saß in ihrer Wohnung. Allein. Nicht im Flugzeug nach Down Under. Zu zweit. Darüber ärgerte sie sich am meisten. Saschas Untreue, sein Betrug – ja, das war ein Stachel, aber die verpfuschte Reise und das leere halbe Jahr vor sich, das machte Isabell Angst.

»Komm zu mir«, wiederholte Nicole. Laut, so als hätte sie das bereits mehrmals gesagt.

»Entschuldige. Meine Gedanken waren gerade woanders.«

»Wenn du hier keinen Urlaub machen willst, finde ich bestimmt einen Job für dich.« Nicole lächelte, aber ihre Stirnfalte blieb. Die Sorgenfalte nannte Isabell sie immer. Die trat nur auf, wenn ihre an und für sich sorglose Freundin sich über etwas sehr viele Gedanken machte.

»Danke. Du weißt, wie dankbar ich dir bin, wie gerne ich bei dir wäre.« Warum nur war es so schwer, Nein zu sagen? Vor allem zur besten Freundin, die es wirklich nur gut meinte. »Aber Kreuzfahrten sind so gar nichts für mich. Zu viele Menschen …«

Nicole trank einen Schluck eines grünlichen Getränks, das sich in einem runden Glas befand. Das Glas war unter bunten Schirmchen, Ananasstücken und Kokosnussstreifen kaum zu sehen. Vielleicht sollte sie ihre Vorbehalte gegen Kreuzfahrten überdenken, wenn es für Mitarbeiter so leckere Cocktails gab.

»Was willst du machen?« Die Stimme ihrer Freundin klang etwas verzerrt, aber dennoch konnte Isabell den leichten Vorwurf in ihrer Stimme hören. »Du wirst doch wohl nicht das ganze halbe Jahr in Braunschweig hocken.«

»Erst einmal fahr ich übermorgen zu Lina.« Isabells Stimmung wurde besser, als sie an ihre Großmutter dachte, bei der sie aufgewachsen war. »Sie hat ein neues Projekt, bei dem sie meine Hilfe gern in Anspruch nehmen will.«

»Was ist es dieses Mal?« Nicole verdrehte die Augen, kannte sie doch Lina fast genauso lange wie Isabell. Seit der ersten Klasse waren die beiden befreundet und Nicole hatte schon viele von Linas Projekten und Ideen mitbekommen. »Ich hoffe nicht wieder Makramee oder so etwas Furchtbares. Diesen grässlichen Wandbehang in Kackbraun werde ich nie vergessen.«

Nicole schauderte demonstrativ, was Isabell zum Lachen brachte. Ja, die Makrameephase ihrer Oma war wirklich anstrengend gewesen. Da waren die unterschiedlichen Kochversuche – indisch, chinesisch, brasilianisch – deutlich besser gewesen.

»Keine Ahnung. Lina wollte es mir nicht verraten.« Isabell entschied sich, das Thema zu wechseln. »Wie sieht es bei dir aus? Sind interessante Frauen an Bord?«

Kapitel 3

Bremen 2016

Möchtest du auch einen Tee?« Linas Stimme holte Isabell in die Realität zurück. Sie lag auf dem Bett in ihrem ehemaligen Kinderzimmer, das immer noch so eingerichtet war, wie Isabell es vor fast zwanzig Jahren verlassen hatte. Nur die Poster der 80er-Jahre-Bands hatte Isabell bei einem Besuch abgenommen und durch Kunstdrucke von Bildern ihrer Lieblingsmaler Edward Hopper und Claude Monet ersetzt. »Außerdem gibt es bald Essen.«

Isabell stand auf und ging zur Tür.

»Ja, bitte. Tee wär schön. Ich komm gleich runter«, rief sie und ging ins Badezimmer. Bevor sie Lina gegenübertrat, wollte sie alle verräterischen Spuren der Tränen beseitigen, die sie eben wieder überkommen hatten. Ihre Zukunft erschien Isabell düster und grau, was durch das Bremer Regenwetter nicht verbessert wurde.

Isabell schaute sich im Spiegel an. Ihr kam es vor, als wären die Falten um Mund und Augen in den letzten Wochen tiefer geworden, als hätten sich mehr graue Strähnen in ihre brünetten Haare gemischt. Sie musste dringend zum Friseur. Und neue Kleidung brauchte sie auch. Seit der Trennung von Sascha war sie endlich die zehn Kilogramm losgeworden, die sie seit Jahren mit unterschiedlichsten Diäten erfolglos bekämpft hatte. Aber sie fühlte sich nicht besser. Ach, was sollte das Klagen? Isabell gab noch einmal kaltes Wasser in ihre Hände und tauchte ihr Gesicht ein. Werde ich je wieder glücklich sein? Kann ich je wieder einem Mann vertrauen?

»Isabell, wo bleibst du?«, rief Lina. Geduld war nicht die Stärke ihrer Großmutter. All die Sinnsprüche, die davon ausgingen, dass Menschen mit zunehmendem Alter ruhiger würden, wurden durch Lina Lügen gestraft. »Tee ist fertig.«

Isabells Spiegelbild versuchte ein Lächeln, das allerdings zu einer Grimasse geriet. Was sollte es? Lina würde sie auf den ersten Blick durchschauen. So war es immer schon gewesen. Egal, was Isabell vor ihrer Großmutter zu verbergen versucht hatte, Lina war dahintergekommen. Daher hatte Isabell das Lügen aufgegeben und auch jegliche Versuche, etwas zu verschweigen. Komisch, dass so etwas nach all den Jahren immer noch funktionierte.

»Isabell. Essen!«, erklang es wieder von unten. Dieses Mal ließ der Ton in Linas Stimme deutlich erkennen, dass sie kein nächstes Mal rufen würde.

Nachdem sie sich im Spiegel eine Grimasse geschnitten hatte, ging Isabell hinunter in die Küche. Lina wohnte in einem Altbremer Haus in Peterswerder, einem Viertel, in dem es viele solcher schmalen Häuser mit Hochparterre gab. Seit Generationen war es das Heim ihrer Familie. Am besten gefiel Isabell, dass die kleinen Gärten nach hinten hinausgingen und sich berührten, sodass man den Eindruck von viel Grün bekam. Und das mitten in der Stadt.

Lina stand an der Spüle und nahm das Teesieb aus der Teekanne. Als sie ihre Großmutter bei der altvertrauten Tätigkeit sah, wurde es Isabell warm ums Herz. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern, die bei einem Busunfall ums Leben gekommen waren, war sie als kleines Kind zu ihrer Großmutter gekommen, die immer darauf bestanden hatte, dass Isabell sie mit ihrem Vornamen anredete: »Nenn mich bloß nicht Oma, dann fühle ich mich uralt.«

Auch sonst hatte Lina wenig mit den Großmüttern gemeinsam, die Isabell aus Büchern kannte oder bei ihren wenigen Schulfreundinnen erlebt hatte. Lina trug Jeans und selbstgestrickte, übergroße Pullover, färbte ihre Haare mit Henna zu einem leuchtenden Rot. Nun, wo ihre Großmutter 74 Jahre alt und ihre Naturhaarfarbe wohl grau oder weiß war, war das Henna zu einem kräftigen Orange ausgebleicht. Aber Lina sah nicht nur anders aus als eine typische Oma, sie war auch ständig unterwegs. Tierschutzverein, Malgruppe, Chor, Stadtteilfest – alle Termine hatte sie in einen großen Kalender eingetragen, der am Kühlschrank hing. Früher hatte der Kalender eine zweite Spalte für Isabells Termine enthalten.

Ob Lina einen Mann in ihrem Leben vermisste? Das hatte Isabell ihre Großmutter nie zu fragen gewagt. Wahrscheinlich, weil deren Augen immer so traurig wurden, wenn sie von ihrem Ehemann erzählte, der jung an einer Lungenentzündung gestorben war. Schon oft hatte Isabell sich gefragt, ob all die Aktivitäten ihrer Großmutter wohl eine Flucht vor der Einsamkeit waren. Aber Lina schien mit ihrem Leben, so wie es war, zufrieden zu sein. Daher wollte Isabell nicht an alten Wunden rühren. Außerdem, wer war sie denn, dass sie andere Menschen fragen konnte, ob sie glücklich waren?

»Was gibt es denn Gutes? Soll ich den Tisch decken?«, fragte sie daher nur. Ihr Blick glitt durch die altvertraute Küche, die sich kaum verändert hatte, seitdem sie ausgezogen war. Ein dunkler Holztisch mit Kratzspuren an den Beinen stand mitten im Raum und wurde von vier bunt zusammengewürfelten Stühlen eingerahmt. Nur der taubenblaue Geschirrschrank war von Krallen verschont geblieben. »Wie hältst du die Katzen eigentlich davon ab, an dem Schrank zu kratzen?«

»Mit drohenden Blicken. Und ja, deck den Tisch, bitte. Es gibt Pizza. Ich hatte keine Zeit, was Richtiges zu kochen«, antwortete Lina knapp und öffnete den Herd. Ein Edelstahlmonstrum, das seltsam modern in der gemütlichen Küche wirkte. Den Herd hatte ihre Großmutter vor vier Jahren gekauft. »Langsam bin ich zu alt für das alte Ding«, hatte sie gesagt und den Herd gegen ein hochmodernes Gerät mit Induktionsplatten eingetauscht.

Isabell suchte nach Tellern und Geschirr und fand in einer Schublade Servietten, die dem Essen einen feierlichen Anstrich gaben. Sorgfältig dekorierte sie alles auf der Tischplatte, nachdem sie diese gründlich abgewischt und von Katzenhaaren befreit hatte.

»Im Kühlschrank ist noch Salat.« Lina stellte die Pizzen auf den Tisch. »Holst du ihn bitte?«

Nachdem Isabell die Salatschüssel abgestellt hatte, setzte sie sich Lina gegenüber, die die Pizzen bereits geachtelt hatte. Eine Vier-Käse-Pizza und eine mit Champignons. Fleisch gab es im Haus ihrer Großmutter nur für die Katzen. Lina war Vegetarierin, nicht missionierend, wie sie sagte, aber bei ihr gäbe es eben weder Fisch noch Fleisch. Außer man hätte Fell und vier Beine. So war das immer schon, sodass auch Isabell vegetarisch lebte. Sascha hatte sich immer darüber lustig gemacht und von ihr erwartet, dass sie Fleisch für ihn briet oder kochte. Einer ihrer Streitpunkte, bei denen Isabell nachgegeben hatte, obwohl sie es eklig fand, Fleisch anzufassen.

»Denkst du wieder an ihn?« Nachdem Isabell ihrer Großmutter von Saschas Freundin erzählt hatte, war ihr Ex-Ehemann bei Lina ganz unten durch. Sie nannte ihn nicht einmal mehr bei seinem Namen. »Glaub mir, ohne ihn bist du besser dran.«

»Lass uns bitte heute nicht über Sascha reden«, wehrte Isabell ab. So sehr es sie freute, dass Lina auf ihrer Seite war, so wenig wollte sie sich über ihre Ehe streiten. »Erzähl mir lieber von dem Projekt, bei dem ich dich unterstützen soll.«

»Wenn du über ihn sprechen willst, bin ich für dich da. Oder über deine Pläne.« Lina schaute sie aufmerksam an. Isabell lächelte. Sie wollte ihre Großmutter nicht beunruhigen. Erst einmal musste sie ihr Leben neu sortieren, bevor sie über Sascha und ihr Leben nach ihm reden wollte. »Ich kann auch gut zuhören, ohne meine Meinung kundtun zu müssen.«

Das brachte Isabell so sehr zum Lachen, dass sie sich an dem Pizzabissen verschluckte und in heftiges Husten ausbrach. Erst nachdem Lina ihr kräftig auf den Rücken geklopft hatte, bekam sie wieder Luft. Hastig griff sie nach dem Glas Wasser und stieß es um, sodass sich der Inhalt über die Pizza und den Tisch ergoss.

»Bleib sitzen und wisch dir die Tränen ab.« Lina sprang auf und holte Küchentücher. »Geht’s wieder? Was war so lustig?«

»Mir vorzustellen, dass du mit deiner Meinung hinterm Berg hältst«, konnte Isabell nur keuchend hervorbringen. Mit den Händen strich sie sich die Tränen aus den Augen. Dann trank sie noch einen Schluck Wasser, weil ihre Kehle sich rau anfühlte. »Danke fürs Sauberwischen. Also, was ist das für ein Projekt?«

»Erinnerst du dich noch an das Buch über Forscherinnen?« Lina schob ihr Pizzastück auf dem Teller hin und her. Ihre Großmutter hatte nur wenig gegessen, war Isabell aufgefallen. Musste sie sich Sorgen machen? »Das letztes Jahr erschienen ist.«

»Über das du dich so geärgert hast, weil es voller Fehler war?« Nur zu gut erinnerte sich Isabell an den Anruf ihrer wütenden Großmutter, die sie nur mühsam hatte dazu überreden können, keine Unterlassungsklage einzureichen. Lina nickte. Ihr Gesicht verdüsterte sich.

»Der Schreiberling hielt es nicht einmal für nötig, mich zu befragen.« Sie runzelte die Stirn. Ihre Empörung schien immer noch nicht abgekühlt zu sein. »Er hat sich einfach etwas über Elise aus den Fingern gesaugt und zusammenfabuliert.«

Elise. Linas Großmutter, an die Lina sich noch sehr gut erinnerte. Weil Elise eine mutige und ungewöhnliche Frau gewesen war. Archäologin und Forscherin. Wenn man Isabells Großmutter zuhörte, war Elise eine Art weiblicher Indiana Jones gewesen, nur ohne Hut und Peitsche. Lina fühlte sich als Erblasserin Elises, weil sie deren Reisekoffer und Tagebücher und Forschungsberichte auf dem Dachboden hortete, als wären sie Schätze.

Obwohl es Isabell auch in ferne Länder zog – schließlich hatte sie Touristik studiert -, hatte sie sich bisher nicht für Elises Geschichte erwärmen können. Möglicherweise weil Lina Begeisterung für zwei aufbrachte.

»Willst du jetzt doch noch gegen den Autor vorgehen?« Einerseits rechnete Isabell sich nicht viele Chancen aus, sollte Lina tätig werden. Andererseits hatte ihre Großmutter recht. Der Mann hatte nur unzureichend recherchiert und ihnen nicht einmal auf Briefe und Mails geantwortet. »Das Buch hat sich eh nicht gut verkauft.«

»Nein. Der Kerl ist meiner Aufmerksamkeit nicht wert.« Lina schüttelte den Kopf. »Ich …«

»Ja?« Die wenigen Male, wo ihrer Großmutter die Worte fehlten, konnte Isabell an einer Hand abzählen. »Mach es nicht so spannend.«

»Ich trag mich mit der Idee schon lange. Also, lach bitte nicht.« Lina stieß den Atem heraus, als wäre sie die Treppen hochgesprintet. »Ich will Elises Biografie schreiben. Mit deiner Hilfe. Falls du magst.«

»Das kommt ziemlich überraschend.«

»Du könntest sogar nach Guatemala fliegen. Auf Elises Spuren durchs Land fahren.« Lina lächelte breit. »Für mich ist das nichts. Aber du reist doch gern.«

»Auf keinen Fall!« Isabell schüttelte den Kopf. Sie wusste wenig über Mittelamerika, aber eines wusste sie: Es gab dort drei Meter lange Giftschlangen. »Da bekommen mich keine zehn Pferde hin.«

Sie zog es mehr nach Australien oder Neuseeland. Gerne auch nach Asien. Außerdem sprach sie kein Spanisch.

»Heißt das, du hilfst mir nicht?« Linas Enttäuschung war so offensichtlich, dass Isabell sich richtig mies fühlte. »Musst du auch nicht.«

»Klar helfe ich dir«, antwortete Isabell und beugte sich über die Pizza. Sie fürchtete, dass ihre Großmutter ihr sonst das Unbehagen auf dem Gesicht ablesen würde. »Weil ich es will, nicht weil ich muss.«

»Also gut, dann ist das ja geklärt.« Lina nickte. Sie hob den Kopf und fixierte Isabell mit dem Blick, den sie immer aufsetzte, wenn sie Isabell aushorchen wollte. »Erzähl mir von der Scheidungsverhandlung.«

»Eine Katze hat in meinen Rucksack gepinkelt«, sagte Isabell statt einer Antwort. »Ich hab ihn ausgewaschen, aber er stinkt immer noch.«

»Oh, das tut mir leid.« Zum Glück gab es Linas Katzen, mit denen ihre Großmutter sich jederzeit ablenken ließ. »Ich habe so ein Anti-Geruchsmittel, das gut wirkt. Ich hole es dir gleich.«

»Schon gut.« Isabell grinste. Mission erfolgreich, Thema gewechselt. »Ich lasse meine Tür vorsichtshalber zu.«

»Ich fürchte, das geht nicht.« Lina hob entschuldigend die Hände. »Die Katzen hassen verschlossene Türen und würden die ganze Zeit nerven, damit du sie wieder öffnest.«

»Dann stelle ich wohl besser alle Sachen hoch.«

»Ja, genau. Ich sage immer, dass Katzen einen zur Ordnung erziehen.« Lina zuckte mit den Schultern. »Wollen wir heute Abend schon auf den Dachboden oder wollen wir bis morgen warten?«

»Lass mich aufessen und einen Kaffee trinken. Dann bin ich zu allen Schandtaten bereit.« Isabell nahm sich ein weiteres Stück Pizza. Zu zweit schmeckte es ihr einfach besser. »Ich bin ja auch neugierig, was uns dort erwarten wird.«

Kapitel 4

Bremen 2016

Wie hatte das nur passieren können? Nun war er genau da gelandet, wo er nie hinwollte. Fabian strich sich mit den Fingern über die Stirn und schloss einen Moment die Augen, bevor er sich weiter durch das Chaos von Papieren und Unterlagen kämpfte, das er auf dem Schreibtisch seines Vaters gefunden hatte. Auf dem schweren, dunklen Schreibtisch aus Eiche, der das Arbeitszimmer seines Vaters dominierte. Als Kind hatte Fabian sich oft gewünscht, sich unter dem Schreibtisch verstecken zu können, damit sein Vater ihm wenigstens dann einmal Aufmerksamkeit schenkte. Aber wahrscheinlich hätte Konstantin Seler nur nach dem Kindermädchen gerufen und dem eine Gardinenpredigt gehalten, weil es nicht auf Fabian aufgepasst hatte.

Sollte er das Büro neu einrichten oder sollte er es so belassen, wie es seinem Vater gefallen hatte? Fabian stand auf, um sich die Beine zu vertreten, und versuchte das Zimmer mit vorbehaltlosem Blick zu sehen. Obwohl ihr Haus, eine Altbremer Patriziervilla, hohe Fenster hatte, die viel Licht hereinließen, wirkte der Raum dunkel und schwer. Nicht nur der Schreibtisch war aus dunklem Holz, auch die Aktenschränke und Regale waren dunkelbraun. Den einzigen Farbtupfer bildete das Gemälde einer Kaffeeplantage, das hinter dem Schreibtisch, direkt gegenüber der Tür, hing, sodass es jeder Besucher sofort sehen konnte. Nein, keiner Plantage, sondern das Bild einer Kaffeefinca. Ein herrschaftliches Haus, umgeben von Urwald im Hintergrund und Kaffeebäumen an den Seiten. Weißblühenden Kaffeebäumen unter hochgewachsenen Palmen. La Huaca,Guatemala1902 stand als Bildunterschrift auf einem kleinen goldenen Schild, das in den Rahmen aus dunklem Holz eingelassen war.

Mit dieser Kaffeefinca hatte die Erfolgsgeschichte ihres Familienunternehmens begonnen. Schon als Kind hatte das Bild Fabians Neugierde geweckt und er hatte oft davorgestanden. »Wenn ich erwachsen bin, fahre ich dahin und schaue mir alles genau an«, hatte er seinem Vater einmal erklärt, um dessen Interesse zu wecken. »Dahin, wo Ururgroßmutter Margarete herkommt.«

»Ich weiß nicht, ob es die Finca überhaupt noch gibt«, hatte sein Vater barsch geantwortet. »Schön, dass du etwas für unsere Familiengeschichte übrighast. Aber konzentriere dich lieber auf das Hier und Heute.«

Das Hier und Heute bedeutete für Fabian, dass er auf die Nachfolge seines Vaters vorbereitet wurde. Schon mit seiner Geburt war sein Lebensweg vorgezeichnet gewesen: Abitur, BWL-Studium, Berufserfahrung im Ausland und bei Konkurrenten sammeln und dann in die Geschäftsführung der Seler Kaffee GmbH eintreten.

Oft wünschte er sich, Geschwister zu haben, mit denen er diese Zukunft teilen könnte. Jemand anderes, von dem erwartet wurde, dass er perfekt war und allen Erwartungen, ausgesprochenen und unausgesprochenen, der Eltern nachkam. Nicht, weil er etwas dagegen hatte, das kleine, aber feine Kaffeeunternehmen einmal weiterzuführen, sondern weil er sich eingeengt fühlte. Wie sehr beneidete er Freunde um deren Freiheiten. All die, deren Zukunft ein ungeschriebenes Buch war, dessen Seiten sie selbst füllen konnten, während er sich fühlte, als ob jemand anderes sein Leben schrieb.

Dann, ein halbes Jahr vor dem Abitur, rebellierte Fabian gegen all diese Pläne und Erwartungen, schmiss die Schule und floh in die USA und nach Kanada. Dort schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch und war glücklicher als je zuvor in seinem Leben. Niemals hätte er gedacht, wie viel Spaß es ihm machen konnte, für einen Hungerlohn Burger zu braten.

Doch diese Freiheit fand nach einem Jahr ein Ende. Die Nachricht, dass seine Mutter schwer erkrankt war, rief Fabian nach Bremen zurück. Ihm blieb nur noch wenig Zeit mit Sophia Seler, was ihm ein furchtbar schlechtes Gewissen bereitete. So versprach er seiner Mutter, ihren letzten Wunsch zu erfüllen: seinen Platz in der Familienfirma einzunehmen. Obwohl seine Rebellion das Verhältnis zu seinem Vater noch weiter verschlechtert hatte, hielt Fabian sich an das Versprechen, holte das Abitur nach, studierte und arbeitete danach für zwei Jahre bei einer befreundeten Firma in London. Vor einem Jahr war er nach Bremen zurückgekehrt, um hier Aufgaben als Mitglied der Geschäftsführung wahrzunehmen.

Fabian seufzte und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Warum nur hatte sein Vater sich den Segnungen der EDV verweigert und die meisten Firmenunterlagen weiterhin auf Papier geführt? Wenn er wenigstens ein System in dem Durcheinander entdecken könnte. Ungeduldig schaute Fabian auf die Uhr, eine Patek Philippe. Für ihn musste es keine Luxusuhr sein, aber sie war ein Geschenk seines Vaters zum Examen. Wo blieb Frau Grimme nur?

Die Sekretärin seines Vaters hatte nach dessen Beerdigung um eine Woche Urlaub gebeten, den Fabian ihr selbstverständlich gewährt hatte. Schließlich hatte Frau Grimme seinen Vater seit 35 Jahren, sechs Jahre länger als Fabian, gekannt. Frau Grimme arbeitete bereits mit seinem Vater, als dieser Fabians Mutter geheiratet hatte. Als Kind hatte Fabian sich immer vor der schlanken, eleganten Frau gefürchtet, deren Kleidung dem Begriff graue Eminenz entsprach. Wenn er ehrlich war, hatte er auch heute noch einen Heidenrespekt vor der Assistentin der Geschäftsleitung, wie Frau Grimmes Titel lautete.

Für heute hatte sie angekündigt, wieder zur Arbeit kommen zu wollen. Fabian setzte größte Hoffnung in Frau Grimme, dass sie das Durcheinander in der Buchführung auflösen konnte und ihm so die Übernahme der Firmenverantwortung erleichtern würde. Seit heute Morgen um sieben Uhr saß er am Schreibtisch, so wie in den vergangenen sieben Tagen. Vor dem überraschenden Tod seines Vaters hatte Fabian gedacht, dass er sich zumindest grob mit den Firmenfinanzen auskannte. Doch nun stieß er auf immer neue Konten, Rechnungen und Ausstände.

»Ich brauch jetzt einen Kaffee.« Fabian stand auf, um zu dem Schrank zu gehen, in dem sein Vater die Kaffeemaschine und eine Auswahl unterschiedlicher Kaffeesorten, selbstverständlich alle aus eigener Röstung, aufbewahrte. Er entschied sich für einen Guatemala Grandioso, den kräftigsten ihrer Kaffees. Sorgfältig gab er die Bohnen in die Kaffeemühle – niemals hätte sein Vater sich mit Kaffeepulver zufriedengegeben. Nachdem die Mühle die Bohnen krachend zermahlen hatte, gab er das Pulver in den Filter, goss abgekochtes Wasser auf und wartete, bis der charakteristische Geruch gebrühten Kaffees seine Lebensgeister weckte.

»Von hinten sehen Sie aus wie Ihr Vater.« Frau Grimmes Stimme ließ Fabian zusammenfahren. Er hatte nicht gehört, dass die Assistentin ins Büro gekommen war. »Für ihn fing der Tag auch immer mit frischgemahlenem und gebrühtem Kaffee an.«

Als Fabian sich zu ihr umdrehte, fielen ihm ihre rot geweinten Augen auf, die sie selbst mit viel Make-up nicht hatte übertünchen können. Das warf für ihn wieder einmal die Frage auf, wie eng sein Vater und Frau Grimme wohl zusammengearbeitet hatten. Seit dem Tod seiner Mutter hatte Fabian mehrfach den Verdacht gehabt, dass Frau Grimme seine Stiefmutter werden könnte. Doch falls seinen Vater und dessen Assistentin mehr verbunden hatte als die gemeinsame Arbeit, so hatten sie dies nie gezeigt. Im Testament war Frau Grimme großzügig, aber nicht übermäßig bedacht worden.

»Guten Morgen, Frau Grimme. Ich freue mich, dass Sie hier sind.« Oh, hoffentlich klang das jetzt nicht nach einem Vorwurf, da es bereits nach zehn Uhr war und damit deutlich später, als sie normalerweise ihre Arbeit begann. »In den vergangenen Tagen habe ich versucht, mich in die Unterlagen einzuarbeiten, aber ich habe das System meines Vaters nicht durchschauen können.«

Einen Moment lang sah Frau Grimme ihn nur an, mit einem so kühlen Blick, dass Fabian sich fragte, ob er sich missverständlich ausgedrückt hatte. Dann jedoch, als hätte man einen Schalter umgelegt, lächelte sie und ihr Gesicht trug die übliche Maske professioneller Höflichkeit zur Schau.

»Ihr Herr Vater war ein sehr eigener Mensch.« Frau Grimme nickte ihm zu. »Am besten schaue ich mir alles an. Ich kenne … ich kannte ihn besser als Sie.«

Fabian überlegte kurz, ob er auf diese Provokation eingehen sollte, entschied sich aber dagegen. Stattdessen sagte er: »Gibt es etwas, das ich tun kann? Ich möchte mich ja auch nützlich machen.

---ENDE DER LESEPROBE---